Es war wirklich ironisch, wie leicht sie die Denkfehler in den Schuldgefühlen des jeweils anderen erkannten, während sie ihre eigenen als so berechtigt ansahen, nicht bemerkten oder sich nicht eingestehen wollten, dass sie doch genauso falsch waren. Weil es am Ende des Tages schlicht nicht ihre Schuld war, dass es Menschen gab, die sie beide zum Ausdruck ihrer Frustrationen und Aggressionen, ihrer Gewaltfantasien und ihres Sadismus nutzten. Teilweise liesse es sich verhindern, solchen Menschen in die Finger zu fallen - manchmal aber auch nicht und vielleicht war das auch einfach sowas wie Schicksal - ob man jetzt daran glauben wollte oder nicht. Wenn sie schon die Götter aussen vor liessen, konnten sie es ja mit dem Schicksal versuchen, vielleicht entsprach das eher der Wahrheit der Dinge, war besser fassbar oder zumindest gedanklich vertretbar. Faye blieb auf der Seite liegen, während er rücklings ins Kissen rollte. Ihre Finger rutschten von seiner Wange auf seine Brust, wo nun auch ihre Blicke lagen. Nicht wirklich fokussiert - eigentlich starrte sie mehr in die Leere, während sie ihren wirren Gedanken, seinen Worten und dem ganzen Lauf der Geschichte zu folgen versuchte. "Ja... das stimmt wohl. Aber da wir beide noch leben und nun ein für alle Mal" - hoffentlich - "vorhaben, die Zukunft zu einem besseren Ort für uns beide zu machen, werden wir diese nicht so ruhmreichen Momente wohl akzeptieren und hinter uns lassen müssen... Und während wir uns gegenseitig keine Vorwürfe dafür machen, können wir unsere ganze Energie darauf legen, uns irgendwann auch selbst zu vergeben", schloss sie das Thema leise ab, hauchte einen Kuss an seine Schulter und begann dann wieder mit zarten Streicheleinheiten auf seinem Shirt. Jedenfalls den für Vergebung reservierten Teil der Energie. War ja leider nicht das einzige Problem oder der einzige Punkt, an dem sie ansetzen mussten und für den sie Kraft brauchen würden in den kommenden Wochen. "Wie geht es deiner Mutter..? Und deiner ganzen Familie, eigentlich...", fuhr sie fort zu einem hoffentlich etwas leichteren, weniger auf die Tränendrüsen drückenden Thema. Debbie war ja gemäss Victors Erzählungen noch in der Stadt und so wie Faye seine Mutter kannte, dürfte diese wohl - mal wieder - fast umgekommen sein vor Sorge, als sie den Anruf bekommen hatte, ihr Sohn sei - ebenfalls Mal wieder - nach einem gewalttätigen Übergriff im Krankenhaus. Im künstlichen Koma. Mit Kopfverletzung und Hirntrauma. Auch Victors Vater dürfte definitiv gelitten haben, war dieser doch gemäss Aryana auch wochenlang hier geblieben, obwohl er theoretisch sicher zumindest teilweise hätte arbeiten sollen. Und der Gedanke an Hazel führte ebenfalls zu einem nicht sehr positiven Gefühl in Fayes Magen - hauptsächlich wegen dem Vorfall, ein paar Tage nach ihrem Wechsel auf die psychiatrische Abteilung. "Ich sollte mich wohl irgendwann, wenn ich wieder ein Handy habe, bei Hazel melden, um mich für... die auch nicht so nette Abweisung zu entschuldigen...", murmelte sie nachdenklich vor sich hin. Wäre wohl angebracht, egal wie offensichtlich ihre nicht vorhandene Selbstkontrolle zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Wäre wirklich besser gewesen, wenn sie so hätte tun können, als wäre alles in Ordnung... Dann hätte sie nicht so viele Leute so sehr besorgt, hätte sich den Trip in die Klapsmühle sparen können und vielleicht sogar einen Teil der erdrückenden Fragen danach, was denn überhaupt passiert war... Vielleicht hätte sie sich sogar irgendeine Geschichte ausdenken können, die die Polizei, Ärzte und Therapeuten zufrieden gestellt hätte. Aber das war unwahrscheinlich, wenn sie keine Aussage gegen irgendwen machen wollte. Einige der Verletzungen hätten sich relativ leicht als Unfall tarnen lassen. Aber leider gehörten die gezielten Schnittwunden ganz bestimmt nicht dazu...
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Da hatte sie Recht, ja. Es wäre wirklich wesentlich sinnvoller das bisschen Energie, die wir gerade überhaupt erübrigen konnten, nicht auch noch für Selbstvorwürfe zu verschwenden. Es war nicht nur nutzlos, sondern machte die Situation eher noch schwerer zu ertragen und raubte uns die Kraft für Wichtigeres. Wir sollten dringend damit aufhören, immer wieder über unsere Schultern zu gucken und stattdessen den Blick auf das legen, was jetzt vor uns lag. Es würde auch ohne die zu harte Selbstkritik schwer genug werden, da war ich mir sehr sicher. "Ja... Blick nach vorne, nicht zurück.", gab ich noch ein paar letzte Worte zu diesem Thema ab. Damit war es dann irgendwie auch erledigt, zumindest für die Dauer meines Besuchs. Wahrscheinlich würde ich mir später trotzdem nochmal den Kopf darüber zerbrechen. Zumindest wenn ich nicht ganz so müde wie gestern ins Hotelbett kippte, aber ich ging mal nicht davon aus. Für heute war eigentlich keine emotionale Berg- und Talfahrt geplant, jedenfalls nicht so wie im gestrigen Ausmaß. Ein bisschen auf und ab würde es in nächster Zeit wohl immer gehen, da führte kaum ein Weg dran vorbei. Außer Verdrängung natürlich, aber die stand bekanntlich diesmal nicht mehr zur Debatte. Die Frage nach meiner Verwandtschaft war deutlich weniger verfänglich und lenkte meine Gedanken recht gekonnt in eine weniger anstrengende Richtung. Ganz gleich ob beabsichtigt oder nicht, Faye hatte das Gespräch damit sehr geschickt umgelenkt. "Meine Mom macht sich nach wie vor ein bisschen zu viele Sorgen und würde mich wahrscheinlich am liebsten in Watte und Luftpolsterfolie einwickeln.", stellte ich sarkastisch fest und schüttelte dabei ein bisschen den Kopf. Bis zu einem gewissen Grad war ihre Sorge ja nachvollziehbar, vor allem in den ersten Tagen und Wochen. Aber inzwischen war ich wirklich stabil und wenn ich nicht gerade mit ganz viel Pech nochmal auf den Schädel fiel, dann dürfte sich an meinem Zustand nichts mehr ändern. Ich konnte meine Kräfte auch gut einschätzen und setzte mich hin, wenn's doch mal noch zu viel wurde. Dafür war ich mir nicht zu stolz. "Aber ich denke sie sind alle erleichtert und können durchatmen, jetzt wo's mir besser geht... mein Dad und Hazel konnten beide zumindest mehr oder weniger beruhigt den Heimweg antreten, aber sie fragen trotzdem noch oft nach.", fasste ich mich recht kurz. Es war meinem Vater anzusehen gewesen, dass er eigentlich noch nicht wieder als erster nach Hause fahren wollte, aber das hatte leider nicht zur Diskussion gestanden. Er war Mitte 50 und sollte sich wirklich nicht noch einen neuen Job suchen müssen, es reichte wenn sein Sohn diesbezüglich jetzt schon wieder mehr oder weniger mit leeren Händen dastand. Hazel war auch nicht gerne gefahren, hauptsächlich wohl wegen den nur kurz vor knapp wieder geglätteten Wogen. Was das anging hatte ich mich zwar mittels Anruf nochmal bei ihr entschuldigt nach meiner Entlassung, aber es war halt nicht das selbe, wie sich mit einer geschwisterlichen Umarmung zu versöhnen. Dass sie Faye ihre Abweisung übel nahm, glaubte ich allerdings nicht, weshalb ich was das anging recht bald den Kopf schüttelte und ihn danach zu meiner Freundin drehte, um sie wieder besser ansehen zu können. "Ich glaube nicht, dass meine Schwester dir das übel nimmt... sie weiß ja, dass es dir wirklich schlecht ging.", murmelte ich zu ihr rüber und hob die Hand an, um mit meinen nach ihren Fingern zu greifen. Aryana hatte meiner jüngeren Schwester ja sogar noch gesagt, dass Faye das ganz bestimmt nicht böse oder persönlich gemeint hatte. "Aber kannst du natürlich trotzdem machen, schaden tut's nicht. Freut sie bestimmt, dann kann sie den Kopf zwischendurch mal aus dem Bücherhaufen nehmen.", hängte ich schwach lächelnd noch ein paar Worte mehr an, damit die vorherigen nicht falsch rüberkamen. Faye durfte natürlich Kontakt zu meiner Schwester aufnehmen, wenn sie das gerne wollte und sich danach dann besser fühlte. Schutt der Vergangenheit aufzuräumen war in naher Zukunft ohnehin unser täglich Brot, da passte das also gut ins Thema und jeder Stein weniger, der Faye auf die Seele drückte, war Anlass zur Freude. Hazel nahm sich Worte oder Taten jedoch ohnehin nicht so sehr zu Herzen, wie Faye oder ich das meistens machten. Sie bewegte sich da wohl irgendwo zwischen unserem ungeschützten, sehr weichen Kern und der steinharten Schale unseres Power-Pärchens.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Willst du hier noch was hinzufügen oder wollen wir nächstens weiter springen..? Mir fällt nichts besonders Tolles mehr ein, ohne sie gleich auf die nächste Talfahrt im Gespräch zu schicken... x'D _____________
Das war ein gutes Mantra, an dem sie sich wunderbar gemeinsam orientieren und an das sie sich immer wieder gegenseitig erinnern konnten. Vorne war der Ort, an dem die Musik spielte. Vorne war da, wo die Sonne schien. Vorne war da, wo sie irgendwann glücklich sein würden. Beide. Für immer. Faye seufzte innerlich, atmete tief durch und liess ihren aufgewühlten Geist wieder etwas zur Ruhe kommen, als Victor von seiner Familie zu sprechen begann. Seine Stimme, seine Anwesenheit und sein Geruch waren immerhin die besten Voraussetzungen dafür, dass sie sich entspannte. Und der Bericht über seine Familienmitglieder hielt ebenfalls keine bösen Überraschungen bereit, fiel eher ganz genau so aus, wie sie das erwartet hatte. "Klingt alles sehr nach ihnen...", murmelte sie lächelnd. "Aber ja, ich kann mir gut vorstellen, dass sie - genau wie ich - sehr froh sind, dich auch diesmal nicht an den todbringenden Sensenmann verloren zu haben", gab Faye ihr wenig überraschendes Verständnis bekannt. Sie konnte die Angst von Victors Verwandten leider nur zu gut nachvollziehen, nachdem sie ebenfalls schon ihren etwas zu grossen Anteil an notfallmässigen Krankenhausbesuchen von Familienangehörigen durchgemacht hatte. Da war einfach eine durchwegs beschissene Hilflosigkeit, die keiner empfinden wollte, die einfach nur weh tat und vor allem unendlich viel Angst machte. Dass ihre vermeintliche Ablehnung gegenüber Hazel daneben nicht wirklich ein Problem dargestellt hatte, war also nur naheliegen. Trotzdem war es nicht wirklich nett von ihr gewesen, die Familie zu all der Sorge auch noch mit diesem Verhalten zu strafen. Ob seine Eltern vielleicht auch ein Bisschen Wut... oder zumindest Ablehnung oder Unverständnis für sie übrig hatten? Weil sie nicht geredet hatte, obwohl gefühlt tausend Menschen hatten wissen wollen, was passiert war? Bestimmt wünschten sie sich Gerechtigkeit für das Unrecht, das Victor angetan wurde. Und das wünschte Faye sich auch, aber die Gründe, weshalb sie eben nicht redete, waren nunmal belastender als das Wissen, dass hier möglicherweise niemals Gerechtigkeit geschaffen werden konnte. Falls es sowas wie faire Strafen überhaupt gab... Ihr Vertrauen in die Polizei war durch die Vorfälle leider logischerweise nicht gerade gestiegen. "Ja, schon... Ich werde ihr wohl trotzdem mal schreiben, wenn sowas denn wieder in Frage kommt. Kannst ihr in der Zwischenzeit aber gerne schon mal liebe Grüsse aus der Klapse ausrichten", meinte sie, wobei die Worte deutlich sarkastischer ausfielen, als sie sie geplant hatte. Was wiederum ihre Mundwinkel leicht nach oben zucken liess. "Oder einfach liebe Grüsse", schob sie die schönere Version nach. Nicht, dass Hazel keinen Spass verstehen würde, aber Psychiatrien waren für manche Menschen empfindliche Themen und sie war sich nicht ganz sicher, wo sich Victors Schwester auf diesem Spektrum angesiedelt hatte. Es war eben nicht im Leben aller Menschen so normal, sich ab und zu genau hier wiederzufinden und eigentlich wünschte sich Faye ja, dass das bei ihr auch nicht der Fall wäre. Wenigstens konnte sie noch immer hoffen, dass dies ihr letzter Besuch in einer solchen Institution war, da sie eigentlich unter keinem chronischen psychischen Leiden litt, das ständige Aufenthalte in Klapsmühlen prophezeite. Da hatten ihre schizophrenen, essgestörten, bipolaren und von Borderline betroffenen Freunde hier drin weitaus schlechtere Karten als sie mit ihren durch akutes Trauma provozierten Nervenzusammenbrüchen, Depressionen und Suizidgedanken. So viel zum Thema es geht immer jemandem schlechter als dir selbst. "Aimee mag dich, falls du das gestern nicht gemerkt hast. Sie ist meine beste - einzige - Freundin hier drin... also die Pflegerin, die hier war, um das Abendessen anzukündigen, weisst du", informierte Faye ihn etwas aus der Luft gegriffen über seinen Status im Hause. "Sie hat gestern, als sie nochmal bei mir war um...", die Narbe einzucremen, aber das riskierte sie lieber nicht zu sagen, "... naja, um zu schauen, ob alles in Ordnung war, schon in den höchsten Tönen von dir geschwärmt. Weil du das Wunder vollbracht hast, an das sie wohl schon fast nicht mehr geglaubt hat und weil du so nett warst und scheinbar einfach perfekt zu mir passt... und weil sie alle Männer über 190cm unglaublich heiss findet", den letzten Satz sprach Faye wieder mit triefender Ironie aus, wobei das Grinsen auf ihrem Gesicht deutlich verriet, dass Aimee diese Worte wohl ebenfalls - zumindest teilweise - nur zum Spass gesprochen hatte.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Äh, ne. Schätze dann ZS'e ich einfach mal irgendwie... x'D __________
Ich nickte leicht. Zwar bereitete ich meiner Familie mittlerweile gefühlt regelmäßig gewaltiges Kopfzerbrechen und die übelste Sorte von Sorgen, aber das hatte nichts daran geändert, dass sie mich nicht missen wollten. Ich war eben einfach das kompliziertere Kind von uns beiden, sehr mild ausgedrückt. Wenigstens schien ich wahnsinniges Talent darin zu haben nur fast und nicht ganz abzukratzen, das ersparte ihnen eine Beerdigung. "Tja, was soll ich sagen... er ist mir wohl einfach nicht besonders sympathisch.", wurde ich dazu eine sehr ironische Bemerkung los. Der einzige Moment, in dem ich dem Sensenmann bisher die Hand zu reichen versucht hatte, hatte augenscheinlich nicht bis in meine Bewusstlosigkeit hinein gereicht. Mein Unterbewusstsein schien es besser zu wissen als ich. Ob ich die Klapse mit an die Grüße für Hazel anhängen würde, wusste ich noch nicht. Andere Menschen wären wohl weniger über diese Bemerkung amüsiert, aber mir entlockte sie das nächste, noch spärliche Grinsen. Für Faye und mich war es inzwischen traurigerweise leider zur Normalität geworden, solchen Einrichtungen mal einen Besuch abzustatten. Ich hatte das schon zwei Mal hinter mir und die zierliche Brünette konnte es jetzt auch zum zweiten Mal abhaken. "Ich überleg mir noch, was mir lieber ist.", war alles, was ich darauf erwiderte, ohne dass das Grinsen vollständig erlosch. Hazel hatte nicht wenig Humor und ich glaubte nicht, dass sie das falsch aufschnappen würde. Wie ich Fayes Grüße letztendlich verpacken würde hing also davon ab, wie es zu gegebener Zeit um die Laune meiner Schwester stand. Was die gefühlt dauerhaft lächelnde Pflegerin anging, die mich gestern schon in Fayes Zimmer gelassen hatte, wurde die zierliche Brünette unerwartet auch ein paar Worte los. Aimee schien sich über mein Auftauchen gefreut zu haben, ja. Sie hatte mich vorhin auf dem Flur beiläufig, aber aufrichtig lächelnd begrüßt. Eben nur im Vorbeigehen, sie war ja hier um zu arbeiten. "Ist mir schon aufgefallen, ja.", erwiderte ich etwas ironisch. Zog kurz darauf dann die rechte Augenbraue nach oben, wegen Fayes letzter Bemerkung hinsichtlich der Pflegerin. "Dann sollte sie lieber woanders nach einem suchen gehen, ich glaub hier liegt die Durchschnittsgröße sogar unter 1,80m. Irgendwo in und um Europa dürfte sie mehr Glück haben.", stellte ich belustigt und mindestens genauso ironisch fest. Vielleicht hätte Faye mir das nicht sagen sollen. Ich würde mit ziemlicher Sicherheit jetzt jedes Mal daran denken, wenn Aimee mir über den Weg lief. Frauen und ihre Mindestmaßstäbe für die Körpergröße bei Männern... ich war schon in der High School überdurchschnittlich riesig gewesen und es war wirklich erstaunlich, wie wenige meiner damaligen Dates mal vorher drüber nachgedacht hatten, dass ein sehr groß geratener Mann nicht unbedingt nur Vorteile hatte. Genickstarre war für die werten Damen zumindest beim Küssen im Stehen vorprogrammiert gewesen. Die dürften aber fast alle auch ein gutes Stück kleiner gewesen sein als Faye.
Inzwischen waren knapp zwei Wochen seit meinem ersten Besuch bei Faye vergangen. Die Reduktion ihrer Medikamente hatte sich schon zwei, drei Tage danach sehr gut bemerkbar gemacht. Zwar ging das Aufklaren ihres Kopfes auch mit leichten Entzugserscheinungen einher, aber es schien der goldrichtige Weg gewesen zu sein. Nachdem ich mich brav jeden Tag hier blicken ließ und die Belegschaft sich weiterhin ein positives Bild von mir hatte machen können, durften wir seit gestern auch zusammen raus. Natürlich unter der Prämisse, dass ich Faye auch ja noch nicht aus den Augen ließ, wie mir unter vier Augen mitgeteilt worden war. Es ging auch anderweitig langsam schon ein bisschen vorwärts. Ich hatte mich in Absprache mit Faye mit unserem derzeitigen Vermieter in Verbindung gesetzt, weil unsere Wohnung leider so gar keine Heilung versprach. Er war sich zuerst nicht ganz sicher damit, ob er uns eine kleine Ausflucht aus dem bestehenden Mietvertrag bewilligen wollte. Er hatte dann am nächsten Tag nochmal zurückgerufen und sein Einverständnis gegeben - sofern wir auch pünktlich zum Ende des nächsten Monats all unsere Sachen schon ausgeräumt hatten. Zwei Tage später waren dann die Papiere in unseren Briefkasten geflattert, die er dafür aufgesetzt hatte. Ich hatte also auch gleich die CDs für Faye mitnehmen und Wäsche waschen können. Diese Stunden in der Wohnung waren nicht schön und nervlich hochgradig anstrengend gewesen - weshalb ich mich zwischendurch auf den Balkon an die frische Luft geflüchtet hatte - aber irgendwie trotzdem auch ein winziges Erfolgserlebnis. Einfach nur weil ich es ohne Nervenzusammenbruch überstanden hatte und trotz meiner Paranoia nichts Schlimmes passiert war. Außerdem war meine Belohnung am Nachmittag der Besuch bei Faye, damit sie ihre Unterschrift ebenfalls aufs Papier setzen konnte. Dank unseres kulanten Vermieters kamen wir also ganz gut aus der eigentlich dreimonatigen Kündigungsfrist heraus. Vorhin hatte ich auch das erste Mal meine Liste voll mit unseren Problemen mitgebracht. Inklusive zwei Muffins aus der Bäckerei, in der wir meistens unser Brot und seltener mal Kuchen gekauft hatten. Fayes Appetit war zumindest wieder ein kleines bisschen gestiegen und mit einem saftigen Blaubeermuffin ließ sich die schamlose Wahrheit etwas besser verkraften. Allerdings hatte ich die Liste noch einmal neu geschrieben. Den Punkt, an dem wir beide uns für eine Weile trennen mussten, konnte ich irgendwie noch nicht guten Gewissens mit Faye teilen, wo wir uns doch noch gar nicht lange wieder hatten... also stand da neben einigen anderen Punkten stattdessen nur 'wieder alleine zurechtkommen', was an sich auch schon hässlich genug aussah und unsere ungesunde Abhängigkeit voneinander absolut ausreichend ausdrückte. Faye hatte ebenfalls die eine oder andere Sache zu ergänzen, während wir ihre Liste mit meiner verglichen. Es war wirklich kein schöner Anblick, wie die Liste gefühlt immer endloser wurde. Irgendwie hatte ich auch das ungute Gefühl, dass Faye ebenso wie ich noch irgendetwas verschwieg. Eben gerade weil ich aber wusste, dass es vielleicht Dinge gab, die wir noch nicht sofort auf den Tisch legen sollten - oder konnten -, hakte ich was das anging nicht weiter nach. Auch wenn ich das Gefühl eigentlich schon seit zwei, drei Tagen hatte. Dass da irgendwas war, dass sie eigentlich mit mir teilen wollte, es aber nicht aussprach. Vielleicht irrte ich mich was das anging aber auch. Könnte nur meine Paranoia sein. Oder was auch immer. Faye würde es mir schon sagen, wenn die Zeit gekommen war, sollte da wirklich irgendwas sein. Nachdem wir die Liste zumindest grob das erste Mal durchgesprochen hatten, war etwas frische Luft mehr als angebracht. Wir hatten uns den Spaziergang extra für danach aufgehoben und die kühle Luft tat wirklich gut. Sie half die teilweise doch sehr bedrückenden Gefühle aus dem vorangegangenen Gespräch wieder loszuwerden. Solange wir keinen Marathon liefen, brauchte ich auch die Krücken nicht mehr. Der Fuß zwickte nur noch selten und ich fühlte mich inzwischen auch insgesamt nochmal deutlich fitter als vor zwei Wochen. Der Schorf der Brandwunde war inzwischen ganz ab und hatte empfindlich dünne, unebene, rosa Haut zurückgelassen. Man konnte bestens sehen, wo die Haut stärker oder weniger stark vom Feuer in Mitleidenschaft gezogen worden war, denn das verriet die Struktur überdeutlich. War nicht wirklich schöner anzusehen als vorher, tat jetzt ohne den Schorf aber wenigstens nicht mehr weh. Als wir nach dem Rundgang durch den hauseigenen Park wieder in Fayes Zimmer ankamen, war es schon gegen 17:30 Uhr. Ich hatte es aber nicht eilig, würde noch zum Abendessen bleiben - das durften wir nämlich inzwischen tatsächlich auf dem Zimmer einnehmen, weil Faye sich mittlerweile ja an den Therapiegruppen beteiligte und damit auch anderweitig genug Interaktion mit anderen Patienten hatte. Aryana und Mitch waren ebenfalls wieder auf amerikanischem Boden und Chelsea war abgereist. Fayes Schwester hatte sich jetzt das wieder frei gewordene Mittagessen für ihre Besuche geschnappt und wir hatten uns am Tag nach ihrer Rückkehr auch etwas länger unterhalten. Ich war aber auch deswegen froh, dass sie wieder hier war, weil ich langsam doch mal eine Pause brauchen konnte. Ich liebte Faye und ich verbrachte an sich gerne Zeit mit ihr, aber es waren eben doch immer wieder sehr anstrengende Etappen bei den Besuchen dabei. Mal nur einen einzigen Tag für mich zu haben wäre mittlerweile vermutlich angebracht, nachdem ich schon seit Tagen gefühlt nur zwischen meiner eigenen Therapie und der Psychiatrie hin und her pilgerte. Aber hey, wenigstens konnte ich jetzt wieder selber fahren... "Der Spaziergang war bitter nötig.", stellte ich mit einem zwischenzeitlich wieder etwas entspannteren Seufzen fest, als ich meine Jacke auszog und über einen der Stühle am Tisch hängte.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Konnte sie ja froh sein - dass Victor sich bisher scheinbar nicht wirklich mit dem Inbegriff des Todes angefreundet hatte. Wie gesagt hegte sie auch kein Interesse daran, ihn frühzeitig zu verlieren. Dass er selbst entscheiden würde, was er Hazel nun genau mitteilen wollte, war ebenfalls vollkommen in Ordnung für sie. Er kannte seine Schwester nunmal wesentlich besser und so schlimm waren die Worte auch kaum. Immerhin wusste Victors Familie bestens, wo Faye sich im Moment nicht ganz freiwillig aufhielt - egal ob er es nochmal betonte oder nicht. Auch bezüglich Aimee konnte sie Victor beruhigen, wobei das schwache Grinsen auf ihrem Gesicht nicht erlosch. "Nein nein, keine Sorge... Sie ist glücklich verheiratet", gab sie Entwarnung, dass er sich keine Gedanken darum machen musste, plötzlich von der Pflegerin angemacht zu werden. Sie schaute sich nur gerne etwas um und machte Spässe, aber ihren geliebten Ethan würde sie am Ende niemals betrügen.
Die folgenden Tage verliefen eigentlich mehr oder weniger gut. Jedenfalls machte sie Fortschritte und das war irgendwie der wesentliche Teil von gut. Sie war mittlerweile in zwei Therapieprogrammen und hatte sich nach langem Hin und Her vor einer Woche endlich gewagt, ihren Therapeuten über das aufzuklären, was wirklich passiert war. Natürlich nur, nachdem er ihr nochmal versprochen hatte, nichts davon nach aussen weiterzugeben und ihre Entscheidung, nicht zur Polizei zu gehen, zu respektieren. Nicht, als hätte er das nicht längst tausend Mal bestätigt, aber sie brauchte die zusätzliche Sicherheit bevor sie redete trotzdem. Und es hatte sich tatsächlich gut angefühlt, war die richtige Entscheidung gewesen. Hatte dazu geführt, dass sie sich vor vier Tagen endlich mit dem Problem auf ihrer Brust auseinandergesetzt hatte. Es war ein Sonntag gewesen, also ein “freier Tag" ohne Therapie, was ihr die zusätzliche Zeit gewährt hatte, die sie dafür dringend gebraucht hatte. Denn natürlich war das nicht unbedingt ein Gang ins Bad, ausziehen, schauen, wieder raus gewesen, sondern ein kompletter Nervenzusammenbruch in der Dusche. Aimee war an dem Wochenende auch nicht da gewesen, weshalb sie gleich das ganze Programm inklusive Einmassieren der Narbensalbe hatte üben können. Es war nicht weniger aus grausam gewesen und sie hatte sich die nächsten zwanzig Stunden - bis zur Therapie - vollkommen taub gefühlt, selbst bei Victors Besuch kaum geredet, weil sie so neben sich gestanden hatte und nicht gewusst hatte, woran sie denken sollte, ohne die Narbe im Kopf zu haben. Beziehungsweise ohne sie zu erwähnen, denn in ihrem Kopf war sie sowieso ständig. In Anbetracht dessen und der Tatsache, dass ihre allgemeinen Fortschritte darauf hindeuteten, dass sie nicht mehr ewig in dieser Seifenblase aus Therapie und Leuten, die auf sie aufpassten, schwimmen würde, wusste sie, dass sie ihren Freund nächstens darüber aufklären müsste, was damals nach seiner Bewusstlosigkeit passiert war. Sie wusste nur noch nicht genau wann oder wie, war nur noch nicht ganz bereit, seine Reaktion auf jede Art zu akzeptieren, auf die sie dann eben ausfallen könnte. Und darum vergingen nochmal zwei Tage, an denen sie zu diesem Thema schwieg. Währenddessen kehrten auch Aryana und Mitch nach Hause zurück, was wiederum allgemein zu etwas mehr Optimismus führte. Ein Thema weniger, das Kopfschmerzen bereitete und es war auch einfach schön, sich wieder richtig mit ihrer Schwester unterhalten zu können. Mitch hatte sie natürlich noch nicht gesehen, aber entweder würde er Aryana mal begleiten oder - und das wäre vielleicht besser, da eine Klapsmühle eher kein so ideales Umfeld für den temperamentvollen Amerikaner darstellte - sie würde ihn besuchen, wenn sie wieder draussen war. Also hoffentlich bald, wenn sie die letzten drückenden Pendenzen aus dem Weg geräumt hatte. Namentlich die Narbe und die Liste, die eben beide starkes Potenzial für Nervenzusammenbrüche hegten. Die Medikamente waren mittlerweile zurück auf einem Niveau, das sie bei Bedarf so weiterziehen konnte, auch wenn sie nicht mehr hier wohnte. Das war also aus dem Weg geräumt, genau wie sie sich in der Zwischenzeit auch darum gekümmert hatte, in nahtlosem Anschluss an die Behandlung in der Klinik wieder zu wöchentlichen Sitzungen bei ihrer eigentlichen Psychologin des Vertrauens erscheinen zu können. Irgendwann in den nächsten Tagen würde sie wohl auch noch im Krankenhaus anrufen, um sich über die Wahrheit ihrer Jobsituation zu erkundigen... Da sie bisher gar keinen Kontakt zu ihrem Arbeitgeber gehabt hatte, wusste sie nämlich überhaupt nicht, was da nun Sache war. Eine neue Wohnung würden sie wohl suchen müssen, wenn sie wieder draussen war und sich an den Besichtigungen beteiligen konnte. Nun, die unheilvolle Liste hatte schliesslich heute auf dem Programm gestanden. Und es war wirklich alles andere als schön gewesen, hatte selbstverständlich die ein oder andere Träne geschürt. Es war einfach schrecklich, zu sehen, was sie in den letzten Monaten und Jahren alles verbockt hatten, das sie nun irgendwie wieder geraderücken mussten. Ein endloser Berg Arbeit, der ziemlich laut nach Paartherapie schrie. Sie bemühte sich wirklich, sich nicht direkt eintausend Vorwürfe zu machen und damit frisches Öl in die noch immer glimmende Glut ihres Selbsthasses zu schütten... Aber es war schwierig, für sie beide. Besonders auch weil Punkte wie wieder alleine zurechtkommen gar nicht wirklich dem entsprachen, was sie wollte. Rational betrachtet war es das beste und sie wusste, dass es nötig war, wichtig war. Aber ihr graute vor allem, was sie tun mussten, um diesen Punkt zu erreichen. Auch wenn sie bisher noch nicht einmal ahnte, was dazu denn wirklich nötig wäre... Ihre Gedanken hingen noch an anderen Zielen fest. Da war natürlich auch noch was mit Ehrlichkeit... Keine Geheimnisse... Auch nicht mehr, um den jeweils anderen zu schonen. Etwas von wegen Nicht mehr für den anderen entscheiden, was gut und schlecht für ihn ist das einher ging mit Offen miteinander reden, über alles. Es waren Ziele und natürlich mussten sie diese nicht an Tag eins schon erreichen. Und doch wusste Faye, dass es langsam an der Zeit war, ihm eben doch die Wahrheit zu erzählen. Sonst würde er sie irgendwann, im wohl dümmsten Moment erkennen und das wäre nicht besser als... jetzt. Der Spaziergang hatte geholfen, wieder etwas klarer zu denken und die kühle Luft hatte ihre Anspannung etwas gelöst. Aber irgendwie war ihr alles unverhältnismässig ermüdend vorgekommen, weshalb auch sie ein leises Seufzen von sich gab, als sie sich wieder im Zimmer einfanden. "Ja, das stimmt", pflichtete sie seiner Feststellung bei, während sie sich aus der warmen Jacke schälte. Sofort fiel ihr Blick wieder auf die Liste, die noch immer offen auf dem Tisch lag. Zugegeben keine besonders kluge Platzierung, nachdem sie sich mit dem Spaziergang erfolgreich abgelenkt hatten... Sofort lagen ihre Augen wieder auf den verhängnisvollen Zeilen, bevor sie zum Tisch ging, um ihre Version der Liste zu nehmen und sie stattdessen unter dem Notizbuch auf ihrem Nachttisch verschwinden zu lassen. Sie würde sich noch sehr oft damit auseinandersetzen, aber jetzt... jetzt war ein schlechter Moment für mehr Kopfzerbrechen diesbezüglich. Noch während sie dann zum Tisch zurückging, um sich dort auf einen der Stühle sinken zu lassen, wanderte ihr Blick zum Wecker auf dem Nachttisch. Zwanzig Minuten bis zum Abendessen - auf dem Zimmer wurde es meist etwas früher verteilt als im Speisesaal, da die Tablets hierfür bereits in der Küche abgefüllt und dann von einem separaten Pfleger hochgebracht wurden, der dann wiederum auch beim Essen im Erdgeschoss mithelfen sollte. Sie glaubte nicht, dass das, was sie ihm sagen sollte, in zwanzig Minuten passte. Ein weiteres, fast tonloses Seufzen folgte, weil sie sich ganz einfach beschissen fühlte. Das aufgeregte Nervenflattern liess sie unruhig mit den Nägeln an ihren Fingerspitzen herumkratzen, ohne dass sie es wirklich merkte. Ihre Augen fanden wieder zu Victor, den sie einen Moment betrachtete, bevor sie wirklich zum sprechen ansetzte. "Hast du nach dem Essen noch... etwas Zeit?", es war dumm, heute darüber zu reden, wenn sie sowieso schon einen wirklich verdammt anstrengenden Nachmittag gehabt hatten, oder? Wahrscheinlich schon. Aber wäre es Morgen leichter? Nein. Immerhin hätten sie so alle schlechten Neuigkeiten auf einen Tag konzentriert, vielleicht war das ja gar nicht so schlecht... Aber wen versuchte sie hier zu täuschen... Es war immer der falsche Moment für schlechte Neuigkeiten. Und wenn sie es ihm heute sagte, war es immerhin endlich draussen. Je früher er es wusste, umso schneller konnte die Heilung einsetzen...
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Ich beobachtete wie Faye ihre der beiden Listen vorerst außer Reichweite verstaute. War sicher auch besser, als sie weiterhin für den Rest des Abends direkt vor der Nase zu haben und an nichts anderes mehr zu denken. Wir würden damit heute wohl ohnehin nicht mehr wirklich effektiv weitermachen, das vorhin war schon genug neuer Ballast gewesen. Wobei er im Grunde nicht neu war, sondern eben nur frisch aufgewühlt. Deshalb klappte ich auch den Block, den ich aus der Wohnung zum neu aufschreiben mitgenommen hatte, zu und schob ihn bis an den hintersten Rand des kleinen Tisch. Wahrscheinlich würde ich noch öfter Notizen machen wollen und dafür waren noch mehr als genug Blätter frei. Außerdem tat es gut zur Ablenkung hin und wieder durch die anderen, schon beschrifteten Seiten zu blättern. Das waren überwiegend Zusammenfassungen, die ich mir damals für die Theorieprüfung des Security-Trainings geschrieben hatte. Das war momentan nicht wirklich akut relevant, aber es war gut, wenn ich nichts davon vergaß - schließlich hatte das ein Teil meiner Zukunft werden sollen und das sollte es eigentlich auch immer noch. Auch wenn es irgendwie gerade in unerreichbarer Ferne zu liegen schien. Es würde eine halbe Ewigkeit dauern wieder fit genug dafür zu werden. Nicht nur körperlich, sondern eben auch mental. Der Job konnte potenziell gefährlich werden und es wäre leichtsinnig damit anzufangen, bevor ich wieder vollkommen mit mir und auch mit Faye im Reinen war. Sie war schließlich ein sehr wichtiger Teil von mir. Ich ließ mich der Brünetten gegenüber an den Tisch sinken und musterte einen Moment lang ihr Gesicht. Sah kurz darauf aber doch lieber auf meine Hände hinab, weshalb ich sie auf dem Tisch ineinanderlegte und mich so ein klein wenig auf den Unterarmen nach vorne lehnte. Aus Gewohnheit lag der Schwerpunkt dabei noch immer vermehrt auf dem unversehrten Arm, weshalb ich leicht schief saß. Aber auch wenn ich einige Sekunden lang nur auf meine eigenen Hände schaute entging mir nicht, dass Faye nach wie vor sehr unruhig wirkte. Lag wahrscheinlich noch immer an der Liste, die sie grade schnell aus den Augen hatte haben wollen... oder doch nicht? Ich hob den Blick langsam in ihren an, als sie mir eine Frage stellte. Lange nachdenken musste ich darüber nicht und nickte deshalb zeitnah. Allerdings musterte ich erst noch ein paar Sekunden lang ihr Gesicht, bevor ich auch Worte anhängte. "Ich dachte sowieso heute bleib ich vielleicht ein bisschen länger, weil..." Ich vollendete den Satz nicht sofort, weil es mir irgendwie schwerfiel. Dabei hatte Faye sogar schon ganz zu Anfang gesagt, dass sie es verstehen konnte, wenn ich mich mal einen Tag gar nicht sehen ließ, weil es mir zu viel wurde. Außerdem sollte es mir wohl auch zu denken geben, wenn selbst mein Therapeut mir auf den ersten Blick sagen konnte, dass ich ausgelaugt wirkte, obwohl - oder gerade weil - er mich nur einmal die Woche zu Gesicht bekam. Für mich klang es trotzdem immer noch falsch der Brünetten im übertragenen Sinn zu sagen, dass ich einen Tag ohne sie brauchte. "...weil ich wohl doch mal... einen Tag Pause brauche... um das alles ein bisschen sacken zu lassen und so weiter...", murmelte ich vor mich hin und senkte den Blick wieder auf meine Hände, bevor ich schwach mit den Schultern zuckte. Ich würde mich wohl niemals wohl damit fühlen, Abstand zu ihr zu suchen. Was mich wiederum zu der Frage brachte, wie ich dann jemals guten Gewissens wirklich länger weggehen sollte. Zweifelsfrei würde das für mich auch nicht weniger Folter werden, als für Faye.
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Es dauerte nicht lange, bis er ihre Frage bestätigte. Zwar nicht genau in dem Wortlaut, den sie hatte kommen sehen, aber wenn sie seine Antwort so sinken liess.... dann passte das alles eigentlich ganz gut. Wirkte wie eine zusätzliche Bestätigung dafür, dass heute von allen schlechten Tagen der beste war, um die Sache anzusprechen. Es war zwar sicher nicht das, was Victor brauchen konnte, um Morgen einen entspannteren Tag zu haben, aber der besuchsfreie Tag würde ihm trotzdem wesentlich besser dabei helfen, das neue Wissen zu verarbeiten, als gleich die nächsten Stunden in ihrer Gegenwart es tun könnten. Und etwas Zeit alleine würde ihr wiederum helfen, damit klarzukommen und die Eindrücke zu bewältigen, die sie aus diesem Nachmittag / Abend mitnehmen würde. Die aufgerissenen Wunden wieder möglichst beständig zu schliessen. Also würde sie ihm - und sich selbst - nach dem Essen wohl noch ein paar zusätzliche Dinge überreichen, die er dann Morgen sacken lassen konnte. Auch wenn ihr das wirklich leid tat und sie sich beschissen dabei fühlte. "Ja, ich denke, das ist ganz gut...", gab sie hastig ihre Zustimmung bekannt, als sie merkte, dass sie seit seiner Äusserung schon eine ganze Weile schwieg und er das fälschlicherweise als Missfallen gegenüber seinen Plänen interpretieren könnte. Ein Tag Pause würde ihnen beiden ganz gut tun. Nicht nur in Anbetracht des Grauens dieses Tages, sondern auch einfach ganz allgemein. Victor sollte auch mal einen Tag nicht von Therapie zu Psychiatrie und zurück rennen müssen, sich auch mal über andere Dinge als sie Gedanken machen dürfen. Und bei ihr verhielt sich das im Grunde ganz ähnlich. Zwar freute sich Faye über jeden Besuch von Victor und sie würde ihn niemals darum bitten, zuhause zu bleiben, aber manchmal waren ihr die Tage in diesem Irrenhaus doch etwas zu voll. Jeder Morgen war gefühlt mit Psycho-, Gruppen-, Beschäftigungs- und / oder Physiotherapie vollgestopft und auch wenn es in Wirklichkeit vielleicht nur zwei Stunden waren, blieb dazwischen eben nicht viel Zeit (und Wille), um sich noch zusätzlich mit sich selbst und der Zukunft auseinander zu setzen. Wenn Aryana sie besuchte, blieb sie meist logischerweise auch nicht nur von Zwölf bis Eins und wenig später war Victor bei ihr. Sie wollte sich über keine dieser Chancen, Möglichkeiten und Besuche beklagen - der Punkt war einfach, dass es trotzdem in Ordnung war, einmal einen Tag auszusetzen, weshalb sie Victor sehr gut verstehen und hier sicher auch nichts einwenden würde. Sie versuchte das Thema möglichst gut bis nach dem Essen aufzuschieben, aber der Knoten in ihrem Bauch machte es ziemlich schwierig, sich bis dahin zu verhalten, als wäre nichts. Und so war es auch relativ unmöglich, dem Mann der sie besser kannte als jeder andere, etwas vorzumachen. Er dürfte also längst Verdacht geschöpft haben, dass die Liste nicht die einzige belastende Nachricht des Tages bleiben würde, als das Essen schliesslich kam. Natürlich war Essen ebenfalls ein schwieriges Thema, wenn sie sich der Aufregung wegen mit Schlucken schwer tat. Eigentlich gehörte ihre Appetitlosigkeit mehr oder weniger der Vergangenheit an und sie bemühte sich darum, wieder "normal" zu essen. Aber heute Abend würde sie wohl scheitern, wie sie bereits nach wenigen Bissen prophezeien konnte.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Allein die Tatsache, dass sich augenblicklich leichter Druck in meinem Magen bildete, nur weil Faye mir nicht unbedingt zeitnah eine Antwort auf meine Frage gab, war ein ausgezeichneter Beweis dafür, dass ich bisher noch kaum einen Schritt weiter war als vorher. Es hatte sich nichts daran geändert, dass ich nichts mehr fürchtete, als Faye zu verletzen. Natürlich war es grundsätzlich nie schön, Jemanden verletzen oder vertrösten zu müssen. Erst recht nicht die Person, die man am meisten liebte und brauchte. Aber nüchtern betrachtet gäbe es sehr, sehr viel schlimmere Dinge für Faye, als mal einen Tag ohne mich auskommen zu müssen. Sie hatte es über einen Monat ausgehalten. Nicht grade mit Freude, natürlich, und wohl nicht ganz freiwillig, wenn auch sie einen Suizidversuch hinter sich hatte. Aber was war ein einziger Tag gegen einen Moment und das auch noch mit dem Wissen, dass ich wiederkommen würde? Eigentlich gar nichts. Die leise, kalte Angst, die mir nur wegen Fayes kurzzeitigem Schweigen schon wieder bis zum Nacken hochkriechen wollte und der Stein, der mir letztendlich vom Herzen fiel, als die Brünette endlich was dazu sagte, waren nochmal ein sehr eindeutiges Warnsignal. Eine knallrote Flagge, die mir meine chronischen Verlustängste und das Festklammern überdeutlich vor Augen hielten. Diese Angst war beidseitig und sie war ungesund. Selbstzerstörerisch. Ich nickte Fayes Worte mit einem recht kläglich aussehenden Lächeln ab und war irgendwie ganz froh darum, dass uns wenig später das Essen gebracht wurde. Dann konnte ich mich erstmal dem Teller widmen und die Gedanken hinsichtlich dieser falschen Prioritätensetzung - mit mehr oder weniger gutem Grund - auf später verschieben. Oder auf Morgen, falls mein Kopf mir das überhaupt ermöglichte. Glaubte ich mal noch nicht dran, würde mich wahrscheinlich alles spätestens im Hotelzimmer wieder einholen. Eher schon auf der Heimfahrt, da könnte ich einen Fünfziger drauf verwetten. Allerdings verlief das Abendessen nicht ganz so friedlich und gedankenlos, wie ich mir das erhofft hatte. Ich strotzte nach den heutigen, insgesamt ziemlich anstrengenden Gesprächen auch nicht unbedingt vor Appetit, aber wenn ich nicht gerade bewusst in irgendein Restaurant ging, dann war Essen für mich nicht selten nur eine lebenserhaltende Maßnahme. Das hatten mir die Ärzte irgendwann während meiner ersten Therapie sehr erfolgreich eingetrichtert. Es ging einem grundsätzlich noch schlechter, wenn man sich neben den psychischen Leiden auch noch aushungerte. Ich aß also nur etwas langsamer als sonst, während Faye schon zeitnah indirekt kapitulierte. Aufhörte die Gabel zum Mund zu führen. Als mein Blick aufgrund dessen dann zu ihrem Gesicht rutschte, schien sich meine ungute Vorahnung zu bestätigen. Was auch immer es war, was sie auf dem Herzen hatte - es konnte scheinbar nicht mehr länger warten. Sie sah so aus, als würde sie jeden Moment damit anfangen sich exzessiv auf dem Stihl hin und her zu winden. Mit einem leisen Seufzen legte ich schließlich mein Besteck auf dem Tellerrand ab, nachdem ich mir das Schauspiel ein paar Sekunden angesehen hatte und legte die Hände locker auf dem Tisch ab. "Was auch immer es ist, dass dich so quält und offensichtlich nicht bis nach dem Essen warten kann... spuck's aus, Faye. Ich werd's schon irgendwie aushalten.", sagte ich, murmelte zum Ende hin etwas. Zwar kannte ich die Ursache für ihr offensichtliches Unbehagen nicht, aber es war gewissermaßen naheliegend, dass es irgendetwas mit uns beiden zu tun hatte. So wie momentan leider fast alles, was für unangenehme Emotionen während meiner Besuche hier sorgte, auch etwas mit uns beiden zu tun hatte. Zwar war ich mir gar nicht so sicher, was ich gerade überhaupt noch aushalten konnte, aber es spielte im Grunde auch nicht wirklich eine Rolle. Es würde auch mit vollem Magen nicht einfacher sein mit noch mehr schlechten Nachrichten umzugehen. Oder übermorgen. Erst recht nicht, wenn so unschwer zu erkennen war, dass Faye sich damit quälte. Ich würde mir nur unnötig zusätzlich den Kopf darüber zerbrechen, bis sie es mir sagte. Damit war auch Niemandem geholfen. Wie viel schlimmer als als die schwerwiegenden Punkte auf der Liste konnte es jetzt schon noch werden?
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Faye blickte möglichst ruhig auf den Tellerrand, versuchte, ihre Aufregung und Nervosität nicht zusätzlich durch unruhiges Wippen ihres Beines oder Herumnesteln ihrer Finger zu verraten. Und das gelang ihr auch mehr oder weniger gut, nur war das mit dem Essen leider eine verlorene Schlacht an diesem Abend. Und nachdem sie die Gabel abgelegt hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis Victor sich mit einem Seufzen bemerkbar machte. Seine Worte und der Tonfall lösten in ihr ein leichtes dummes Kind, das im Leben noch sehr viel lernen musste Gefühl aus und sie fühlte sich automatisch noch ein Bisschen beschissener. Natürlich wusste sie, dass er es nicht so gemeint hatte, aber sie war gerade nicht unbedingt in der Verfassung, in der sie irgendwas nicht so aufnahm, wenn sie die Möglichkeit dazu sah, noch ein Stückchen mehr an sich zu zweifeln. Faye blickte nicht vom Tellerrand auf, als er sprach, machte sich nun aber auch nicht mehr die Mühe, die Anzeichen ihrer Unruhe zu verbergen. Das Problem war nur, dass sie es ihm nicht sagen konnte, während das Essen noch auf dem Tisch stand. Weil sonst später wieder jemand rein kam, um die Tablets zu holen. Und alles, was sie absolut nicht brauchen konnte, wenn sie ihn mit der hässlichen Wahrheit konfrontierte, waren unerwünschte weitere Zuschauer. "Ich... ich möchte lieber bis nach dem Essen warten... Weil es... es ist halt etwas, das ich nur dir sagen möchte und... und irgendwer holt nachher noch das Geschirr...", versuchte sie stammelnd ihr Problem zu erläutern, griff allerdings quasi als Kompromiss nochmal nach ihrer Gabel, um sich in den nächsten Minuten ein paar weitere Bissen zwischen die Zähne zu stossen. Nach vier Mundvoll war dann aber definitiv Ende Gelände, wenn sie sich nicht übergeben wollte, weshalb sie endgültig das Besteck beiseite legte. Sie einigten sich letztendlich, als auch Victor genug hatte, darauf, die Tablets selber auf den Flur zu bringen, da die Warterei nichts als unangenehm und quälend war. Und während man auf den Zimmern zwar als Erstes das Essen serviert bekam, wurde das Geschirr hier dagegen erst ganz zuletzt abtransportiert. Was wiederum eindeutig zu lange dauerte, um Fayes - und möglicherweise auch Victors - Verstand zu bewahren. Sie gingen also gemeinsam und mit leeren Händen zurück ins Zimmer, nachdem die Reste abgeliefert waren, und Faye spürte längst, wie ihre Hände feucht geworden waren und ihr Körper sich auf den drohenden Totalabsturz vorbereitete. Darum führten ihre Füsse sie auch ohne Unterbrechung direkt bis ans Fenster am anderen Ende des Raumes und sie blickte für einige Sekunden in die Dämmerung. Bemühte sich darum, dreimal tief durchzuatmen, bevor sie sich zurück zu Victor drehte. Ihre Augen lagen nun direkt in seinen, obwohl sie keinen Plan hatte, was sie ihm denn sagen sollte. Ihre innere Unruhe weiter verkörpernd, tigerte sie erneut quer durch den Raum zurück zu ihm, setzte sich aber nicht hin, weil sie wusste, dass sie dann innerhalb zweier Sekunden wieder auf die Füsse springen müsste, da sie alles andere nicht aushielt. "Es ist... es ist etwas... wirklich nicht... Schönes...", begann die Brünette krächzend, woraufhin sie bereits zum ersten Mal hustete, um überhaupt einen Ton raus zu kriegen. "Darum hab ichs bis... jetzt auch nicht gesagt... weil ich selbst nicht... damit klar kam... komme...", wieder folgte eine Pause, obwohl sie keineswegs beabsichtigte, ihn unnötig auf die Folter zu spannen. Sie wusste einfach nicht, wie sie sich ausdrücken sollte - offensichtlich. Als würde sie noch immer verzweifelt nach den richtigen, den schöneren Worten für das absolut Hässlichste suchen. "Und es tut... mir leid, dass ich... dir heute noch mehr... solche... Scheisse auflade...", nur machte es eben auch keinen Sinn, es weiter zu verschweigen, wenn er längst gemerkt hatte, dass etwas nicht in Ordnung war. Wieder atmete Faye tief durch, rieb sich mit den feuchten Händen übers Gesicht, bevor sie die Finger zu Fäusten ballte und trotz der Anspannung langsam sinken liess. Sie versuchte noch einen Augenblick, ihn anzuschauen, um seine Reaktion einzufangen, aber das erwies sich als Ding der Unmöglichkeit, weshalb ihre Augen sich in der Leere neben ihm verlor. "Ich muss dir... erzählen... was passiert ist, nachdem... du das Bewusstsein verloren hast... F-falls.... du glaubst, dass du... das... hören kannst...", das war eine indirekte Frage, die sie vor sich hin stammelte. Sie glaubte nicht, dass er jetzt noch was anderes sagen konnte, als das sie reden sollte, aber Victor hatte sich schon oft im Leben als wesentlich... vernünftiger, rationaler ausgewiesen als sie selbst. Wenn er also genau wusste, dass sein Kopf diese Information heute unmöglich auch noch bewältigen konnte, dann musste sie darauf vertrauen, dass er das auch zugab. Aber eine Sache wollte sie trotzdem noch klarstellen, ganz egal, wie seine Entscheidung am Ende ausfiel und wie dieser Tag endete. "Er... er hat mich nicht vergewaltigt. Das... das hast du... erfolgreich vermieden", ihre Stimme war mehr nur noch ein Flüstern, als sie diese erste Information von sich gab. Sie hatte es schon mehrfach indirekt angedeutet, aber wirklich darüber geredet, hatten sie eben noch nie. Und somit war das auch das Erste, was sie ihm sagen wollte. Auch wenn er seinen Selbstmordversuch als schwach und beschämend betrachtete, war Faye sich sicher, dass es noch schlimmer gekommen wäre, wenn Victor Gil nicht unterbrochen hätte. Wie viel schlimmer das wusste sie nicht und wollte sie auch niemals erfahren. Aber schlimmer definitiv.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Ich nickte auf Fayes Worte hin nur, fand aber entsprechend der gegebenen Umstände auch keine Ruhe mehr, während ich einen um den anderen Bissen von Mal zu Mal mühevoller runterschluckte. Mir parallel dazu den Kopf darüber zerbrach, was es sein konnte, das sie unbedingt nur mit mir teilen wollte. In jedem Fall musste es allein aufgrund dieser Tatsache schon irgendetwas Desaströses sein. Etwas, von dem sie sich wahrscheinlich sehr sicher war, dass es mir zusetzen und ich es eben nicht gut aushalten würde. Mein Kopf schlug also kontinuierlich Purzelbäume und es war schwer, das in mir drin zu behalten. Auf den ersten Blick trug ich es vielleicht weniger offensichtlich nach außen als Faye, aber ich konnte das Adrenalin schon durch meine Adern rauschen spüren. War deshalb schon minimal zittrig, was ich feststellte, als ich meine Hände nach dem Abstellen des Tabletts auf dem Flur noch einen Moment lang betrachtete. Die Angst lachte mir längst wieder hämisch über die Schulter ins Ohr, als wir zurück ins Zimmer gingen. Breitete sich zunehmend auch auf meine Beine aus, während noch eine kleine Ewigkeit verging, in der Faye nach den richtigen Worten zu suchen schien. Meine Knie fühlten sich nach Wackelpudding an, weshalb ich mich letztlich bemüht tief durchatmend auf die Bettkante setzte. Ich hatte meinen Blick auf den Händen in meinem Schoß festgetackert, weil ich Fayes unruhiges Auftreten schlecht vertrug und es mir nur zusätzlich zusetzte. Erst als die zierliche Brünette schließlich zu mir kam, sah ich also wieder zu ihr auf. Senkte den Blick dann aber schon nach dem ersten, verheißungsvollen Satz erneut auf meine unruhigen Finger. Je länger sie zerstückelte Sätze vor sich hin stotterte, desto schlimmer wurde es. Denn ja, es war offensichtlich, dass sie selbst noch nicht wusste, wie sie mit dem klarkommen sollte, was scheinbar während meines hübschen Schläfchens noch vorgefallen war. Ich hatte mir bisher sehr glaubhaft eingeredet, dass halt einfach nichts weiter passiert war, als dass sie uns dann in den Wald gebracht und dort ausgesetzt hatten. Weil es am einfachsten gewesen war. Einfacher, als gezielt danach zu fragen. Aber auch sehr naiv. Ich hätte es besser wissen sollen nach all dem Übel, das mir und auch Faye schon widerfahren war. Hätte mich lieber mental auf den noch fallenden Hammer vorbereiten und irgendwann danach fragen sollen. Dann würde es mich jetzt weniger erschlagen und mich nicht wie ein hilfloses Nervenbündel auf der Bettkante zurücklassen. Es wäre dann auch für Faye einfacher gewesen, mir davon zu erzählen, wenn ich mich dabei besser im Griff hätte. Tja. Hätte, Könnte. War jetzt offensichtlich zu spät dafür. Erst nachdem die junge Frau ihren vorerst letzten Satz sprach, hob ich den Kopf wieder an, um sie anzusehen. Brauchte noch einen Moment, um zu realisieren, was sie mir damit zu sagen versuchte - also abgesehen davon, dass ihr wenigstens eine Vergewaltigung erspart geblieben war... hatte es für das Trio tatsächlich so gar nicht mehr zur Debatte gestanden mich sterben zu lassen? Nachdem sie uns am ersten Abend sehr unmissverständlich damit gedroht hatten, war es ein bisschen schwer das zu glauben. Ich hatte mich ja nur umbringen wollen, um mir selbst weiteres Leid zu ersparen - weil ich davon ausgegangen war, dass ich sowieso sterben musste, damit die Rachegelüste ausreichend befriedigt waren. Aber wenn für eine Vergewaltigung keine Zeit mehr gewesen war, dann... ja, war es bis zu einem gewissen Grad fast schon logisch, dass das an der starken Kopfverletzung meinerseits lag. Gerade solche unter massivem Gewalteinfluss verliefen nicht selten tödlich, weil oft Hirnblutungen daraus resultierten. Auch wenn mir jene erspart geblieben war - theoretisch hätte ich auch wegen der Hirnprellung innerhalb weniger Stunden schon mausetot sein können, hätten sie mich nicht ins Krankenhaus gebracht. Aber selbst wenn ich tatsächlich das Schlimmste verhindert hatte, so war trotzdem in der kurzen Zwischenzeit noch irgendetwas anderes Verheerendes passiert. Während ich darüber nachdachte, rutschte mein Blick ausdruckslos von Fayes Gesicht ab und mein Kopf sank nach unten, um den Boden zwischen uns zu taxieren. Ich schluckte hörbar, kurz bevor ich bebend ein- und wieder ausatmete. Versuchte, das aufgescheuchte Herz damit wieder zu beruhigen und den ungesunden Gedankenfluss in meinem Kopf zu stillen. Beides gelang mir nur unzureichend, weshalb ich meine linke Faust schließlich mit der rechten Hand umschloss. Druck ausübte in der Hoffnung, damit das stärker werdende Zittern zu unterdrücken, was sogar halbwegs gut funktionierte. Zumindest zitterten meine Hände dadurch weniger als vorher. "Nein... glaube ich nicht... aber wenn du mich so danach fragst, würden wir wohl nie drüber reden...", stellte ich nach einem leisen Räuspern fest, wobei die trockene Ironie im Abgang die Verzweiflung in meinem Inneren deutlich zum Vorschein brachte. Es würde morgen nicht leichter sein. Übermorgen auch nicht. Vielleicht in einem Jahr oder später, aber so lange konnten wir nicht warten. "Wir müssen das jetzt abhaken.", hängte ich nach ein paar stillen Sekunden noch an. Hob schließend den Kopf und atmete nochmal durch, kurz bevor meine Augen auf Fayes trafen. Es gab jetzt sowieso kein zurück mehr, sie hatte das Thema schon angeschnitten. Es hatte quasi schon servierfertig auf dem Tisch gelegen, als sie aufgehört hatte vernünftig zu essen.
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Letztendlich war alles, was er sagte, das, was sie schon gewusst oder zumindest vermutet hatte. Ihre Nervosität und unguten Vorahnungen übertrugen sich sehr offensichtlich auf Victor und es tat ihr wirklich leid, dass sie es nicht einmal schaffte, bevor sie zur Sache kam einigermassen ruhig zu bleiben. Sie machte mit ihrem zittrigen Verhalten alles nur noch dramatischer und doch fühlte sie sich, als würde sie sich sofort übergeben, wenn sie sich hinsetzte und versuchte, sich still zu halten. Sie konnte auch nicht seine Nähe suchen, um sich davon beruhigen zu lassen, wenn das, was sie ihm erzählen musste, etwas derart Abstossendes war. Es sie viel eher dazu animierte, vor Victor zu fliehen, weil sie sich so sehr für die Verunstaltung ihres Körpers schämte. Weil die Spuren des Horrors für immer an ihr kleben würden, sie beide immer und immer wieder daran zurückdenken liessen. Und das wiederum machte es so viel schwieriger, das Trauma zurückzulassen und sich selbst zu lieben, wozu sie doch immer wieder ermutigt wurde. Wie sollte sie einen Körper lieben und sich in einem Körper wohlfühlen, wenn dieser Körper ihr mit seinem Anblick ständig solche Schmerzen bereitete? Und nicht nur ihr, was das alles noch so viel schlimmer machte. Victors Worte und der Blick in ihre Augen brachten Faye schliesslich dazu, sich doch auf den Stuhl zu zwingen, der ihm gegenüber neben dem Tisch stand. Sie suchte wieder nach irgendwelchen Worten, kämpfte darum, die Blockade zu umgehen, um überhaupt etwas raus zu bekommen. Am Ende brauchte es doch nochmal zwei tiefe, zittrige Atemzüge, bevor sie leise und undeutlich, aber immerhin einigermassen verständlich zur Sprache zurückfand. "Er... er hat mich losgelassen... und ich... bin aufgestanden... und hab... gesagt... sie sollen dich... losmachen...", sie musste ein Bisschen bei den eigentlich irrelevanten Details ausholen, die sich sehr lebhaft vor ihrem inneren Auge abspielten, weil sie keine Sekunde davon jemals vergessen konnte. Gerade wusste sie aber ganz genau, dass sie die eigentlichen Fakten nicht ohne Drumherum auftischen konnte - diese mentale Vorbereitung auf das Desaster brauchte, um überhaupt darauf zu sprechen zu kommen. "Ich hab... versucht... mich zu befreien, um dir zu helfen, aber... das war halt... einfach unmöglich...", Faye merkte gar nicht, dass ihr mittlerweile die Tränen von den Wangen tropften. Sie war viel zu tief in ihren Erinnerungen versunken, starrte in die Luft vor sich und bohrte sich die Fingernägel in die Haut, hielt sich sonst aber auf einmal erstaunlich still. "Und dann... war er wieder... sehr dicht... vor mir... aber der andere hat... dich tatsächlich losgemacht und... und dann hab ich dich nicht mehr gesehen, weil... weil er nicht wollte... dass ich zu dir schaue...", sie spürte den aufkommenden Schwindel, weil sie wusste, dass jetzt das Grauen folgte, von dem sie noch weniger reden wollte als vom Rest. In dem Moment in dieser Nacht, da hatte sie die Schnitte kaum noch wahrgenommen, weil alles andere schon so schrecklich gewesen war und sie nur noch hatte sterben wollen, um dem Anblick ihres schwerverletzten Freundes, dem sie nicht helfen konnte, und Gil mit seiner ganzen Sippe zu entkommen. Weil ihr Gehirn da schon auf Durchzug gestellt hatte, einfach ausgestiegen war, weil alles viel zu viel gewesen war. Aber später, im Krankenhaus, als sie erfahren hatte, dass Victor leben würde und sie auch, wenn sie sich nicht sehr kreativ anstellte und einen zweiten, erfolgreicheren Suizidversuch startete, da hatte die Wunde viel mehr Bedeutung gewonnen. War immer mehr zum Inbegriff des Horrors geworden. Und dabei hatte sie bis jetzt noch nicht einmal mit Victor darüber geredet. Mit niemandem ausser Aimee, einer Ärztin und ihrem Therapeuten. Wobei sie bei Aimee und der Ärztin auch nicht wirklich viele Worte darüber verloren hatte, es war eher so, dass die beiden einfach wussten, dass die Narbe existierte und das reichte. Faye versuchte nochmal angestrengt durchzuatmen, aber an diesem Punkt war das irgendwie auch hinfällig. "Er hat... ein Messer genommen... u-und... etwas... geschrieben... auf... meiner Brust... n-nur ein... Wort...", es wäre sehr viel einfacher gewesen, sich einfach auszuziehen und Victor so mit der Wahrheit zu konfrontieren. Dann hätte sie nicht reden müssen. Aber es wäre nicht fair gewesen, also noch weniger fair. Wahrscheinlich noch traumatischer, wenn er ohne Vorwarnung mit dem Anblick hätte klarkommen müssen. Die Narbe war nicht riesig, vielleicht fünf mal neun oder zehn Zentimeter. Mehr Platz hatte Gil auch nicht gehabt, wenn er sich auf ihre linke Brust konzentrieren wollte. Aber es ging auch nicht nur um deren Grösse, sondern vor allem auch um die Platzierung und das Wort an sich... Die Tatsache, dass er das Messer dort durch die Haut gerissen hatte, wo er niemals sein dürfte, nicht einmal hinschauen sollte.
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Es dauerte eine weitere, zähe Ewigkeit, bis Faye sich gesetzt hatte und dann ein paar pseudomäßig beruhigende Atemzüge später zu erzählen begann. Sie startete damit scheinbar wirklich unmittelbar nach dem Moment, in dem meine Beine endgültig nachgegeben hatten und ich in die Bewusstlosigkeit gedriftet war. Gil schien deshalb kurzzeitig von ihr abgelassen zu haben, auch wenn ich schon an diesem Punkt der Geschichte nicht glaubte, dass das so bleiben würde. Allein der Gedanke daran, wie Faye sich mit dem ausgekugelten Arm wieder an dem Pfosten hochgekämpft hatte, löste Bauchschmerzen aus. Es war alles einfach noch nicht lange genug her, als dass ich es mir nicht wahrhaft perfekt detailliert vorstellen konnte, ohne es gesehen zu haben. Es musste unsagbar weh getan haben. Wie der kläglich verlaufene Befreiungsversuch wohl auch. Danach war ihr keine Zeit zum Durchatmen vergönnt worden, weil Gil erneut ihre Aufmerksamkeit gefordert hatte. Während ich aus meiner ungesunden Körperhaltung befreit worden war, hatte Faye die nächste Foltereinheit ertragen müssen... und als sie dann den riesigen Elefanten ausgesprochen hatte, der schon seit einigen Minuten hier im Raum von der Decke hing, wanderten meine Augen ganz von selbst an die Körperstelle, an der Gil sich laut Faye verewigt hatte. Ich starrte Fayes Oberweite förmlich an, als würde das eingeritzte Wort sich dadurch plötzlich von selbst zeigen. Also könnte ich dadurch schon erahnen, was dort stand. Was es für mich... für uns bedeutete. Die Narben an Fayes Rücken waren schon schlimm gewesen. Aber mit dem ekelhaften Syrer war es trotzdem ein Stück weit anders gewesen. Er hatte uns damit gedroht sich an ihr zu vergehen, ja. Seine Blicke waren auch ekelhaft pervers gewesen. Er hatte dieses Spiel aber - dank Mitch und Aryana - dennoch nicht so weit getrieben wie Gil, der sich einen riesigen Spaß daraus gemacht hatte sie auszuziehen und zu begrabschen. Es war absolut unmöglich die Erinnerung an diese Szenen aufzuhalten und während ich mir gleichzeitig wünschte, Faye in diesem Moment trösten zu können, weil ihre Wangen schon wieder mit Tränen benetzt waren, wusste ich auch, dass ich das gerade nicht konnte. Nicht nur, weil ich sie sowieso grundsätzlich nicht vor der Erinnerung und den gegebenen Tatsachen schützen konnte, sondern weil ich selbst schon drauf und dran war mit meiner Selbstbeherrschung zu kapitulieren. Der Kloß in meinem Hals machte sich immer deutlicher bemerkbar und meine Augen waren schon etwas glasig, weshalb ich die aufkommenden Tränen kontinuierlich wegblinzelte. Ich begann zu schwitzen und obwohl mein Körper unter kontinuierlicher, übermäßiger Anspannung litt, fühlte ich mich eher so, als würde ich jeden Augenblick auf der Bettkante zerfließen. Wahrscheinlich ging es Faye nicht gerade besser damit, dass ich auch nach dem starren blick auf ihre Oberweite noch nichts sagte, sondern stattdessen erstmal noch einige, ewige Sekunden lang auf meine Hände sah. Erst als die Tränen so weit besiegt waren, dass ich mir relativ sicher damit war nicht bei ihrem bloßen Anblick weinen zu müssen, sah ich mit einem Schlucken und leicht geröteten Augen wieder zu ihr auf. Einen Moment lang musterte ihren aufgelösten Gesichtsausdruck. Ich hätte gerne irgendetwas gesagt, dass den Schmerz in ihrer Brust hätte lindern können, aber mir fiel nichts ein. 'Ach, so schlimm wird's schon nicht sein'? Wohl kaum. "Zei...", ich musste noch einmal abbrechen und mich räuspern, weil der Druck in meinem Rachen eine schrecklich kratzige, dünne Stimme hinterließ. "Zeigst du's mir? Oder... kannst du noch nicht?", fragte ich. Meine Stimme war zwar klarer als vorher, aber kaum lauter. Eigentlich wollte ich die Narbe nicht sehen und lieber weiterhin so tun, als wäre das Wort gar nicht da. Mir das lieber für immer für später aufheben. Aber das war ein dummer Gedanke. Ich konnte es zwar durchaus eine ganze Weile ohne Sex aushalten ohne unleidlich zu werden, aber das gehörte ganz einfach zu einer Beziehung dazu. Wir mussten auch diesen Teil von uns reparieren, wenn wir eine Zukunft haben wollten. Es führte also kein Weg an dem Wort vorbei, das Gil in Fayes Brust geritzt hatte... aber wenn die zierliche Brünette nicht dazu imstande war, sich dieses Mal selber aus den Klamotten zu schälen oder zumindest zu mir rüber zu kommen und mich zum Helfen aufzufordern, würde aus der Konfrontation heute nichts mehr werden. Ich hatte nicht die Kraft dazu selbst aufzustehen und zu ihr rüberzugehen. Nicht dieses Mal. Dafür war die bildliche Vorstellung an Gils schadenfrohes Grinsen einfach viel zu präsent vor meinem inneren Auge.
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Es war wohl gut, dass sie eine ganze Weile weiter in die Leere starrte, ohne die Kraft aufzubringen, sich wieder Victor zuzuwenden. So ging sein Blick beinahe unbemerkt an ihr vorbei, auch wenn sie spürte, das er schaute. Nur gab es nichts zu sehen, sie war ja angezogen und zwei Schichten Kleidung waren doch knapp genug, um eine Narbe zu verstecken. Trotzdem wanderte ihr verschleierter Blick irgendwann in seine Richtung und sie betrachtete ihn ziemlich kraftlos, beschämt... hauptsächlich einfach abgrundtief traurig. Er sagte nichts, für eine lange Zeit. Jedenfalls fühlte es sich nach ewig an. Aber sie schwieg auch. Und mittlerweile war sie sich überhaupt nicht mehr sicher, ob sie es ihm vielleicht besser doch nicht schon heute hätte sagen sollen. Vielleicht hätte sie versuchen sollen, die Narbe irgendwie... loszuwerden, bevor er sie bemerkte. Sie hatte nur noch nicht rausbekommen, wie man eine Narbe loswurde... Sie hätte das Narbengewebe rausschneiden können. Um dann eine noch grössere, noch hässlichere Narbe mit sich rum zu tragen - die aber immerhin nicht mehr dieses Wort in sich getragen hätte. Aber das hätte sie unmöglich geschafft, ohne dass Victor etwas mitbekommen hätte... Ausserdem hätte sie es wohl selbst tun müssen, weil kein Arzt der Welt ihr dabei geholfen hätte. Und das wiederum bedeutete, dass sie wohl auf ewig hier in der Klapse geblieben wäre, weil das eindeutig die Tat einer Wahnsinnigen gewesen wäre. Zeigst du's mir, sagte er. Aber in einem Tonfall, der deutlich verriet, dass er es genauso wenig sehen wollte wie sie. Es war einfacher, die Verletzung zu ignorieren und zu tun, als wäre sie nicht da, wenn man nicht wusste, wie sie aussah. Oder sie zumindest nicht direkt unter die Nase gehalten bekam. Aber das war keine dauerhafte Bewältigungsstrategie, wie sie aus Erfahrung bestens wusste. Faye nickte nach ein paar Sekunden langsam, wandte dabei aber den Blick wieder ab. Und es dauerte noch mehr Sekunden, bis sie ihre Arme dazu motiviert hatte, sich zu bewegen. Vorsichtig griff sie mit ihren zittrigen, feuchten Fingern nach dem unteren Saum ihres Pullis, zog diesen beinahe in Trance nach oben, um sich aus dem Stoff zu schälen. Ihre Hände krallten sich in das Kleidungsstück, als sie es ausgezogen hatte und vor sich auf den Tisch legte. Wieder brauchte sie ein paar Sekunden Pause, um aus dem Universum oder woher auch immer die Kraft zu schöpfen, nicht doch noch aufzuhören. Sie erhob sich und wandte sich von Victor ab, die Bewegungen so langsam, dass sie beinahe mechanisch, irgendwie schlecht ferngesteuert wirkten. Faye griff endlich nach dem Rand ihres Shirts, begann auch dieses nach oben zu schieben, um sich schliesslich endgültig davon zu befreien und es zur Seite zu legen. Sie hatte sich so von Victor abgewandt, dass er sie höchstens seitlich von Rechts sehen konnte, aber ganz bestimmt noch keinen Blick auf das Problem werfen konnte, welches sich nun offenbarte, als sie auch den BH ablegte. Der hatte zwar nicht wesentliche Teile des Kunstwerkes verborgen, aber trotzdem war es gemalt worden, als sie (fast) nackt gewesen war, weshalb es auch besonders dann in aller Pracht scheinen konnte, wenn sie alle Kleider, die damit in Berührung gerieten, ablegte. Was jetzt der Fall war. Sie schaute nicht nach unten, weil sie befürchtete, dann nicht zu schaffen, was sie vorhatte. Aber selbst ohne den bewussten Blick in diese Richtung, blendeten sie die Buchstaben von unten, wurden wenig später von tropfenden Tränen benetzt. Sie hörte seine Stimme in ihrem Kopf, die ihr wieder und wieder versicherte, dass das Wort für immer der Wahrheit entsprechen würde. Dass sie ihm gehörte, und wenn sie sich noch so sehr dagegen sträubte. Faye stützte sich an der Wand ab, als sie sich endlich umdrehte, blickte überall hin nur nicht zu Victor, während ihre Hände sich an dem kalten Verputz in ihrem Rücken festhielten. Aber nicht einmal die stärkste Mauer der Welt würde ihr genügend Halt bieten können, um das hier in irgendeiner würdevollen, zuversichtlichen oder selbstbewussten Art zu tun. Irgendwie etwas anderes als komplett zerstört zu wirken.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Wahrscheinlich hatte ich mir unterbewusst erhofft, dass ich Gils Schnitzerei heute noch nicht ins Auge sehen musste. Das war zwar nicht besonders schlau und widersprach allen Verhaltensmustern, die ich mir für die nahe Zukunft vorgenommen hatte, aber ich fühlte mich einfach nicht bereit dafür. Deshalb setzte mein Herz fröhlich zum nächsten Galopp an, als Faye sich schließlich auszuziehen begann. Es dauerte lange und doch irgendwie nicht lange genug, bis auch der schmale Verschluss des BHs nicht mehr ihren vernarbten Rücken zierte und seine Träger von ihren schmalen Schultern rutschten. Ich musterte die Narben. Der Anblick tat mir nicht mehr weh. Sie lösten längst keine sofortigen Flashbacks mehr aus, sie gehörten einfach nur noch zu Faye. Ob ich das auch mit einem vernarbten Wort auf ihrer Brust schaffen konnte? Kam wohl stark darauf an, was in ihrer Haut verewigt stand... Meine Augen waren mit leerem Ausdruck wieder etwas nach unten abgerutscht, bis Faye sich schließlich zu regen begann. Mein Blick klarte auf, aber ich hob ihn nur sehr langsam an. Stückweise, während Faye schon längst mit dem Rücken an der Wand stand. Als ich mit den Augen von ihren Hosenbeinen bis hoch zu ihrer Hüfte gewandert war, wurden die Umrisse der Narbe langsam schon klarer. Es waren nicht viele Buchstaben. Als ich es ein paar Sekunden später dann endlich schaffte mich dazu zu überwinden, die Buchstaben auf ihrer Brust direkt anzusehen, wurde mir schnell klar, dass es auch gar nicht viele brauchte. Vier Buchstaben waren vollkommen ausreichend, um eine Existenz zu zerstören. Oder eher zwei in diesem Fall. Ich sah mir das Wort höchstens fünf Sekunden mit vollkommend entglittenen Gesichtszügen an und das war lang genug, um meine Welt den nächsten reißenden Fluss runterzustürzen. Meine Augen wurden sofort wieder feucht und ich legte den Kopf nach vorn in meine Hände. Begann zuerst stumm in meine Handflächen zu weinen, bis ich den Schmerz und den Druck in meiner Brust nicht mehr aushielt. Sich leises Schluchzen mit verzweifeltem, fast stummen Lachen vermischte. Es ergab jetzt alles auf schmerzhafte Weise noch mehr Sinn. Dass Faye nicht geglaubt hatte, dass ich sie noch lieben konnte. Dass sie geglaubt hatte, nicht mehr genug für mich zu sein. Dass sie sich so viel Schuld bereitwillig selbst auflud. Gil hatte sie gezeichnet. Nicht nur mit den dünnen, fast nicht sichtbaren Narben an ihrer Seite, wo er das Nachthemd zerschnitten hatte... er hatte sie mehr verunreinigt als all die anderen Arschlöcher, die schon vor ihm an der Reihe gewesen waren. Warren - und die anderen drei Männer mit Rang aber ohne Namen, die schon vor ihm da gewesen waren... - ließen sich leicht abwaschen. Warren war tot und die anderen drei kannte ich nicht einmal, was auch gut so war. Der Syrer lebte vielleicht noch, vielleicht aber auch nicht. Ich hatte meinen Frieden längst damit geschlossen, dass Mitch ihn hoffentlich erwischt hatte. Oder Aryana ihn draußen auf dem Weg zum Fahrzeug mit ausreichend Kugeln gesiebt hatte, um sein Ende zu besiegeln. Syrien war weit weg, nicht greifbar. Gil hingegen war hier. Nicht nur hier in der Stadt, sondern auf Fayes Brust. Sie gehörte ihm. Auch wenn Menschenhandel zur heutigen Zeit illegal war und die zierliche Brünette nicht wirklich wortwörtlich in seinem Besitz stand, fühlte es sich in diesem Moment doch ziemlich genau danach an. Faye war hier bei mir, nicht bei ihm und dennoch riss uns dieses hässliche Wort gerade ein weiteres Mal sehr weit auseinander. Ich würde niemals von der Frau, die ich liebte, behaupten, dass sie mir gehörte... aber Faye gehörte doch zu mir. Sie war ein Teil von mir und da hatte dieses Monster gottverdammt nochmal einfach nichts verloren. Ich brauchte auch nicht erst noch eine Nacht darüber zu schlafen, um zu wissen, dass diese Narbe nicht wie die Peitschenhiebe aus Syrien irgendwann einfach verblassen würde... es war unmöglich bei einem vernarbten Wort einfach über dessen Ursprung und Bedeutung hinwegzusehen. Erst nach etwa fünf Minuten bewegte ich mich wieder unabhängig der Schluchzer, die durch meinen Körper wanderten. Ich schob die nassen Hände von meinem Gesicht in meinen Nacken, hielt den Kopf weiterhin nach vorn gesenkt und raufte mir von hinten nach vorne die Haare, während mein ganzer Körper unter dem Zittern vibrierte. Ich hielt noch einmal einen Moment lang inne und strich mit dem Zeigefinger über die Narbe der Platzwunde an meinem Hinterkopf. Ich wusste nicht wieso, aber es wirkte meistens ein bisschen beruhigend. Vielleicht weil mich die hervorstechende Haut, die nie wieder ein Haar sehen würde, immer daran erinnerte, das ich schon wieder nur fast gestorben war und ich was das anging sehr viel mehr Glück hatte, als die meisten andere Menschen. Ich dann immer versuchte mir einzureden, dass ich es wertschätzen sollte noch immer ohne folgenschwere Behinderung atmen und leben zu können. Für einen kurzen Moment hatte ich mir während all der Tränen wieder gewünscht einfach gestorben zu sein. Die Narbe zwischen meinen Haaren erinnerte mich jedoch erfolgreich daran, dass das eigentlich falsch war. Dass ich nur dieses Leben hatte. Nur diese Chance, um mir den einzigen Wunsch zu erfüllen, den ich jetzt schon seit Jahren hegte. Ich hielt die Augen noch geschlossen und versuchte tief zu atmen, aber das Adrenalin pulsierte weiter durch meine Adern, als schließlich meine noch immer schwach tränenden Augen mit etwas verschwommenem Blick nach Fayes Gesicht suchten. "Wir... wir finden... einen Weg dafür...", röchelte ich das erste mal seit einigen Minuten ein paar leise Worte. Wahrscheinlich war das wenig überzeugend, nachdem ich jetzt schon seit ein paar Minuten heulend auf ihrem Bett saß und sichtbar die Nerven verlor. Ich meinte auch nicht, dass wir einen Weg dafür finden würden, damit zu leben... eher sie loszuwerden. Und wenn es mich alles Geld kostete, das ich noch hatte. Oder wir einen Kredit aufnehmen mussten, um den besten Schönheitschirurgen des Landes zu bezahlen, weil es sonst keiner fertig brachte die Narbe adäquat zu entfernen. Sie konnte da nicht bleiben. Ich konnte Faye auch mit der Narbe mehr als alles andere lieben. Aber ich konnte sie trotzdem nie wieder so sehen wie vorher, wenn sie nichts anhatte. Und ich glaubte auch nicht daran, dass Faye selbst mit dieser Narbe leben können würde. Vielleicht im Alltag, aber nicht auf intimer Ebene. "Ich... ich liebe dich trotzdem, Faye. Es... ändert nichts daran, dass... du die Einzige bist, die ich... an meiner Seite haben will... wir... wir schaffen das. Irgendwie..." Wahrscheinlich klang ich in etwa genauso verzweifelt, wie ich in diesem Moment aussehen musste. Ich wollte gerne aufstehen und sie in meine Arme nehmen, aber es fiel mir wahnsinnig schwer mich aus diesem betäubenden, lähmenden Schmerz zu befreien, der meinen Körper in diesem Moment flutete. Ich versuchte zwar die Feuchtigkeit aus meinem Gesicht zu wischen, aber es kamen immer noch einzelne Tränen nach.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Es dauerte maximal eine Minute, in der sie an der Wand gestanden und zur Seite gestarrt hatte, bis ihre sowieso schon eher nicht vorhandenen Nerven ihr bitteres Ende erreichten. Kaum hörte sie sein erstes Schluchzen, schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und sank der Wand entlang zu Boden. Der Verputz kratzte an ihrem Rücken, aber sie mochte den Schmerz. Immer, wenn es ihr beschissen ging und sie in hohem Mass an sich zweifelte, fand sie diesen masochistischen, irrationalen Zugang zu Schmerzen und sie fühlten sich auf einmal gar nicht mehr so falsch an. Meistens ignorierte sie das ganz gut. Aber nicht dann, wenn ihre Psyche so am Arsch war wie jetzt. Nicht dann, wenn sie so viele Gründe sah, sich selbst zu hassen. Wenn sie das Leiden rechtfertigen konnte, weil es sich richtig anfühlte, wenn sie Schmerzen empfand. Wie das, was sie verdiente. Vielleicht war es nur indirekt ihre Schuld, dass sie in dieser Scheune gelandet waren. Aber wäre er - oder sie - nicht dort gewesen, würde es Victor heute wesentlich besser gehen. Vielleicht hätte sie sogar etwas gegen das Messer tun können, irgendwie. Vielleicht, wenn sie nicht schon so sehr aufgegeben hätte in diesem Moment. Vielleicht, wenn sie sich gewehrt hätte. Vielleicht, wenn sie sich auf eine andere Lösung geeinigt hätten. Wenn sie Ryatt nie dazu überredet hätte, gegen Sean auszusagen... Egal wie man es drehte, sie hatte Chancen gehabt - gute und schlechte - um das zu verhindern, was sich nun hier abspielte. Die Schmerzen, die Victor nun quälten. Es wäre alles nicht nötig, es geschah alles ihretwegen. Ob er jetzt verstand, weshalb sie sich sicher war, dass er ohne sie wesentlich besser leben würde? Dass sie besser gestorben wäre? Faye wusste eigentlich, dass ihr Kopf ihr gerade wieder einen Streich spielte und in das gleiche alte Muster zurückfiel, das sie überhaupt erst hierher gebracht hatte. Sie wusste, dass sie so nicht denken durfte. Sie wusste, dass nicht alles stimmte, was sie in solchen Momenten glaubte, aber der Druck war unendlich und es fühlte sich so an, als würde ihr Kopf und ihre Brust sehr bald zeitgleich explodieren, während sie auf dem Boden sass und die Fingernägel in ihre Oberarme grub. Ihre Füsse vergruben sich abwechslungsweise gegenseitig unter den Sohlen und Gils Lachen hallte in ihren Ohren nach, welche sie verzweifelt immer wieder an ihren Schultern rieb im Versuch, ihn so zum Schweigen zu bringen. Nichts davon verbesserte wirklich ihre Gefühlslage, was die Tränenströme und Schluchzer überdeutlich unterstrichen. Es hörte sich beinahe so an, als würde sie mit Victor darum wetteifern, für wen die Narbe tragischer war, wer mehr darunter litt und sie hässlicher fand. Dabei versuchten sie nur beide irgendwie damit klarzukommen. Und es gelang ihnen kläglich bis gar nicht. Die ersten Worte, die nach minutenlanger Stille folgten, kamen von Victor. Und Faye fragte sich sofort, was für einen Weg es dafür denn geben sollte. Sie hatte ihren Arzt vorgestern, als sie das wohl letzte Mal bei ihm gewesen war wegen der Schulter und den Fingern, gefragt, was es für Möglichkeiten der Narbenentfernung gab. Offenbar war eine Lasertherapie am vielversprechendsten und er hatte ihr auch eine Klinik rausgeschrieben, bei der sie sich melden sollte, sobald sie konnte, da frische Narben leichter zu behandeln waren als schon ältere. Aber auch Laser konnte eine Narbe nicht zu hundert Prozent verschwinden lassen, womit man wieder bei ihrer bevorzugten Lösung von einfach herausschneiden wäre. Faye schüttelte verzweifelt den Kopf, streckte einen Arm aus, um sich ihr Shirt zu schnappen und dieses gleich darauf über den Kopf und ihren verschandelten Oberkörper zu ziehen. Kaum hatte sie das geschafft, kämpfte sie sich wieder auf die wackeligen Beine, nahm dann auch den Pulli, um ihren Körper unter einer weiteren Schicht Kleidung noch ein Bisschen besser zu verstecken. Als er weiterredete, sprach ihr verständnisloser, kaputter Blick wohl ziemlich klar aus, was ihre Meinung von ich liebe dich trotzdem war. Nämlich wie??? Es fühlte sich fast so an, als hätte er die letzten fünfzehn Minuten nicht aufgepasst. Wie konnte er das sagen? Glauben? Glaubte er es denn wirklich? "Du... du musst nicht... Victor... musst mich nicht... l-lieben... oder das... akzeptieren... oder... oder hier bleiben...", stammelte sie wirre Worte vor sich hin in der Hoffnung, dass diese am Ende irgendeinen Sinn ergaben. Was sie ihm eigentlich sagen wollte war einfach, dass er gehen konnte, wenn er wollte, dass sie ihm niemals Vorwürfe machen würde, wenn das einfach zu viel war. Eigentlich war jedes dieser Gespräche eins zu viel. Eigentlich war jede Hiobsbotschaft eine zu viel. Und sie wussten es beide. Er musste nicht bei ihr bleiben. Da draussen gab es Tausende, Millionen von Frauen, die ihm mit so viel weniger Trauma gegenüberstanden. Die keine Narben auf ihren Körpern trugen. Die charakterlich ganz genauso liebenswert waren wie sie, oder mehr. Sie würde das nicht aussprechen, weil sie auch hier wusste, dass das die Art von Gedanken waren, die nur dann kamen, wenn sie am schwächsten war - wenn sie nicht richtig denken konnte, wenn sie nicht das Gesamtbild sah und alles nur noch irrational betrachtete. Aber jedes Mal, wenn sie ihn mehr kaputt machte, zerstörte sie ein Stück von ihnen beiden. Und sie hatte die Liste heute Nachmittag gesehen - ihre Beziehung lief nicht besonders grossartig, egal, wie sehr sie sich liebten. Gab es nicht irgendwann einen Punkt, an dem die Schmerzen zu gross wurden? An dem sie sich nicht mehr betrachten konnten, ohne die tiefen Wunden wieder aufzureissen? An dem sie sich mehr kaputt machten als heilten? Schon möglich, dass Victor gefühlt ihr einziger Grund war, noch leben zu wollen. Aber sie fühlte sich zugleich auch wie der gefühlt einzige Grund, dass er nicht glücklich sein konnte.
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Nein, das musste ich nicht. Ich musste sie nicht lieben und ich musste auch nicht hierbleiben. Das war aber auch nicht der springende Punkt an unserer inzwischen sehr langen, gemeinsamen Geschichte. Natürlich könnte ich gehen, mir standen theoretisch alle Tore dieser Welt offen. Ich könnte Faye hier lassen und irgendwann in mindestens zehn Jahren wäre ich dann vielleicht mal bereit dazu, wieder freiwillig eine Frau in meine Nähe zu lassen. Ich könnte ihr dann irgendwann sagen, dass ich sie liebte und es wäre niemals zu einhundert Prozent wahr. Es konnte schon sein, dass mir nochmal ein anderer Mensch nahe kommen könnte, wenn ich es versuchen und zulassen würde. Aber es wäre immer eine funktionelle und keine echte Liebe. Würde nur mein Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung stillen, nicht aber mein Herz. Würde nichts daran ändern, dass ich diese Person jederzeit wieder gegen Faye eintauschen würde, wenn ich sie nur für eine halbe Sekunde sehen würde. Dass ich den Rest meines Lebens immer nach Faye Ausschau halten würde, wenn ich durch eine belebte Fußgängerzone oder über einen Zebrastreifen ging. Keine Liebe, die ich für eine andere Frau empfinden könnte, wäre so vollkommen und unantastbar wie die Liebe zu Faye. Die Brünette würde für immer ein Loch in mir zurücklassen, das nicht zu füllen war. Sie würde mein Herz behalten, wenn ich sie zurückließ. Wozu sollte ich also gehen? Für ein leeres, nur pseudomäßig glückliches Leben? Dann könnte ich es auch gleich bleiben lassen. "Wirst du's jemals wirklich verstehen, Faye?", stellte ich ihr schmerzlich eine rhetorische Frage, schüttelte verständnislos über ihre vorangegangenen Worte den Kopf. "Wozu soll ich denn gehen? Um für den Rest meines Lebens verzweifelt zu versuchen das riesige Loch zu stopfen, dass du hinterlassen würdest? Ich kann nicht einfach aufhören, dich zu lieben." Meine Worte klangen im Vergleich zu vorher recht entschlossen, die Stimme wieder etwas fester als zuvor. Ich würde enden wie Mitch - beziehungsweise so, wie er früher gewesen war. Würde vereinsamen, verbittern, eine leere Körperhülle umherschleppen, kalt werden. Vielleicht würde ich Jagd auf Gil machen, weil er mir genommen hatte, was ich mehr als alles andere begehrte... wobei mir danach nüchtern betrachtet auch jetzt schon der Sinn stand. Wäre seine Hinrichtung die einzige verbleibende Möglichkeit, um der hässlichen Narbe ihre Bedeutung zu nehmen, würde ich sicher auch das tun. Lieber nicht zu lange drüber nachdenken. "Ich würde mein Herz bei dir lassen. Egal wie kitschig das klingt - es ist die Wahrheit.", bekräftigte ich meine vorherigen Worte, bevor ich die Nase hochzog und mir noch einmal übers Gesicht wischte. Mit einigen tiefen Atemzügen hintereinander versuchte, die Tränen versiegen zu lassen und das Zittern einzudämmen. Außerdem würde Faye sich sehr wahrscheinlich den Rest geben, wenn ich ging. Ich würde also den Rest meines Lebens damit verbringen, nach einem Geist zu suchen oder an ihrem Grab campen. Mich dann dort im Winter irgendwann bewusst zu Tode frieren, nur um wieder mit ihr vereint zu sein. Es wäre vorne und hinten einfach sinnlos, für beide von uns. Es dauerte noch weitere drei Minuten, bis ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich glaubte gefahrlos aufstehen zu können. Der Schwindel, der meinen Schädel überrollte, als ich wieder auf den Beinen stand, war leider noch anderer Meinung. Ich hielt also noch einen Augenblick lang inne und versuchte währenddessen ein weiteres Mal den Kloß runterzuschlucken. Vergebens. Ich ging mit unsicheren Schritten zu Faye. Stellte mich neben ihr an die Wand, nur um mich ebenfalls mit dem Rücken daran runterrutschen zu lassen und ohne Ab stand von ihr zu halten auf dem Boden zu sitzen. "Es gibt mittlerweile... wirklich fast endlos viele verschiedene Möglichkeiten, eine Narbe loszuwerden... ich hab mich damals... selbst lang damit befasst... und ich bin mir sicher die Technologie ist inzwischen noch viel weiter...", murmelte ich leicht stockend. Sah zu ihr rüber, den Hinterkopf wegen herannahender Kopfschmerzen aber an die Wand gelehnt. Natürlich gab es ein paar gängige, zumeist schon ältere Methoden, die von den meisten Ärzten empfohlen wurden. Schon vor Jahren, als ich wegen meines Rückens nach solchen Möglichkeiten gesucht hatte - nur um mir von allen Adressen, an denen ich angedockt hatte sagen zu lassen, dass bei so vielen Narben eher abzuraten war, weil die Wahrscheinlichkeit wie ein großer Flickenteppich zu enden nicht unbedingt gering war - waren aber über konventionellere Methoden hinaus noch zahlreiche neuere Verfahren vorhanden gewesen. Manche davon damals noch nicht in den Staaten oder wenig ausgereift, aber das war inzwischen gute sieben Jahre her. Seitdem hatte sich ganz bestimmt noch eine Menge getan.
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Berechtigte Frage - würde sie dass denn? Genau genommen verstand sie seine Gefühle schon lange, schon seit sie sich kannten. Denn sie spiegelten sich seit jeher in ihr. Was er empfand, spürte sie auch. Wenn er litt, quälte sie sich auch. Während er für immer bei ihr bleiben wollte, wollte sie auf ewig an seiner Seite gehen. Also ja, sie verstand es. Aber gleichzeitig machte sie sich in solchen Momenten unendlich viele Gedanken darum, wie es ihm gehen könnte, wenn sie nicht wäre. Das war dumm, das wusste sie. Denn wenn sie richtig denken konnte, nicht so von Emotionen überwältigt war, dann wusste sie, dass Victor sich bewusst immer und immer wieder für sie entschied, wie sie das umgekehrt auch tat. Dann wusste sie, dass er bei ihr bleiben wollte und es auch tun würde, egal wie oft sie strauchelten und stürzten. Dass er diesen Weg mit ihr und keiner anderen gehen wollte, weil sein Herz zu ihrem gehörte, weil ihre Seelen auf ewig umschlungen und ihr Schicksal verwebt waren. Und Gil, Mateo und Riley konnten das nicht ändern, egal was sie auf ihre Körper und ihre Herzen malten. Denn sie konnten nicht einfach aufhören, einander zu lieben. Zum ersten Mal seit sie sich umgedreht hatte, hob Faye beinahe schüchtern den Kopf an, um mit ihrem Blick aktiv nach Victor zu suchen. Er schaute sie nicht an, als er weiterredete. Aber das musste er auch nicht, da seine ganze Körpersprache und jedes Wort, das er von sich gab, verrieten, dass nicht einmal die Narbe, nicht einmal ein solcher Besitzanspruch, nicht die hässlichsten Worte und Taten eines fremden Menschen es je schaffen würden, ihre Herzen zu trennen. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte - dachte auch nicht aktiv über eine Antwort nach. Sie schaute ihn einfach weiter an, wie das, was er war: alles, was sie sich je wünschen könnte. Mehr, als sie verdiente. Er bezeichnete sie als seinen Engel, aber ohne ihn würde sie nie wieder fliegen - wäre schon lange endgültig am Boden zerschmettert und hätte jede einzelne Feder für immer verloren. Ihre Schluchzer fanden ebenfalls langsam ein Ende, auch wenn die Tränen weiter flossen. Sie nutzte die Pause, in der keiner etwas sagte, um mühsam durchzuatmen und gegen das Zittern und die Anspannung zu kämpfen. Als er aufstand, klarte sich ihr zwischenzeitlich abgedrifteter Blick sofort wieder leicht auf, um ihm dabei zuzuschauen. Beinahe hätte sie damit gerechnet, dass er sagte, jetzt trotzdem zumindest kurz nach draussen zu müssen. Oder diesen Besuch zu beenden, um übermorgen wieder zu kommen. Das war es, was sie ursprünglich mit du musst nicht hierbleiben gemeint hatte... Aber seine Füsse blieben nicht unschlüssig stehen und er wandte sich auch nicht zum gehen, sondern kam in ihre Richtung, um sich tatsächlich neben ihr wieder niederzulassen. Faye zog die Nase hoch und schluckte angestrengt, zog die Finger tiefer in die Ärmel des Pullovers zurück und strich sich beiläufig damit über die Augen, als er von Narbenentfernung zu sprechen begann. Was unwillkürlich neue Tränen in ihre Augen trieb, aber die wären sowieso gekommen, hatten nur um die Ecke auf ihren Einsatz gewartet. Faye schwieg zuerst, drehte nur vorsichtig den Kopf in seine Richtung, als er sie ansah und musterte sein von Schmerz gezeichnetes und doch unendlich gütiges, liebevolles Gesicht. Fast hätte sie die Finger ausgestreckt, um ihn zu berühren, aber hielt sich dann zurück, weil sie sich nicht sicher war, ob das gerade wirklich so eine gute Idee war. Er suchte zwar selber keinen Abstand aber... Aber eben. "Ja... bestimmt...", hauchte sie leise, zustimmend. "Ich hab... die Adresse... von einer auf diesem Gebiet tätigen Schönheitsklinik... von meinem Arzt bekommen... die soll gut sein... aber... aber er hat auch gesagt... dass es wohl nie... ganz verschwinden würde...", setzte sie ihn stockend über den aktuellen Stand ihres Wissens in Kenntnis. Nicht ganz war aber schon wesentlich besser als gar nicht. Feine, nur schwach sichtbare Linien waren schöner als die fetten Risse, die jetzt ihre Brust schmückten. Liessen sich leichter ignorieren, übersehen. "Und... sonst... können wir... uns... für den Rest... ein gutes Motiv ausdenken... Um mit schwarzer Tinte... alles zu übermalen", sie hatte eigentlich bisher keine Pläne gehabt, was Tattoos anging, nicht vorgehabt, sich stechen zu lassen. Aber wenn die Narbe erstmal soweit wie möglich zurückgebildet war und man überhaupt anständig darauf tätowieren konnte, würde sie diese doch lieber mit einem von ihr und Victor gewählten Bild überstechen, als die Überreste weiter täglich im Spiegel lachen zu sehen.
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Eigentlich hatte ich den Tag eher mit einer schönen Erfahrung abschließen wollen, als mit dieser Situation. Mit einem festen, sicheren Lächeln und nicht mit vorsichtig pseudo-optimistischen Gesichtsausdrücken, die bei der nächsten Gelegenheit gleich weder geflutet werden würden. Aber so war das Leben, oder? Es kam immer alles anders, als man es sich erhoffte oder vorstellte. Es würde immer neue Wege finden, uns beiden eins reinzudrücken. Wir hatten also kaum eine andere Wahl, als irgendwie das beste daraus zu machen... aus der Narbe, in diesem Fall. Sie mochte in diesem Moment so einiges zerstört haben, aber nicht alles. Wenn Faye sogar schon eine Anlaufstelle für die Eindämmung des Desasters hatte, waren die Chancen auch eigentlich gar nicht schlecht, dass wir am Ende beide gut damit leben können würden. Zumindest auf den ersten Blick. Es kam am Ende schließlich auf das abschließende Urteil des dort behandelnden Facharztes an. "Wo... ist die Klinik denn? In der Nähe oder weiter weg?", hakte ich murmelnd nach. Die Wundrändern von Fayes Narbe waren schon geschlossen, so viel war für mich in den paar wenigen und doch viel zu langen Sekunden deutlich zu sehen gewesen. Wenn die Narbe zu war, dann sollte man mit den Behandlungen am besten nicht mehr allzu lange warten, wenn man das bestmögliche Ergebnis haben wollte. Wenn besagte Schönheitsklinik nicht hier in der Nähe war, dürfte sich das aber womöglich schwierig gestalten, solange Faye noch in der Psychiatrie festsaß. Oder zumindest malte ich mir die Chancen darauf, dass sie schon zeitnah einen Termin dort haben konnte, dann von vornherein schlechter aus. Ich wusste nicht, ob sie ihr hier eine solche Fahrt auch genehmigen würden, bevor sie wieder ganz raus durfte. Der Transport zum Krankenhaus wurde ihr bisher natürlich immer ermöglicht, aber da ging es wohl auch um deutlich wichtigere Untersuchungen. Nicht um die Beseitigung eines Schönheitsfehlers... dabei war die Narbe verständlicherweise sogar einer der Hauptgründe dafür, dass es der Brünetten so hundsmiserabel ergangen war, dass sie nicht mehr hatte leben wollen. Zumindest nicht mehr in ihrem eigenen Körper. Es wäre also eigentlich vollkommen idiotisch ihr das Recht auf ihr psychisches Wohlergehen - das halt nun mal mit diesem unschönen Wort auf ihrer Brust einherging - zu verwehren, indem man ihr nicht die Möglichkeit dazu gab, die Klinik vor ihrer Entlassung aufzusuchen. Aber erstmal abwarten, wo diese Klinik überhaupt war. Als Faye eine mögliche Tätowierung erwähnte, stellte ich unweigerlich fest, dass ich mir die zierliche Brünette irgendwie nicht wirklich erfolgreich in tätowiert vorstellen konnte. Also nicht, dass ich glaubte, dass ihr das nicht stehen konnte und sie damit furchtbar aussehen würde. Es war nur einfach grundsätzlich etwas schwer vorstellbar, weil sie bisher noch keine Tinte unter der Haut trug. Bevor ich aber etwas dazu sagte, streckte ich etwas zögerlich das Bein aus, das Faye zugewandt war. Danach legte ich meine Hand darauf ab - allerdings mehr oder weniger verkehrt herum, indem ich die Handfläche mit leicht gespreizten Fingern nach oben zeigen ließ. Vielleicht würde ich mich mit Kuscheln jetzt eher nicht so wohl fühlen, weil ich jetzt wusste, dass die Narbe zwischen uns sein würde... aber ich wollte trotzdem gerne stattdessen Fayes Hand halten. Ihr auch körperlich, mit Berührung symbolisieren, dass wir dennoch zusammen gehörten und diesen Weg auch mit der Narbe nicht getrennt gehen mussten. Dass ich für sie da war, auch wenn mir das gerade sicherlich schwerer fiel als noch vor ein paar Minuten. "Ich kanns mir noch ein bisschen schwer vorstellen, wenn ich ehrlich bin...", gab ich zu. "Aber wenn wir was finden, das gut passt, dann... steht dir das bestimmt.", fügte ich noch ein paar Worte an und zuckte schwach mit den Schultern. Versuchte mich an einem schmalen Lächeln, aber es erreichte meine Augen noch kaum und war mehr nur ein nach oben ziehen der Mundwinkel. Mir war einfach gerade nicht nach lächeln. Eher nach mehr Tränen oder danach, alles rauszuschreien, was mir seit ein paar Minuten so massiv auf die Brust drückte.
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Diese Frage liess sich relativ leicht beantworten, da sie die Adresse und Telefonnummer tatsächlich vor seinem Besuch noch eine ganze Weile zwischen den Fingern gedreht hatte. Wie sie das schon ein paar Mal getan hatte seit vorgestern - also seit dem Moment, in dem sie im Besitz des Zettels war. "Nicht so weit", schüttelte sie erst einmal schwach den Kopf und blickte kurz zum Nachttisch, in dessen Schublade sich das Stück Papier versteckte. "Ist in [Name irgendeiner Stadt in der Nähe, ich hab gerade keine Lust, was zu erfinden x'D], also vielleicht fünfundvierzig Minuten mit dem Auto...", gab natürlich nicht an jeder Ecke eine zuverlässige Schönheitsklinik, weshalb hier weit entfernt und in der Nähe ein Bisschen relative Begriffe waren. Aber sobald sie wieder ein Auto lenken und überhaupt selber nach draussen dürfte, war das doch eine Strecke, die zu bewältigen wäre. "Ich werd' natürlich so bald wie möglich da hin fahren... Er hat schon gesagt, dass es besser wäre, wenn ich nicht zu lange warte mit der Behandlung und die Narbe noch frisch wäre...", informierte sie ihn über ihren definitiv vorhandenen Willen, dieses schreckliche Wort so bald wie möglich loszuwerden. Nur musste sie eben auch noch eine Erlaubnis haben, diese Klinik zu verlassen. Und sie wusste nicht genau, wie weit entfernt ihr Austritt noch war... Aber hoffentlich nicht allzu weit, da sie allgemein so langsam genügend Gründe gesammelt hatte, weshalb sie hier endlich weg wollte. Faye brauchte ein paar Sekunden, um die Geste seiner Finger zutreffend zu deuten und behutsam die ihren in seine zu legen. Es war nicht besonders schwer, zu verstehen, was er ihr damit sagen wollte. Dass er sie trotzdem liebte und festhalten würde und dass er diesen Weg mit ihr ging - auch wenn er gerade lieber nicht hier wäre oder sie nicht in den Arm nehmen konnte, weil sich jemand so grausam zwischen sie gedrängt hatte. Zumindest war es das, was sie glaubte, dass seine Hand ihr unbewusst mitteilte. Und falls es das war, dann konnte er sich sicher sein, dass er ein weiteres Mal alle Dankbarkeit ihrerseits verdient hatte und sie das auch ganz genau wusste. Ihre Finger strichen zart über die seinen und ihre Augen hingen noch eine ganze Weile daran fest, bis Victor ihre Aufmerksam wieder auf sich zog, als er zu sprechen begann. Ja, das konnte sie bestens verstehen, sie hatte ja auch nicht wirklich vorgehabt, sich nächstens Tinte unter die Haut zu setzen. "Ja... geht mir gleich... aber im Endeffekt... ist mir die Tinte wohl lieber als... als auch nur die schlecht leserlichen Überreste von... dem", murmelte sie, versuchte sich ihrerseits noch nicht einmal an einem Lächeln, da es ganz bestimmt nicht erfolgreicher ausfallen würde als bei ihm. Sie wussten zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht, wie weit sich die Narbe entfernen liess oder eben sichtbar bleiben würde. Darum würde sie sich die Option eines Tattoos wohl offen halten, bis sich das definitiv beurteilen liess. Die Buchstaben waren eben nicht besonders zart in ihre Haut geschnitzt und Faye wusste nicht, inwiefern das eine Rolle spielen würde. "Ich hab... noch was für dich...", murmelte sie, hob den Blick erneut in seine Augen, weil sie sich nicht sicher war, ob der Themenwechsel bereits angebracht war. Aber sie hatten wirklich bereits genügend schlechte Nachrichten zu verdauen, oder? Da musste es nicht sein, dass sie sich noch den ganzen Abend in den drückenden Neuigkeiten einer hässlichen Narbe wanden, fand sie... Ausserdem gab es dazu nicht mehr viel zu sagen, sie war einfach... da und sie konnten daran auf die Schnelle nichts ändern, Victor musste die Nachricht erstmal verdauen und sie... sie brauchte ebenfalls ein Bisschen Ablenkung für die Nerven - die Konfrontation war vielleicht auf Dauer heilender als Vermeidung, aber trotzdem verkraftete Faye jeweils nur kurze Episoden, bevor sie dringend eine Pause brauchte, bevor sie wieder noch tiefer ins Loch fiel.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Fünfundvierzig Minuten. Nein, das war nicht allzu weit weg, auch wenn das gewissermaßen im Auge des Betrachters lag. In etwa ebenso wie die Dringlichkeit der Narbenbehandlung. Sie war eben nicht grade lebensbedrohlich, nur minimal existenzvernichtend. "Na dann wird's ja wenigstens schonmal keine Weltreise...", war vorerst alles, was ich mit einem schwachen Schulterzucken hinsichtlich der Klinik murmelte. Bis die Narbe so weit verschwunden war, dass Faye damit leben - beziehungsweise abschließend einen Tätowierer darin rumstochern lassen - konnte, war sicher weit mehr als nur eine Sitzung nötig. Der Gedanke daran, die Narbe wohl erst in ein paar Monaten nicht mehr ertragen zu müssen, war zweifelsohne mehr als unangenehm und wahrscheinlich würde ich es doch eine ganze Weile meiden, die abstoßenden Buchstaben überhaupt auch nur ansatzweise zu Gesicht zu kriegen. War auch leicht zu bewerkstelligen, solange Faye noch hier drin war und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich vor mir auszog, mehr als schwindend gering war. Aber spätestens dann, wenn wir wieder zusammen wohnten... im selben Bett schlafen würden... vielleicht hatte ich Glück und sie versteckte sie ohnehin auch dieses Mal von selbst. Trotzdem war es gemein, das zu denken, oder? Es war ja nicht so, als ginge es Faye mit der Narbe besser als mir oder als hätte sie in diese Misshandlung eingewilligt. Ich wollte nur einfach gerne den stechenden Schmerz in der Brust vermeiden, der jedes Mal einsetzen würde, wenn ich sie sah. Was... auch nicht wirklich meinem eigentlichen Vorhaben passte, keine unangenehmen Situationen mehr zu vermeiden, wenn sie eigentlich notwendig waren. Schätze das würde wohl ebenfalls ein sehr schleichender Prozess werden. Alte Muster legte man kaum von heute auf morgen ab - wenigstens war's mir überhaupt aufgefallen. Faye schien sich selbst auch noch nicht unbedingt erfolgreich unter neuer Körperbemalung erstrahlend zu sehen, aber das war nicht schlimm. Denn ja, die Tinte würde so oder so sehr viel besser sein, als es die Narbe allein je sein würde, solange sie noch sichtbar war. "Naja... schätze zur Not hilft Mitch uns gerne mit Tipps und Tricks für die Motiv-Findung.", schloss ich die Sache mit leichtem Sarkasmus ab, während ich beiläufig über ihren Handrücken streichelte. Heilfroh darum, dass sie sich dazu hatte animieren lassen meine Hand zu halten, weil ich eine Bestätigung unserer anhaltenden Beziehung und Liebe gerade mal wieder sehr gut brauchen konnte. So wie ständig in den letzten, schweren Tagen... aber grade ganz besonders. Natürlich würden wir aber kaum zu Aryanas Freund hinrennen und ihm sagen, warum oder für welche Stelle wir plötzlich ein Motiv für ein Tattoo brauchten. Das musste er nicht wissen, um uns in dieser Hinsicht einen Ratschlag mit auf den Weg geben zu können. Oder zumindest ein paar Tätowierer als gut oder schlecht abzustempeln, wenn wir sowas wie eine Auswahl hatten. Ich kannte mich damit wirklich kein bisschen aus, was es nicht leichter machte. Aber darüber konnte ich mir dann den Kopf zerbrechen, wenn es soweit war. Ich hatte nämlich fast schon wieder vergessen, dass Faye bei meinem ersten Besuch hier gesagt hatte, dass sie auch was für mich machen wollte, wenn ich ihr schon mit einer Geschenktüte kam. Wobei es sich theoretisch vielleicht auch um etwas ganz anderes handeln konnte, das musste ich wohl erstmal noch rausfinden. "Hast du?", war meine erste, doch leicht überraschte Antwort darauf. Wobei ich überwiegend deshalb überrascht war, weil der Umstieg auf etwas Erfreulicheres recht plötzlich kam. Dagegen einzuwenden hatte ich aber ganz bestimmt nichts. "Na dann lass mal sehen, was es ist." Ich ließ ihre Hand los und stand auf. Woraufhin ich Faye meine Hand wiederum erneut entgegenhielt, um ihr vom Boden aufzuhelfen. Wenn selbst mir grade noch ein bisschen schwindelig war, dürfte es ihr kaum anders gehen. Außerdem war der Boden hart und unbequem. Da mal kurz zu sitzen, weil die Situation es so haben wollte, war schon okay. Langfristig waren mir Stühle und Bettkanten aber sehr viel sympathischer.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +