Ja, viel mehr als diesen Gesichtsausdruck - auch wenn sie ihn nicht sah - hielt sie auch nicht von der Tatsache, dass Victor in diese ganze Scheisse mit reingezogen wurde. Es war, wie schon mehrfach erkannt, schlicht das Schlimmste an allem. Aber das hatte Riley gewusst und ihre Brüder auch. Sean hatte Faye ja bereits bei ihrem zweiten Aufeinandertreffen angedroht, auf Victor zurückzugreifen, falls sie nicht spuren sollte. Das war Absicht gewesen und es war ihre Schuld und sie hasste einfach alles daran. Die Brünette nickte umgehend, als Antwort auf Ryatts Frage, brauchte in Hinsicht auf Victors Überleben sicher keine künstliche Spannung aufzubauen. Bei uns war zwar ein bisschen der falsche Ausdruck, da Victor fast fünfhundert (or whatever, you know) Kilometer landeinwärts vor sich hin vegetierte, aber er war noch auf der Erde, atmete noch und würde auch sicher wieder zu ihr zurückkommen. "Er lebt noch... hat sich zumindest körperlich auch wieder ganz erholt... Aber... aber es war sehr knapp. Sie haben ihn fast... umgebracht", gab sie weitere Details bekannt, über die sie eigentlich gar nicht reden wollte. Aber irgendwie scheinbar doch, sonst würde sie es ja nicht aussprechen. Faye brauchte keinem was vor zu machen - sie war einsam ohne Victor. Hatte niemanden, mit dem sie über das reden konnte, was sie am allermeisten beschäftigte. Klar hatte sie übers letzte Jahr einige tolle Menschen kennengelernt und Freundinnen gewonnen, die ihr wirklich viel bedeuteten. Aber mit ihnen allen konnte sie noch weniger über das Erlebte sprechen, als mit Ryatt. Sie waren alle - glücklicherweise - vollkommen unbeteiligt und wie Faye vorhin schon angemerkt hatte, war es ausgeschlossen, dass sie die Horrorstory mit der Welt teilte. Dabei war darüber reden vielleicht die einzige Möglichkeit, um das Trauma irgendwann zu neutralisieren und nicht mehr so wie jetzt in Tränen auszubrechen, wenn sie nur schon aktiv daran dachte. Es war eine Zwickmühle und immer wieder fühlte Faye sich, als ob sie dabei auf Dauer einfach nur verlieren konnte. Die Vermutung, dass Gil und Mateo zu Sean und Riley gehörten, nickte sie schwach ab. Keine Ahnung, ob sie das durfte, aber sie war eigentlich sowieso davon ausgegangen, dass Ryatt wusste, wer die beiden genannten Scheusale waren. In diesem Fall blieb aber nur zu hoffen, dass er sie niemals kennenlernen würde. Faye hob sehr langsam den Kopf wieder etwas an, als sie die sachte Berührung an ihrem Arm spürte. Blickte schliesslich auch wieder in seine Richtung und nickte erneut zaghaft. Es wäre das beste, einfach nicht darüber zu reden. Und es wäre auch das beste, sich allgemein aus der Sache rauszuhalten, um zu vermeiden, dabei je wieder ins Kreuzfeuer zu geraten. Weil es eben nicht nur für Ryatt das nächste Mal tödlich enden dürfte. Und fast zeitgleich wie er sich erkundigte, ob sie noch hier wohnte, fragte sie sich auch, wo er mittlerweile unterkam..? Ob er noch immer in dem Truck lebte? Vollkommen ungeschützt? Wie passte er auf sich auf - abgesehen von den ständigen, unruhigen Blicken, mit denen er die Umgebung im Auge behielt? "Wir sind umgezogen... raus aus dieser Stadt... Ich bin nur noch ab und zu hier für die Therapie. Haben beide den Gedanken nicht ertragen, noch irgendwo in deren Nähe zu leben...", beantwortete sie wage und mit leiser Stimme, fast geflüstert seine Frage. Wo sie jetzt wohnten, behielt sie lieber erstmal für sich. Sie waren ja nicht umgezogen, um dann trotzdem genauso sorglos mit ihrer Adresse umzugehen wie zuvor. Auch wenn Seans Hacker diese nicht durch Fremdinformation, sondern wahrscheinlich mit Hilfe ihrer Handynummer eruiert hatte. Was theoretisch auch jetzt wieder möglich wäre - wenn denn irgendwer an ihre Handynummer kam. "Und was ist mit dir..? Hast du einen Ort, an dem du dich sicher fühlst? Wohnst du... nicht mehr auf der Strasse?", sie sprach das nicht gerne so aus, weil sie wusste, dass es ihm unangenehm war. Aber irgendwie gab es auch keine schönere Umschreibung von 'obdachlos'. Und selbst wenn: Eine schöne Umschreibung machte die Tatsachen ja nicht besser.
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Es war doch gewissermaßen eine kleine Erleichterung zu hören, dass Victor noch lebte und ich mir sein Blut nicht auch noch an die ohnehin schon roten Hände schmieren musste. Oder zumindest nicht all sein Blut... denn weit weniger schön war die Tatsache, dass es offenbar nicht mehr viel gebraucht hätte, damit er aufgehört hätte zu atmen. Ich konnte bisher nur darüber mutmaßen, was genau passiert war, aber es war mit Sicherheit die Hölle für Faye gewesen, das durchleben zu müssen - von Victor selbst mal ganz zu schweigen. Jeder Mensch verzichtete gerne auf Nahtoderfahrungen, erst recht im Beisein eines geliebten Menschen. Ich hatte zwar von Anfang an gewusst, dass es keine gute Idee war Faye in meine Probleme zu involvieren - hatte ich ihr ja auch gesagt - aber ich war dennoch nie und nimmer davon ausgegangen, dass es derartige Ausmaße annehmen würde. "Gott, das... muss wirklich schrecklich gewesen sein... für euch beide...", murmelte ich und senkte den Blick auf meine Hand an ihrem Arm. Nahm ihn kurz darauf dann auch dort weg, weil mir ungefähr alles an dieser Situation gerade unangenehm war. Schließlich war Victors Beinahetod mir zuzuschreiben und ich saß hier im Auto seiner Freundin herum. Es war ein bisschen merkwürdig, dass die Brünette mich so gar nicht zu hassen schien. Lag aber vielleicht daran, dass sie mir ihre Hilfe damals aus freien Stücken angeboten hatte. "Hätte ich geahnt, dass das... solche Ausmaße annimmt, hätte ich dich damals am Krankenhaus stehen lassen.", stellte ich leise fest, als ich mich wieder mit dem Rücken an die Lehne geschoben hatte und geradeaus durch die Frontscheibe blickte. Wahrscheinlich drückte ich es etwas sehr plump aus, aber es wäre zweifellos für alle Beteiligten - mich ausgenommen - das Beste so gewesen. Ich war nicht immer selbstlos, aber ich hatte bei der Armee gelernt, dass man das in einigen Fällen ganz einfach sein musste, um größeres Übel abzuwenden. Es war eben leider auch nicht so, als hätte ich nicht geahnt, dass es blöd für sie enden konnte, wenn ich Fayes Hilfe immer und immer wieder annahm. Ich hätte mehr darauf beharren sollen, dass sie es gut sein ließ. Dank Faye hatten die Gesichter von Seans jüngeren Brüdern nun auch Namen erhalten und ich würde sie mir einprägen. Aber für den Moment waren die Namen bei Weitem nicht so wichtig, wie die Tatsache, dass Faye und Victor tatsächlich schon umgezogen waren. Zwar offenbar nicht unbedingt zwei Staaten weiter, wenn die Brünette noch immer ihre Therapeutin hier aufsuchte, aber raus aus der Stadt zu sein war grundsätzlich sicherer als hier zu bleiben. "Sehr gute Entscheidung.", bestätigte ich Faye mit einem schwachen Nicken in ihrem Handeln, auch wenn sie das kaum gebraucht hatte. Es war ja nur logisch, dass sich dadurch das Risiko minimierte, einem der Geschwister über den Weg zu laufen. Meine eigene Wohnsituation war da weniger schön und angenehm, aber das war mir ja nichts Neues. Ich warf Faye erst einen flüchtigen Seitenblick zu, bevor ich beide Hände wieder in meine Jackentaschen schob und aus dem Beifahrerfenster sah. Vermeintlich um die Umgebung zu checken und nicht um den unangenehmen Tatsachen auszuweichen. "Nicht wirklich... hab einen Platz in dem kleinen Obdachlosenheim in der Coal Road gekriegt... ist auf jeden Fall angenehmer, als bei diesen Temperaturen im Truck zu schlafen." Das war eine unumstößliche Tatsache. Ich hatte letzten Winter noch nicht auf der Straße gelebt, sondern hatte noch im Krankenhaus gelegen und es war schon jetzt nachts eigentlich zu kalt, um nicht in einem isolierten Gebäude zu schlafen. Ich fühlte mich nirgends in dieser Stadt wirklich sicher, das Heim war jedoch grundsätzlich sicherer als in meinem Truck zu verweilen. "Aber das ist natürlich auch nicht umsonst und das Sozialamt streckt's mir nur vor, damit ich bis zum Antritt der Sozialstunden nicht auf dumme Gedanken komme. Wenn ich Glück habe, dann übernimmt eine Organisation für Kriegsveterane sämtliche Kosten, die für und während meiner Rehabilitation", ich betonte das extra ironisch, "anfallen... wenn nicht, bleib ich drauf sitzen. Was scheiße wäre, weil ich natürlich während der Sozialstunden dann auch eine Unterkunft brauche...", seufzte ich und schloss einen Moment die Augen. Ich hasste dieses lästige Thema rund ums fehlende Geld einfach. Hatte mich niemals damit auseinandersetzen müssen, seit ich damals ins Militär eingetreten war und dementsprechend war es wohl auch kein Wunder, dass ich jetzt nichts mehr hatte - auch unabhängig der hiesigen Geldstrafe, die ich hatte abdrücken müssen. Es wäre eigentlich trotzdem genug übrig gewesen, um wieder auf die Beine zu kommen - zumindest wenn man mit Geld umzugehen wusste. "Ich hoffe wirklich, dass sich dieses Problem in Luft auflöst. Sonst kann ich dir deine fünfzig Dollar erst in zehn Jahren zurückgeben.", hängte ich einen stumpfen Witz an, ehe ich den Kopf nach hinten an die Kopfstütze kippen ließ. Drehte danach mein Gesicht vermehrt in Fayes Richtung, um sie wieder ansehen zu können. Auch wenn sie schon damals gesagt hatte, dass sie das Geld nicht wieder brauchte, würde sie es irgendwann zurückkriegen - sofern sie mich nicht bald aus ihrem Leben strich. Da ging es einfach ums Prinzip.
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Schrecklich? Schrecklich klang irgendwie bei weitem nicht schlimm genug. Schrecklich klang nach einem Unglück, nicht nach der verdammten Hölle, die diese wohl nicht einmal vierundzwanzig Stunden für Victor und sie dargestellt hatten. Aber ja. In seinem Verständnis war das wohl schrecklich gewesen. Aussenstehende würden es sicherlich auch als schrecklich bezeichnen. Sie brauchte ihm diese Vermutung aber trotzdem nicht noch zusätzlich zu bestätigen, er wusste schon, dass sie ihm hierbei ganz bestimmt nicht widersprechen würde. Ihre ganze Reaktion auf diese Thematik sagte sicherlich längst sehr deutlich aus, wie schrecklich sie diese zwei Nächte erlebt hatte. Und mit dem Aufeinandertreffen in der Scheune allein war ja doch noch nichts getan - all die Wochen, die darauf gefolgt hatten, waren kaum schon als Erlösung zu bezeichnen. Wegen einer Erlösung hätte sie sich eher nicht mit einem stumpfen Buttermesser die Pulsader aufgeschnitten. Noch so ein Thema, über das sie sich hier aber definitiv nicht unterhalten wollte. "Und ich wär' dir hinterher gelaufen, so wie ich mich kenne", murmelte sie auf seine Feststellung betreffend ihres Kennenlernens hin. Hätte sie gewusst, was sie sich damit einbrockte, dann ja, hätte sie ihn gehen lassen oder sogar zurück ins Krankenhaus gezerrt. Aber da sie das nicht gewusst oder nicht hatte erkennen wollen, war es gar nicht mal so weit hergeholt, dass sie sich noch mehr ins Zeug gelegt hätte, um ihn davon zu überzeugen, ihre Hilfe anzunehmen. Ziemlich naiv, das wusste sie spätestens jetzt auch. Änderte nur nichts mehr an den Fakten. Er schien weit weniger Begeisterung dafür aufbringen zu können, ihr seine Wohnsituation zu schildern, als er sie gegenüber ihrem Umzug zum Ausdruck brachte. Auch das war nicht erstaunlich, wenn sie seiner folgenden Erzählung lauschte. Es klang alles irgendwie unsicher und nicht endgültig, alles nach Übergangslösung und hoffen, dass es irgendwie nach Pseudo-Plan funktionieren würde. Natürlich war sie froh, zu hören, dass er das Truck-Leben zumindest vorerst gekippt hatte, weil das im Winter und mit seinen Umständen einfach absolut suboptimal war. Aber das waren dann wohl auch die einzigen guten Neuigkeiten... Faye zog den rechten Mundwinkel ein kleines bisschen hoch, um ein nicht wirklich vorhandenes Lächeln anzudeuten, als er auf ihre fünfzig Dollar zu sprechen kam. Wie wenn das sein grösstes Problem sein könnte. "Scheiss auf die fünfzig Dollar... Vielleicht brauch ich sie in zehn Jahren ja dringender als jetzt", murmelte sie sarkastisch vor sich hin. Das Geld war ihr egal und es würde ihr auch in zehn Jahren noch egal sein, aber wenn es ihm so wichtig war, dann bitte... Es brauchte weitaus mehr Selbstkontrolle, nicht direkt wieder irgendwelche Lösungsansätze mit ihm und für ihn zu suchen, als es an ihrer Stelle eigentlich zu erwarten wäre. Sie wusste auch nicht wirklich, wann oder welche Situationen in ihrem Leben ihr Gehirn auf diese Weise konditioniert hatten. Es war irrational nach allem, was passiert war, jetzt schon wieder helfen zu wollen. Irrational und eben auch nicht weniger dumm als beim letzten Mal. Aber diesmal hatte sie genügend Angst vor den Folgen, dass sie ihr heutiges Angebot gar nicht erst aussprach, sondern nur genauso unglücklich wie zuvor auf das Lenkrad blickte. "Das klingt als hätte deine Wohnsituation noch etwas Luft nach oben...", stellte sie das Offensichtliche fest. "Aber das mit dem Obdachlosenheim anstelle des Trucks ist sicher gut, ja... Wann weisst du denn, ob die Organisation die Kosten übernehmen will?", fragte sie weiter, als wäre es in irgendeiner Hinsicht ihr Problem und würde sie deswegen etwas angehen. War natürlich nicht so. Aber sie suchte etwas verzweifelt nach den guten Neuigkeiten - nach dem Lichtblick in diesem Dilemma. Wenn Ryatt so schutzlos unterwegs war und auch noch in der Stadt bleiben musste, sah sie, ohne dafür irgendwie pessimistisch denken zu müssen, einfach ziemlich schwarz für ihn. Und nach ihren eigenen Erfahrungen wollte sie unbedingt verhindern, dass Seans Geschwister einen weiteren erfolgreichen Rachefeldzug verbuchten, besonders wenn es sich um ihre Zielperson um jemanden handelte, den sie kannte - wenn auch nur sehr schlecht. Ja, Ryatt war mitschuldig an der Tatsache, dass Victor jetzt nicht bei ihr war und sie sich stattdessen durch akute Entzugserscheinungen quälte. Aber es war erstaunlich leicht für sie, diese Schuld lieber unter den eigentlichen Übeltäter - also Mr., Mr. und Miss Hernández - und sich selbst zu verteilen.
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Leider klang es gar nicht so unwahrscheinlich, dass Faye sich nur schwer von mir hätte abwimmeln lassen. Wegzurennen war ja aufgrund meiner damaligen Verletzung schon vollkommen nichtig gewesen und sie hätte mich leicht festhalten und so lange volltexten können, bis ich aus Frustration irgendwann eingeknickt wäre. Da hätte sie leichtes Spiel gehabt, wo zu jenem Zeitpunkt vor dem Krankenhaus doch gefühlt jede Faser meines Körpers bei nur einem einzigen Schritt höllisch weh getan hatte. "Das klingt leider nicht so abwegig, wie es eigentlich sein sollte.", stellte ich fest. Ich mochte Faye noch nicht sehr lange kennen, aber Dank der wenigen Erlebnisse, die wir zusammen gesammelt hatten, konnte ich immerhin stichfest aus eigener Erfahrung heraus behaupten, dass sie sich etwas zu sehr darum bemühte Menschen zu helfen, die es nur bedingt verdienten oder ihr sogar sagten, dass sie es besser sein lassen sollte. Bei denen es auch nur wenig bis nicht sinnvoll war, ihnen unter die Arme zu greifen. Leute, die mit einer potenziell tödlich endenden Verletzung vor der Polizei wegliefen, standen nämlich sehr weit oben auf der Liste von Personen, denen man keine Hilfe anbieten sollte. Das waren dann nämlich Menschen, die nur ihr Leben riskierten, weil sie sonst eigentlich nichts mehr hatten. Traf auf mich jedenfalls wunderbar zu. Auch wenn ich Fayes Entscheidungen öfter mal nicht so gut nachvollziehen konnte, so hoffte ich doch sehr, dass sie in zehn Jahren nicht um fünfzig Dollar mehr oder weniger auf dem Konto bangen musste. Deswegen schnaubte ich auch leise, ehe ich den Kopf schüttelte. Hoffentlich waren auch meine eigenen Geldsorgen in zehn Jahren passé, falls ich überhaupt noch so weit kam. "Ich hoffe doch nicht... zehn Jahre sind 'ne lange Zeit, da solltest du später besser nicht schlechter dastehen als jetzt.", erwiderte ich mit einer weiteren Prise Sarkasmus, obwohl es durchaus der Wahrheit entsprach. Außerdem stellte ich in den darauffolgenden Sekunden fest, dass das auf mich sehr gut zutraf. Ich hatte mein Leben seit ich 14 war dank meinem Vater etwas unfreiwillig der Army verschrieben - später dann aber durchaus sehr viel Gefallen daran gefunden - und jetzt saß ich hier. Obdachlos mit Sozialstunden bis zum Abwinken am Hals, während mich selbsternannte Profi-Gangster durch die Stadt jagten. Ausgezeichnet. "Aber wem erzähl ich das... passiert leider schneller, als man denkt.", murmelte ich leise und viel mehr zu mir selbst, während mein Blick auf die Mittelkonsole abrutschte. War halt irgendwie ein sehr deprimierendes Selbst-Beispiel. Etwas Luft nach oben war eher mild ausgedrückt, aber wenigstens waren in dem Heim keine Junkies oder andere üble Gestalten unterwegs. Eigentlich waren es vorwiegend ältere Menschen, viele davon trugen schon lichtes oder graues Haar. Ich passte da echt nicht gut ins Bild. "In spätestens einer Woche. Die sind da wohl verhältnismäßig schnell, meinte die Alte vom Sozialamt.", betitelte ich die Angestellte des Amts nicht unbedingt reizend. Das war sicherlich nicht so nett angesichts der Tatsache, dass sie mich wirklich unvoreingenommen behandelte und mit gutem Gewissen ihr Bestes für mich tat, aber sie war schlichtweg nicht mein Typ Mensch. "Sie tut ja wirklich ihr Bestes und sie meinte auch, dass die Chancen ganz gut stehen, weil ich so lang beim Militär war und dadurch quasi als extra geschädigt dastehe... aber ich finde ältere Menschen, die langsam reden und gefühlte Stunden brauchen, um etwas in ihren PC einzutippen, wahnsinnig anstrengend. Ich war da eineinhalb Stunden drin und es kam mir vor wie eineinhalb Tage.", lenkte ich das Thema ironisch weiterhin von Fayes Problemen weg. Sie schien sich verständlicherweise einfach deutlich besser damit zu fühlen nicht über das zu reden, was passiert war. Also redeten wir halt über was anderes, sie hatte schon genug gelitten in der letzten Zeit. Auch wenn es sicher sehr irrational war, dass mich die Art der älteren Frau gefühlt mehr kirre machte, als die Tatsache, dass ich theoretisch täglich abgeknallt oder entführt werden konnte. Hatte ich wohl auch dem Krieg zu verdanken. Man gewöhnte sich irgendwann dran, öfter Mal um ein Haar davonzukommen. Ich war wohl einfach zu lange dort. "Halte ich dich eigentlich auf?", hakte ich eine kleine Weile später nach und sah sie fragend an. Ich hatte keine Ahnung, ob Faye ursprünglich noch mehr Pläne gehabt hatte, als in den Himmel zu blinzeln. Falls ja wollte ich die aber nicht mit meiner Anwesenheit durchkreuzen, wenn es etwas Wichtiges war. Auch wenn es den Kohl kaum noch fetter machen würde, wo ich der Brünetten doch ohnehin schon so viele Probleme mit meiner Existenz bereitet hatte.
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Ja, leider. Sie sollte sich all die guten Ratschläge seitens Victor - und auch Ryatt - echt mal zu Herzen nehmen und daran arbeiten, ein kleines bisschen weniger naiv durch die Strassen zu tanzen. Es war nunmal so, dass nicht alle Menschen einfach nett waren und aufeinander aufpassten und Faye für ihre Freundlichkeit und Akzeptanz mit gleichem belohnten. Manche Menschen waren auch Arschlöcher. Da sie das scheinbar in Syrien schon nicht gelernt hatte, konnte sie nur hoffen, dass Seans Familie einen bleibenden Eindruck hinterliess und sie endlich etwas vorsichtiger werden liess. Eigentlich bemühte sie sich in dieser Hinsicht momentan auch wirklich, vor allem auch für Victor und für den Tag, an dem sie ihn wiedersehen würde. Was nicht passieren würde, wenn sie weiterhin so leichtsinnig einfach jedem vertraute und alle zu sich nach Hause einlud und ihre Handynummer auf Flugblättern einmal quer durch die Stadt wirbeln liess. Sie hatte eben nicht nur Freunde auf dieser Welt, auch wenn sie das sehr gerne glaubte... "Ich arbeite daran...", murmelte sie nach einem leisen Seufzen, hob nun ihr Taschentuch an, um sich die mittlerweile versiegten Tränen hoffentlich ein letztes Mal an diesem Tag von den Wangen zu wischen. Genau wie sie auch daran arbeitete, in zehn Jahren an einem besseren Punkt im Leben zu stehen als jetzt. Wo dieser Punkt dann sein sollte, wusste sie jetzt noch nicht - nur wer da unbedingt wieder neben ihr stehen musste. Faye betrachtete Ryatt nachdenklich als er weitersprach. Sie bezweifelte nicht, dass ein Absturz in diese Richtung verdammt schnell passieren konnte, wenn man nicht aufpasste oder einfach an einem schlechten Punkt im Leben stand. Aber auch für ihn wünschte sie sich am allermeisten, dass er das Tief in den vergangenen Monaten durchgestanden hatte und es jetzt langsam wieder aufwärts ging. Auch wenn der Weg steinig war und zuallererst noch die Sozialstunden sowie eine Menge ungelöster Probleme anstanden. "Ich hoffe wirklich, dass du den tiefsten Punkt in dem Moment erreicht hast, als du blutend auf der Strasse lagst... Dass es jetzt nie mehr so kommt und du trotz all den Hürden auch langsam wieder in Richtung Sonnenschein und Glück unterwegs bist...", gab sie ebenso leise wie er bekannt. Ein bisschen Sonne und Wärme würde ihnen allen guttun und eigentlich war Faye auch der Meinung, dass es langsam an der Zeit wäre, wieder in diese Richtung einzuspuren. Also für beide von ihnen. Offenbar musste er auch nicht besonders lange auf die Antwort bangen, was das Geld der Organisation für Kriegsveteranen anging. Sie kannte zwar seine Vergangenheit nicht wirklich, rechnete ihm aber mit seiner aktuellen Situation eigentlich auch nicht allzu schlechte Chancen ein, um da ein bisschen gut wegzukommen. Wenn er noch dazu eben laut eigener Aussage eine lange Zeit der Army gedient hatte und eindeutig unter den psychischen und körperlichen Folgen davon litt, wusste sie nicht, was denn noch für Punkte anfallen müssten, um an diese Auszahlungen zu kommen. "Das ist gut... es wäre wirklich schön und auch wirklich von Vorteil, wenn das klappen würde... Und ja, ältere Menschen an PCs sind tendenziell anstrengend", pflichtete sie ihm bei, wenn sie sich auch schon ziemlich lange nicht mehr in einer Situation befunden hatte, in der das von Relevanz gewesen wäre. Beziehungsweise in der sie aktiv Notiz davon genommen hätte, wie anstrengend es wirklich sein konnte. Sie schüttelte leicht den Kopf, als er die Befürchtung äusserte, sie aufhalten zu können. "Nein, ich hab eigentlich nichts mehr vor und Arbeit steht erst Morgen wieder an...", meinte sie, auch wenn sie gerade sicherlich nicht die beste Gesprächspartnerin war und er sich vielleicht sogar wünschte, sie hätte noch einen Termin und müsste endlich gehen. "Und ja, ich arbeite wieder, aber nein, ebenfalls nicht mehr in dieser Stadt", fügte sie dem noch an und beantwortete damit seine bestimmt sofort aufgetauchte Frage.
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Ich nickte Fayes Worte nur noch schwach ab, während sie nach und nach die Spuren der Tränen aus ihrem Gesicht beseitigte. Sie täte einfach gut daran, sich ihre aufopferungsvolle Art ein bisschen abzugewöhnen. Natürlich war es gut ein grundsätzlich recht hilfsbereiter Mensch zu sein, aber man sollte es damit besser nicht so übertreiben, wie sie das in meinem Fall getan hatte. Da waren wir uns wohl alle einig, Victor eingeschlossen. Ich war auch für ihre danach folgenden Worte dankbar, weil sie nicht selbstverständlich waren. Ich dürfte mit meinem Lebenslauf und mit den Vorkommnissen der letzten Monaten nicht bei Jedem auf Mitgefühl oder nette Wünsche für die Zukunft hoffen. "Das hoffe ich auch, ja. Allein deswegen schon, damit es dein... euer Opfer zumindest ansatzweise wert war... und weil's sehr unangenehm ist, aufgespießt zu werden.", murmelte ich. Eigentlich war ihre Aufopferung so oder so keine gute Idee gewesen und es hatte ihr in jedem Fall mehr Schwierigkeiten gebracht, als es bei mir am Ende beseitigte - aber ich lebte noch, weil sie so darauf gepocht hatte. Ich sollte also wirklich versuchen noch irgendwas halbwegs Anständiges aus mir zu machen. Was auch immer das am Ende sein würde, ich hatte wirklich noch nicht ansatzweise irgendeinen Plan für meine Zukunft. Gestaltete sich auch etwas schwierig, so mit absolut nichts anderem als meiner Army-Laufbahn in der Hand. Auf erneute Bekanntschaft mit der Klinge eines Messers konnte ich selbstredend ebenfalls bestens verzichten. Vorerst blieb mir jedoch nichts weiter übrig als einfach zu hoffen, dass der Verein meine Kosten übernahm und ich zumindest finanziell gesehen erstmal ungeschoren davonkam. Dass Faye inzwischen schon wieder arbeitete, obwohl sie mental offensichtlich noch sehr mitgenommen war, wunderte mich ein bisschen, weshalb meine Augenbrauen auch überrascht nach oben zuckten. Gerade in ihrem Tätigkeitsfeld sollte man wahrscheinlich besser eine recht stabile Psyche mitbringen... wobei sie jetzt theoretisch auch was ganz anderes machen konnte, wenn sie nicht mehr ihrem alten Job nachging. "Bist du wieder als Lebensretterin unterwegs?", hakte ich mit einem Schmunzeln nach. Der Job schien an sich sehr gut zu Faye zu passen, wenn man sich ihre ganze Art und ihren Umgang mit Menschen ansah. Sie wäre spätestens dann, wenn es ihr wieder gut ging, bestimmt ein Gewinn für jedes Krankenhaus, auch wenn sie am Tag meines Zusammenstoßes mit Sean besser Zuhause geblieben wäre. Da Faye offenbar heute nichts mehr weiter geplant hatte, kam mir spontan eine Idee, während ich mich ein weiteres Mal außerhalb des Wagens umsah. Vielleicht war die nicht gut, weil die Brünette am liebsten absolut nirgends mit mir gesehen werden würde, aber mehr als nein sagen konnte sie nicht. Außerdem hatte ich auch nichts zu verlieren. Ich war jetzt schon besser mit ihrer kurzen Gesellschaft dran als vor unserem unverhofften Treffen, weil ich vorhin ansonsten einfach nur zurück zum Heim gegangen wäre. Weil es da eben wärmer war als draußen und es früher oder später immer was zu Essen gab, mal mehr und mal weniger lecker. "Kennst du das Diner am Fluss?" Das Gewässer, das durch die Stadt verlief, war nicht besonders beeindruckend und sowas wie einen Handelshafen gab es hier dementsprechend auch nicht. Allerdings liefen sehr viele Spaziergänger liebend gern an jenem kleinen Fluss entlang und deswegen war mir das Diner dort schon länger sympathisch. Man fiel dort nicht auf, weil einfach immer Menschen dort waren, selbst wenn sie nur vorbeigingen und es kalt draußen war. Das Wetter musste schon hochgradig ekelhaft sein, damit sich dort Niemand aufhielt. Das Diner selbst war im Regelfall auch gut besucht und man lief dementsprechend nicht Gefahr spontan erstochen zu werden. Keine Seans, keine Rileys, keine Gils und auch keine Mateos. "Ich krieg langsam Hunger... und Karen hebt meistens ein paar Kuchenstücke vom Vortag auf. Die sind dann immer noch sehr viel besser, als das Essen im Heim.", formulierte ich meinen Vorschlag unsere Unterhaltung örtlich zu verschieben eher indirekt und zuckte am Ende mit den Schultern, bevor ich meine Augen wieder zurück zu Faye wandern ließ. Ich kam dort eben auch an ein Stück Kuchen, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. Ursprünglich hatte Karen das übrige süße Gebäck am Ende des Tages oft selbst mit nach Hause genommen oder ihren Nachbarn gegeben, um es nicht wegschmeißen zu müssen, weil sie das zu verschwenderisch fand. Seit ich mal aus Hungersnot sehr verzweifelt dort eingekehrt war und nachgehakt hatte, ob sie mir nicht irgendwas für ein paar Pennys über den Tresen zuschieben konnte, behielt sie aber meistens ein oder zwei Stücke im Diner. Sie war ein mindestens ebenso gutherziger Mensch wie Faye, nur wahrscheinlich ungefähr schon doppelt so alt.
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Beides davon war leider sehr wahr. Die Erfahrung, ein Messer im Bauch zu haben, war absolut nicht zu empfehlen - mindestens ebenso beschissen war es aber auch, den Psychoterror in der Scheune durchgemacht zu haben. Ryatt tat also gut daran, sich die zweite Chance, die er durch sein Überleben und das gleichzeitige Entfallen der Haftstrafe gewonnen hatte, gut zu nutzen. Das war vielleicht leichter gesagt als getan, aber da sie sich bestens mit solchen Wiedereinstiegen ins Leben auskannte, wusste sie zumindest einigermassen, wovon sie sprach. Das Geldproblem hatte sie an ihrer Stelle zwar nie gehabt - zumindest nicht in diesem Ausmass - aber dafür war sie wahrscheinlich psychisch die letzten beiden Male noch etwas mehr am Arsch gewesen als er. "Ich glaube, wir brauchen von beidem keine Wiederholungen...", murmelte sie dazu lediglich noch ein paar Worte, bei denen sie sich sicherlich einig waren. Seine erstaunte Reaktion darüber, dass sie wieder arbeitete, schrieb sie mal spontan ihrem Allgemeinzustand zu, den er als eher nicht arbeitsfähig eingestuft haben könnte. Aber es war ja nicht immer so schlimm... "Ja... meistens jedenfalls. Ist eine etwas andere Funktion, aber den Grossteil meiner Zeit verbringe ich noch immer im Krankenwagen", bestätigte sie die Frage. Sie liebte diesen Job trotz all seinen Schattenseiten auch heute noch und ihre Berufswahl war eine der wenigen wichtigen Entscheidungen ihrer Vergangenheit, die sie noch immer vollumfänglich gutheissen konnte. Sie konnte das tun, was sie liebte und was sie im Grossen und Ganzen auch wirklich am besten konnte. Es war ein Job, der sie zu hundert Prozent forderte und ihr besonders in Zeiten wie jetzt unendlich dabei half, den Alltag zu stemmen. Sie konnte bei der Arbeit nicht unkonzentriert sein, nicht über die Dramen ihres Lebens nachdenken. War für die Dauer ihrer Einsätze somit in einer ganz anderen Welt und das war gut so. "Ich bin psychisch nicht ganz so labil, wies gerade vielleicht den Eindruck macht, Ryatt... Zehn Minuten nach der Psychotherapie bin ich meistens einfach noch etwas... aufgewühlt. Und vielleicht verstehst du, wenn diese Themen jetzt noch nicht ganz spurlos an mir vorbeigehen...", fühlte sie sich dazu verpflichtet, ihm ihre Dienstfähigkeit und mentale Gesundheit zu versichern. Wahrscheinlich tat sie das längst automatisch, weil sie es sich etwas zu sehr gewohnt war, dass andere ihre Belastbarkeit anzweifelten und sie sich diesbezüglich verteidigen musste oder wollte. Ein ewiges Problem, das bekanntlich auch die Beziehung zu Victor ständig aufs Neue erschwert hatte. Aber Victor war nicht der Erste, der so dachte. Julian und Aryana waren darin auch immer sehr gut gewesen, beziehungsweise war Aryana es noch immer. Über den Vorschlag, ihre Unterhaltung örtlich zu verschieben, dachte die Brünette kurz nach. Sie kannte das Diner nicht, aber grundsätzlich klang es so, als wären sie dort eher nicht alleine. Also diesbezüglich ein sicherer Ort. Kuchen klang auch nicht schlecht und sie wusste, dass ihr Alternativprogramm daraus bestand, alleine Zuhause zu sein. Etwas, das sie die letzten beiden Wochen schon viel zu oft getan hatte und an das sie sich nicht recht gewöhnen konnte, weil es Faye schlicht nicht zusagte. "Kenne ich nicht... Aber klingt gut für mich. Ist es weit von hier? Also mit dem Auto oder zu Fuss?", erkundigte sie sich, wobei ihre Augen wieder auf seinem Gesicht lagen. Sie ging eher nicht von einem Spaziergang aus, weil das mit ihrer kombinierten Paranoia einfach nicht entspannt sein konnte. Sie ging gerne spazieren - aber bitte überall nur nicht in dieser Stadt.
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Goldrichtig. Auf eine Wiederholung konnten alle Beteiligten bestens verzichten. Selbst die Hernández-Geschwister, weil Sean noch viel weniger irgendwann zurück auf freien Fuß kam, wenn er nochmal dreißig Jahre bekam. Die würde er wahrscheinlich gar nicht mehr vollständig erleben. Zumindest würde ich mal ganz unwissend behaupten, dass vermutlich die wenigstens Menschen im Knast um die 90 Jahre alt wurden. Faye schien ihrem Beruf auf jeden Fall treu geblieben zu sein, auch wenn es scheinbar nicht mehr die exakt selbe Tätigkeit wie zuvor war. "Ich kann mir dich auch nur schwer in einem anderen Job vorstellen. Passt gut zu dir... soweit ich das beurteilen kann.", was nur begrenzt der Fall war, weshalb ich ihr kurzum ein schiefes Grinsen zuwarf. Ich kannte Faye nüchtern betrachtet eigentlich zu wenig, um das vollumfänglich bewerten zu können. Aber ich wusste, dass sie ihren Job gut machte und mich erfolgreich zusammen mit ihrem Kollegen von der Straße gekratzt hatte. Wusste auch, dass sie selbst mit halluzinierenden Kriegsgeschädigten umgehen konnte und demnach sicher auch sehr vielen anderen herausfordernden Situationen in diesem Beruf gewachsen war. Ihre Hilfsbereitschaft und ihre Fähigkeit die richtigen Worte zu finden waren gut in einem Krankenwagen aufgehoben, das konnte ich mit Sicherheit behaupten. Der Ausdruck in meinen Augen schwenkte zurück zu einer Mischung aus fragend und nachdenklich, als die Brünette sich zu rechtfertigen begann, obwohl ich kein Wort darüber verloren hatte, dass ihre Psyche noch etwas angekratzt war. Zumindest eben nach einer Therapiesitzung, wie sie es sagte. War gut möglich, dass sie den Rest des Tages tendenziell weniger verloren in den Himmel starrte und auch keine einzige Träne verlor - konnte ich halt nur absolut gar nicht beurteilen, weil ich noch nie einen ganzen Tag unter zumindest fast normalen Umständen mit ihr verbracht hatte. "Hab ich dir das Gefühl gegeben, dass du das an dieser Stelle sagen musst?", fragte ich sie. Meine Stimmlage vollkommen ruhig und neutral, maximal sehr unterschwellig neugierig. Ich musterte dann ihre Gesichtszüge, um nichts von ihrer Reaktion auf diese Frage zu verpassen. Ich war nicht ihr Arbeitgeber oder ihr Vater - mir musste sie nicht erklären, dass sie auch wirklich arbeitsfähig war. Auch dann nicht, wenn ich es in Gedanken vielleicht ein bisschen anzweifelte. Lag es am Zucken meiner Augenbrauen? Am Schmunzeln? Der Kombination aus beidem? "Du kannst deine Psyche mit Sicherheit sehr viel besser einschätzen als ich.", ergänzte ich mit einem schwachen Schulterzucken. Natürlich kreisten meine Gedanken jetzt unweigerlich weiter darum, wie es ihr wirklich ging - die Tränen konnte man gut unserem Gesprächsthema und der vorangegangenen Therapie zuschreiben, das war rückblickend durchaus plausibel. Vielleicht war sie auch grundsätzlich etwas näher am Wasser gebaut als andere Leute, das war von Mensch zu Mensch sehr individuell. Auch mit meiner erlernten Menschenkenntnis als Befehlshaber in der Armee konnte ich ihr allerdings noch lange nicht in den Kopf gucken - auch wenn ich's gerade gern tun würde. Sie schien jedenfalls einverstanden damit zu sein unser Gespräch zu verlegen, also kam wieder etwas mehr Bewegung in mich und ich griff nach dem Anschnallgut. "Höchstens zehn Minuten mit dem Auto bis zum Parkplatz da in der Nähe, denke ich.", sagte ich und fixierte den Gurt. Es war nur eine Schätzung, weil ich eben nicht wirklich oft mit dem Auto gefahren war, seit es mich in diese Stadt verschlagen hatte. Ich überschlug die Strecke also nur grob im Kopf und versuchte die Ampeln auf dem Weg einzukalkulieren, spielte auf die kurze Strecke liebend gerne auch das Navigationssystem für Faye. Von dem Parkplatz aus waren es dann nur ungefähr 75 Meter bis zum Diner, wir brauchten also dort angekommen nicht lange draußen herumzulaufen, sondern konnten uns zügig wieder hinter Mauern - beziehungsweise Fensterscheiben - flüchten.
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Mit seinen Worten zauberte er doch ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Es war immer schön zu hören, dass auch andere Leute ihre Berufswahl als passend empfanden - auch wenn Ryatt sie nicht wirklich gut kannte und das entsprechend vielleicht auch nicht so gut beurteilen konnte. "Danke... Es war tatsächlich schon immer mein Traumberuf", gab sie zu. Kaum hatte sie gewusst, dass sie eines Tages erwachsen sein und arbeiten würde, war für sie klar gewesen, in welche Richtung es gehen sollte. Zuerst hatte sie zwar auch alle möglichen anderen Berufe im Krankenhaus attraktiv gefunden, aber diese Funktion im Rettungswagen hatte sie doch stets am meisten gelockt. Trotz den vielen Stimmen, die gerne immer wieder kritisch oder besorgt gefragt hatten, ob sie sich denn sicher war, die mentale und körperliche Belastung dieser Arbeit verkraften zu können. Weil man ja nicht nur schöne Dinge sehen würde, wenn man als Erstes auf einer Unfallstelle eintrifft. Womit sie dann auch schon gedanklich bei dem Thema war, zu welchem Ryatt die nächste Frage stellte. Faye musste tatsächlich kurz nachdenken und zuckte dann fast etwas verlegen mit den Schultern. "Du hast mich etwas zu überrascht angeschaut, vielleicht...", murmelte sie und blickte dann wieder in sein Gesicht, von dem ihre Augen kurzfristig abgedriftet waren. "Aber es liegt wohl eher daran, dass ich oft etwas empfindlich darauf reagiere, wenn ich das Gefühl habe, jemand könnte meine Belastbarkeit oder psychische Stabilität anzweifeln. Passiert mir im Leben für meinen Geschmack zu häufig...", gab sie den eigentlichen Grund ihrer vorschnellen Rechtfertigung bekannt. Vielleicht sollte sie aufhören, immer gleich davon auszugehen, dass jeder sie für traumatisiert und schwach hielt und sie ständig allen versichern musste, dass es nicht so war. Aber bis sie das geschafft hatte, dürfte noch etwas Zeit vergehen... Sie war ja sowieso gerade dabei, ihre Psyche irgendwie von Grund auf wieder aufzubauen, damit die ganzen Baustellen, Risse und provisorischen Reparaturen irgendwann beseitigt wären - da nahm sie dieses Projekt natürlich gerne noch in den viel zu vollen Kalender auf. Das vorgeschlagene Diner schien da weitaus leichter erreichbar zu sein, weshalb auch Faye den Sicherheitsgurt wieder umlegte und den Zündschlüssel drehte. Sie liess sich von Ryatt durch die Strassen leiten und es dauerte tatsächlich weniger als die angekündeten zehn Minuten, bis sie den angesteuerten Parkplatz erreichten. Hier war in der Tat etwas mehr los und trotz dem kalten Wetter spazierten einige Leute dem Flussufer entlang. Hauptsächlich Hundehalter, deren Haustieren natürlich eher egal war, ob es ihre Herrchen nun wirklich nach draussen zog oder nicht. Durch die Glasfassade war ausserdem gut ersichtlich, dass auch das Diner selbst für diese Tageszeit an einem Wochentag verhältnismässig gut besucht war. Alles Umstände, die doch dazu beitrugen, dass sie sich relativ entspannt fühlen konnte und nicht befürchten musste, sich mit einer der Visagen ihrer momentan grössten Feinde konfrontiert zu sehen. So klickte Faye nach einem prüfenden Rundumblick den Gurt aus der Schnalle, warf Ryatt noch einen kurzen Blick zu, um sich zu versichern, dass er ebenfalls keine Geister erblickt hatte, bevor sie schliesslich ausstieg. Karen - oder jedenfalls war Faye sich fast sicher, dass es sich bei der Frau hinter dem Tresen, die mit einem herzlichen Lächeln ihre Gäste bediente, um Karen handeln musste - schien auch anwesend und winkte Ryatt direkt zu, kaum trennte sich die Schiebetür, damit sie eintreten konnten.
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Es war für mich immer ein bisschen faszinierend, wenn Jemand schon immer sowas wie einen Traumberuf gehabt hatte. Aus dem einfachen Grund, dass das bei mir niemals der Fall gewesen war. Meine Eltern hatten entschieden wo es für mich hinging. Ich war zwar der Ansicht, dass es ein paar Monate Bootcamp auch getan hätten und es nicht unbedingt gleich die Army hätte sein müssen, aber sei's drum. "Schön, dass es dir offenbar immer noch Freude macht.", lächelte ich, bevor mein Blick wieder durch die Scheibe schweifte. Man konnte nicht von Spaß reden, weil man in diesem Beruf doch öfters mit wenig spaßigen Situationen konfrontiert war. Aber Verletzten und Kranken zu helfen schien sie zu erfüllen und nach einem guten Tag ging sie dann bestimmt mit einem Lächeln nach Hause. Faye war in der Zwischenzeit losgefahren und während ich sie lotste überlegte ich noch, was ich denn nun dazu sagen sollte, dass sie oft mit kritischen Stimmen hinsichtlich ihrer Psyche konfrontiert war. Ich hatte das selbst öfter mal bei den mir Untergebenen beurteilen müssen - man konnte schließlich keinen Soldaten wieder raus schicken, der offenbar nicht mehr imstande war ohne zu zittern eine Waffe zu halten. Aber das war dann eben auch ein offensichtlicher Fall von Dienstunfähigkeit und ohne Faye aktuell bei ihrer Arbeit zu sehen, war da eine Beurteilung meinerseits schwer möglich. "Mein Fehler - kommt nicht wieder vor.", versicherte ich ihr, dass ich eine derartige Reaktion zukünftig zu vermeiden versuchen würde. Allerdings begann ich mich nun doch zu fragen, warum sie denn häufig als labil gesehen wurde. Mir hatte sie dafür noch nicht viele Gründe gegeben. Selbst als sie in meinem Beisein das erste Mal auf Sean getroffen war, hatte sie einen verhältnismäßig kühlen Kopf behalten und war damit sicher sehr vielen anderen Menschen weit voraus. Allerdings wusste ich noch nicht recht, wie ich weiter danach fragen könnte, ohne ihr dabei zu nahe zu treten, weshalb ich damit noch wartete. Die Fahrt zum Diner war nämlich recht schnell abgehakt und als die Umgebung dort als vermeintlich sicher eingestuft war, gingen wir ohne Umweg in das Restaurant mit simplen Speisen auf der Karte. Auf dem Weg dorthin zog ich aus Gewohnheit die Kapuze wieder über. Als Karen mich erblickte ließ sie mir bereits aus der Distanz heraus eine Begrüßung zukommen, was mich darauf schließen ließ, dass sie schon auf meinen nächsten Besuch gewartet hatte. "Ich hab mir langsam schon Sorgen gemacht, mein Lieber.", hängte sie milden Tadel mit hochgezogener Braue an, als ich zum Tresen aufgeschlossen hatte, wo ich ihr gegenüber innehielt. "Tut mir leid, Karen... Ich hatte einen kleinen Unfall. Bin jetzt aber wieder quicklebendig, wie du siehst.", spielte ich die Geschehnisse ganz bewusst stark runter. Sie schien ihrem Gesichtsausdruck nach etwas unzufrieden mit der wenig detaillierten Erklärung, weshalb ich ihr keine Zeit ließ weiter nachzufragen. "Du hast nicht trotzdem vielleicht ein Stück Kuchen für mich..?", hakte ich nach und sah sie dabei etwas schuldbewusst an. Karens Blick wanderte einen kurzen Moment lang zwischen Faye und mir hin und her. Vermutlich weil es das erste Mal war, dass ich nicht alleine hier aufkreuzte und dann handelte es sich dabei eben auch noch um eine nicht obdachlose, junge Frau. Ganz gleich, was sie daraus nun für Schlüsse zog, nickte sie schließlich mit einem mehr schlecht als recht unterdrückten Grinsen, das auch die Krähenfüße an ihren Augen verstärkte. "Ich komm gleich zu euch.", war alles, was sie dann noch sagte. Sie wandte sich daraufhin ein paar frisch gespülten Gläsern zu, die vor unserer Bestellung wohl zuerst noch zurück ins Regal gestellt werden wollten. Ich sah kurz zu Faye und setzte mich dann gewohnt schwach hinkend in Bewegung, um zu einem der Tische weiter hinten im Diner zu gehen. Von dort aus hatte man noch immer einen ganz guten Blick zum Fluss, aber es liefen nicht ständig irgendwelche Leute direkt am Tisch vorbei, was ich grundsätzlich bevorzugte. Auch jetzt noch, wo ich weniger nach obdachlos roch und aussah, weil das Heim natürlich auch sanitäre Anlagen inkludierte. Ich ließ mich auf den klassisch roten Lederbezug der Sitzbank sinken, wo ich dann auch die Jacke gänzlich abnahm. Es war immer recht kuschelig warm hier drin, was zu dieser Jahreszeit ein weiterer angenehmer Pluspunkt war.
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Ja, mit ihrer Berufswahl hatte sie definitiv Glück gehabt. Wenn sie jetzt zu allem anderen hinzu auch noch einer Arbeit nachgehen müsste, die sie kaum begeisterte oder die sogar ernsthaft scheisse wäre, dann würde das ihre Situation definitiv nicht erträglicher machen. So hatte sie wenigstens diesen einen aber eben auch wichtigen Punkt, um den sie sich nicht scheren musste und dank dem sie jeden Tag einige Stunden dem ganzen Drama entfliehen konnte, mit dem sie sich sonst in ihrem Kopf ständig konfrontiert sah. All die Gedanken, die hauptsächlich Victor, aber eben auch ihre Selbstzweifel, ihre Psyche, die Flashbacks und Gils Stimme betrafen - es war wirklich erleichternd, diese zumindest zwischenzeitlich los zu sein. Faye musterte die Inhaberin - oder Angestellte, aber so wie Ryatt gesprochen hatte, müsste Karen in diesem Diner eigentlich schon zumindest eine wichtigere Funktion innehaben - mit offenem Interesse und einem schwachen Lächeln, als diese zu einer Begrüssung ansetzte. Scheinbar hatte sie Ryatt bereits vermisst und seiner Antwort nach zu urteilen, war er auch seit seiner verhängnisvollen Auseinandersetzung mit Sean nicht mehr hier gewesen. Die Frau schien ihm das aber gerade noch verzeihen zu können, so wie sie grinste und sich offensichtlich über seine Anwesenheit freute. Und über ihre Eigene wohl auch, wenn Faye das Grinsen richtig deutete. Sie interpretierte das mal so, dass Ryatt wohl nicht allzu oft in Begleitung hier vorbeischaute und Karen sich entsprechend darüber freute. Er hatte ja vorhin bereits gesagt, dass er logischerweise jetzt nicht mehr als vor seinem Krankenhausbesuch auf ein besonders ausgeprägtes Netz von Freunden zurückgreifen konnte und vielleicht wusste oder vermutete Karen das bereits. War ja leider eher Regel als Ausnahme bei obdachlosen Personen... Faye begab sich ebenfalls zu dem auserkorenen Tisch im hinteren Bereich des Diners und liess sich ihm gegenüber ins Polster sinken. Auch sie schälte ihren Körper aus dem Schutz der dicken Winterjacke, legte diese neben sich auf die Bank und blickte dann, während sie sich noch die leicht geladenen Haare etwas ordentlich nach hinten über die Schultern strich, mit einer hochgezogenen Augenbraue zu Ryatt. "Du hattest also einen kleinen Unfall? Erzähl mir mehr - bist du über nen Bordstein gestolpert oder vielleicht doch eher beim Basketball gestürzt?", fragte sie sarkastisch, wobei das Lächeln wohl ausreichend aussagte, dass sie ihm sicher nicht ernsthaft einen Vorwurf dafür machte, dass er Karen nicht mal eben über die Theke weg zugeschrien hatte, dass er ein Messer in den Bauch gekriegt hatte und dabei möglicherweise fast gestorben wäre.
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Es war vorhersehbar, dass Faye auf meine nette, kleine Umschreibung der Vorkommnisse noch zurückkam. Konnte man ihr auch nicht verdenken, wo ich mit meiner Wortwahl extrem weit von der Realität entfernt war. Ein leichtes Grinsen schlich sich in meine Gesichtszüge, als ich die Hände hob und sie auf der Tischplatte ineinanderlegte, während ich mich leicht nach vorne auf die Unterarme abstützte. Ich kam nicht umher den Kopf ein bisschen hin und her zu wiegen und die Schultern leicht nach oben zu ziehen. "Tja, was soll ich sagen... war leider ein echt hoher Bordstein und ich bin einfach sehr tollpatschig, das kann einen schonmal fast umbringen.", grinste ich und ließ die Schultern wieder sinken. Irgendwie war dann auf dem Gehweg halt auch noch ein Messer senkrecht im Boden gesteckt und hatte sich in meinen Körper gebohrt, konnte doch Jedem mal passieren. Ich sah noch einmal in Karens Richtung, um mich zu vergewissern, dass sie noch nicht auf dem Weg hierher war, wobei meine Mundwinkel zu einem milderen Lächeln absanken. "Ich verschone sie immer von dem ganzen Mist, den ich am Hals habe. Ihr Sohn war auch bei der Army, hatte aber kein Glück. Manchmal hab ich das Gefühl sie assoziiert mich ein bisschen mit ihm, deswegen... lieber ein paar Notlügen.", meinte ich und zuckte schwach mit den Schultern, bevor mein Blick zurück zu Faye wanderte, weil Karen sich auf den Weg zu uns machte. Sie hatte sonst keine Kinder und auch wenn ich nicht ihr Sohn war, fühlte es sich öfter mal so an, als würde sie das gerne hin und wieder auf mich projizieren. Wahrscheinlich an Tagen, wo sie ihn noch mehr vermisste als sonst. Er wäre jetzt sogar etwa in meinem Alter, wir hatten uns mal über ihn unterhalten - wenn auch nicht lange, weil ihr das Thema wahrscheinlich für immer Schmerz bereiten würde. Karen hatte den Stift und den kleinen Notizblock schon in der Hand, als sie neben uns zum Stehen kam. Ihr Blick fiel zuerst wieder auf mich. "Was du bekommst weiß ich ja schon...", nahm sie meine Bestellung wie immer schon vollkommen selbstständig auf, weil ich sowieso keine Auswahl hatte. Ich bekam eben den Kuchen, der gestern übrig geblieben war. Ihr Blick glitt demnach weiter zu Faye, der sie ein liebreizendes Lächeln schenkte. "Und was kann ich dir bringen, Herzchen?", erkundigte sie sich nach Fayes Wünschen. Schon während die Brünette noch damit beschäftigt war zu antworten, schwankten meine Gedanken zurück zu dem Gespräch, das wir im Wagen beendet hatten. Ob es nur an Fayes Berufswahl lag, dass sich häufiger mal Jemand Sorgen darum machte, ob sie mental fit war? War möglich, aber doch eher unwahrscheinlich. Sie war schließlich nicht erst 20 Jahre alt - oder zumindest sah sie nicht so aus, ich könnte mich rein theoretisch irren - und sie war dementsprechend schon länger mit dieser Tätigkeit unterwegs. Musste also was anderes sein. Als Karen die Bestellung komplett hatte, trat sie den Rückweg wieder an und ich wartete nur noch bis sie sehr wahrscheinlich außer Reichweite war, bevor ich den Mund erneut aufmachte. "Woran liegt das? Dass sich Andere ständig um deinen Kopf sorgen, meine ich.", kam ich sehr direkt zurück auf den Punkt. Wahrscheinlich war Faye dieses Thema auch nicht so lieb, aber sie würde mich schon in die Schranken weisen, wenn sie darüber kein Wort mehr verlieren wollte. Zudem hatte sie vorhin selbst noch beteuert, keine Samthandschuh-Behandlung zu brauchen, was ihre Psyche anging. Ich kam häufig leider nicht gut gegen meine eigene Neugier an... außerdem war es in den letzten Monaten auch nur selten bis gar nicht vorgekommen, dass mir überhaupt eine Person begegnet war, über die ich gerne mehr erfahren hätte. Ich würde auch wirklich gerne etwas besser hinter Fayes Taten blicken können, weil ich sie mir bis jetzt nicht erklären konnte. Es einfach keinen Sinn ergab, dass sie so für mich in Bresche gesprungen war und so viel riskiert hatte, ohne dass es für sie selbst einen Mehrwert gehabt hatte. Es würde mich also doch sehr wundern, wenn nicht irgendwie mehr hinter Alledem stecken würde. Ein solches Verhalten war allein durch Nächstenliebe eher nicht ausreichend zu begründen, denn selbst die hatte bekanntlich irgendwo ihre Grenzen.
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"Das klingt wirklich tragisch... Ich hoffe, du hast dich gut davon erholt und trägst keine bleibende Angst vor Bordsteinen davon", stimmte sie in seine neue, bedauerliche Alternativgeschichte mit ein, schüttelte mitleidig den Kopf, ohne dabei das Lächeln abzulegen. Wahrscheinlich wäre ein Bordstein-Stolperer wesentlich weniger folgenreich ausgegangen als sein Kennenlernen mit Seans Messer, aber das wurde hier von allen Anwesenden gekonnt ignoriert. Die folgende Erklärung machte auch gut verständlich klar, warum Ryatt nicht unbedingt mit Karen über seine Probleme reden wollte. Noch so eine Person, die mit den verheerenden Schattenseiten der Army konfrontiert worden war... Vielleicht nicht durch direkten Kontakt mit dem Geschehen an der Front, aber durch ihren Sohn, der ihr durch die sinnlosen Kriegsaktivitäten dieses Landes entrissen wurde. Ein schreckliches Schicksal, wie sie bestens nachvollziehen konnte. Faye hatte zwar keine Kinder, glaubte aber doch, Karens Verlust bis zu einem gewissen Grad mit ihrem eigenen, durch Julians Tod verursachten Schmerz vergleichen zu können. Beides waren Beziehungen gewesen, die wohl als fast lebenswichtig anerkannt worden waren, bevor sie ein so abruptes, grausames Ende gefunden hatten. Aber das war genauso ein Thema, über das Faye wirklich nicht nachdenken sollte, falls sie nicht direkt wieder ins Loch fallen und für den Rest des Tages ihrem Bruder nachtrauern wollte. Glücklicherweise wurde ihr Denken sowieso unterbrochen, als Karen den Weg an ihren Tisch fand und Faye direkt ausgesprochen liebreizend nach ihren Wünschen fragte. Ein Bisschen irritierend war das schon - auch wenn sie natürlich nichts gegen liebe Menschen hatte. Es war nur ein Bisschen ungewohnt, hier behandelt zu werden wie eine kleine Prinzessin, obwohl sie zum ersten Mal in diesem Diner sass. Aber vielleicht tat Karen das auch bei allen Gästen - zuzutrauen wäre es der netten Dame auf jeden Fall. Faye entschied sich schlussendlich für eine warme Zimtschnecke, wie sie sie vorhin beim Vorbeigehen bei einem anderen Gast vom Teller hatte lachen sehen und einen Cappuccino, woraufhin die Wirtin sich zufrieden wieder abwandte, um ihren Wünschen nachzukommen. Die Brünette blickte ihr noch kurz lächelnd nach, bevor ihre Augen zurück zu ihrem Gegenüber fanden. Gerade rechtzeitig, um dessen unverhoffte Frage aufzufangen, die sie doch erstmal dezent verwirrte. Zum Einen, weil sie doch erst dann verstand, worauf er überhaupt hinauswollte, als er das genauer erklärte und zum anderen, weil er offenbar seit ihrer Autofahrt darüber nachgedacht hatte, warum ihre Belastbarkeit heute nicht zum ersten Mal vermeintlich angezweifelt worden sein könnte. Doch auch als sie verstanden hatte, brauchte sie noch einen Moment, um sich irgendeine Antwort zurechtzulegen. Es gab nunmal nicht nur einen einzigen Grund, mit dem sie seine Neugier stillen könnte. Keine einfache Erklärung. Es war genaugenommen viel mehr ihre gesamte Geschichte, die dahintersteckte. Die Beziehungen, die sie pflegte, ihre Art, mit Trauma umzugehen, ihr Charakter... Wo also sollte sie anfangen, ohne direkt alles auf den Tisch zu packen? Vor einem Mann, den sie trotz allem, was sie verband, noch kaum kannte? "Das ist nicht ganz so einfach zu begründen...", falls er das an ihrer langen Denkpause noch nicht erahnen konnte. "Aber... ein Teil davon liegt sicher daran, wie ich... mit vergangenen traumatischen Erlebnissen umgegangen bin. Das war nicht immer... allzu geschickt, müsste ich rückblickend betrachtet wohl zugeben", begann sie mit ihrer noch immer sehr vagen Erklärung. Ja, sie wusste mittlerweile auch, dass es keine gute Idee gewesen war, ohne es wirklich zu wollen mit drei abstossenden Männern ins Bett zu steigen, nur um nach dem Tod ihres Bruders wieder zu ihrer Schwester zu kommen. Noch dazu, wenn das bedeutete, dafür mit der Army in den Krieg zu ziehen. Sie wusste auch, dass diese ganze Army-Sache in sich einfach hirnrissig gewesen war, weil das alles sie nachhaltig geschädigt hatte - nicht nur das Ende ihrer Karriere, sondern alles davon. Auch dass sie sich eine kurze Zeit lang immer wieder die gleiche Klinge durch die Haut gezogen hatte, bloss weil sie sich so sehr gehasst und Victor sie nicht mehr beachtet hatte, weil sie ihn so verletzt hatte mit der ganzen Warren-Geschichte, war im Nachhinein eine sehr dumme Idee gewesen. So dumm wie der Selbstmordversuch im Krankenhaus vor zwei oder drei Monaten. Sie könnte die Liste auch noch weiter führen, aber der Punkt war wohl deutlich: Sie wusste, warum ihr Verstand und ihre mentale Stabilität immer mal wieder angezweifelt wurden. Gerade auch, weil sie so schnell weinte, weil sie seit immer so nah am Wasser gebaut war - das weckte auch ständig den Eindruck, als würde sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs stehen.
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Ich lachte leise in mich hinein und ließ dabei den Kopf nach vorne kippen, schüttelte ihn ein bisschen. Bordsteine waren jetzt natürlich der Staatsfeind Nummer Eins für mich und ich versuchte sie zu umgehen wo ich konnte, so traumatisch war das Erlebnis gewesen. So oder so ähnlich. "Ich will nicht lügen... es kostet mich jetzt jedes Mal Überwindung, einer von diesen heimtückischen Kanten gegenüberzutreten.", führte ich mit einem gespielt tragischen Seufzen das läppische Spiel noch einmal fort, als ich den Kopf wieder anhob. Unterstrich dann mit einem bemitleidenswerten Blick noch meine vorherigen Worte, die allerdings bald schon in den Hintergrund rückten. Ich hatte nichts gegen ein bisschen Ironie hier und da, aber es war doch sehr viel interessanter mehr über die Brünette herauszufinden. Sie ließ mich ohnehin eine ganze Weile auf eine Antwort warten, was ich jedoch nicht als negativ wertete. Das bedeutete, dass sie sich Gedanken dazu machte, was sie denn nun dazu sagen sollte... nur, um mir dann eine ausschließlich oberflächliche Antwort zu geben. Viel mehr konnte ich bei unserem aktuellen Bekanntschaftsgrad vermutlich auch nicht erwarten. Wenn ein mehr oder weniger großer Teil ihrer nicht so erfolgreichen Trauma-Bewältigung diesem Problem mit ihren Mitmenschen zugrunde lag, dann würde sie diese Thematik jetzt wohl eher noch nicht ausführlich mit mir besprechen, nur damit ich mir einen Reim auf ihr nicht ganz nachvollziehbares Verhalten machen konnte. "Hmmm...", war meine erste, hörbar nachdenkliche Reaktion auf ihre Antwort und ich löste meine Augen langsam von ihrem Gesicht. Richtete den Blick stattdessen aus dem Fenster und verfolgte ein älteres Paar mit den Augen, das am Fluss entlangging und sich über Irgendetwas unterhielt. Das einzige, worum ich ältere Menschen wohl wirklich beneidete, war ihre Lebenserfahrung und die daraus resultierende Weisheit. "Naja... aber wer geht schon wirklich geschickt mit einem Trauma um..?", antwortete ich Faye mit einer leicht gemurmelten, rhetorische Frage, ohne den Blick von der Welt außerhalb des Diners abzuwenden. Egal um was für eine Art von Traumata es sich nun bei Faye handelte, so waren es - der Betitelung entsprechend - grundsätzlich Dinge, die sie schwungvoll aus dem Leben geworfen haben mussten. Es nannte sich schließlich Trauma, weil es einen traumatisierte. Es sich förmlich ins Gehirn einbrannte, während man selten wirklich wusste, wie man denn nun eigentlich damit umgehen sollte. Ein Trauma ging immer mit heftigen Emotionen einher und sobald ein Mensch emotional wurde, handelte er selten geschickt oder gar sinnvoll. Die meisten Menschen taten in so einer Situation instinktiv einfach das, was sie vermeintlich am besten mit dem Schmerz umgehen ließ, auch wenn das im Nachhinein dann ein unter Umständen sehr verheerender Trugschluss war. Als ich weitersprechen wollte und deswegen den Kopf zu Faye zurückdrehte, kam mir erst einmal wieder Karen dazwischen. Die Inhaberin des Diners stellte uns die Getränke vor die Nase, dicht gefolgt von den beiden Tellern. Meine Mundwinkel zuckten fast schon verzückt nach oben, als ich den Apfelkuchen vor mir sah. "Danke, Karen... bist die Beste.", ließ ich sie aufrichtig dankbar wissen, dass ich ihre Gesten jedes Mal aufs Neue zu schätzen wusste. Sie schüttelte mit einem versonnenen Lächeln den Kopf. "Du bist sowieso fast der Einzige, der freiwillig den billigen Filterkaffee trinkt.", winkte sie ab. Ja, hätte ich die Wahl würde ich wohl auch auf den Kaffee mit Schaumkrone aus dem Automaten umsteigen - aber der kostete Karen eben mehr als nur 7 Pennys pro Tasse, die ich deutlich besser mit meinem Gewissen vereinbaren konnte. Dieser Kaffee hier war immer noch viel besser als gar keiner. Sie wünschte uns breit lächelnd noch einen guten Appetit, bevor sie kurz darauf wieder ihren Tresen ansteuerte. Ich wünschte Faye noch in anderem Wortlaut selbiges, ehe ich nach meiner Gabel griff. Auch das Dazwischenfunken der älteren Dame konnte meine vorherigen Gedanke aber wenig bis gar nicht in eine andere Richtung lenken, weshalb es nur zwei oder drei Gabeln voll Apfelkuchen brauchte, bevor ich mein Wort erneut an Faye richtete. "Erzählst du mir irgendwas über dich? Muss auch nichts mit dem vorher zu tun haben.", gab ich mich weiterhin ungeniert an ihrer Person interessiert. Sie musste mir ja nicht gleich die schlimmsten Erlebnisse ihres Lebens auftischen, auch wenn mich die zweifellos am meisten interessiert hätten, weil es genau diese waren, die einen Menschen am allermeisten prägten. "Aber du kannst mich auch zuerst ausquetschen, wenn's dir lieber ist.", hängte ich noch ein paar Worte mit einem Schulterzucken an. Vielleicht würde sie sich wohler damit fühlen, den Spieß erstmal umzudrehen, wo ich doch bisher so vehement am Drücker war.
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Absolut verständlich, dass er Bordsteine als bedrohlich betrachtete, wenn die Ereignisse der letzten Wochen diesen heimtückischen Stolperfallen zuzuschreiben waren. Faye schüttelte jedoch nur noch den Kopf, verdrehte dabei grinsend die Augen. Sie wussten schliesslich beide, dass die Geschichte wesentlich leichter und weniger folgenreich ausgegangen wäre, wenn der Schuldige in der ganzen Sache ein toter Stein gewesen wäre. Aber wahrscheinlich würden sie dann nicht hier sitzen, weil Ryatt in diesem Fall wohl auch nicht aus dem Krankenhaus hätte fliehen müssen, weil er ohne Sean vielleicht nie die Dinge getan hatte, die ihn letztendlich bei der Polizei so begehrenswert gemacht hatten. Faye wusste nicht genau wie sonst, aber es hätte sicherlich nicht so geendet. Vielleicht wäre Victor auch noch hier und vielleicht hätte sie keine fette Narbe auf der Brust... es gab viele Alternativen. Genau wie es eben auch viele Gründe für ihre falschen Coping-Strategien im Bezug auf Traumata gab. Die junge Frau strich sich einmal durch die Haare und zuckte auf seine Worte hin dann etwas unsicher mit den Schultern. Vielleicht war es fast unmöglich, geschickt mit Trauma umzugehen. Aber zwischen geschickt und besser als sie es bisher meistens getan hatte, lagen doch ziemliche Welten. "Vielleicht nicht perfekt... aber meine Ideen waren eben teilweise etwas mehr als bloss ein bisschen ausbaufähig...", merkte sie an, war dann gar nicht so traurig, dass Karen das Thema einen Moment lang unterbrach, als sie ihre Bestellung brachte. Die Zimtschnecke sah und roch wirklich verlockend und die Brünette bedankte sich mit einem herzlichen Lächeln, bevor Karen sich wieder verabschiedete. Auch Faye wünschte ihrem Gegenüber einen guten Appetit, bevor sie die kleine Gabel durch die noch leicht flüssige Glasur in das Gebäck grub und anschliessend zum Mund führte. Der Geschmack übertraf sogar noch ihre Erwartungen und Faye fragte sich, ob sie einfach schon so lange keine guten Zimtschnecken - nebenbei bemerkt ein absoluter Dessert-Favorit ihrerseits - mehr genossen hatte, oder ob Karen möglicherweise ein ganz besonderes Gemeinrezept besass. Nicht dass das relevant wäre, schmecken tat es sowieso ganz wundervoll. Ausserdem half das Essen dabei, über Ryatts Frage nachzudenken. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte, weil sie sich noch nicht ganz schlüssig war, wie intelligent es wäre, allzu viele Details aus ihrem Leben auszupacken und auf dem Silbertablett zu servieren. Sie vertraute ihm grundsätzlich schon, aber gewisse Ereignisse der Vergangenheit hatten auch aufgezeigt, dass sie manchmal echt naiv handelte, was das Vertrauen in fast fremde Personen anbelangte. Auch war da das unterbewusst hinderliche Wissen darüber, was Victor von diesem Gespräch hier halten würde, das sie ein bisschen ausbremste, ohne dass sie es wirklich realisierte. "Also... ich bin ursprünglich aus Denver, Colorado und wohne eigentlich erst seit etwa 1.5 Jahren hier... Aber ich weiss nicht, ob... wir für immer hier bleiben werden", begann sie nach einigen Bissen mit einer relativ harmlosen Information, die aber doch nicht ganz so uninteressant war wie etwa ihre Lieblingsfarbe. Manchmal vermisste sie ihre Heimat, die sich doch in sehr vielen Punkten von ihrem jetzigen Wohnort unterschied. Dafür waren sie hier relativ schnell am Meer, was man von Denver absolut nicht behaupten konnte, ohne dazwischen in ein Flugzeug zu steigen. Faye liess sich selbstverständlich die Chance nicht nehmen, auch eine Gegenfrage zu stellen, wenn er schon so nett war, ihr dies anzubieten. Es fühlte sich fast so an, als wäre das hier ihr erstes offizielles Kennenlernen, da sie sich bei ihren bisherigen Aufeinandertreffen meist über seine Wunde oder Sean und Co. unterhalten hatten. Aber sie hatte nicht wirklich was dagegen, denn wie gesagt: sie war einsam. Einsam in Hinsicht auf Menschen, die potenziell zumindest einen Teil ihres Traumas verstehen konnten. Ihre Freundinnen waren logischerweise nie im Krieg gewesen. Kannten die Army nicht, wussten nicht, wie gross die Teile von Fayes Persönlichkeit waren, die durch diesen Teil ihres Lebens geprägt wurden. Sie mochte diese herzensguten, fröhlichen, verständnisvollen und lustigen Frauen wirklich, aber es gab einfach Momente, da wünschte sie sich etwas anderes. Jemand anderes. Natürlich war dieser Jemand eigentlich Victor, aber da er noch eine lange Zeit nicht hier sein würde, war es sicher nicht falsch, sich nach einem Teilersatz umzuschauen. Nicht für alle Bereiche ihres Lebens natürlich - sie hatte noch immer absolut nicht vor, je auf seine letzten Worte vor dem Abschied zurückzukommen - aber für einen vielleicht. Und was interessierte sie mehr als die Gründe dafür, weshalb Ryatt in der Army gewesen war, jetzt hinkte, offensichtliches Trauma davontrug, obdachlos war und darum mit Sean angebandelt hatte? Wenig, um ehrlich zu sein. Vielleicht war das oberflächlich und eigentlich sollte sie gemäss Victor diese Fragen auch nicht stellen. Aber ihr Freund war nicht hier und sie war sich ziemlich sicher, die Wahrheit verkraften zu können. "Wie lange warst du bei der Army? Und warum bist du überhaupt gegangen?", fragte sie, wobei ihre Stimme neutral klang, jedoch mit einer guten Prise Neugier gespitzt war. Ihre Augen lagen indes wieder auf seinem Gesicht, welches sie mit leicht schiefgelegtem Kopf betrachtete. Sie betonte jetzt nicht extra, dass er diese Fragen nicht beantworten musste, wenn sie ihm zu privat waren. War relativ zuversichtlich, dass Ryatt das schon selbst sagen würde.
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Faye war gut darin mich noch neugieriger zu machen, als ich es ohnehin schon war. Warf mir hinsichtlich der schlimmen Erlebnisse in ihrem Leben noch einen weiteren winzigen Knochen zu, der nicht wirklich zufriedenstellend war. Ich übte mich in Geduld und ließ das einfach mal so stehen, wartete auf Fayes Reaktion hinsichtlich meinem fortwährenden Nachbohren. Sie schien sich allerdings nicht allzu sehr daran zu stören - zumindest nicht bei allgemeineren Fragen - und erzählte mir schließlich, wo ihre eigentlichen Wurzeln lagen. Colorado. Ich war einmal vorübergehend nach Fort Carson versetzt worden, um mich nach Beendigung eines Auslandeinsatzes dort an der Ausbildung und Fortbildung neuer Soldaten zu beteiligen. Diese Basis lag nur etwa eineinhalb Stunden von Denver entfernt, aber ich hatte Colorado Springs abgesehen von Dienstfahrten nie verlassen. Dafür hatte es keinen ausschlaggebenden Grund gegeben, ich war zum Arbeiten dort gewesen. Viel von der Landschaft gesehen hatte ich so oder so, dafür hatten die langen Läufe mit den jungen Soldaten mehr als gereicht. Ich nickte leicht vor mich hin, während ich ein Stück des Apfelkuchens runterschluckte. "Und wo gefällts dir besser?", fragte ich nach. Wenn ich Faye - oder Victor - wäre, dann würde ich wahrscheinlich nicht für immer hierbleiben wollen. Zwar wohnten sie jetzt schon woanders, aber mir persönlich wäre das nicht genug Distanz. Hätte ich eine Wahl wäre ich schon längst nicht mehr hier. War aber auch nicht so als hätte ich mir genau diese Stadt hier spezifisch ausgesucht - ich war so lang immer weiter rumgefahren, bis kein Geld für Sprit mehr da gewesen war. "Ich war mal für ein paar Monate in Colorado... Fort Carson sagt dir sicher was, Colorado Springs ist ja nicht so weit von Denver. War schön da.", erzählte ich und schwelgte dabei automatisch kurz in der Vergangenheit, während ich das nächste Stück vom Kuchen mit der Gabel abbrach. Es würde mich zumindest stark wundern, wenn Faye noch nie von diesem Stützpunkt gehört hatte, obwohl sie mehr oder weniger in der Nähe wohnte. Er war nicht grade klein und dementsprechend waren sicher öfter mal Armeefahrzeuge durch Denver gepilgert. Auf jeden Fall konnte ich behaupten, dass Colorado durchaus ein schönes Fleckchen Erde war. Die Berge rund um Colorado Springs waren besonders beim Sonnenaufgang immer beeindruckend gewesen. Als Faye zu einer Gegenfrage ansetzte, sah ich das wie immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge, weshalb ich unentschlossen den rechten Mundwinkel zu einem halben Lächeln hochzog. Einerseits fand ich inzwischen, dass ich die letzten Jahre als junger, ungeschädigter Mensch wirklich besser als mit Waffen und ohne jegliche Freiheiten hätte verbringen können. Andererseits hatte es mir aber auch Freude gebracht, die Karriereleiter hochzuklettern. Man bekam in den Staaten für kaum etwas anderes so viel Anerkennung wie für einen guten Posten im Militär und außerdem hatte ich viele Freunde dort gehabt, war auch als verhältnismäßig junger Vorgesetzter allgemein recht beliebt gewesen. Ich aß zuerst das bereits aufgespießte Stück Kuchen, bevor ich antwortete. "Das kommt drauf an, ob du die Militärschule davor mitzählen willst oder nicht.", stellte ich erst einmal fest. War halt ein bisschen Definitionssache. Die Privatschule bereitete einen zwar perfekt auf die Army vor und gestattete einem eine radikale Abkürzung der Grundausbildung, aber es war eben kein aktiver Dienst und noch sehr viel mit Theorie vollgepackt - zusätzlich neben den normalen Schulfächern. Ich überließ es Faye, wie sie das auslegen wollte. "Meine Eltern haben mich da hingeschickt, als ich 14 war. Mit 18 gings dann gleich weiter zum Dienst... wobei ich aber nie lange Auslandseinsätze hatte, bis ich 25 war. Bis zu dem Zeitpunkt war ich noch viel auf amerikanischem Boden wegen Weiterbildungen.", erklärte ich womöglich etwas überflüssig meinen Werdegang. "Von gegangen kann man nicht unbedingt reden...", versuchte ich mir selbst die damaligen Umstände mit einem stumpfen Witz schön zu reden, was nur minder gut funktionierte. Mein Blick rutsche auf meinen Teller ab. "Ich wollte einen meiner Soldaten retten... aus einem brennenden Haus... daher kommt die Brandnarbe.", redete ich weiter und merkte dabei gar nicht, wie ich damit anfing das letzte Bisschen meines Kuchens auf dem Teller mit der Gabel zu malträtieren. "Normalerweise wäre das was Gutes... aber wenn der Kerl das nicht überlebt und du dich selbst kampfunfähig machst, während der Rest des Trupps eigentlich deine Anweisungen braucht...", ließ ich den gemurmelten Satz offen auslaufen. Es dauerte dann einige stumme Sekunden, bis ich den Blick schließlich in Fayes Augen anhob und weitersprach. "Mit 15 Jahren Vorbereitungszeit hätte mir das nicht passieren dürfen. Es sind noch andere Soldaten gestorben, nur weil ich den Fokus verloren habe. Es ist also nur fair, dass ich jetzt so hier sitze.", schloss ich die grob gehaltene Geschichte ab und zuckte mit den Schultern. Inzwischen würde Faye sich selbst zusammengereimt haben, dass es ziemlich genau das war, was ich damals bei meinem Flashback durchlebt hatte. Ich für meinen Teil zweifelte auch nicht daran, dass ich diese Szene noch unzählige Male durchleben müssen würde, bis ich irgendwann das Zeitliche segnete - außer natürlich die Hernández kamen dem zuvor.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Das war wirklich keine leichte Frage. Sie liebte Colorado und würde wahrscheinlich sofort dorthin zurückgehen, wenn Victor, Aryana und Mitch mitkommen würden. Und wenn nicht so viele bittersüsse Erinnerungen an dem zentral-westlich gelegenen Staat hängen würden... Denn Faye konnte wirklich nicht einschätzen, wie gut sie mit den Schatten der Vergangenheit umgehen könnte, wenn sie sich so direkt damit konfrontiert sehen würde. Es war der Ort, an dem ihre Eltern aufgewachsen waren, der Ort, an dem sie geboren wurde, der Ort, an dem sie selbst ihre Kindheit erlebt hatte. Es waren die mit Abstand unbeschwertesten und schönsten Jahre ihres Lebens gewesen, die sie in Denver verbracht hatte. Theoretisch kannte sie die Antwort auf seine Frage also längst. "Colorado. Auch wenns hier auch schön ist und ich dort kein Meer hatte. Aber ich weiss nicht, ob ich jetzt wieder dort leben könnte...", verpackte sie also die ganze Wahrheit in einer wieder nicht sehr viel erklärenden Antwort. Vielleicht sollte sie etwas konkreter werden, statt hier ständig um den heissen Brei rum zu reden. Aber Ryatt hatte sich bis hierher nicht als allzu gehemmt gezeigt, was das Fragen bei bestehendem Interesse betraf, er würde sich schon melden, wenn er aus ihren Worten nicht schlau wurde. Dass er selbst einmal in Colorado gewesen war, liess sie unwillkürlich lächeln. Fast stolz darüber, dass er ihre Heimat als schön betitelte - als ob sie irgendwas zur Attraktivität der Landschaft rund um Denver beigetragen hätte. Das war ungefähr so sinnvoll wie jegliche andere Art von Stolz betreffend Herkunft. "Fort Carson kenn ich, ja. Als Kind erlebte ich die ganzen Armeeleute immer als sehr beeindruckend", merkte sie bedeutungsvoll an. Sie wusste nicht, wie alt Ryatt war, schätzte ihn aber eher nicht so alt ein, dass er zu den von ihr beobachteten Soldaten gehört haben könnte. Aber es gab ja genügend andere Kinder, die mit grossen Augen die ganzen Umzüge bestaunten. Seine Reaktion auf ihre eigene Frage fiel nicht besonders begeistert aus. Eher so, als hätte er genau damit schon gerechnet. Aber das lag wohl mitunter daran, dass die Kriegsvergangenheit von Army-Veteranen immer das war, was ihre Gesprächspartner potenziell am meisten interessierte. Nur trauten sich die meisten glücklicherweise nicht, ihrer Neugier auch Ausdruck zu verleihen, weil jedem bewusst war, dass damit denkbar viel Traumata verbunden sein dürfte. Und doch begann Ryatt zu erzählen und Faye vergass während dem Zuhören tatsächlich, sich weiter an ihrer Zimtschnecke satt zu essen, bevor diese kalt wurde. Betrachtete lieber die ganze Zeit mit leicht schiefgelegtem Kopf und glitzerndem Interesse in ihren Augen den jungen Mann. Ihm war absolut anzusehen, dass das, was er sagte, nicht weniger traumatisch war, als Fayes eigene Erfahrungen. Natürlich nicht, er war schliesslich im Krieg gewesen. Alles davon war traumatisch. Dass er eine Militärschule besucht hatte, liess ihre Augenbrauen kurz erstaunt nach oben ziehen. Das klang fast so, als wäre sein Weg prädestiniert gewesen... Wenn er mit 14 dorthin geschickt wurde, war auch ihre eigentliche Frage beantwortet: Er hatte es wohl primär darum getan, weil seine Eltern das als guten Weg eingestuft hatten. Warum. Auch. Immer. - Da konnte sie ausnahmsweise mit wirklich wenig Verständnis glänzen. Aber entgegen ihrer eigentlichen Intention, hörte Ryatt nicht auf zu reden, sondern tischte ihr im Anschluss auch gleich die Begründung seiner Rückkehr und seiner wohl grössten Traumatisierung auf. Zu der anfänglichen Neugier mischte sich immer mehr Bestürzung in ihre Mimik und Fayes Augen rutschten für ein paar Augenblicke auf ihren eigenen Teller ab, bevor seine Zusammenfassung ein Ende fand. "Ich... ich meinte eigentlich nur... warum du zur Army gegangen bist... ich wollte nicht, dass du... dich über das alles unterhalten musst...", tja, sie hätte sich wohl auch geschickter ausdrücken können - hatte sie aber nicht und darum war er nun gedanklich ein weiteres Mal durch die Hölle geschritten. Grossartig, Faye, 1+ mit Sternchen. "Und nein, es ist nicht fair, dass du hier sitzt. Es ist niemals fair, dafür bestraft zu werden, unter diesen Umständen nicht jede Entscheidung rational zu fällen", murmelte sie, auch wenn sie ganz genau wusste, dass diese Worte an einer Mauer abprallten und er höchstens mitleidig über ihre Unwissheit lächeln würde. Dabei war das genau die gleiche Scheisse wie bei Aryana, oder? Ihre Schwester hatte jahrelang alles gegeben, um ihre Männer und Frauen zum Leben zu führen, niemanden zu verlieren, alles richtig zu machen. Sie hatte so oft alles riskiert, nur um keinen ihrer Leute sterben zu sehen. Und wie hatte es geendet? Mit einer ungerechten Geldstrafe und ohne ein Danke in auch nur der geringsten Ausführung. Bloss weil Aryana nicht frühzeitig die ganze Welt über Mitchs zurückliegende Fehler informiert hatte und dadurch scheinbar alle in Gefahr gebracht hatte. Was nebenbei bemerkt einfach absolut nicht stimmte. Aber die Meinung einer gefolterten, durch und durch traumatisierten jungen Frau in der Klapse zählte zum relevanten Zeitpunkt leider nicht.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Faye schien sich gerne an ihre alte Heimat zu erinnern, auch wenn man das scheinbar nicht damit gleichsetzen konnte, dass sie nur Gutes damit verband. Zumindest war es das, was ich zuerst aus ihren Worten heraushörte. Vielleicht waren die Erinnerungen im Gegenzug aber sogar so süß, dass es sich schwer für sie ertragen ließ, dass Colorado jetzt womöglich nicht mehr das war, was es früher für sie gewesen war. "Warum? Wartet da ein altes Trauma?", versuchte ich ihr sehr direkt weitere Details zu ihrer einstigen Heimat aus der Nase zu ziehen. Anders schien ich bei ihr in vielerlei Hinsicht aber auch gar nicht weiterkommen zu können, wo sie sich um viele Fragen doch geschickt außen herum balancierte und ihre Antworten auch ja nicht zu detailliert ausfallen ließ. Allerdings war dieser Schutzmechanismus auch keine so große Überraschung, angesichts der ganzen Scheiße, die sie hauptsächlich wegen mir in den letzten Monaten erlebt hatte. Auch wenn ich ihr niemals bewusst hatte schaden wollen, war ich in mancherlei Hinsicht sicherlich mit Vorsicht zu genießen. Trotzdem war die Vorstellung davon, wie Faye in ungefähr nur halb so groß irgendwo herumstand und uniformierte Soldaten mit kindlichen Kulleraugen ansah, süß bis witzig. Ich atmete etwas tiefer ein und wieder aus, als Faye ihre vorherige Wortwahl korrigierte, beziehungsweise etwas konkretisierte. Sich im Anschluss daran auch noch indirekt dafür entschuldigte, mir diese Geschichte entlockt zu haben. Das musste sie nicht, weshalb ich schwach den Kopf schüttelte. Wenn ich eins in all den vergangenen, sehr einsamen Monaten gelernt hatte, dann das es nicht half solche Dinge totzuschweigen. Es machte nichts ungeschehen und sorgte nur unnötig zusätzlich dafür, dass man sich weniger damit auseinandersetzte, als man es tun sollte. "Macht nichts. Es totzuschweigen hat mir in den letzten Monaten auch nicht geholfen.", meinte ich relativ gleichgültig. Es ließ sich aber schwer leugnen, dass es mir nicht trotzdem an die Nieren ging. Dazu machte sich meine ganze Körpersprache gerade etwas zu selbstständig - noch so eine Form von Kontrollverlust, die ich vor meinem Ausscheiden aus der Army nie gehabt hatte. "Und um deine ursprüngliche Frage zu beantworten - ich war ein verdammt schwieriges Kind und wurde zum chronisch unterforderten Arschloch, als die Pubertät auf der Matte stand." An meinem damals vollkommen irrationalen und ständig über die Stränge schlagenden Verhalten gab es leider absolut nichts schön zu reden und wenn ich heute daran zurückdachte, fasste ich mir gedanklich jedes Mal an die Stirn. "Ich hätte natürlich nach der Akademie nicht weitermachen müssen... aber ich war verdammt gut und wenn dir als junger, naiver Mensch der Himmel versprochen wird, sagst du nicht nein.", seufzte ich. Bereute meine damalige Entscheidung zumindest teilweise, weil ich bestimmt nicht vollkommen pleite hier herumsitzen würde, wenn ich mich für eine andere Karriere entschieden hätte. Wahrscheinlich war es dumm, aber ich vermisste es immer noch. Vermisste die Kameradschaft, die Loyalität, ein perfekt miteinander harmonierendes Team. Das stolze Lob meines Ausbilders, der sich oft mit mir gebrüstet hatte, immer mein Vorbild gewesen war und inzwischen vielleicht schon den Ruhestand angetreten hatte. Was ich allerdings weniger vermisste waren Tretminen, Granaten und Panzer. Meine Waffe hätte ich hingegen noch immer gerne zurück. Vollkommen unbewaffnet fühlte ich mich durch die jahrelange Routine absolut nackt. Dass Faye glaubte die damalige Situation beurteilen zu können, ließ mich mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen müde lächeln. "Nichts für ungut, Faye... aber ich glaube nicht, dass du das beurteilen kannst.", gab ich mich was das anging völlig uneinsichtig und legte die Gabel beiseite, um stattdessen nach der Kaffeetasse zu greifen. Nahm kurz darauf den ersten Schluck des noch immer recht heißen, schwarzen Koffeins. Mal ganz davon abgesehen, dass ich so gar nicht davon ausging, dass die Brünette mit eigener Kriegserfahrung glänzen konnte, verbarg sich hinter meiner damaligen Entscheidung eben auch noch etwas mehr, als ich ihr eben offenbart hatte.
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Konnte man das so nennen? Irgendwie war Trauma ein unschöner Begriff dafür. Aber da sie in Colorado beide ihre Eltern verloren hatte, war er vielleicht doch nicht so unpassend, wie sie das gerne hätte. "Könnte man wohl so sagen...", bestätigte sie letztendlich also seine Vermutung. Allerdings war auch Faye klar, dass ihre Unterhaltung hier ein bisschen einseitig ermüdend war, wenn er ihr von seinem Trauma erzählte und sie sich gleichzeitig gefühlt jedes Wort aus der Nase ziehen liess. Darum gab sie nach kurzem zögern ein Seufzen von sich, das wohl ankünden sollte, dass sie etwas mehr Details folgen lassen würde. "Ich bin da aufgewachsen, in einer ganz normalen Familie, weisst du... Bis mein Vater und nichtmal ein Jahr später auch meine Mutter gestorben sind... Ich weiss nicht, ob Colorado sich je wieder vergleichbar anfühlen könnte wie davor. Oder ob die Erinnerungen dort einfach für immer am meisten wehtun werden", gab sie schliesslich endlich ein kleines Stückchen mehr bekannt, als er direkt gefragt hatte. Der Gedanke an ihre Eltern würde wohl auf ewig einen Stich in ihrem Herzen auslösen und nie irgendwie erträglicher werden. Und doch war dieses Trauma irgendwie trotzdem am leichtesten auszusprechen. Weil es vergleichsweise so normal war. Weil es so viele Menschen gab, die es teilten und weil es eben auch gewissermassen gesellschaftskonform ausfiel. Das konnte sie von dem Tod ihres Bruders im Krieg nicht behaupten. Und von ihrem eigenen Weg nach Syrien schon gar nicht. Oder dem, was in Syrien passiert war. Oder dem, was vor zweieinhalb (I hate to admit dass ich schon wieder den Überblick über die Zeitsprünge verloren habe... x'D) Monaten geschehen war. Dagegen waren viel zu früh verstorbene Menschen eben einfach leichter verdaulich. Dass sein Schweigen ihm am Ende auch keine Lösung gewesen war, konnte sie bestens nachvollziehen, denn das war es doch eigentlich nie. Zumindest auch bei ihr nicht, weshalb sie darauf wissend nickte. Scheinbar hatten seine Eltern gute Gründe gehabt, ihr Kind in eine entsprechende Einrichtung zu stecken - zumindest wenn man Ryatt selbst fragte. Trotzdem, sie hielt es für keine gute Idee. Auch wenn er dem Ganzen nach der Akademie ein Ende hätte setzen können. Sie wusste, wie verlockend die Army sein konnte - Julian und Aryana waren die besten Beispiele dafür. Besonders Juli. Machte diese Hölle nur trotzdem nicht weniger beschissen. Der ganze Aufbau war scheisse, die Kriegsführung war scheisse, die Regierung war scheisse, die Korruption war scheisse, dieses ständige überall Einmischen war scheisse und die Art, wie mit Veteranen, Traumatisierten und Verletzten umgegangen wurde war scheisse. Auch wenn Ryatt der Meinung war, dass sie das nicht beurteilen konnte. Faye starrte unschlüssig auf ihren Teller, grub die Gabel in die Reste der Zimtschnecke und führte diese erstmal zum Mund, bevor sie hier in irgendeiner Form weiterredete. Sie musste wohl mal wieder nachdenken, wies aussah... Aber besonders viel Zeit liess sie sich nicht, bevor sie ihn unverändert unschlüssig wieder anschaute. "Vielleicht nicht ganz. Aber vielleicht trotzdem besser als du glaubst, Ryatt...", meinte sie nachdenklich, schaute ihn eine Weile an. Ein Blinder könnte dabei wohl aus ihrem Gesicht lesen, wie hin und hergerissen sie sich gerade fühlte, weil sie einfach nicht wusste, ob sie ihn mit diesen Details aus ihrem Leben bereichern sollte oder doch lieber nicht. Sie wusste nicht, was dabei passieren könnte oder wovor sie sich fürchtete, ausser, dass Seans Geschwister irgendwann irgendwas davon aus ihm herausquetschten. Aber was würde es ihnen bringen? Wahrscheinlich könnten sie es sowieso längst wissen, wenn sie sich mit entsprechenden Recherchen bemühen würden.
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Ach das wird so um den Dreh schon passen, bin da auch chronisch des Merkens unfähig. x'D _________
Zuerst fürchtete ich, auch mit dieser Frage nicht weit gekommen zu sein und in der nächsten Sackgasse zu enden, was Faye und ihre Herkunft betraf. Allerdings setzte die junge Frau kurze Zeit später doch noch dazu an mir etwas mehr über Colorado und seine Schattenseiten zu erzählen. Letztere hatten es auch wahrlich in sich. Ich hielt die Tasse erst einmal weiter mit der Hand auf dem Tisch fest und blickte nur vorsichtig in Fayes Augen auf. Vielleicht mochte ich während der letzten beiden ernüchternden Jahre sehr viel verloren haben, aber meine Eltern gehörten tatsächlich nicht dazu. Möglicherweise bekam ich in diesem Moment deshalb auch ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich die beiden momentan mit solcher Nichtachtung strafte, obwohl sie nichts für meine Misere konnten. Zumindest nicht dafür, dass ich mich entschieden hatte der Army mein Leben zu widmen und auch nicht dafür, dass ich dabei einen verheerenden Fehler begangen hatte. Es war nicht fair ihnen gegenüber und es war durchaus möglich, dass sie sich noch immer Vorwürfe deswegen machten. Obwohl ich ihnen vor meiner Abreise zum tausendsten Mal zu verklickern versucht hatte, dass ich nicht wegen ihnen ging. "Das... tut mir leid. Muss hart gewesen sein...", sagte ich, klang dabei etwas leiser und gedrückter als zuvor. Ich war kein Freund von solchen Phrasen, aber es war auch schwer andere passende Worte für sowas zu finden. Es war eben auch nachvollziehbar, dass ihr die Erinnerungen an ihre Eltern weh taten und es wahrscheinlich auch immer tun würden. Sowas prägte nicht nur ein Jahr, sondern viel mehr ein ganzes Leben. "Hast du denn wenigstens Geschwister oder andere Verwandte..?", fragte ich zögerlich und murmelnd weiter nach. Wenn sie ganz allein war - abgesehen von Victor - dann wäre es nochmal ein ganzes Stück beschissener. Wenn ich da also unter Umständen in ein weiteres Fettnäpfchen trat, wollte ich es wenigstens nicht allzu plump tun. So viel Anstand besaß ich dann doch noch. Was meine Geschichte bei der Army anging wurde ich schon sehr bald das Gefühl nicht mehr los, dass Faye mir auch an dieser Stelle wieder Irgendetwas verschwieg. Nur noch etwas offensichtlicher als all die Male zuvor, wenn man ihre Mimik genauer betrachtete. Und bis zu einem gewissen Grad verstand ich es auch, dass sie sich unsicher damit war, was sie mir anvertrauen konnte und was nicht - aber es war ja nun nicht so, als hätte ich Sean ihre Nummer absichtlich zugespielt. Oder als hätte ich sonst schonmal Irgendjemandem irgendwelche pikanten Details über sie verraten. Natürlich sollte man nicht jedem Fremden blind vertrauen und das war zweifelsohne auch das Erste, was man seiner Tochter beibringen sollte, wenn sie das erste Mal allein nach draußen ging. Aber wenn Faye ohnehin dermaßen offensichtlich darüber nachdachte, ob sie mir nun mehr erzählen sollte oder nicht, konnte sie sowieso darauf wetten, dass ich weiter nachhakte. Sie könnte uns beiden diesen Schritt also eigentlich sparen, wenn sie einfach gleich mit der Sprache rausrücken würde. Aber was soll's - war ja nicht so, als hätte ich keine Zeit. "Achja? Schätze das könnte ich besser beurteilen, wenn du mir einfach sagen würdest, was dir grade so quer übers Gesicht geschrieben steht.", meinte ich und zog die rechte Augenbraue hoch. Es schwang allerdings ein etwas belustigter Unterton in meinen Worten mit. Erstens weil ich nicht wirklich davon ausging, dass Faye mir einen guten Grund für ihre vorherigen Worte liefern würde und zweitens, weil es durchaus amüsant war, dass sie sich nach wie vor alles aus der Nase ziehen ließ. Als wüsste sie nicht inzwischen, dass ich sowieso nachfragen würde. Bisher war ich damit nämlich sehr gut gefahren. Jedenfalls ließ ich die Tasse noch einmal los, um erneut nach der Gabel zu greifen und die letzten zwei Bissen Krümelkuchen noch vom Teller aufzulesen. Sonst war Karen am Ende noch beleidigt oder gar besorgt darum, dass mir der Kuchen nicht geschmeckt hatte.
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