Aryana quittierte die Worte des jungen Mannes mit einem Augenrollen, wobei doch auch ihr Gesicht von einem schwachen Grinsen erhellt wurde. Selbstverständlich begleitet von einem leicht rosafarbenen Schimmer auf ihren Wangen. Sie war nicht mehr ganz so schlimm wie früher, was Mitchells zweideutige Sprüche anbelangte, aber ein Bisschen was an rötlicher Farbe zauberte er damit noch immer jedes Mal in ihr Gesicht. War wohl ihr kleines Spielchen, das sich auf ewig so weiterziehen würde… Und es gefiel ihr ja auch, weil er es damit eben in jeder noch so beschissenen Situation schaffte, ihr zumindest kurzzeitig etwas Leichtsinn in die zuweilen leider recht dunkle Gedankenlandschaft zu pusten. Ausserdem hatte es eine Zeit gegeben – und die lag noch gar nicht so weit zurück – in der überhaupt keine solchen Bemerkungen mehr gekommen waren. Es war nicht das Einzige, was sie vermisst hatte, aber seine Scherze waren nunmal ein relativ verlässliches Indiz für seine Gefühlslage. „Jaja… Ich bin mir sicher, dass meine Unterwäsche momentan ein wirklich wichtiges Problem für uns darstellt“, pflichtete sie ihm sarkastisch bei, wobei ihre Fingerspitzen beiläufig seinen Rücken antippten und sie in seine ach so unschuldigen Augen blinzelte. Leider war Victors erste Frage anschliessend aber selbstredend dazu prädestiniert, den Versuch eine lockere Stimmung zu schaffen, umgehend abzubrechen. Aryana gab ein leises Seufzen von sich, als sie den Blick wieder etwas anhob, um auf den unglücklichen Mann im Bett zu schauen. Sie schüttelte schwach den Kopf, bevor sie abschweifte und zum Fenster raus blickte. „So wie gestern… und vorgestern… und den Tag davor“, gab sie leise die Information bekannt, die hier keiner wirklich hören wollte. Sie brauchte Victor nicht auch noch unter die Nase zu reiben, dass ihre Schwester ihr heute wieder überdeutlich klargemacht hatte, noch immer sehr gerne dankend den Löffel abgeben zu wollen. Es reichte, wenn er wusste, dass sich ihr Zustand seit Tag eins praktisch nicht verändert hatte – trotz Medikamenten und Therapie und gutem Zureden. Schien fast so als würde das diesmal einfach nicht mehr reichen… Wobei das wiederum dazu führte, dass Aryana sich gefühlt Tag und Nacht den Kopf darüber zerbrach, was sie denn noch machen konnte, um Faye wenigstens den akuten Todeswunsch auszureden. Sie erwartete ja kaum das volle Mass an Lebensfreude auf einmal zurück, nur wenigstens ein winziges Anzeichen der Besserung wäre nach all den langen Tagen doch wirklich schön… Insgeheim lag ihre Hoffnung diesbezüglich aber je länger je mehr nur noch auf Victor. Auch das würde sie ihm nicht sagen, weil sie sich zugleich eben auch alles andere als sicher war, ob Faye ihn je wieder zu sich durchdringen liess. Aber alle anderen Wege wirkten zunehmend aussichtslos, also blieb eben irgendwie nur noch die Hoffnung, dass Victors Gesicht in Fayes Kopf irgendeine Blockade löste. Oder aber – so grausam das für ihn auch enden könnte – seine Erinnerungen zurückkamen und die Fachpersonen der Psychiatrischen Abteilung dann wenigstens gezielt auf die Art von Trauma reagieren konnten, die offensichtlich vorlag. Victor hatte ja bereits bei ihrem ersten Gespräch angemerkt, dass er sich gerne erinnern können würde, um Faye zu helfen. Letztendlich war genau das vielleicht nötig… Oder dass er sich wenigstens mit ihr unterhielt – beziehungsweise sie sich mit ihm, war doch kaum zu übersehen, dass da viel eher die Blockade lag. Abgesehen von der fehlenden Erlaubnis seines Arztes, natürlich. Vielleicht würde sie sich ja auch beruhigen, wenn sie endlich final begriff, dass Victor ihr (noch) nicht böse war. Dass er je länger je mehr stärker unter Fayes Abweisung als unter seinen Verletzungen litt. Sie würde dem jungen Mann wirklich gerne irgendwelche aufmunternden Worte zukommen lassen, aber stattdessen erntete er nur ihren mittlerweile dezent ratlosen, unglücklichen Blick. „Ich versuchs weiter, Victor… Vielleicht krieg ich ja noch eine Besserung hin, bevor wir wieder abreisen müssen. Ich habe schon mit unseren Verwandten gesprochen, um jemanden hierher zu zitieren, bis wir zurück sind. Sam hat gemeint, vielleicht was organisieren zu können, entweder er selbst oder eine unserer Cousinen… Ich halte dich auf dem Laufenden“, gab sie in Aussicht, ihre Schwester dank der Mithilfe der Familie ihres Onkels vielleicht wenigstens nicht komplett unbeaufsichtigt zurücklassen zu müssen. Sie hatten nicht endlos viel Kontakt zu ihren Verwandten – wobei Faye doch deutlich häufiger anrief als Aryana – was unter anderem eben auch daran lag, dass sie nicht gleich um die Ecke wohnten. Aber Aryana würde ihnen die Flüge und den unbezahlten Urlaub liebend gerne zahlen, wenn sie dafür die Sicherheit hatte, dass Faye nicht weiter dem Wahnsinn verfiel, dass wenigstens eine Person von ausserhalb des Krankenhauses auf sie aufpasste.
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Ja, die Unterwäsche war überaus wichtig. Kam halt stark darauf an, wie man seine Prioritäten setzte. Jetzt, wo ich mich dank der anspruchsvollen körperlichen und auch mentalen Auslastung wieder um solche Dinge scheren konnte, fiel mir ein weiteres Mal auf, wie sehr ich Aryanas Reaktionen auf solche Bemerkungen meinerseits liebte. Ein bisschen Maria würde sie vielleicht immer bleiben, wenn man sich die leichte Röte auf ihren Wangen ansah. Zumindest in der Öffentlichkeit, vor anderen Leuten. Wobei Victor ja jetzt wirklich Niemand war, vor dem sie sich für sowas rechtfertigen oder gar schämen musste. Der Dunkelhaarige kannte meine Sprüche inzwischen schließlich lang genug, sowas war ihm nichts Neues. Allerdings sagte ich dazu nichts mehr, sondern grinste scheinheilig weiter vor mich hin und richtete den Blick zurück auf Victor. Noch währenddessen streckte ich den linken Arm nach Aryana aus und legte ihn um ihre Beine, streichelte ihr sanft mit dem Daumen über die Seite ihres Oberschenkels. Leider fiel die Antwort auf Victors Frage genauso negativ aus, wie zu erwarten gewesen war. Das führte dann auch bei mir unweigerlich dazu, dass die Mundwinkel zügig abrutschten. Faye und ich mochten nicht unbedingt sowas wie beste Freunde sein, waren wir beide doch schon sehr verschieden. Ich war ihr jetzt im Nachhinein aber doch sehr dankbar dafür, dass sie mir vor einiger Zeit auf dem Balkon ins Gewissen geredet hatte. Das allein hätte sicher nicht zu meiner psychischen Rettung gereicht, aber es hatte trotzdem geholfen. Ich hatte zumindest versucht mir ihre Tipps zu Herzen zu nehmen - mal mehr und mal weniger erfolgreich. Es war schon sehr ironisch und beschissen, dass sie jetzt selbst wieder in das Loch gefallen war, aus dem sie mich hatte rausziehen wollen. Weder die zierliche Brünette, noch Victor verdienten es, immer wieder auf so grausame Weise vom Leben getestet zu werden. Meine Augen wanderten schließlich doch noch einmal hoch zu Aryana, als sie fortfuhr und auf ihre Verwandtschaft zu sprechen kam. Ehrlicherweise war ich ganz froh drüber, dass die so weit weg wohnte, dann brauchte ich mich nicht zu anstrengenden Familientreffen zu schleppen. Jedenfalls schienen die Chancen ganz gut darauf zu stehen, dass Faye nicht alleine sein müssen würde, wenn ihre Schwester und ich uns wieder in den Flieger setzen mussten. Ich glaubte zwar nicht daran, dass das meine bessere Hälfte restlos von ihrer Sorge befreien würde, aber es half sicherlich schon ein bisschen und ich musste etwas weniger darum fürchten, dass sie dann bei der Mission den Kopf verlor. Trotzdem würde ich sie im Auge behalten, so gut ich konnte. "Okay... danke, Aryana.", meldete sich Victor murmelnd und nur knapp zu Wort, hatte in der Zwischenzeit die Augen auf die Decke gesenkt. Als er den Blick wieder anhob und sich an einem schwachen Lächeln in unsere Richtung versuchte, war das mehr als nur kläglich. Allein der Anblick war schon traurig, wie musste er sich da erst fühlen? Ich würde mich gerne selbst anbieten, um zu versuchen, Fayes Kopf ein bisschen gerade zu rücken - weil sie das bei mir eben auch versucht hatte. Allerdings glaubte ich mit Worten nicht mal halb so gut umgehen zu können wie sie und am Ende machte ich da dann noch mehr kaputt... mal abgesehen davon, dass sie mich wahrscheinlich gar nicht reinlassen würde. Wieso sollte sie? Es wäre also beinahe eine unangenehme Stille eingetreten, als es an der Zimmertür klopfte und eine Schwester uns darum bat, langsam zur Verabschiedung anzusetzen. Weil wir das immer ganz brav machten, wartete sie diesbezüglich aber gar nicht ab, sondern widmete sich wieder ihrer Arbeit außerhalb dieses Zimmers. "Dass die m... mir aber auch... keine Minute z... zu v... viel gönnen.", beschwerte sich der junge Mann grummelnd und setzte einen entsprechend unzufriedenen Gesichtsausdruck auf. Dass er die Einsamkeit nicht schätzte war nachvollziehbar, ich hatte nach dem Befreiungskampf damals ja selbst lang genug allein in meinem Zimmer gelegen. Und danach dann allein im Hotelzimmer, solange die Therapie meiner Schulter noch gelaufen war, weil Aryana ja nicht hatte bleiben dürfen. "Ich bin ja ungern der Spielverderber", ganz dreiste Lüge in den meisten Fällen, an dieser Stelle jedoch die Wahrheit, "aber ich muss sowieso mal raus. Balkon hast du ja leider keinen.", sagte ich schief grinsend und zog für's bessere Verständnis das silberne Feuerzeug mit der rechten Hand aus meiner Hosentasche. Winkte kurz damit, während sich auch mein linker Arm von Aryanas Beinen löste. Danach erhob ich mich aus dem Stuhl und wollte mich eigentlich zur Verabschiedung aufraffen... was Victor jedoch jäh mit seinem starren, leeren Blick durchkreuzte.
Es war nicht so als würde ich mir wirklich noch Hoffnung machen, dass Aryana irgendwann an einem Tag in naher Zukunft doch nochmal irgendwann mit positiven Nachrichten von ihrem Besuch bei Faye zurück kam. Trotzdem war es jedes Mal aufs Neue wie ein Schlag in die Magengrube, wenn sie mir sagte, dass sich genau gar nichts an dem verheerenden Zustand geändert hatte. Mir wurde mulmig im Bauch, aber vielleicht war das ganz gut, genauso wie Aryanas Worte. Dann wurde ich wenigstens täglich daran erinnert, warum ich mir das alles hier noch ein weiteres Mal antat. Zwar war es nicht so, dass mein Lebenswille ebenfalls völlig den Bach runtergegangen war, aber ich müsste lügen, um zu sagen, dass die Therapie nicht wahnsinnig anstrengend war. Dass sie das Schmerzmittel langsam und probeweise etwas zu reduzieren begonnen hatten, besserte meinen Allgemeinzustand auch nicht grade. Es war nicht so als hätte ich jetzt wahnsinnige Schmerzen, aber die Wolke aus purer Schmerzlosigkeit und Leichtsinnigkeit war weitergezogen. Hatte mich mit steifen Gliedern, sowieso hier und da auch etwas Schmerz zurückgelassen. Außerdem Entzugserscheinungen wie leichte Reizbarkeit, weil mein Körper jetzt schlichtweg wieder vollkommen abhängig von den Opiaten war und es nicht okay fand, dass sie mir die Dosis gekürzt hatten. Das Grauen. Ich bedankte mich trotz der ernüchternden Informationen bei Aryana dafür, dass sie versuchte Jemand zu finden, der Faye in ihrer Abwesenheit Gesellschaft leisten konnte. Mit Sicherheit kam zwar Niemand an sie als die ältere Schwester heran, aber am Ende spielte das vermutlich auch gar keine Rolle. Schließlich kam nicht einmal Aryana zu Faye durch... und ich konnte mir darüber jetzt gleich wieder alleine den Kopf zerbrechen, weil die Schwester das so wollte. Mitch bot mir seit gestern ein wenig Abwechslung und darüber war ich wirklich froh. Langsam wusste ich nämlich nicht mehr so wirklich, worüber ich ab von meinem sich verbessernden Zustand mit dem Rest meiner Besucher noch reden sollte. Gerade jetzt, wo meine Stimmung hier und da mal kippte, waren unbeschwerte Gespräche schwieriger geworden - da kam mir Mitchs stumpfsinniger Humor ganz recht. Ich hatte Hazel ihren Fauxpas verziehen, aber die Stimmung zwischen uns blieb noch etwas angespannt. Mein Vater war gestern Abend schweren Herzens nach Hause aufgebrochen, weil die Arbeit ihn rief und meine Mutter... tja, die wurde langsam wieder sehr anstrengend mir ihrem ständigen guten Zureden, das momentan nicht weniger als gar nichts brachte. Mitch schien immer noch zu oft zu den Glimmstängeln zu greifen, wenn man seinen Worten glauben konnte und ihn der Drang zu Nikotin langsam schon heimsuchte, obwohl er gar nicht so lang bei mir gewesen war. Ich kam allerdings nicht wirklich dazu, mir darüber Gedanken zu machen oder gar irgendetwas dazu zu sagen. Als mein Blick auf die silber schimmernde Metallverkleidung des Feuerzeugs in der Hand des Tätowierten fiel, setzte mein Kopf vollkommen mit der Wahrnehmung für meine aktuelle Umgebung aus. Meine Augen wurden leer und lagen noch immer auf dem selben Punkt, an dem sie das Feuerzeug erfasst hatten, während auch sämtliche Anspannung aus meinen Gesichtszügen wich. Meine Pupillen weiteten sich und ich konnte es hören - das Klicken des Feuerzeugs, das mir kurz darauf unters Kinn gehalten worden war. Das Gesicht des Peinigers flackerte vor meinem inneren Auge auf und ich erinnerte mich daran, wie er mir sagte, dass er jetzt mal sehen musste, wo meine Schmerzgrenze lag. Dass ich ihn mit meinen Augen verfolgt hatte, als er um mich herumgegangen war, um daraufhin meinen Unterarm zu versengen. Dass ich es eine Weile lang wegen dem Pfahl im Rücken und den gefesselten Händen über mich hatte ergehen lassen... an der Stelle, wo mein Kopf nach der Gegenwehr an den Pfosten knallte, verlor sich die Erinnerung im Nichts. Es brauchte eine Hand auf meiner Schulter, um den leeren Blick zu unterbrechen. Ich zuckte zusammen und fasste mir mit einem scharfen Atemzug instinktiv an den verbrannten, nach wie vor abgedeckten Unterarm, was brennenden Schmerz auslöste. Aber das war am Ende wohl ganz gut, weil ich etwa eine halbe Minute lang auf keinerlei Ansprachen reagiert hatte und mir das pochende Herz gefühlt jeden Moment die Brust sprengen würde.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Mal wieder sollte ein Nicken ihre einzige Antwort bleiben, als Victor sich noch für ihre Bemühungen bedankte. Sie hoffte wirklich, dass ihr Vorhaben gelang und rechtzeitig jemand angereist kam, aber grundsätzlich war sie diesbezüglich doch zurückhaltend optimistisch. Onkel Sam scherte sich deutlich mehr um ihr Wohlergehen, als er das eigentlich müsste, was wahrscheinlich seiner damals sehr engen Beziehung zu ihrem Vater zu verdanken war. Und wenn Aryana ihn anrief, um ihm zu sagen, dass sie so rasch wie möglich Hilfe brauchte, dann wusste er auch, dass die Lage durchaus ernst war. Sie war ja wie gesagt nicht die, die sich ansonsten allzu häufig meldete, was bestimmt nicht zu sehr für sie sprach, in diesem Fall aber nur die Dringlichkeit der Lage unterstrich. Bevor sie die Chance gehabt hätte, dem Gespräch noch einen etwas schöneren Abschluss zu vergönnen, unterbrach das Klopfen an der Tür auch schon die zwischenzeitliche Stille. Eigentlich hatte sie gedacht, noch fünf Minuten bleiben zu können. Aber scheinbar gehörte Rechnen heute nicht ganz zu ihren Stärken. Oder Mitch war einfach schon früher im Zimmer gewesen, als sie angenommen hatte. Aryana verzog bedauernd das Gesicht, hob schwach die Schultern an und gab ein Seufzen von sich, bevor sie einen Schritt zur Seite trat, nachdem Mitch mit dem Feuerzeug gewinkt, seine ätzenden Sucht angekündigt und sich zurück auf die Beine begeben hatte. Jaja, er und seine Droge. "Ich male drei Kreuze an die Decke, wenn du die Scheisse endlich...", wollte sie ihn gerade mal wieder darauf hinweisen, dass sie seinen Nikotinkonsum so gar nicht geil fand, als ihr Blick zurück auf Victor fiel, der... so gar nicht mehr am Geschehen teilzunehmen schien. "Victor?", fragte sie verunsichert, trat einen Schritt in seine Richtung. Aber tatsächlich folgte überhaupt keine Reaktion. Auch nicht als Mitch denselben Wortlaut wiederholte. Oder sie ein verwirrtes "was ist los?", anfügte. Genau genommen wirkte es eher so, als hätte der junge Mann sich soeben verabschiedet, um in irgendeinem Paralleluniversum nach weiterer Unterhaltung zu suchen. Aryana schaute Mitch an, der mindestens genauso überfordert wirkte wie sie. Und während sie ein paar Sekunden später in Richtung Zimmertür eilte, um Hilfe zu rufen, machte er sich an den Versuch, Victor mit Berührung zurückzuholen. Und tatsächlich: Noch bevor sie die Türfalle, die bereits in ihren Fingern lag, nach unten gedrückt hatte, vernahm sie ein plötzliches Nach-Luft-Schnappen und drehte sich wieder um. Wäre Victors Körper noch an das EKG angeschlossen, wäre bestimmt längst eine ganze Zeile Angestellter ins Zimmer gerannt, weil sein Herzrhythmus gerade komplett durcheinander ging. So aber waren es nur Mitch und sie, die sich gleich darauf besorgt über ihn beugten, da auch die Brünette nochmal zurück zum Bett geeilt war. "Was ist passiert, tut dir was weh?? Kannst du nicht atmen?", sie hatte keine Ahnung, woran dieser Aussetzer gelegen haben könnte, war auch nicht schnell genug, um eine Verbindung zwischen dem Feuerzeug und der Brandverletzung, nach der er sofort griff, herzustellen. Aber wenn er ihr nicht sofort antwortete und versicherte, dass alles in Ordnung war, würde sie sehr schnell wieder an der Zimmertür stehen und diesmal ganz sicher nicht mehr zögern mit Hilfe rufen.
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Ich nahm die Hand nur langsam von der Verbrennung, obwohl der Schmerz mir etwas anderes vermitteln wollte. Die zwei offensichtlich sehr besorgten Anwesenden bekamen auch nicht sofort wieder meine Aufmerksamkeit. Stattdessen versuchte ich das zu imitieren, was ich gerade gesehen hatte. Strich fast ohne Berührung über den weißen Verband an meinem Unterarm, vom Handgelenk bis fast zum Ellbogen. Ich schluckte, zog zitternd die Finger von meinem schmerzenden Arm zurück und setzte erst danach langsam zu einer Antwort für Aryana an. "N...nein. Alles g... gut.", stammelte ich mit bebender Unterlippe, während mir das Blut weiterhin mit Höchstgeschwindigkeit durch die Adern rauschte. Ich hob den Blick nur zögerlich wieder von meinem Arm an, um für einen kurzen Moment lang abwechselnd in die beiden sichtbar beunruhigten Augenpaare zu sehen. Nein, die zwei wirkten nicht wirklich überzeugt davon, dass alles gut war, aber ich konnte gerade ohnehin kaum sprechen, ohne mich permanent zu verhaspeln. Also sank mein Blick zurück auf das Feuerzeug, das kaum noch zwischen Mitchs Fingern aufblitzte, weil er es fest umklammerte. Noch immer zitternd streckte ich die Hand aus und versuchte dem Tätowierten mit einer Geste zu vermitteln, dass er mir das Feuerzeug geben sollte. Es dauerte einen Moment bis er verstand - wohl hauptsächlich deswegen, weil es für ihn im Moment wenig Sinn zu machen schien, dass ich das Teil haben wollte - aber er reichte mir seinen Standard-Zigarettenanzünder mit noch immer reichlich viel Verwirrung in seinen Gesichtszügen wenige Augenblicke später. Das silberne Metall war leicht angewärmt, als ich es langsam in meinen Fingern drehte und dabei etwas durchzuatmen, mich zu beruhigen versuchte. Meine Atmung stabilisierte sich allmählich ein wenig, als ich zu dem Versuch ansetzte zu sagen, was gerade passiert war. "Ich k...ka..." Ich war offenbar noch zu sehr durch den Wind, um wieder sprechen zu können. Deshalb hob ich vorsichtig den verletzten Arm auf meinen Schoß, um daraufhin das Feuerzeug aufzuklappen. Ich machte es natürlich nicht an, als ich mit der imaginären Flamme symbolisch mit etwas Abstand den weißen Verband entlang wanderte. Damit zu vermitteln versuchte, dass ich jetzt wusste, warum mein Arm verbrannt war. Was die Ursache dafür war. Es war ein Feuerzeug gewesen, dass Mitchs' ziemlich ähnlich sah. "Erinnerst du dich..?", hakte der junge Mann vorsichtig nach. Dieses Mal erfolgte meine Reaktion auf Worte deutlich schneller und ich nickte gut sichtbar. Hieß das, dass jetzt wirklich alles wieder zurückkam? Oder würde das die einzige Sache bleiben, an die ich mich erinnern würde? Ich hatte Faye nicht gesehen, aber sie musste dort gewesen sein... anders ließ sich ihr Trauma schwer erklären. Brauchte es für jeden Fetzen der Geschehnisse erst ein bestimmtes Bild? Das wäre beschissen. Es lag aber eindeutig am Feuerzeug, dass ich mich an diesen Teil der offensichtlich geschehenen Folter erinnerte. "Kann ich e... es behalten?", fragte ich Mitch langsam, inzwischen ein klein wenig geerdeter als zwei Minuten zuvor. Er sah nicht so aus als wäre er davon begeistert sein geliebtes Sucht-Werkzeug an mich abzutreten, aber nach ein paar Sekunden zuckte er schließlich zaghaft mit den Schultern. "Ja, denke schon...", bejahte er noch nicht sehr überzeugt. Vielleicht wusste er aber auch einfach nicht, ob es wirklich gut für mich war, wenn ich das kleine Utensil bei mir behielt. Oder ob der liebe Caldwell das befürworten würde. Mitch würde es aber wiederkriegen... irgendwann. Wenn ich mich dann vollständig erinnerte und nichts mehr brauchte, woran ich mich unbedingt festklammern musste in der stillen Hoffnung, dass Fayes Verhalten bald endlich einen Sinn für mich ergeben würde.
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Alles gut, sagte er. Ja genau - so sahs hier auch aus. Eher wie eine drohende Eskalation. Ihre Augen folgten den Bewegungen seiner Finger auf seinem Arm, dann seinem Blick, der zu Mitchs Hand glitt, von welcher er schliesslich das Feuerzeug einforderte. Gott, was wollte er mit einem Feuerzeug? Tatsächlich brauchte Aryana sich diese Frage nicht besonders lange zu stellen, da setzte Victor auch schon zur Erklärung an. Ihre Mimik geriet möglicherweise einen Moment ausser Kontrolle, als sie begriff, was er ihnen beizubringen versuchte. Sie hatte gewusst, dass er eine ziemlich grossflächige Verbrennung am Arm hatte, weil Hazel es erwähnt hatte. Allerdings hatte sie, wie auch bei allem anderen, nicht wirklich darüber nachgedacht, wie diese entstanden war. Es hätte ihr eben auch nichts gebracht, weil ihr am Ende doch keiner die Theorien bestätigt oder widerlegt hätte. Und jetzt, wo sie es wusste, war sie einmal mehr dezent überwältigt von der Grausamkeit, die dem Abschaum der Menschheit innewohnte. Es war unmöglich, dass Victor seine Schmerzen nicht zum Ausdruck gebracht hatte, während wer-auch-immer die Flamme des Feuerzeuges an seiner Haut hatte laben lassen. Und doch hatte die Person weitergemacht. Aryana wurde allein bei der Vorstellung dieser Folter schlecht und das stand ihr deutlich genug quer ins Gesicht geschrieben. Darum sagte sie auch nichts mehr, beobachtete die Interaktion zwischen Victor und Mitch nur stumm, sichtlich bestürzt. Sie hätte gerne gefragt, woran er sich erinnerte, aber das war möglicherweise unglaublich taktlos, wo er doch gerade erst dabei war, sich langsam wieder etwas zu beruhigen. Und er redete kaum mit Vergnügen darüber, wie einer ihm das Feuer unter die Haut gehalten hatte, keiner würde das gerne tun. So zögerte die Brünette eine ganze Weile, bevor sie eine leise Frage formulierte. "Willst du... darüber reden?", hakte sie sehr zögerlich nach - so, dass er bestens heraushören konnte, dass sie eigentlich eher mit einem Nein rechnete und dieses auch ohne Kommentar oder weitere Fragen akzeptieren würde. Natürlich wollte sie Informationen, brannte seit Wochen darauf, zu erfahren, was schiefgegangen wäre. Und sie glaubte auch, dass Victor seine Erinnerungen teilen würde - wenn nicht mit ihr, dann sicher mit einer Fachperson oder eben nur mit Faye. Aber das musste ja nicht heute sein. Auch nicht morgen, wenn er nicht wollte oder noch nicht bereit dazu war. Ausserdem wusste sie nicht, wie viele zusätzliche Minuten die Schwester ihnen durchgehen liess, bevor sie erneut ins Zimmer gestapft kam, um sie zum Gehen zu animieren. Denn so ganz freiwillig würde Aryana in diesem Moment wohl lieber nicht das Krankenhaus verlassen, es sei den, Victor forderte sie dazu auf. Ob sie Faye davon erzählen sollte, dass Victors Erinnerungen zurückkamen? Oder wollte er das selbst tun? Oder sollte sie es gar nicht wissen? Was würde mit Victor passieren, wenn er das Trauma ebenfalls präsent hatte? Würde er ebenfalls in die Dunkelheit abrutschen? Nicht mehr reden? Auch nicht mehr leben wollen? Bitte nicht...
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War das eine entscheidende Frage? Wahrscheinlich schon. Das erste, was mir dazu in den Sinn kam, war ein Nein. Allein deshalb schon, weil ich es noch nicht einmal selbst ansatzweise verarbeitet hatte. Noch nicht ausreichend darüber nachgedacht hatte, welche Konsequenzen es am Ende haben konnte, wenn ich davon erzählte. Das war bisher nicht relevant gewesen, weil ich ja sowieso nichts gewusst hatte. Deshalb überforderte mich Aryanas Frage im ersten Moment ein wenig und mein Blick rutschte auf das Feuerzeug in meiner Hand ab. Spielte es eine Rolle, ob ich meine Erinnerungen nun Aryana anvertraute, statt sie in absehbarer Zeit einem Therapeuten zu erklären? In Hinsicht auf Faye womöglich schon... und in Hinsicht auf die Polizei auch. Ich war Niemand, der ein Geheimnis ewig für sich behalten konnte - das war mir unweigerlich noch einmal sehr klar geworden, als ich Aryana damals gesteckt hatte, dass ich einen üblen Nervenzusammenbruch beim Security-Training gehabt hatte. Früher oder später würde es wahrscheinlich an meinem Verhalten auffallen, wenn ich mich Niemandem anvertraute. Und ich glaubte zu wissen, dass es mir lieber war, wenn Caldwell nicht am Rad drehen und wieder alles noch penibler kontrollieren würde, nur weil ich mich jetzt vielleicht bald wieder an alles erinnerte und an jeder Ecke ein potenzieller mentaler Breakdown auf mich wartete... außerdem wollte ich nicht mit der Polizei reden, bevor ich nicht alles wusste. Die konnten ruhig weiterhin glauben, dass ich noch keinen blassen Schimmer hatte. Faye erzählte den Gesetzeshütern nichts und vielleicht hatte das einen guten Grund, den ich nur noch nicht kannte - eben weil mir der entscheidende, noch sehr große Teil an Erinnerungen weiterhin fehlte. Ich hatte sicherlich an die zwei Minuten lang schweigend auf das Feuerzeug gestarrt, hatte die kurze Stille dringend gebraucht um mich weiter zu beruhigen und zumindest zu versuchen, die sich überschlagenden Gedanken etwas zu sortieren. Ich räusperte mich leise, bevor ich schließlich den Mund aufmachte und mit unruhig funkelnden Augen zu Aryana aufblickte. "Ich... weiß nicht viel... nur ein kurzer Abschnitt... hab sein Gesicht gesehen... wie er mir den Arm verbrannt hat...", ich musste kurz eine Pause einlegen und noch einmal durchatmen, um Verhaspelungen zu vermeiden. "Hab ihn getreten... dann hat er zugeschl... schlagen.", murmelte ich weiter, redete alles in allem etwas undeutlich. Ich senkte den Blick erneut, dieses Mal jedoch gezielt auf die noch immer sichtbaren Einschnürungen an den Handgelenken. Ich ließ das Feuerzeug los, um stattdessen mit den Fingern die Spur der Fessel unterhalb der Verbrennung zu berühren. Die Verletzung war lediglich noch oberflächlich, bedurfte nur ab und zu etwas Wundsalbe. "Ich war gefesselt... an einen Pfosten... mein Kopf ist da... rangeknallt...", gab ich meine Sätze weiterhin stark unterbrochen ab. Je länger ich redete, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass das dazu beitrug die Erinnerung zu festigen. In etwa genauso wie die Berührungen jener Verletzungen, weil beides die Bilder noch einmal schwach vor meinem inneren Auge aufflackern ließ. Es waren keine schönen Bilder, aber ich brauchte sie. Hatte Angst davor, sie morgen wieder vergessen zu haben, nachdem ich geschlafen hatte. "Sonst noch nichts... Faye... hab ich nicht gesehen.", gegen Ende hin war meine Stimme nur noch ein dünner Hauch und ich hob den Blick nur zögerlich wieder in Aryanas Augen an. Ich hatte ihr schon vor über einer Woche gesagt, dass es bestimmt hilfreich wäre, wenn ich mich erinnern würde und es ihr dann erzählen konnte, damit sie vielleicht etwas besser zu Faye durchdringen konnte. Das ausgerechnet das, woran ich mich als erstes erinnerte, nicht weniger als gar nichts mit der zierlichen Brünetten zu tun hatte, war da sehr unglücklich. Sie musste aber da gewesen sein. "Ich gl... glaube es ist eine... Scheune gewesen... oder sowas...", gab ich noch eine sehr vage Vermutung zur Örtlichkeit ab. Das schummrige Licht und die vereinzelten Strohhalme am Boden ließen darauf schließen, aber es war eben nicht mehr als blankes Mutmaßen meinerseits. Bis hierhin war es noch irgendwie okay, darüber zu reden. Da war noch nichts dabei, das man sich nicht auch grob selbst zusammenreimen konnte. Nichts, was erklärte, warum Faye so einen exzessiven Todeswunsch hegte. Genau das musste ich aber ganz dringend wissen. Mitch rieb sich in der Zwischenzeit erstmal mit beiden Händen übers aufgewühlte Gesicht, schien nicht recht zu wissen, was er nun dazu sagen sollte. Aber wer wüsste das schon. Tut mir leid, dass du gefoltert wurdest? Nein, das konnte man sich wirklich sparen.
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Sie rechnete wie gesagt eher nicht damit, dass er überhaupt irgendeine Information mit ihr teilen würde. Dazu waren seine Erkenntnisse vielleicht noch viel zu frisch und sie würde es auch absolut verstehen, wenn er zuerst selber darüber nachdenken wollte, bevor er es ihr unter die Nase rieb. Sie hatte schon fast dazu angesetzt, ihm zu versichern, dass es wirklich in Ordnung wäre, wenn er lieber nicht oder noch nicht darüber reden wollte, da hob er den Blick und seine Augen trafen wieder auf ihre. Es folgte eine stockende Erzählung, die ihre zwischenzeitlich wieder etwas entspannten Gesichtszügen erneut mit mehr und mehr Bestürzung zeichnete und Aryana merkte kaum, wie sie die Hände zu Fäusten ballte und auf der Unterlippe zu beissen begann. Er... Victor redete von einem männlichen Wesen. Einem Menschen, den er höchstwahrscheinlich nicht kannte, weil er sonst wohl den Namen verraten hätte. Wer tat sowas? Und warum?? Die Information, dass er Faye in seinem Flashback nicht gesehen hatte, war zwar ernüchternd, in diesem Moment aber auch sehr zweitrangig. Aryana ging ziemlich stark davon aus, dass weitere Bruchstücke seiner Erinnerungen folgen würden und irgendwann auch ihre Schwester darin auftauchen würde. Auch wenn es um Welten besser wäre, wenn die beiden nicht erneut gegenseitig ihr Leid hätten bezeugen müssen. Die Qualen auf ihren Gesichtern und Laute des Schmerzes sich nicht erneut in ihre Köpfe gekrallt hätten. Es war nur nicht sehr realistisch zu glauben, dass Menschen, die anderen Menschen solche Dinge antaten, nicht auch sehr gerne Nutzen aus der bisher so unerschütterlichen Liebe zwischen Victor und Faye zogen. Negativen Nutzen, der so vieles kaputt machte, so verheerenden Schaden anrichtete. Victor stellte am Ende noch eine Vermutung an, wo das Psychoschauspiel stattgefunden haben könnte. Leider war eine Scheune ein nicht sehr differenzierter Begriff, liess endlos viele Möglichkeiten offen. Zudem war eine Scheune auch nicht zwingend im Besitz der Menschen, die sie zu solchen Zwecken missbrauchten - hinterliess also relativ wenig Hinweise auf ihre Persönlichkeit. Aber es war ein Anfang. Wie alles andere, was der verletzte Mann soeben von sich gegeben hatte. Es hiess nicht, dass da nicht noch mehr kommen würde und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass seine Informationen ihr helfen würden, die Peiniger zu finden, die Aryana liebend gerne zu ihren nächsten Opfer machen würde. Wobei sie dann für einmal auch kein Interesse daran zeigen würde, den Tod dieser Menschen möglichst schnell und schmerzlos herbeizuführen. "Danke", war ihre erste leise Antwort auf seine Worte. Danke dafür, dass er sie nicht aussperrte, wie Faye das so vehement zu tun gelobte. Danke für sein Vertrauen und seine Ehrlichkeit und seine Hilfe. "Soll ich... es irgendwem sagen?", folgte eine unsichere Frage, bei der sie mit ihrem Blick wieder nach seinen Augen suchte. Damit meinte sie eher nicht seinen Arzt, dem er die - je nach Blickwinkel mehr oder weniger erfreulichen - Nachrichten sehr gut auch selber mitteilen konnte, wenn er das denn wollte. Sie sprach von Faye. Wollte von Victor wissen, ob es für ihn okay wäre, wenn ihre Schwester davon erfuhr. Wahrscheinlich stellte sie die Frage nur, weil sie selber keine Ahnung hatte, ob es gut oder schlecht wäre, die psychisch dezent labile Brünette an den neuesten Entwicklungen teilhaben zu lassen. Auch wenn Faye genau wie Victor immer gefühlt als Erstes wissen wollte, wie es Victor gerade ging, ob er Fortschritte machte, ob er lachte, ob er ass... und eben auch, ob er sich an die Dunkelheit erinnerte. Ihre Reaktion auf eine positive Antwort auf diese Frage, konnte Aryana sich aber nur ausdenken. Entweder sie freute sich, dass Victor Fortschritte machte, oder sie brach in Panik aus, weil sie nicht wollte, dass irgendwer ihre Erinnerungen teilte und am Ende noch damit begann, anderen Menschen davon zu erzählen. Oder dass Victor die Gründe für die scheinbar unendliche Last ihrer Gewissensbisse und das ganze Ausmass ihrer Schuld erkannte. Sie wusste es wirklich nicht. Und entweder würde sie Faye Morgen an dieser Neuigkeit teilhaben lassen oder sie musste sie belügen - wobei hier die Chancen leider auch ganz gut standen, dass die zierliche Brünette Verdacht schöpfte.
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Noch eine Frage, die ich Aryana nur schwer zu beantworten wusste. Ich ging einfach mal davon aus, dass sie mit Irgendwem am ehesten ihre Schwester meinte. Zumindest glaubte ich nicht wirklich, dass sie jetzt liebend gerne zu Caldwell oder den Bullen rennen würde. Weder Aryana, noch Mitch schenkten dem amerikanischen System noch besonders viel Liebe, nachdem der Tätowierte etwas zu lang eingesperrt gewesen war. Nicht, dass er keine Strafe verdient gehabt hätte - er hatte schlimme Dinge getan. Es ließ sich aber leicht darüber hinwegsehen, wenn man wusste, wo Mitch heute stand und er einem zusätzlich dazu nicht weniger als das Leben gerettet hatte. Wie sehr er sich außerdem selbst mit den Gedanken und der Schuld zu plagen schien. Er hatte seine Zeit im Gefängnis nur ein Jahr statt 25 Jahre absitzen müssen und war dennoch mehr als genug dadurch geschädigt worden. Kein Wunder also, dass der Justiz nicht mehr allzu viel Beachtung und Glauben geschenkt wurde. Wenn ich wollen würde, dass mein Arzt von der Sache Wind bekam, dann konnte ich es ihm selbst sagen. Auch da gab es also keinen guten Grund stattdessen die Brünette vorzuschicken. Es blieb nur Faye übrig... und ich konnte wirklich nicht beurteilen, was nun besser war. Ich wusste nicht, was sie tun würde, wenn sie davon erfuhr. Ob sie das eher dazu bringen würde sich noch mehr abzuschotten, weil sie eigentlich gerne mit diesem Trauma hatte allein bleiben wollen, oder ob sie sich stattdessen vielleicht ein bisschen mehr öffnen würde. Vielleicht würde sie auch einfach den nächsten Nervenzusammenbruch erleiden. Eigentlich wollte ich das gerne vermeiden, weil es ihr ohnehin schon so schlecht ging - die Frage war nur, inwiefern das überhaupt vermeidbar war. Langfristig gesehen. Spätestens wenn ich irgendwann dazu in der Lage sein würde sie aufzusuchen, würde sie von mir erfahren, dass ich mich erinnerte. War es da sinnvoller, sie schon jetzt mental darauf vorzubereiten? Gott, ich hatte doch keine Ahnung. Hatte sie inzwischen seit zwei Wochen nicht gesehen und wollte doch einfach nur, dass das endlich aufhörte. Ich vermisste sie. Mehr als eigenständig zu gehen oder anständig sprechen zu können. "Ich... denke schon.", nein, so wirklich überzeugt klang mein Gemurmel noch nicht. Ich zuckte schwach mit den Schultern, sah einen Moment lang zwischen Mitch und Aryana hin und her als würden sie mich entweder gleich darin bestätigen oder es ablehnen. Allerdings schienen die beiden da auch keinen Rat zu haben. "Früher oder später... erfährt Faye es ja sowieso...", gab ich meine abschließende Begründung dazu ab, auch wenn sie wahrscheinlich absolut nicht notwendig gewesen wäre. Vielleicht erhoffte ich mir unterbewusst einfach eine Bestätigung, weil ich mir unsicher damit war, ob das die richtige Entscheidung war. Auf Aryanas Dank hatte ich bisher noch nichts erwidert. Fragte mich auch an dieser Stelle, was ich dazu sagen sollte und entschied mich am Ende für einen Mittelweg. "Ist vielleicht gar nicht... so schlecht, mal mit Jemandem... zu reden, der weder... selbst betroffen ist... noch Therapeut.", stellte ich nachdenklich fest. "Dank' mir aber lieber nicht... zu früh.", hängte ich noch eine mild ironisch angehauchte Anmerkung ran. Wer wusste schon, an was ich mich noch alles erinnern würde. Wenn wirklich alles zurückkam, dann waren da sicher auch Dinge dabei, die ich nicht erzählen wollte, oder die Aryana lieber nicht wissen wollte. Vielleicht auch besser gar nicht wissen sollte. Zwar war ich mir recht sicher damit, dass unsere Peiniger den Tod verdienten, aber ich wollte ungern Schuld daran sein, wenn die Brünette - wahrscheinlich mitsamt Mitch, nur am Ende eben getrennt - in den Knast wanderte, weil sie sich zu einem weiteren Mord verpflichtet fühlte. Gesagt hatten sie es zwar nie wortwörtlich, aber ich war dennoch der festen Überzeugung, dass Warren den beiden zum Opfer gefallen war. Ob sie so eine Aktion ein zweites Mal perfekt getarnt hinbekommen würden war anzuzweifeln. Da brauchte man entweder Glück oder einen extrem wasserdichten Plan. Dass das mein einziges Problem daran war, dass unser Dreamteam auf die Idee kommen könnte der Gerechtigkeit erneut selbst nachzugehen, sollte mir wahrscheinlich zu denken geben. Andererseits dürfte es wenig verwunderlich sein, dass ich jeden Menschen verabscheute, der Faye weh getan hatte. Ich war mir auch ohne vollständige Erinnerungen sicher, dass eine Hinrichtung in diesem Fall rechtmäßig verdient worden war. "Sagt es s... sonst aber bitte... noch Niemandem.", bat ich. Bisher war ich mir noch nicht restlos im Klaren darüber, ob Caldwell die Memo jetzt oder in ein paar Tagen kriegen sollte.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Victor schlug sich offensichtlich mit den gleichen Gedanken herum wie sie. Wusste nicht Recht, inwiefern sich diese Information auf Fayes Zustand positiv oder negativ auswirken würde, weil einfach sehr gut beides möglich war. Aber mit dem früher oder später hatte er Recht, denn auch wenn Faye glauben wollte, für immer allein in ihrem Elend zu sitzen, würde das nicht passieren. Sie konnte versuchen, sie alle auszusperren, aber Aryana war sich sehr sicher, dass Victor das genau wie sie selbst nicht mit sich machen liess und Faye irgendwann nachgeben und ihn hereinlassen musste. Genauso sicher war die Brünette auch, dass Victor besser zu ihrer Schwester durchdringen würde als sie das bisher schaffte - oder eher nicht schaffte. Das war gefühlt seit immer so gewesen, ab dem Moment, in dem Victor eine tragende Rolle in Fayes Leben eingenommen hatte. Er war einfach viel mehr auf ihrer Wellenlänge, verstand ihre Emotionen und die Art, wie sie damit umging, viel besser als Aryana, die vom Typ her so grundverschieden war. Wobei das mit dem nicht Reden wollen ja zugegeben ganz gut in ihr Schema passte - aber bei ihr war das mit etwas besserem Überspielen und so-tun-als-wäre-nichts gepaart. Sie sass nicht auf einer geschlossenen Abteilung und hatte sich an keiner tragischen Station in ihrem Leben die Pulsader aufgeschnitten. Es gab Zeiten, da hatte sie dem ziemlich nahe gestanden. Aber sie hatte es nie auch nur versucht - meistens primär wegen Faye. Doch was auch immer es war, das sie nicht wusste, es musste grausam genug gewesen sein, um Faye sowohl Victor als auch Aryana vergessen zu lassen. Um irgendeinen nicht mehr funktionierenden Teil ihres Kopfes glauben zu lassen, es würde ihnen ohne sie besser gehen. „Ja, das stimmt. Ausserdem würde sie es eh merken, wenn sie das nächste Mal fragt und ich lügen müsste“, meinte sie mit einem Seufzen und hob für einen Moment die Schultern an. Auch dass Reden helfen konnte, wusste sie mit einem Nicken zu bestätigen. Nicht, dass sie besonders gut darin wäre oder aus Erfahrung reden würde, aber sie hatte es in der Vergangenheit doch auch schon erlebt. Zum Beispiel während des letzten Jahres, als Mitch zuerst im Gefängnis festgesessen und dann mit den üblen Folgen davon zu kämpfen gehabt hatte. Da war sie auch froh gewesen, ab und an mit Faye oder Victor reden zu können, die sowohl sie als auch Mitch verhältnismässig gut kannten und so am besten nachvollziehen konnten, wie sie sich in diesen Situationen jeweils gefühlt hatte. "Nein, keine Angst... ich wüsste nicht wem", beruhigte sie ihn umgehend hinsichtlich ihres nicht ganz so lockeren Mundwerkes. Seinem Arzt würde er es bestimmt besser selber erzählen, mit seiner Familie hatte sie sehr wenig zu tun und Mitch hatte es selbst mitbekommen. Also wusste sie tatsächlich eher nicht, mit wem sie sich über die Entwicklungen unterhalten sollten. Es war eigentlich ein schlechter Moment, um ihn jetzt hier alleine zu lassen, auch wenn sie nicht wirklich wusste, was sie noch sagen sollte. Aber die Krankenschwester streckte ihren Kopf sehr bald ein weiteres Mal zur Tür hinein und ihr Lächeln wirkte etwas mahnender als zuvor, als sie sie darauf hinwies, dass sie langsam wirklich zur Verabschiedung schreiten sollten. Da sie bereits am Bett standen und wohl aussahen, als würden sie genau das tun, hielt sie es auch diesmal nicht für nötig, an der Tür zu warten, bis Ordnung einkehrte. Aryana blickte also zurück zu Victor, schaute ihn etwas wehmütig an. "Dann wohl bis Morgen, Victor...", das war eine ziemlich lahme Verabschiedung, aber sie war bekanntlich nicht so die Königin der Worte. Und Dinge wie zerbrich dir nicht zu sehr den Kopf, sparte sie sich liebend gerne direkt ein, das waren Utopien, die keinen weiterbrachten.
Seit sie sich kannten, war sie noch nie so lange getrennt gewesen von Victor. Und seit sie zusammen waren, hatte Faye noch nie so viele Nächte am Stück alleine in einem Bett verbracht. Sie wünschte, es wäre nicht so. Sie wünschte, sie würde die Nächte nicht mehr in diesem Bett verbringen müssen, sondern in einem Grab. Dabei war es ihr auch völlig egal, wie dieses Grab aussah - von ihr aus könnte es auch gar nicht existieren und sie stattdessen tot im Wald liegen. Es war egal - alles davon. Auch wenn Aryana ihr zunehmend verzweifelt was anderes einreden wollte. Auch wenn die ganzen Ärzte und Psychologen ihr das Gegenteil erzählten. Das einzige gute Argument war eben, dass sie Aryana damit unendlich weh tun würde. Und Aryana sagte, sie würde Victor auch zerstören, wenn sie das tat. Weil er sich schon jetzt genauso viele Sorgen um seine Freundin machte, wie ihre Schwester es zu tun pflegte. Aber Victor wusste auch nicht mehr, was passiert war. Victor hatte vergessen, weshalb er in Lebensgefahr geschwebt hatte. Nicht sehr lange, aber er hatte auf der Kippe gestanden, das wusste sie sicher, auch wenn niemand es wirklich bestätigen wollte. Er wusste nicht, dass das alles ihre Schuld war, das war überdeutlich zu erkennen in den Briefen, die er ihr schrieb. Sie bewahrte sie alle auf, auch wenn sie jedes Mal weinen musste, wenn sie einen davon las. Es machte sie unendlich traurig, dass sie ihn so bodenlos enttäuscht hatte und er noch immer glaubte, alles würde wieder gut werden, wenn sie wieder zusammen waren. Sie hatte von Aryana erfahren, dass es seinem Kopf nicht so gut ging, sein Gehirn sich noch immer von den Schlägen erholen musste. Das war dann auch der Grund, weshalb sie ihm nicht längst erklärt hatte, dass nie wieder alles gut werden konnte, nachdem sie alles kaputt gemacht hatte. Wenn ein Glas so endgültig in tausend Scherben zersprungen war, konnte man es nicht einfach aufheben und mit etwas Leim in seine ursprüngliche Form quetschen. Die Scherben passten nicht mehr zusammen und selbst wenn man jedes an seinen Platz zurück pferchen würde, blieben die Risse für immer bestehen und das Glas war schwach und zerbrechlicher als je zuvor. Die kleinsten Scherben waren endgültig verloren und es würde nie wieder ganz dicht sein, nie wieder wirklich seinen Zweck erfüllen können. Sie würde es ihm erklären, irgendwann, wenn sie die Kraft dazu fand und er zumindest körperlich wieder gesund war. Aber das würde noch eine Weile dauern - beides. Dachte sie zumindest, bis Aryana eines Tages in ihrem Zimmer auftauchte und irgendwann ganz vorsichtig erwähnte, dass Victor gestern den ersten Flashback durchlaufen hatte. Wahrscheinlich verstand ihre Schwester ihre Reaktion wie immer nicht vollständig. Wusste nicht genau, wie sie Fayes Fragen danach, wem Victor davon erzählt hatte und an was genau er sich erinnerte, einordnen sollte. Aber das musste sie auch nicht verstehen. Hauptsache Victor kam nicht auf die Idee, damit zur Polizei zu rennen. Aryanas Erzählungen nach zu urteilen, war das aber gar nicht so abwegig, denn Faye war sich ziemlich sicher, dass Victor sich wahrscheinlich nie oder nur sehr schwach daran erinnern würde, was Riley im Wald zu ihr gesagt hatte, bevor sie weggefahren waren. Er hatte die Drohung wahrscheinlich gar nie mitbekommen. Würde sich vielleicht auch nie daran erinnern, dass Riley ihnen ganz nebenbei eröffnet hatte, warum sie sie in dem Hotel überhaupt gefunden hatten. So bat sie ihre Schwester an diesem Tag darum, sie später noch einmal zu besuchen, damit sie in der Zwischenzeit eine Nachricht für Victor verfassen konnte, die ihn - offensichtlich - so rasch wie möglich erreichen sollte. Es war schwierig, diese Texte zu verfassen und es fiel ihr jeden Tag schwerer. Vielleicht war ihre unter anderem schriftliche Abschottung ein Versuch, ihn von sich zu schieben, bis er ganz von allein keine Lust mehr hatte, je wieder mit ihr zu reden. Aber sie hasste es, weil irgendein dämlicher Teil von ihr noch immer etwas retten wollte, das längst verloren war, weshalb es am Ende jedes Mal nur weh tat. Jedenfalls war es heute schwieriger als je zuvor, weil sie heute nicht einfach nur sagen konnte, dass es ihr gut ging und sie hoffte, dass sein Arm und all die anderen Wunden nicht zu sehr wehtaten. Sie setzte den Stift bestimmt zweihundert Mal ab, begann auf fünf weissen Blättern neu mit dem Verfassen des Briefes, der ihr am Ende in seiner Sprache dann doch nicht wirklich passte. Aber irgendwann ging die Zeit aus und sie musste ihn trotzdem unbedingt heute ihrer Schwester mitgeben, wenn sie nicht riskieren wollte, dass es zu spät war.
Lieber Victor, Ich weiss, du verdienst schon sehr lange die Wahrheit... Die Wahrheit darüber, weshalb es besser ist, wenn wir nicht miteinander reden. Die Wahrheit über das, was passiert ist. Und vor allem die Gründe dafür und wie es überhaupt dazu kommen konnte. Ich kann sie dir nicht verraten, weil ich... keine Ahnung, das ist der komplizierte Teil und ich habe nicht so viel Zeit. Und selbst wenn ich Zeit hätte, hätte ich keine Worte. Aber scheinbar bist du ja vielleicht gar nicht mehr so weit davon entfernt, es selber herauszufinden... Vielleicht ist das gut, weil du ein Recht darauf hast, es zu wissen. Vielleicht ist es schlecht, weil du Dinge findest, die du lieber nicht wissen würdest. Vielleicht hilft dir das, alles zu verstehen. Ich weiss, dass ich nicht wirklich in der Position bin, hier Forderungen zu stellen, aber trotzdem habe ich nur eine einzige Bitte... Bitte behalte das, was du findest, für dich. Sie haben gesagt, dass sie wiederkommen, wenn wir gegen sie aussagen. Und ich glaube, dass sie das tun werden. Ich kann dir nicht verbieten, mit irgendwem oder mit allen darüber zu reden, aber bitte, bitte tu das nicht, ohne die Folgen ausreichend abzuwiegen. Und vergiss dabei nicht, dass es letztendlich ein Cop war, der uns verraten hat. Ich hoffe wirklich, dass du besser klarkommst mit dem, was du gefunden hast und was noch kommen mag... Ich hoffe, dass es dir gut geht und du wieder gesund wirst. Ich hoffe, dass du glücklich bleibst oder wieder werden kannst. Du verdienst die Welt und unendlich viel Freude, Victor, alles davon und noch viel mehr. Ich werde dich für immer lieben. Faye
Es fühlte sich nicht an wie genug. Aber das würde es nie tun. Und es klopfte bereits an der Tür, als sie den Brief faltete und ihn in den Umschlag steckte. Aryana würde ihn noch heute zu Victor bringen, das hatte sie versprochen. Auch wenn sie ihn nicht wirklich ein zweites Mal besuchen durfte und die Zeit wahrscheinlich schon aufgebraucht hatte. Faye klebte den Umschlag zu. Normalerweise tat sie das nicht, damit Victor ihn ebenfalls brauchen konnte, um zu antworten. Aber sie wusste, dass Aryana die Briefe las. Dieser hier war nicht für ihre Schwester bestimmt. Für gar niemanden ausser Victor.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Dass die Art, wie Faye und ich uns liebten, eine gewisse Gefahr in sich barg, war mir schon längere Zeit bewusst gewesen. Es war mir nicht neu und dennoch traf mich diese Erkenntnis erneut mit voller Wucht, als Aryana mir den neuesten Brief von Faye überreichte. Die ältere Cooper konnte nicht bleiben, aber das war gut so. Schon als ich den verschlossenen Umschlag sah, der sich nicht wie sonst einfach aufschieben und für die Antwort verwenden ließ, durchflutete mich Beklommenheit. Nur zögerlich öffnete ich den Umschlag und als ich schließlich sah, dass dieses Mal im Gegensatz zu den vorherigen Briefen einiges mehr an Worten auf dem Blatt stand, sah ich noch einmal über das Papier hinweg und atmete zuerst tief durch. Es kostete mich einiges an Überwindung mit dem Lesen anzufangen, weil ich Schlimmes ahnte. Als ich schließlich anfing zu lesen, saugte ich die Worte zügig auf bis zu der Stelle, an der geschrieben stand, dass es ein Polizist gewesen war, der uns an das Übel verraten hatte. Vergiss nicht war gut - viel mehr flackerte durch diesen Satz das nächste Bruchstück an Erinnerungen auf. Es stimmte. Ich erinnerte mich wieder daran, wie der Cop auf dem Revier am zweiten Tag unseres Hotelaufenthalts zugesichert hatte, dass wir polizeilichen Schutz bekommen würden. Dass der versagt hatte, war offensichtlich. Das war aber noch nicht mal das Schlimmste daran. Zumindest der Einstieg ins Grauen ergab plötzlich schrecklich viel Sinn, als das Trio uns im Hotel aufgelesen hatte. Riley - Ryatt hatte von ihr geredet. Das war Seans Schwester. Die beiden Männer hatten an dieser Stelle der Geschichte noch keine Namen bekommen, aber das war auch nicht nötig. Sie gehörten offensichtlich schließlich zum selben Abschaum. Es folgte die nächste Erinnerungslücke, als Faye und ich im Transporter landeten. Auf dem Weg wohin auch immer. Genau das wäre doch gut zu wissen gewesen… Ich hielt unbewusst irgendwann die Luft an, während sich meine Finger um den Brief verkrampften und ihn dabei zerknüllten. Meine erneut eingetretene Starre verlor sich erst, als mein Körper mir sagte, dass ich ganz dringend wieder atmen musste und ich hastig nach Luft zu schnappen begann. Ich ließ den Brief los und starrte das Papier geschlagene fünf Minuten lang an, während ich angestrengt versuchte, das wiedererlangte Wissen einzuordnen. Ich konnte jetzt nachvollziehen, dass Faye sich die Schuld dafür gab, dass ich hier lag - unabhängig davon, dass ich das nicht genauso sah. Es war nicht unbegründet, weil die ganze Scheiße hinsichtlich des Veterans mehr oder weniger auf ihren Mist gewachsen war. Es brachte mir jedoch genau gar nichts, wenn sie mich wegen der Schuldgefühle weg stieß. Was dachte sie sich denn dabei? Dass es mir allein damit schon irgendwann gut gehen würde? Das war nicht weniger als hochgradig unwahrscheinlich, wenn ich mich ihrer Meinung nach am besten auch noch absolut gar Niemandem anvertrauen sollte. Ich würde nicht weniger eingehen als die zierliche Brünette selbst es in diesem Moment tat. Weil ich den Brief noch nicht zu Ende gelesen hatte, nahm ich ihn mit zitternden Fingern erneut auf und versuchte ihn etwas glatt zu streichen, bevor mich dann der nächste Schlag in Form von Fayes indirektem Abschied traf. Warum tat sie das? Sie kannte mich lange genug, um zu wissen, dass ich eben nicht wieder glücklich werden würde, nur weil sie das sagte. Dass ich die Freiheit von ihr als Last, die sie mir mit ihren Worten schon wieder versprach, niemals genießen können würde. Niemand würde mich jemals so verstehen, wie sie das tat. Niemand hatte das erlebt, was wir beide erlebt hatten. Ich würde nicht wieder glücklich werden und auch niemals Jemanden finden, der so zu mir passen würde, wie Faye das tat. Das war nicht möglich, weil keine andere Frau auf dem Planeten mich so verstehen konnte, wie sie es tat. Sollte ich ihrer Meinung nach also einfach den Rest meines Lebens allein bestreiten? Mich auf ewig alleine mit diesen Erlebnissen herumschlagen? Das ging nicht. Ich brauchte es gar nicht erst zu versuchen, um das zu wissen. Ich zerknüllte unter all der Anspannung erneut den Brief und warf ihn mit einem verzweifelten Knurren an die gegenüberliegende Wand. Meine Augen waren längst glasig und es dauerte nur noch wenige Sekunden, bis die Tränen an meinen Wangen runter liefen. Ich beugte mich mit pochendem Herzen nach vorne und stützte den Kopf in meine Hand, drückte mit den Fingern auf meine Schläfen. Ich wusste nicht, wie lange ich am Ende so dagesessen hatte. Eine Stunde, zwei, vielleicht drei? Die Tränen waren versiegt, als Caldwell für einen Routine-Check ins Zimmer kam und mich natürlich sofort fragte, was los war. Ich sagte ihm gar nichts. Nichts, außer dass jeder, der dieses Zimmer betrat, das verdammte Papierknäuel dort liegen lassen sollte, bis ich es irgendwann selbst aufheben konnte. Es war ihm anzusehen, wie sehr allein diese Worte seine Neugier - und seine ärztliche Sorge - weckten, wie sehr er darauf brannte es sich einfach zu nehmen. Weil ich befürchtete er würde meine Worte nicht ernst genug nehmen, warf ich ihm deutlich lauter als vorher um die Ohren, dass ich im Fall der Fälle kein Problem damit haben würde, eine Anzeige wegen Eingriff in meine Privatsphäre rauszulassen und er das tunlichst an sämtliches Personal weiterzugeben hatte, das befugt war mein Zimmer zu betreten. Nichts davon schmeckte ihm, aber er nickte schließlich und fragte nur noch, ob er dazu beitragen könnte, dass ich mich besser fühlte. Ich hätte fast sofort abgelehnt, entschied mich dann jedoch dazu ihm zu sagen, dass er sämtliche Besuche bis auf Weiteres streichen sollte. Er war sichtbar verwundert, dass nur noch Aryana ein letzter Besuch vergönnt werden sollte, wo ich bisher doch so erpicht auf meine Besuchszeiten gewesen war. Aber auch dazu bekam er keinerlei weitere Information, bevor ich mich demonstrativ auf die andere Seite rollte. Caldwell fragte noch, ob mir körperlich etwas fehle, aber ich verneinte und er verschwand daraufhin wieder aus dem Zimmer. Ich brauchte die Ruhe. Die Stille. Die Einsamkeit. Was das anging verstand ich Faye - wenn einem das Herz so sehr blutete, dass man es selbst kaum noch ertrug, dann hatte man ganz einfach keine Lust dazu sein Leid auf andere Menschen zu übertragen. Also verkroch ich mich in meinem Kopf und starrte aus dem Fenster, bis sich schließlich die nächste Morgensonne sehen ließ. Ich hatte wenig bis gar nicht geschlafen und war nur hin und wieder eingenickt, was unweigerlich dazu führte, dass ich bei der Therapie am nächsten Vormittag wahnsinnig müde war. Trotzdem quälte ich mich verbissen durch - eisern dem Ziel mit dem zerknüllten Brief folgend. Ich hatte schon zu lange zulassen müssen, dass Faye sich mit der Schuld herumplagte, dass mein Blut an ihren Händen klebte. Genauso würde ihres aber an meinen kleben bleiben, wenn sie ihrem Leben wirklich ein Ende setzte. Ich hatte viel zu lange toleriert, wie sehr unsere Beziehung im Grunde schon weit vorher aus den Fugen geraten war. Hatte aus Liebe zu Faye und aus der Angst heraus sie zu verlieren, dumme Dinge getan - oder auch nicht getan. Hatte ihr Geheimnisse verschwiegen aus Angst davor, sie mit in mein psychisches Elend reinzuziehen - dabei steckte sie doch die ganze Zeit über selbst mit drin. Wir waren wohl nie wieder ganz geheilt, seit Syrien… und ich weigerte mich zu akzeptieren, dass das hier jetzt das Ende sein sollte. So durfte es einfach nicht sein und vielleicht war es naiv daran zu glauben, die Beziehung zwischen Faye und mir noch kitten zu können. Gerade angesichts der Tatsache, dass meine Amnesie sich noch lange nicht vollständig aufgelöst hatte. Es war aber das Einzige, an das ich mich in diesem Leben noch klammern konnte. Also würde ich auf Biegen und Brechen versuchen, Faye noch einmal aus dem dunklen Brunnen zu ziehen. Sie zu stabilisieren, soweit mir möglich war - damit ich danach mich selbst heilen konnte. Solange Faye nicht auf der sicheren Seite war, würde ich ohnehin nicht zur Ruhe kommen können. Aber ich hatte endlos viel aufzuarbeiten, was mir schon viel früher hätte klar werden sollen. Scheinbar brauchte es dazu aber den Todeswunsch des mir wichtigsten Menschen. Die Distanz zu ihr, die dadurch entstehende Kälte. Und eine gefühlt endlose, schlaflose Nacht. Als Aryana am Nachmittag dann für ihren vorerst letzten Besuch zu mir kam, hatte ich die Antwort für Faye schon ins Kuvert gesteckt. Auch hatten die Schwestern draußen vor einer Stunde bereits Hazel und meine Mutter abgewiesen, die dem Personal nach zu urteilen scheinbar sehr aufgebracht waren. Für den Moment sollte das aber nicht mein Problem sein, ich würde mich dem irgendwann später in ein paar Wochen annehmen. Dann, wenn ich dazu bereit war. Wahrscheinlich sprachen die dunklen Schatten unter meinen müden Augen bereits Bände, als ich den Blick vom Brief in meinen Händen zu Aryanas Gesicht anhob, während sie zu mir ans Bett aufschloss. Ich versuchte mich heute ausnahmsweise gar nicht erst an einem Lächeln. "Hey.", grüßte ich sie knapp, dann rutschte mein Blick auch schon auf den Brief ab. Ich hatte ihn nicht zugeklebt, weil er Aryana nichts sagen würde, selbst wenn sie ihn lesen würde. Zumindest nichts, das sie nicht längst wusste. Mitch hatte die Schwester draußen schon abgefangen, was mir für ihn und seine verschwendete Zeit leid tat, aber mir war leider kein bisschen nach seinen Witzen. "Ich will dich gar nicht lang aufhalten… bring nur bitte noch den einen Brief… zu Faye.", murmelte ich hörbar gerädert. Streckte danach langsam die Hand in ihre Richtung aus, das Papier zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt. Ausnahmsweise war es auch mein Brief, der von unser beider Austausch deutlich kürzer ausfiel. Das kann ich ohne dich nicht und das weißt du. Wo du hingehst, gehe ich hin. Nichts wird daran irgendwas ändern. Ich komme zu dir - ob du willst oder nicht. Mehr hatte ich nicht zu sagen. Ich würde nicht mehr glücklich werden, wenn Faye mich verließ. Also würde ich ihr auch dorthin folgen, sollte ich es wirklich nicht mehr schaffen das Blatt noch zu wenden. Zu der Sache mit dem Cop brauchte ich nichts zu sagen. Ich würde nicht mutwillig Fayes Leben riskieren, wenn es sich vermeiden ließ. "Sag Mitch bitte, dass es mir leid tut... dass er umsonst mitgekommen ist… ist nichts Persönliches.", bat ich Aryana etwas undeutlich um einen weiteren, kleinen Gefallen. Blinzelte müde, hatte Mühe damit die Augen noch offen zu halten. Aufs Schlafen war ich aber auch nicht scharf, da warteten meiner Erfahrung nach jetzt sicherlich nur Alpträume auf mich.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Sie hatte schon geahnt, dass die Entwicklung von Victors Erinnerungen in Kombination mit dem zugeklebten Brief ihrer Schwester ein ganz böses Omen versprach. Hatte auch - mal wieder, wurde ja langsam zur Gewohnheit - richtig beschissen geschlafen, weil allein die vorgestellten Bilder der Dinge, die Victor ihnen erzählt hatte, einfach nur grausam waren. Sie hatte die Folter nicht einmal miterlebt und es tat trotzdem so weh, wie musste es dann für die beiden gebrochenen Seelen sein, die ganz genau wussten, was in der mutmasslichen Scheune passiert war? Victor und Faye waren einfach vom Typ her schon viel weicher, viel sensibler und emotionaler als sie oder auch Mitch es waren. Sie waren dadurch aber eben auch angreifbarer und leichter in diese Krisen zu manövrieren, in der zumindest Faye nun schon seit fast zwei Wochen tiefer steckte als je zuvor. Sie wusste nicht, welche Worte ihre Schwester mit dem Brief an Victor gerichtet hatte. Sie hatte noch nicht mal eine Vermutung, weil sie dazu einfach viel zu wenig Kenntnisse über das besass, was im Kopf der apathischen Brünetten vor sich ging. Es musste etwas mit seinen Erinnerungen zu tun haben - aber dann hörten ihre Spekulationen eben auch schon wieder auf. Vielleicht hätte sie den Brief besser für sich behalten oder ihn verbrannt. Aber das wäre nicht fair gegenüber Victor und Betrug gegenüber Faye und beides würde nur endgültig alles Vertrauen in sie als Person untergraben. hätte sie Victor gefragt, ob er den Brief wirklich wollte - auch wenn dieser möglicherweise sehr unschöne Inhalte enthielt - hätte er sowieso ja gesagt. Also war es am Ende einfach das, was sie hatte tun müssen und womit sie den jungen Mann in seinem Bett hatte alleine lassen müssen. Der nächste Tag kam bald und sie hatte Faye bereits am Morgen einen kurzen Besuch abgestattet. Sie besuchte sie noch immer oft zweimal am Tag, weil sie ja weiterhin die einzige Angehörige war, die das Zimmer ihrer Schwester überhaupt betreten durfte. Das tat sie aber auch in Hinblick auf die Tatsache, dass sie nicht mehr lange hier bleiben konnten. Easterlin hatte bereits ihren nächsten Auftrag angekündigt - obwohl sie eigentlich Urlaub hatten und sich in dieser Zeit offensichtlich wirklich nicht um die Arbeit scherten - und sie mussten in sechs Tagen wieder einrücken. In fünf Tagen würde Onkel Sam anreisen und vorerst für zwei bis drei Wochen bleiben. Entweder sie war dann wieder zurück oder Fayes Zustand hatte sich signifikant verbessert oder Chelsea, die jüngere ihrer beiden Cousinen, die nur ein halbes Jahr älter war als Faye und dank ihrem Job relativ flexibel war, was den Arbeitsort anbelangte, würde ihn ablösen. Sie hoffte grundsätzlich auf die zweite Variante und wenn das nicht eintraf natürlich auf die Erste. Aber um einschätzen zu können, wie realistisch diese war, müsste sie wohl erstmal das Mail von Easterlin lesen, in dem geschrieben stand, womit sie sich in einer Woche überhaupt befassen mussten. Und wies schien, würde sie dazu ab morgen nochmal etwas mehr Zeit zur Verfügung haben. Sie betrat das Krankenhaus zum zweiten Mal, diesmal mit Mitch an ihrer Seite. Aber als sie gerade im Begriff waren, Victors Zimmer zu betreten, kam eine Angestellte regelrecht herbei gestürmt, um ihnen zu erklären, dass Mitch bitte draussen warten sollte. Offenbar hatte Victor das so gewünscht, wie ihnen auf Nachfrage erklärt wurde. Er wünschte keinen Besuch mehr - nur Aryana durfte noch ein letztes Mal den Raum betreten. Was zur Hölle..?? Sie blickte ihren Freund sichtlich verwirrt, aber auch umgehend besorgt an, als sie seine Hand gezwungenermassen losliess, um stattdessen alleine einzutreten. Das war nicht gut, oder? Das war wahrscheinlich sogar sehr beschissen. Das Erste, was ihr ins Auge fiel, als sie sich umdrehte, nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, war tatsächlich das zerknüllte Papier am Boden. Aber sie beliess es vorerst bei einem weiterhin verwirrten Blick, bevor ihre Augen zu Victor wanderten. Er sah milde gesagt beschissen aus mit den dunklen Augenringen, die eindeutig dafür sprachen, dass er wenig bis gar nicht geschlafen hatte. Auch sparte er sich heute offensichtlich bewusst das Lächeln und seine ganze Ausstrahlung sprach dafür, dass er komplett aufgewühlt war. Da war nichts mehr von Lockerheit, kein Anzeichen von das wird schon wieder. Er wirkte verbissen und grundsätzlich nicht so, als möchte er sich wirklich mit ihr unterhalten. Was er kurzum bestätigte, wenn er die Info auch etwas schöner verpackte, indem er meinte, sie nicht lange aufhalten zu wollen. Ihr Blick blieb konstant verwirrt - wenn sich auch mehr und mehr Sorge darin breit machte. Vielleicht auch schon die unterschwellige Panik, dass sie jetzt nicht mehr nur Faye sondern auch Victor in den unendlich tückischen Verzweigungen des Labyrinths ihrer Emotionen verloren hatte. Sie nahm den Brief entgegen, blickte kurz auf den Umschlag in ihren Händen. Sie würde ihn nicht lesen, das tat sie bei seinen Briefen nie. Weil sie bis jetzt daran geglaubt hatte, dass er sehr gut beurteilen konnte, was für Fayes Kopf in Ordnung ging und was nicht. Das tat sie eigentlich noch immer, weil sie wusste, dass Victor ihre Schwester niemals absichtlich verletzen würde. Was auch umgekehrt der Fall war, nur war Faye in einem Zustand, in dem sie nicht mehr wirklich verstand, dass nicht die ganze Welt so tickte wie sie, dass nicht die ganze Welt ihren Weg als Lösung erkannte und guthiess. "Victor, ich... kann ich denn sonst gar nichts tun?", fragte sie leise. Sie wollte ihn nicht bemuttern, ihm schon gar nicht das Gefühl geben, zu glauben, dass sie besser wusste, was gut für ihn war, als er das selber tat. Aber gleichzeitig hatte sie ja nur diese eine Chance, ihn davon zu überzeugen, dass es vielleicht einen anderen Weg als die tagelange Einsamkeit in diesem Zimmer gab. "Willst du jetzt auch mit keinem mehr reden..? Auch wenn ich... keine Fragen mehr stelle?", eigentlich glaubte sie nicht wirklich, etwas erreichen zu können. Aber wenn er sie jetzt einfach aussperrte wie alle anderen, dann würde sie ihn vielleicht nicht mehr sehen, bis sie wieder weg mussten. Und davor hatte sie irgendwie auch Angst. Wie langsam gefühlt vor allem, was hier passierte. Eigentlich sollte es besser werden mit der Zeit, oder nicht? Hier wurde eher alles ständig schlimmer.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Die Sorge, die sich in Aryanas Augen widerspiegelte, kam nicht unbedingt überraschend. Es kam wohl grundsätzlich nicht so positiv rüber, wenn sich Jemand plötzlich freiwillig isolierte, der zuvor noch gerne Jedermann ins Zimmer gelassen hatte. Aber sie brauchte sich keine Sorgen zu machen - konnte sie nur nicht wissen, wenn sie meine Gedanken hinter der Aktion nicht kannte. Deshalb dauerte es auch gar nicht lange, bis die Brünette nach Annahme des Briefes fragte, ob sie nicht noch irgendwas für mich tun konnte. Wenig später auch noch, ob ich denn wirklich Niemanden mehr als Gesprächspartner wollte oder brauchte. Dass sie noch gelobte von jetzt an einfach keine Fragen mehr zu stellen, solange sie nur weiter in mein Zimmer kommen durfte, lockte unweigerlich ein leises Seufzen meinerseits hervor. Ich wusste, dass sie es nur gut meinte und dass sie mir nur helfen wollte, obwohl sie mit Faye schon mehr als genug an Problemen hatte. Es war dennoch gewissermaßen anstrengend, mich in meinem hochgradig übermüdeten Zustand damit befassen zu müssen. "Ich weiß, dass du es nur gut meinst… aber ich brauche das... Zeit... Um den letzten Brief zu verarbeiten.", erklärte ich mich zwangsweise, weil ich wollte, dass sie verstand, warum ich keine Lust auf Konversation hatte. Warum ich meine Ruhe brauchte. Warum meine Laune nicht weniger als absolut beschissen ausfiel. Ich hätte ihr gerne mehr Details dazu gegeben, damit einfach keine Frage offenblieb, aber Faye hatte den Brief bewusst zugeklebt und ich wollte ihren Wunsch nicht übergehen. Vielleicht hätte ich den Brief einfach von einer Krankenschwester an sie übergeben lassen sollen, dann würde mir das jetzt erspart bleiben. Das mochte sehr egoistisch sein, aber das hätte ich in den letzten Monaten bis zu einem gewissen Grad schon öfter sein sollen. Es wurde Zeit, endlich damit anzufangen. "Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Aryana… ich will nur meine Ruhe, um mich selbst zum hundertsten Mal vom Boden zu kratzen… und schnell wieder fit zu werden… damit ich danach deine Schwester aufsammeln kann.", ich sagte das für meine Verhältnisse recht emotionslos. Klang wahrscheinlich maximal angestrengt, aber nicht so, als würde ich mich gleich die nächste Klippe runterstürzen wollen. Außerdem sprach ich Fayes Namen bewusst nicht aus, weil er mir momentan einfach sehr weh tat, weil ihn zu hören oder auszusprechen schmerzte. Allerdings würden die paar Worte Fayes ältere Schwester wahrscheinlich nur wenig bis gar nicht beruhigen. Es klang nämlich nach einer wahnsinnig kräftezehrenden Reise und genau das war es auch. Also sollte ich der beunruhigten Aryana wahrscheinlich noch irgendwas halbwegs Positives in Aussicht stellen, oder? Ich wollte nicht, dass sie sich bei ihrem nächsten Einsatz auch über mich noch den Kopf zerbrach. "Wann müsst ihr los? ... zum nächsten Einsatz, meine ich.", fragte ich, weil ich mich noch daran erinnerte, dass Aryana und Hazel darüber gesprochen hatten, dass sie beide in wenigen Wochen wieder los mussten. Das konnte jetzt ja nicht mehr in weiter Ferne liegen, vielleicht hatte Aryana also schon Fakten für mich. Zwar wusste ich nicht, wie mein Gemüt sich in den nächsten Tagen weiter verändern würde, aber wesentlich schlimmer als es jetzt gerade war, konnte es eigentlich nicht werden. Klar, ich könnte theoretisch auch auf den Zug mit Suizidgedanken aufspringen, aber das kam allein schon deswegen nicht in Frage, weil Faye mich brauchte. Wenn es darum ging, dann konnte ich durchaus den eisernen Soldaten geben, obwohl mir nicht danach war. Das bedeutete nur leider nicht automatisch, dass ich diesen Krieg noch einmal gewinnen konnte. Das letzte Mal war schon verflucht schwierig gewesen… "Du kannst vorher nochmal herkommen… wenn du willst. Aber dann... brauche ich einen festen Stichtag… zum weitergeben.", versuchte ich sie mit diesem Angebot zu beschwichtigen und zuckte schwach mit den schweren Schultern. Wenn es Aryana damit etwas besser ging, dann würde ich das schon ertragen. Lieber das, als dass sie mir im Gefecht wegen Leichtsinnigkeit abdankte. Wenn sie auch noch ihre Schwester verlor, konnte ich mich getrost gleich mit in Fayes Grab legen.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Dieser verdammte Brief. Sie hätte ihn einfach öffnen, lesen und in einen neuen Umschlag stecken sollen, das hätte keiner gemerkt. Dann wüsste sie jetzt auch, was genau hier vor sich ging. Oder hätte zumindest eine Ahnung davon. Wahrscheinlich hätte sie den Brief niemals überbracht, wenn sie gewusst hätte, was darin stand. Nur konnte sie all das eben auch nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Sie hatte sich ja bewusst gegen die Ärzteschaft gewendet, als sie damit begonnen hatte, Victor und Faye diese kleine Möglichkeit der Kommunikation zu gewähren, die mindestens zu Beginn noch nicht so gern gesehen gewesen war. Jetzt wo sich Victors Kopf und Gehirn grösstenteils erholt hatten und besser mit heftigen Emotionen klarkommen sollte, würden die Briefe wohl von niemandem mehr verboten werden, aber jetzt brauchte es sie ja scheinbar auch nicht mehr. Vielleicht würden die Ärzte inzwischen sogar einen Besuch von Faye erlauben. Nur müsste Faye dafür auch herkommen wollen und Victor kein allgemeines Besuchsverbot aussprechen. Grossartig, sie hatten es echt weit gebracht in den letzten zwei Wochen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen liess sie tatsächlich sehr schwach und freudlos lächeln. Wie bitte sollte sie sich keine Sorgen machen? Ausserdem brauchte er das kaum zu sagen, während er selbst der Inbegriff von Sorge war. Sie würde ihm gerne sagen, dass Faye nicht seine Verantwortung war. Aber wem machte sie was vor? Sie kriegte ihre Schwester alleine offensichtlich nicht wieder hoch. Was, wie sie mittlerweile zu wissen glaubte, damit zu tun hatte, dass sie eben nicht Teil des Traumas war. Dass es nicht sie war, die unter dem litt, was Faye ihrer Meinung nach allein zu verschulden hatte. Aryana konnte ihr noch so oft einreden, dass sie die grausamen Gemüter fremder Menschen nicht beeinflussen konnte oder zu verantworten hatte. Es war einzig und allein die Schuld dieser gefühllosen Gestalten, die sie durch die Folter gezwungen hatten. Aber das sah Faye nicht ein. Warum auch immer. Vielleicht war auch nicht nur das das Problem und es lag noch mehr Scheisse begraben. Aber das konnte sie ja nicht herausfinden, wenn keiner mit ihr sprach. "Wenn du meinst... Aber pass bitte auf dich auf Victor. Es bringt nichts, wenn ihr am Ende beide daran kaputt geht. Das würde sie auch nicht wollen und das weisst du...", sie wollte nicht den Moralapostel raushängen und gerne darauf vertrauen, dass er wusste, was er tat. Nur machte Liebe eben gerne blind, wovon sie alle vier ein Liedchen singen konnten, und allein deswegen hatte sie ihn nochmal daran erinnert. "In sechs Tagen...", beantwortete sie leise seine Frage, die sie nur wieder daran erinnerte, dass gerade so gar nichts nach Plan verlief. "Dann... in fünf Tagen. Wenn... wenn das für dich in Ordnung ist...", nahm Aryana im Anschluss ohne zu Zögern sein Angebot an - das er ihr wohl eigentlich lieber nicht gemacht hätte. Wenn sie Glück hatte, konnte sie am sechsten und siebten Tag auch noch vorbeischauen, abends nach der Arbeit. Aber wenn sie Pech hatten, wurden sie direkt ins Flugzeug gesteckt und irgendwo hin verschifft, ohne ein paar Tage zur Vorbereitung zu bekommen. Kam eben auf den Auftrag an. Auf den sie grundsätzlich gar keine Lust hatte.
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Auf mich aufpassen... das war es, was ich jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit versuchte, oder? Irgendwie nie besonders erfolgreich, wenn ich mir die letzten Jahre vor Augen hielt. Meine Eltern hatten das von Anfang an immer wieder gesagt, seit ich damals zu meinem ersten Auslandseinsatz aufgebrochen war. Jedes Mal, wenn ich zur Auszeit heimgekommen war und dann wieder hatte aufbrechen müssen, hatten sie es wieder gesagt. Aber seit der Bombe damals war ihr Blick dabei anders. Früher hatte mir fast nie etwas gefehlt, wenn ich heimgekommen war. Es war so als hätten sie vorher nicht aktiv Angst darum gehabt, dass mir etwas zustieß. Aber seit meinem Wiedereinzug in die Armee hatte ich ihre Augen schreien sehen, dass ich nicht gehen sollte. Vielleicht sah ich gerade auch eine ähnliche Art von Angst in Aryanas Augen, weil sie darum fürchtete, dass es dieses Mal vielleicht nicht wieder ein Happy End geben würde. Weil sie fürchtete, dass ich mir mit dieser Nummer ins eigene Knie schoss. Restlos ausschließen konnte ich das ja nicht einmal selbst, aber gerade im Moment fühlte es sich richtig an und ich handelte schon immer überwiegend intuitiv. Was sowohl Stärke, als auch Schwäche sein konnte... "Das weiß ich.", murmelte ich. Es gab aber eben auch nur Faye und mich zusammen, oder gar Niemanden mehr von uns. Es war der einzige Weg. Wenn ich Faye nicht dazu bekam ihrem Leben - unserem Leben - noch eine weitere Chance zu geben, dann war das auch für mich das Ende. Ich würde jetzt also alles an Kraft zu sammeln versuchen, was sich in meinem Zustand mobilisieren ließ und zum richtigen Zeitpunkt zu Faye aufbrechen. Ohne dass mir Irgendjemand reinredete. Ohne dass meine Mutter mir zum tausendsten Mal sagte, dass ich vielleicht einfach endgültig mit dem Krieg und absolut allem, was damit zusammenhing, abschließen sollte. Als wäre das möglich. Als könnte man sowas für immer einfach so hinter sich lassen, wenn man so sehr davon geprägt worden war wie ich. Und wenn ich mir irgendetwas in meinem Leben nicht ausreden lassen würde, dann war das Faye. Da würde absolut jeder Mensch auf diesem Planeten gegen eine etliche Meter dicke Wand aus Stahlbeton reden. Wenn wir am Ende also beide daran kaputt gingen... wäre das scheiße, aber es wäre immer noch besser, als alleine und völlig verloren weiter auf der Erde wandeln zu müssen. Nichts würde die Lücke füllen können, die Faye hinterlassen würde. Fünf Tage waren für mich ein ganz guter Zeitplan. Es war zumindest nicht absolut unrealistisch zu glauben, dass ich bis dahin wieder ein klein wenig besser aussehen würde. Dass ich bis dahin vielleicht sogar noch ein paar mehr gut erkennbare Fortschritte gemacht hatte. Dass ich bis dahin einige Stunden Schlaf nachgeholt haben würde, abseits der Therapien. Wie viele Alpträume in die seligen Schlafstunden hinein ranken würden sei mal noch dahingestellt, aber ich würde sicher wieder etwas besser aussehen. "Ja, das geht in Ordnung.", erklärte mich mit einem schwachen Nicken einverstanden. "Bis dahin geht's mir bestimmt auch schon besser...", gab ich mich relativ optimistisch. War halt aber auch nicht besonders schwer besser auszusehen als jetzt gerade eben, wo ich gefühlt im Sitzen einschlief. Es war dennoch wichtiger, dass Aryana sich in der Zwischenzeit um ihre Schwester kümmerte, statt mir etwas von ihrer Zeit zu schenken. Ich war mir nicht sicher, was Faye von meiner Antwort auf ihren Brief halten würde. Wahrscheinlich nicht viel, so vehement wie sie mich von sich wegzutreiben versuchte. Damit rannte sie aber genauso gegen eine Wand wie jede andere Person.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Dazu gab es dann wohl auch nicht mehr viel zu sagen, oder? Er nahm ihre Bitte zur Kenntnis und bestätigte wenig später, dass sie das Zimmer in fünf Tagen nochmal betreten durfte. Und bis dahin sollte sie wohl einfach darauf vertrauen, dass Victor wusste, was er tat. Dass er sich wirklich auf seine Regeneration konzentrierte und nicht nur auf das, was sein Kopf höchstwahrscheinlich nach und nach an Erinnerungen reproduzieren und ihm zurückgeben würde. Und ihr blieb wohl mal wieder nur das Hoffen, Sorgen und Abwarten übrig. "Ich hoffe es auch. Und... es tut mir leid... Dass ich das mit Faye nicht selbst hinkriege", hauchte sie eine leise Entschuldigung vor sich hin. Dafür, dass er nicht nur die Last seiner eigenen Verletzungen und Heilung tragen musste, sondern auch die ihrer Schwester, die sie ihm eigentlich hätte abnehmen sollen. Sie hatte es wirklich versucht. Versuchte es noch immer. Aber so langsam fühlte es sich an wie ein absolutes Ding der Unmöglichkeit, wenn sie ständig so vehement ausgesperrt wurde und einfach den Zugang, die verborgene Tür nicht finden konnte, die es doch irgendwo noch geben musste. Vielleicht aber eben nicht für sie - vielleicht besass nur Victor diesen Schlüssel oder kannte den Weg. Und wenn es ganz beschissen ging, dann würde es auch ihm nicht gelingen. Aber daran wollte sie nicht denken. Aryana hob sachte die Schultern an, bevor das Schweigen irgendein unangenehmes Ausmass annehmen konnte. Er hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sie jetzt gehen sollte und ausserdem wirkte er auch einfach komplett gerädert. Und es gab nichts mehr zu sagen, wenn man so begabt war in der Gesprächsführung in schwierigen Situationen wie sie. Also konnte sie genauso gut seine Entscheidung respektieren und gehen. "Dann bis bald, Victor. Ich wünsch dir viel Glück", das meinte sie ernst, auch wenns irgendwie fehlplatziert, fast ironisch klang. "Oder Durchhaltevermögen, Kraft, Erfolg... du weisst, was ich meine. Ich denk an dich.", ein sehr schwaches, sehr müdes Lächeln folgte, dann trat sie langsam rückwärts von ihm weg, ging zur Tür, von wo aus sie ihm einen letzten Blick zuwarf und mit dem Brief in ihren Händen winkte, bevor sie mit einem dezent beschissenen Gefühl den Raum verliess.
Die Antwort kam am nächsten Tag, womit sie eigentlich hätte rechnen sollen. Aber sie hätte lieber auf den Brief verzichtet, noch bevor sie dessen Inhalt gelesen hatte. Denn natürlich war ihr irgendwo bewusst gewesen, dass ihre Worte ihm weh tun würden, auch wenn das weiterhin in keiner Weise ihrer Absicht entsprach. Darum hatte sie ja bisher so wenig Emotionen wie möglich in die Briefe fliessen lassen - damit Victor nicht wusste, was sie wirklich dachte, weil das nur Schaden anrichten konnte. Vielleicht hätte sie es dabei belassen sollen. Denn mit dem Brief bekam sie auch Aryanas widerwillige Meldung darüber, dass Victor scheinbar keinen Besuch mehr wollte. Ihre Schwester hatte es ihr eigentlich nicht sagen wollen, aber kam dann eben doch nicht drum herum, weil Faye sie langsam gut genug kannte, um zu erkennen, wenn etwas noch mehr aus den Fugen rutschte, als es das die ganze Zeit über schon getan hatte. Dann fühlte sie sich noch beschissener, weil sie wusste, dass auch das ihre Schuld war. Besonders nachdem ihre Schwester ihr auch gesagt hatte, was Victors Plan war. Sie liess sich die Würmer ganz schön aus der Nase ziehen, aber letztendlich war Aryana zu verzweifelt und zu ehrlich, um wie die Ärzte und Therapeuten die Hälfte ihres Wissens für sich zu behalten. Und Faye fühlte sich einfach nur noch komplett verloren. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie tun sollte. Erst Recht nicht mehr, seit sie den Brief gelesen hatte. Ihr Plan mit dem Von-einer-Klippe-Springen, sobald sie sich dazu aufraffen konnte, ihren Zustand gut genug darzustellen, um dieses Gefängnis zu verlassen, ging so nicht auf. Aber was sollte sie sonst tun? Sie wollte nicht mehr kämpfen. Sie ertrug die alles betäubenden Schmerzen nicht mehr. Sie konnte mit dem, was in dieser gottlosen Nacht passiert war, nicht leben. Weder mit den Bildern, den Schuldgefühlen, noch mit den Folgen und den Narben. Nicht mit den psychischen, nicht mit den physischen. Wo du hingehst, gehe ich hin. Faye starrte seit sie den Brief gelesen hatte ständig auf diese Zeile, weil sie ganz genau wusste, was die Worte bedeuteten. Sie waren das Problem. Das sollte er nicht tun. Niemand sollte das tun. Sie wollte nicht, dass er sie begleitete, während sie das hinter sich liess, womit sie innerlich abgeschlossen hatte. Und Victor sagte das nur, weil er sich noch nicht daran erinnerte, dass er selbst nicht mehr hatte leben wollen. In der zweiten Version der Hölle. Victor hatte seinen Kopf ganz alleine so sehr gegen den Pfahl gedonnert, dass es ihn beinahe umgebracht hätte. Weil er hatte sterben wollen, was er auch wörtlich bestätigt hatte. Aber das wusste er noch nicht… Weil er noch nicht wusste, was wirklich alles passiert war. Er hatte es schon damals in den Hügeln gesagt. Dass er nicht mehr leben wollte, wenn leben bedeutete, zuzuschauen, wie irgendein Fremder glaubte, sie sich nehmen zu können wie eine tote Schaufensterpuppe ohne Rechte. Und er hatte es diesmal wieder gesagt. Mit dem Unterschied, dass es diesmal schlimmer gewesen war, für sie beide. Was wollte sie auf dieser Welt, wenn sie schon so lange nicht mehr frei war? Wenn jetzt auch noch die hässlichen Buchstaben ihre Brust zierten, die deutlich genug aussagten, dass sich daran auch nie was ändern würde? Was wollte sie gesund werden, wieder raus gehen, wenn um jede Hausecke ihr Alptraum warten könnte? War sie dann nicht lieber tot? Das ging schneller und war schmerzloser, zumindest für sie eben. Was leider genau der springende Punkt war… Sie konnte sich nicht umbringen, wenn das bedeutete, dass Victor ebenfalls springen würde, oder? Eigentlich nicht. Aber konnte sie denn wirklich noch leben, nur für ihn? Nach allem was passiert war? Sie dachte die ganze Nacht darüber nach. Aber sie hatte keine Ahnung. Fand keine Antwort auf die Fragen des Lebens, auch nicht bei Aryana, als diese am nächsten Tag wieder vorbei kam. "Wie lange sagen sie, dauert es, bis Victor wieder gehen darf?", fragte Faye beim ersten Besuch am Morgen. Aber es waren nur unsichere, schwammige Prognosen, die sie zurück bekam, weil scheinbar nichtmal sein Arzt ihm das bis gestern - vorgestern - hatte sagen können. Es war nur eben relevant für sie, weil sie das Ich komme zu dir im Brief ziemlich wörtlich zu übersetzen wusste. Und sie würde sich gerne zumindest ungefähr darauf einstellen können, ab wann sie damit rechnen musste, dass er plötzlich vor der Tür stand. "Denkst du, dass er sich umbringen wird, wenn ich es tue?", wollte sie dann beim zweiten Besuch ganz sachlich wissen. Hätte zur Beruhigung ihrer Schwester ja gerne noch ein Keine Angst, das mach ich schon nicht hinten angehängt - aber sie wussten es wohl beide besser. Das darauffolgende "Ja" klang nicht annähernd so unsicher wie die Antwort vom Morgen. Nicht, nachdem Aryanas Augen über die Zeilen geflogen waren, die Faye ihr in Form von Victors letztem Brief präsentierte. War ja nicht schlimm, wenn ihre Schwester dann wusste, dass sie nicht nur an ihrem eigenen Tod sondern auch an dem ihres Liebsten Schuld war. Dann konnte sie sie etwas mehr hassen, wenn sie tot war. Dass Aryana jetzt auch einen Teil von dem kannte, was sie selbst geschrieben hatte, war... halt auch egal. Vielleicht merkte Faye das auch gar nicht in der ganzen Gleichgültigkeit und Verwirrung, in der sie vollgepumpt mit Psychopharmaka zwischendurch schwamm. Da hatte sie nun also ihre Bestätigung von dem, was sie erkannt hatte, als sie den Brief zum ersten Mal gelesen hatte. Sie konnte nicht sterben, ohne Victor mitzunehmen. Sie wollte ihn aber nicht mitnehmen. Also durfte sie nicht sterben? Sie wusste, dass sie mit ihm reden musste, weil alles andere einfach ungerecht war. Es schon die ganze Zeit gewesen war. Aber sie wollte nicht mit ihm reden, solange er sich nicht an alles erinnerte. Solange er nicht das Ausmass von dem erkannt hatte, was geschehen war in dieser Nacht vor zwei Wochen - oder was auch immer, sie hatte schon die ganze Zeit echt Mühe, einen Überblick über die Anzahl von Stunden und Tagen zu bewahren, die hier drin verstrichen.... Again, Psychodrogen sei Dank. Und sie zweifelte auch daran, bis dahin irgendwelche Fortschritte zu machen, weil es eben keinen Sinn machte, sich vom Boden zu kratzen - falls sie das überhaupt noch hinkriegte, was auch sehr optimistisch war - nur um dann gleich wieder zu crashen, wenn er erkannte, dass das mit ihnen nie wieder gut werden konnte. Also schlief sie. Das konnte sie nämlich sehr gut, so betäubt wie sie sich fühlte. Sie schlief und stand auf, wenn Besuch kam oder sie an den sinnlosen Therapiestunden teilnehmen musste. Sie würde sie ja gerne absagen, weil ihr die Therapeutin auch leid tat, die sich an ihr die Zähne ausbiss ohne Hoffnung auf Erfolg. Aber das durfte sie ja nicht, solange sie so war. Zwei Tage später stand ausserdem ein Umzug an, da sie scheinbar endlich in die Psychiatrie abgeschoben werden konnte. Die war nicht wirklich weit vom Krankenhaus entfernt, aber für Faye war es nur ein Grund mehr, die endlose Distanz zu Victor als unüberwindbar zu sehen. Weitere drei Tage später tauchte Onkel Sam auf. Aryana hatte sie vorgewarnt, aber auch hier tat es Faye hauptsächlich für die verschwendete Zeit leid. Aber er war gut in belanglosen Gesprächen, besser als Aryana, die mit viel zu viel Emotionen in der Sache hing. Sam konnte das besser verstecken und versuchte gar nicht erst, irgendwie hinter ihren Zustand zu blicken. Er erzählte von Tante Susie, von Chloe und Chelsea, von ihrem Hund Chasper - der Schreibfehler war Absicht, damit der Name ins Schema passte - und vom letzten Urlaub. Von seiner Arbeit, dem Wetter und von ihrer Kindheit. Sehr viele Erinnerungen und Faye entging nicht, dass er ihren Blick dabei bewusst ständig auf die schönsten Erlebnisse richtete. Aber das war okay, sie musste die Zeit ja irgendwie totschlagen, bis Aryana wiederkam. Denn natürlich hatte sie ihrer Schwester vollkommen widerwillig versprechen müssen, sie wiederzusehen. Und zwar diesseitig des Himmels. Welch tolle Seite des Himmels das auch war... Sie war sich nicht ganz sicher, das schaffen zu können, aber irgendwie musste sie wohl. Erstens, weil das grauenvolle Gespräch mit Victor noch bevorstand und zweitens, weil sie Aryana eben auch was schuldete. Mal schauen, wie lange das als Grund zu atmen ausreichte.
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Ich schüttelte nur kaum sichtbar den Kopf und sah auf die Decke runter, als Aryana sich entschuldigte. Das brauchte sie nicht, sie konnte ja nichts dafür. Sie hatte sicher ihr Bestes versucht mit Faye, dessen war ich mir sicher. Ich wusste selbst mit am besten wie stur sich die zierliche Brünette in ihren negativen Gedanken verlieren konnte, wenn sie erst einmal darin festsaß. Wenn es dieses Mal noch so viel schlimmer war als letztes Mal, würde vielleicht selbst ich dabei auf Granit beißen... es blieb abzuwarten. Ich bemühte mich um ein schwaches Lächeln in ihre Richtung, als Aryana mir das Beste wünschte, aber es fiel wahrscheinlich weiterhin reichlich kläglich aus. "Danke.", versuchte ich meine trotz mangelnder Mimik vorhandene Dankbarkeit zumindest wörtlich angemessen zu äußern. Denn ich war ihr wirklich dankbar,ür alles, was sie in den letzten Tagen für mich und auch für Faye getan hatte. Bis zu Aryanas nächstem Besuch sollte sich leider noch einiges ändern, vor allem in meinem Kopf. Ich war kurz nachdem sie sich mit dem Brief von mir verabschiedet hatte tatsächlich eingeschlafen, als ich mich eigentlich nur mal für fünf Minuten auf die Seite hatte drehen wollen. Nach ungefähr einer Stunde weckte mich der erste Alptraum wieder hoch, der unmittelbar an die erst vor kurzem wiedererlangte Erinnerung anschloss. Es ging im Transporter weiter die Straße hinunter bis sowohl Faye, als auch ich zu einer Scheune geschleift wurden. Von den zwei namenlosen, männlichen Gestalten, die uns im Hotelzimmer aufgelesen hatten. Was passierte, nachdem das Scheunentor offen war, war surreal - denn es war der Syrer aus den lehmigen Sandhügeln, der uns begrüßte. Es schien ein Schutzmechanismus meines eigenen Gehirns zu sein, dass ich aufwachte, als er mit einem Messer auf mich zuschritt. Aber bis dahin könnte es wahr sein, oder? Es war schrecklich verwirrend. Caldwell hatte mich schon zu Beginn meiner Behandlung auf der Intensivstation darauf hingewiesen, dass es sein konnte, dass alles an Erinnerung vielleicht sehr zügig zurückkam, wenn der Grundstein dafür erst einmal gelegt worden war. Natürlich hätte es auch anders laufen können, aber mich beschlich schon nach dieser kurzen Episode von Alptraum das Gefühl, dass er damit Recht behalten würde. In den nächsten drei Tagen traf mich dementsprechend quasi ein Paukenschlag nach dem anderen. Meistens ausgelöst durch Alpträume, die überwiegend die Realität widerzuspiegeln schienen. Ich fing aber auch bewusst damit an es zu provozieren, hielt meistens Mitchs Feuerzeug mit der Hand umklammert wenn ich schlafen ging. Wiederholte auch vorher gedanklich, was ich schon wusste. Das kostete mich viel guten Schlaf und vor allem auch viele Nerven. Auch wusste ich nicht, ob das, was ich im Schlaf sah, wirklich alles exakt so stimmte. Ich wusste nur, dass es sich so anfühlte, weil dadurch stückweise alles einen Sinn zu ergeben schien. Als Aryana mich schließlich am fünften Tag besuchte, war ich körperlich schon etwas fitter. Die Prellung im Fuß war langsam aber sicher über den Berg, also konnte ich von jetzt an auch vorsichtig, langsam das zweite Bein mit in die Therapie integrieren. Ich sah wieder klar, was mich wirklich erleichterte. Nur noch zeitweise wurde es mal kurz schwummrig, aber dann reichte in der Regel ein paar mal zu blinzeln oder kurz die Augen zuzumachen aus, um die Sicht wieder aufzuklaren. Sprechen klappte immer besser, was ich hauptsächlich mit mir selbst trainierte. Die Narbe an meinem Hinterkopf sah immer besser aus und die Harre rundherum begannen wieder nachzuwachsen - nur auf dem vernarbten Streifen der Naht würden wohl nie wieder welche wachsen. Die Brandwunde konnte wieder an die frische Luft und es wurde nur noch mehrmals täglich Wundsalbe aufgetragen, um die Narbenbildung so gering wie möglich zu halten. Die beiden kleinen Einstiche am Rücken empfand ich selbst sowieso schon die ganze Zeit dank Schmerzmittel als nicht relevant, aber auch diese Nähte waren quasi perfekt verheilt. Die Blutergüsse im Gesicht klangen weiter ab und waren überwiegend verschwunden. Der Schnitt am Hals blieb ebenfalls brav im Muster und machte keinerlei Probleme. Abgesehen vom sehr unregelmäßigen Schlaf könnte es mir rein körperlich wohl nicht viel besser gehen. Die Psyche... tja, war wieder eine andere Geschichte. Caldwell war längst dahinter gekommen, dass mein verändertes Verhalten mit Erinnerung an das Trauma einherging und er bot mir natürlich umgehend Medikation an, die ich - wie schon in der letzten Therapie - konsequent ablehnte. Ich fühlte mich schon taub, dazu brauchte ich keine Medikamente. Ich versuchte mich beschäftigt zu halten, um nicht stattdessen in den Gedanken an die Folter zu ertrinken und bis zu einem gewissen Grad funktionierte das auch nach Aryanas letztem Besuch vor ihrer Abreise noch relativ gut. Wenn ich keine aktiven Therapiestunden hatte, dann arbeitete ich in meinem Zimmer weiter. Versuchte die Motorik meiner Arme und meines Oberkörpers im Bett weiter zu trainieren oder fokussierte mich auf die Sprache. Wenn das beides am kräftetechnischen Grenzbereich angekommen war, dann versuchte ich mir zu überlegen, wie ich Faye umstimmen konnte. Allein mit guten Gründen würde ich wahrscheinlich nicht weit kommen, denn ich verstand sie jetzt. Ich verstand, warum sie nicht mehr leben wollte. Ich verstand, warum ihr all das zu viel war. Ich wusste zwar noch immer nicht, wie wir beide letzten Endes im Krankenhaus gelandet waren, weil ich nach meinem offensichtlich gekonnt gescheiterten Suizidversuch nichts mehr an weiterer Erinnerung kam, aber ich wusste, dass ich auch nicht mehr gekonnt hatte. Dass auch ich dieses Leben nicht mehr gewollt hatte und ich wusste nicht, ob das jetzt wirklich anders war. Das Problem war jetzt halt nur, dass wir beide noch lebten. Ich wusste wirklich nicht, warum mein Körper sich so krampfhaft an mein beschissenes Leben klammerte und ich versuchte krampfhaft den Gedanken zu unterdrücken, dass ich einfach hätte abkratzen sollen. Versuchte es mir damit auszureden, dass es einfach irgendeinen Sinn haben musste, dass wir beide noch immer atmeten. Im Grunde war auch das wieder nur eine Verlagerung des Problems und ich setzte mich nicht mehr mit all den Gedanken und Erinnerungen auseinander, als ich es unbedingt tun musste, um zu Faye durchdringen zu können. Aber ich würde das nachholen, sobald ich konnte - dieses Mal wirklich. Seit ich aus dem Koma erwacht war, waren inzwischen ganz genau 38 Tage vergangen. Seit zwei Tagen war ich aus der Klinik entlassen. Zuerst hatte meine Mutter - die trotz Anraten meinerseits natürlich nicht nach Hause gefahren war - mich nach Hause gebracht. Dass ich eine völlig umgekrempelte Wohnung wiederfand, tat meinem auf eher wackeligen Stützen stehenden mentalen Schutzpanzer nicht gut. Ich begann unweigerlich zu zittern bei dem Gedanken daran, dass unsere Peiniger hier gewesen waren. Vergoss ungewollt ein paar stumme Tränen, bevor Deborah mir dabei half alles an seinen Platz zurückzustellen. Zugegeben machte meine Mom dabei wohl mehr Arbeit, als ich selbst. Allein deswegen schon, weil ich mich immer wieder hinsetzen musste. Ich konnte nach wie vor nur mit den Krücken gehen, weil meine Beine zeitweise noch schwächelten und sich lieber von meinen schon voll im alten Leben angekommenen Armen unterstützen ließen. Es würde noch einige Tage in Anspruch nehmen, bis ich wieder richtig gehen konnte und die Reha lief weiter. Aber auch, als die Wohnung wieder ziemlich aufgeräumt und sauber war, fühlte ich mich innerhalb der Wände einfach nur schrecklich. Also fuhren wir weiter zu dem Hotel, in dem meine Mutter schon die ganze Zeit über campierte. Ich bestand natürlich auf mein eigenes Zimmer, war aber doch ein Stück weit froh, dass ich nicht vollkommen allein war. Aryana und Mitch waren leider noch unterwegs - hatten zuerst noch wenige Tage Training auf dem Stützpunkt bekommen, aber danach hatten sie abreisen müssen. Debbie hatte meine Sachen schon ein paar Tage vor meiner Abholung am Krankenhaus auf dem Polizeirevier abgeholt - die hatten alles eingesackt, was sie von Faye und mir im Hotel gefunden hatten. Dort nach Hinweisen gesucht, bis wir beide offiziell die Ermittlungen eingestellt haben wollten und die Cops den Dienst in unserem Fall einstellten. Am nächsten Morgen hatten sich meine Nerven schon etwas davon erholt und ich fand am Vormittag erneute Beschäftigung in der Reha. Nach Abschluss der heutigen Therapie organisierte meine Mutter etwas zu essen und setzte mich in der Zwischenzeit an einem Antiquitätengeschäft ab. Es war ein beunruhigendes Gefühl als offenes Ziel alleine das kurze Stück von der Straße bis zur Ladentür ein paar Meter weiter zu gehen, aber im inneren des nicht besonders großen Ladens ging es mir besser. Geschlossene Wände waren gut, auch wenn sie Fensterfronten hatten. Ich ging langsam die paar wenigen Gänge entlang und blieb ein paar Minuten später schließlich in der hintersten Ecke des Ladens stehen, als ich etwas passendes ins Auge gefasst hatte. Es war ein spontaner Versuch gewesen, weil ich mir nicht den Arsch im Auto hatte plattsitzen wollen - gesessen und gelegen hatte ich in letzter Zeit schließlich genug. Ich suchte nach einem Engel. Fand sogar einen, der perfekt passte. Es war eine bronzefarbene, zierliche Frauenfigur, die am Boden saß. Ein Bein ebenerdig angewinkelt, das andere darüber stehend. Sie neigte sich nach vorne, vergrub das Gesicht am angewinkelten Knie und schlang beide Arme darum, während sie die kaputten, dünnen Flügel weit ausstreckte. Jede der stählernen Federn war einzeln fixiert und ein paar davon fehlten - deswegen und weil sie nicht besonders groß war, war die ein paar Jahrzehnte alte Figur auch nicht teuer. Sie war eben auf den ersten Blick alles andere als vollkommen, aber für mich war sie perfekt. Ich bezahlte das kleine Deko-Objekt und die Frau an der Kasse verpackte es mit aller Sorgfalt, damit auch ja nicht noch mehr daran kaputtgehen würde. Sehr ironisch, war es doch ganz genau das, was ich auch indirekt schon seit etlichen Monaten mit Faye machte. Ich deponierte die kleine Tüte im Fußraum, bevor ich auf dem Beifahrersitz den Burger und die Pommes verdrückte. Mir war nicht danach zu essen, aber war ein nötiges Übel. Mein Magen sollte nicht knurren, wenn ich gleich zu Faye ging und außerdem brauchte mein Körper die Energie dringend. Meine Mutter versuchte überflüssigerweise noch einmal mich daran zu hindern aus dem Auto zu steigen, als sie den Wagen auf dem Parkplatz anhielt und ich seufzte nur müde, bevor ich nach der Papiertüte im Fußraum griff und ohne ein weiteres Wort ausstieg. Sie mir ans Auto gelehnt mit den Stoffgriffen an den Gürtel band und danach die Krücken von der Rückbank zog, mir dann über den geschotterten Parkplatz hinweg den Weg zum Eingang bahnte. Allein das knirschende Geräusch des Schotters wollte gleich wieder sämtliche Panik in mir triggern, aber ich schluckte es runter. Hatte mit dem körperlichen Anteil an Anstrengung glücklicherweise eine gute Beschäftigung und lehnte mich drinnen angekommen erst einmal einen Moment lang schwer atmend an den Tresen im Eingangsbereich. Die Dame an der Verwaltung fragte mich sofort, ob alles in Ordnung sei und ich bejahte. Als ich wieder etwas ruhiger atmete folgte ein kurzer Wortwechsel und ich bat darum, Faye zu sehen. Aryana hatte mich wohl bereits erwähnt und demnach war das an sich kein Problem - sofern Faye mich denn auch reinlassen würde. Die Schwester leitete einen der Pfleger dazu an mich dorthin zu begleiten, nur für den Fall dass ich irgendwo auf dem Hinweg zusammenklappen würde. Er übergab mich auf der richtigen Station in die Hände der zuständigen Schwester, die mich die wenigen letzten Meter - nach einer kurzen Pause auf einem Stuhl - bis zu Fayes Zimmer geleitete. Dort schließlich anklopfte und reinging, um meine Anwesenheit zu verkünden. Das Herz schlug mir dabei längst nicht mehr nur wegen der körperlichen Anstrengung bis zum Hals und mir war schlecht. Würde ich das Herz nicht zum Leben brauchen, hätte ich es mir sicherlich schon so einige Male freiwillig aus der Brust gerissen.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Der Abschied von Aryana war wirklich nicht schön gewesen. Vor allem weil sie sich jetzt auch noch Sorgen um ihre Schwester machen konnte und wusste, dass ihre Schwester sich Sorgen um sie machte. Sie hatte sich darum bemüht, sich beim letzten Besuch möglichst zuversichtlich zu geben, indem sie Aryana eben zugesichert hatte, dass sie noch leben würde, wenn sie zurückkehrte. Aber es war schwer zu übersehen gewesen, dass das nach ihrem Auftreten der letzten Wochen irgendwie nicht so glaubwürdig rüberkam und Aryana doch dezent daran zweifelte, dass Faye sich an ein solches Versprechen halten können würde, wenn sich irgendwann irgendwie eine ganz besonders einfache, verlockende Möglichkeit auftat, sich mal eben aus dem Fenster zu stürzen. Das war aber nicht passiert, weshalb sie bei den seltenen Telefonaten, die sie mit Aryana führen konnte, jeweils mehr oder weniger zuversichtlich verkünden konnte, überraschenderweise noch immer zu leben. Falls man ihre Existenz denn leben nennen wollte. Seit sie die Institution gewechselt hatte, kam sie immerhin etwas häufiger raus. Erstens, weil sie zur Physiotherapie ins Krankenhaus durfte - natürlich unter Begleitung, aber immerhin - und zweitens, weil die Psychiatrie einen relativ hübschen Park besass, den sie, ebenfalls unter Begleitung, eigentlich täglich besuchte. Meistens mit Sam, der sich wirklich alle Mühe gab, ihren Gesichtsausdruck von apathisch oder sehr traurig auf einigermassen entspannt zu erhellen. Ein Lächeln, geschweige denn ein Lachen, hatte aber leider auch er nicht aus ihr herauskitzeln können. Wahrscheinlich hatte Faye einfach vergessen, wie sich diese Emotion ausdrückte. Oder sie war zu anstrengend geworden, denn Energie war auch nichts, womit sie glänzen konnte. Das war nicht so erstaunlich, da sie weiterhin fast nichts ass. Wahrscheinlich sah sie wieder genauso beschissen aus wie damals nach Syrien... oder schlimmer. Aber noch hing sie an keiner Magensonde, was man doch gewissermassen als positiv beurteilen konnte, oder? Bei allem was ihr hier aufgezwungen wurde, gehörte das Essen nicht dazu. Jedenfalls noch nicht, was sich aber auch bald ändern konnte, da sie zwei bis drei Mal die Woche auf die Wage stehen durfte und bisher leider kein einziges Mal ein Plus hatte verbuchen können. Also versuchte sie ihr Bestes, um wenigstens die hochkalorische Trinknahrung runterzukriegen und so zu verhindern, einen weiteren Teil ihrer Selbstbestimmung abgeben zu müssen. Die körperlichen Folgen der Folter heilten trotzdem relativ gut. Ihre Schulter war dank der Physiotherapie nicht mehr weit von voll einsatzfähig entfernt, die beiden gebrochenen Finger schonte sie tagsüber noch mit einer Schiene, aber auch hier war sie auf einem guten Weg zur vollumfänglichen Genesung. Die Schnittwunden von ihrem Ohr bis zu ihrem Hals, auf ihren Schultern und ihre ganze linke Seite hinab bis zur Hüfte waren verheilt. Die Narben blieben natürlich sichtbar, aber sie waren nicht viel mehr als schmale, helle Striche auf ihrer Haut, relativ unscheinbar und auf etwas Distanz kaum erkennbar. Nicht schlimmer als das Desaster auf ihrem Rücken. Ihre Handgelenke hatten sich von den Fesseln erholt. Aber die Buchstaben auf ihrer Brust leuchteten noch immer tiefrot. Sie waren lange abgedeckt geblieben, weshalb der Heilungsprozess noch nicht so weit fortgeschritten war. Nicht nur auf ihren eigenen Wunsch hin und um sie von dem Anblick zu schützen, sondern auch, um die Narbenbildung möglichst klein zu halten. Was einfach nur utopisch war - Gil hatte die Spitze des Messers nicht umsonst so oft durch die Haut gerissen. Ein Arzt hatte ihr in Aussicht gestellt, dass es heutzutage wirklich effektive Methoden gab, um Narben zu entfernen oder zumindest sehr stark zu verblassen. Sie sollte sich nicht an diesem Wort aufhängen, hatte er gesagt. Das war ein lustiger Arzt gewesen... Faye bevorzugte weiterhin ein Pflaster, fühlte sich auch nicht fähig, die Narbensalbe selbst einzumassieren, sondern liess das zwei- bis dreimal täglich von der Pflegerin / Sozialarbeiterin ihres Vertrauens tun. Aimee hiess sie, war 34 Jahre alt, Französin und ungewollt kinderlos. Faye wusste nicht genau, weshalb die Schwarzhaarige ihr das erzählte, aber sie hörte ihrer liebevollen Stimme mit dem leichten, angenehmen Akzent gerne zu. Aimee war auch die Einzige, der sie wirklich vertraute. Die Einzige, der sie zwischendurch, wenn ihr mal wieder alles viel zu viel wurde, etwas von dem Preis gab, was sie sonst mit keinem teilte. Wenn die Französin ihr versprach, diese Dinge keinem zu erzählen, dann glaubte Faye ihr das auch - im Gegensatz zu den Versprechen aller anderen Angestellten. Wenn Aimee frei hatte, dann wurde die Narbe nicht eingecremt. Sie hatte es selbst versucht, aber es hatte dreimal in einem Nervenzusammenbruch Stufe 7 oder 8 geendet und dann hatte sie aufgegeben. Alle anderen Narben - inklusive derjenigen an ihrem Handgelenk, die von ihrem erfolglosen Versuch, das Elend frühzeitig zu beenden, zeugte, schmierte sie ziemlich gewissenhaft ein. Es hatte beinahe eine meditative Funktion, das geschundene Gewebe unter ihren Fingerspitzen zu spüren, die neuen Knoten und Verdickungen. Es war das Maximum an Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, das sie momentan verkraftete. Und jedes Mal rutschten ihre Gedanken dabei zu Victor. Weil sie nicht wusste, woran er dachte, wenn er seine Narben betrachtete. Weil sie nicht wusste, ob er sich erinnerte. Ob er schon gehen konnte. Ob er bald vor ihrer Tür stehen würde. Oder ob er gar nicht mehr kam - weil er sich erinnerte. Er hatte eigentlich nichts mit den Narben zu tun - von der auf ihrer Brust wusste er gar nichts, da er nicht bei Bewusstsein gewesen war, als Gil sie erschaffen hatte. Und dass Aryana von ihrem Selbstmordversuch erzählt hatte, hielt Faye ebenfalls für zweifelhaft, weshalb er auch davon keine Kenntnisse haben dürfte. Es gab also eigentlich nicht viele Gründe für ihre Gedanken, ausgerechnet dabei immer wieder zu ihrem Welten entfernten Freund zu wandern. Vermutlich passierte das nur, weil sie sowieso ständig an ihn dachte. Sie hatte keinen Kontakt zu ihm, schon so lange nicht mehr. Und es machte sie nur zusätzlich kaputt, aber gleichzeitig fühlte sie sich nicht fähig, etwas dagegen zu unternehmen. Vielleicht sollte sie für ihn da sein, wenn die ganzen Erinnerungen wiederkamen. Nur doof, dass sie momentan für keinen da sein konnte, weil sie die meiste Zeit vollkommen kraftlos in ihrem Bett lag und schlief oder in die Dunkelheit starrte. Sie schluckte auch brav jede Pille und sprach besser auf die Medikation an. Nahm jede Hilfe an, die sie bekam, um das zwangsweise nötige Atmen bis Victor kam so erträglich wie möglich zu gestalten. Aber es änderte nichts daran, dass ihr Energiepegel ständig rot blinkte. Auch heute, wo sie zur Abwechslung am Tisch sass und nicht im Bett lag, weil Sam ihr vor zwei Tagen einen frischen Strauss Blumen - er hatte ständig Blumen gebracht - auf den Tisch gestellt hatte, den sie nun eingehend betrachtete. Sam war abgereist und seit vorgestern war Chelsea da. Faye fand den Wechsel unendlich anstrengend, auch wenn sie versuchte, Chelsea nichts davon zu zeigen. Es war einfach so, dass sie noch weniger Kraft hatte als vor ein paar Wochen, wo Sam an Aryanas Stelle getreten war. Sie war ständig krank, weil ihr Körper ihren Umgang mit sich selbst nicht wirklich wertschätzte, litt unter zahllosen psychosomatischen Symptomen - allen voran natürlich die Klassiker Bauch- und Kopfschmerzen. Sie weinte auch wieder öfter, obwohl das zwischenzeitlich eigentlich aufgehört hatte. Und wenn sie so weitermachte, war sie sich ziemlich sicher, dass ihr Körper irgendwann einfach aufgab, sich eine Lungenentzündung oder etwas ähnliches holte und den Löffel auch ohne weitere Hilfe ihrerseits abgab. Sie hatte sich gerade auf die schwachen Beine gekämpft, um zum Fenster zu gehen, welches Aimee vor fünfzehn Minuten geöffnet hatte, damit hier mal wieder etwas frische Luft zirkulierte. Eigentlich hätte sie es nach fünf Minuten schliessen sollen. Aber keiner sagte ihr, wann fünf Minuten vorbei waren und die Blumen hatten ziemlich viel Aufmerksamkeit eingefordert, weshalb das nun eben etwas länger gedauert hatte. So viel zum Thema Lungenentzündung. Faye hielt den Griff des Fensters noch in der Hand, als es an der Tür klopfte. Sie drehte den Kopf und liess das Fenster los. Eigentlich hatte sie erwartet, Chelsea wäre da. Oder Aimee wollte sicherstellen, dass sie das mit dem Fenster geschafft hatte. Die Nachricht, die sie stattdessen erreichte, war aber nichts von beidem, viel mehr eine wahre Bombe. Hatte sie noch damit gerechnet? Nicht... nicht wirklich? Jedenfalls nicht heute. Ihr war schwindlig und sie klammerte sich an den warmen Heizkörper unter dem Fenster, obwohl ihre Hände und Beine und ihr ganzer Körper umgehend zu zittern begannen. Aimee trat zu ihr hin und führte sie zurück zum Tisch, wo Faye sich wieder auf den Stuhl sinken liess, um nicht zu kippen. Ihre Fingernägel - das mit Abstand schärfste Objekt, mit welchem sie seit Wochen konfrontiert war - kratzten über ihre Haut, ohne dass sie es merkte. Aimee griff sanft nach ihren Fingern und hielt sie einen Moment fest, versicherte ihr dann, dass sie Victor auch fragen konnte, ob er Morgen wiederkam. Oder übermorgen, je nach dem, wann es für ihn passte und sie sich bereit fühlte. Aber Faye schüttelte umkoordiniert den schmerzenden Kopf. Nein, sie konnte ihn nicht länger warten lassen. Nicht nach Hause schicken, wenn er nur für sie hierher gekommen war. Ihm nicht auch noch das Recht auf dieses Gespräch und Wiedersehen verwehren - nach all der Zeit. Ausserdem sehnte sie sich unendlich nach ihm. Es waren tausend Emotionen, die in ihr aufkochten, aber die Sehnsucht und Liebe waren so viel stärker als ihre Angst, obwohl sie all die Wochen geglaubt hatte, es wäre umgekehrt. "N...nein, er... sag ihm... er kann... gleich... gleich reinkommen... aber... Aimee, seh' ich.. sehr schlimm aus?", es war wahrscheinlich lächerlich, dass sie sich jetzt ernsthaft darum sorgte, scheisse auszusehen. Aber sie musste für ihn nicht noch abstossender wirken als dank der ganzen Geschichte eh schon, oder? Tief drin lag er noch immer begraben, der niemals verstummte Wunsch, ihre Beziehung noch zu kitten und von Victor trotz allem noch akzeptiert, geliebt zu werden. Auch wenn sie das für unmöglich hielt. Aimee lächelte leicht, bedeutete ihr, zu warten, bevor sie zur Tür ging, um Victor mitzuteilen, dass er gleich reinkommen könnte, sich nur bitte kurz fünf bis zehn Minuten gedulden sollte. Dann kam sie wieder ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich und ging zum Schrank. Es dauerte dann doch fast die ganzen zehn Minuten, um Faye in einen frischen Pulli zu hüllen, den unordentlichen Dutt in Windeseile in eine unkomplizierte Flechtfrisur zu verwandeln, mit einem feuchten Lappen zu versuchen, einen Teil der Erschöpfung aus ihrem Gesicht zu waschen, ihr drei Spritzer des Blumenparfüms, welches Sam angeschleppt hatte, anzusprühen und das zerwühlte Bett zu machen. Dann aber ging Aimee nach draussen, bedankte sich für seine Geduld und bedeutete mit einem mehr als erfreuten und einladenden Lächeln, dass Victor jetzt gerne eintreten durfte. Faye sass noch immer an dem Tisch, hatte den nervösen Blick wieder gesenkt, sobald Aimee nicht mehr zu sehen gewesen war. Sie biss auf ihrer Unterlippe herum und kratzte erneut an ihren Fingern, spürte längst, wie ihre Augen sich wieder mit Tränen füllten - noch bevor sie Victor auch nur hörte. Vielleicht war er nur hier, um sich für immer zu verabschieden. Oder um ihr die Narben zu zeigen, die sie zu verschulden hatte. Oder ihr zu sagen, dass sie jetzt gerne springen durfte.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Ich begann unweigerlich gleich daran zu denken, dass Faye meinen Besuch abwies, weil die Pflegerin einige Sekunden lang zur Abfrage ihrer Antwort brauchte. Als sie schließlich wieder in mein Gesicht sah bat sie mich noch ein paar Minuten zu warten, was ich mit einem Nicken und einem unsicheren Lächeln annahm. Wenige Meter entfernt stand eine gepolsterte Sitzbank an der Wand, also schleppte ich mich dorthin und wartete sitzend ab. Zog mir in der Zwischenzeit die Jacke aus, weil ich unter der Aufregung etwas zu schwitzen anfing. Je mehr Minuten ins Land zogen, desto hibbeliger wurde ich. Es war unvermeidbar, dass die Aufregung darüber Faye endlich wiederzusehen leider ebenso von der Befürchtung beschattet war, dass sie wirklich schlimm aussah. Dass sie mich vielleicht immer noch nicht wirklich sehen wollte und mich nur hereinließ, um mich endgültig abzuweisen. Mir zu sagen, dass ich damit aufhören sollte zu hoffen, sie noch ein weiteres Mal zurück auf die Beine zu ziehen. Ein weiteres Mal Schritt für Schritt mit ihr vorwärts zu gehen, bis wir am Ziel angekommen waren... das wir das letzte Mal scheinbar schon verfehlt hatten. Dieses Mal würde ich es besser machen, wenn sie mich ließ. Würde dafür sorgen, dass unsere Beziehung zueinander durch Nichts und Niemanden mehr zu erschüttern war. Ich starrte die ganze Zeit auf meine gefühlt noch weicher gewordenen Knie, bis ich die Tür schließlich erneut aufgehen hörte und die Pflegerin mir lächelnd sagte, dass mir der Weg nun freistand. Es wirkte wirklich so, als würde sie sich ebenfalls darüber freuen, dass ich endlich den Weg hierher gefunden hatte. Ich versuchte das Lächeln zu erwidern, aber das fiel mir unter den erdrückenden Gefühlen und dem davonrasenden Herzen etwas schwer. Ich erhob mich mithilfe der Krücken zurück auf die Beine und atmete noch einmal tief durch, als ich die Krücken korrekt mit den Armen aufnahm und schließlich schräg auf die offene Zimmertür zuging. Die Jacke blieb einfach auf der Bank liegen, die war nicht wichtig. Als ich schließlich in den Rahmen trat und meine Augen auf Fayes trafen, setzte mein Herz zwei Schläge aus. Ich merkte gar nicht, wie ich stehenblieb und sie für einen Moment lang förmlich anstarrte. So als hätte ich nach ihrem letzten Brief und all den immer nur negativ ausfallenden Berichten von Aryana unterbewusst daran gezweifelt, dass sie wirklich noch da war. Dass sie wirklich noch atmete, ihrem Todeswunsch nicht gefolgt war und ich tatsächlich ein Zimmer, statt ein Grab besuchen konnte. "Gehen sie nur, ich mache die Tür zu.", ermutigte Aimee mich einzutreten und riss mich damit aus der Starre. Ich blinzelte zwei Mal und sah über meine Schulter zu ihr hin. "Danke.", zeigte ich mich erkenntlich und warf ihr ein schmales Lächeln zu, bevor ich mich mit einem tonlosen Schlucken dazu ermutigte den Raum endlich zu betreten. Kurz darauf ging auch die Tür schon hinter mir zu. Es war leider grundsätzlich immer sehr viel schwerer, als man sich das vorher vorstellte... aber Faye war diesen schweren Weg ein zweites Mal wert, oder? Sie musste es sein. Es musste noch etwas zu retten geben. Ich hatte sonst nichts, wollte nichts anderes mehr. Ein Leben ohne sie wäre wie das Leben eines untoten Geistes, dessen Seele die Erde längst verlassen hatte. Die Papiertüre mit der verhüllten Figur baumelte während der Schritte immer noch an meinem Gürtel herum und meine unruhig funkelnden Augen lagen längst wieder auf Fayes schmaler gewordenem Gesicht, als ich schließlich unweit des Tisches, nahe der zierlichen Brünette stehenblieb. Nein, sie sah nicht gut aus. Noch weniger gut als ich, aber zumindest darauf hatte ich mich mental etwas vorbereiten können - der Anblick war mir ja leider nicht fremd. Mein Herz war schwer und es tat weh, sie noch einmal so sehen zu müssen. Tat auch weh, weil sie wirklich geglaubt zu haben schien, dass sie mich noch loswerden konnte. Dass sie geglaubt hatte oder noch immer felsenfest glaubte, dass ich sie wegen der Taten anderer Menschen nicht mehr haben wollen würde. Aber wenn es wehtat, dann war auch die Liebe noch da. Nur wie begrüßte man Jemanden, der einem durch geschriebene Worte gesagt hatte, dass er die Beziehung schon am Ende sah? Ich fand dafür keine Worte, brauchte jedoch ganz dringend eine Bestätigung dafür, dass es überhaupt noch Etwas zu retten gab. Also blieb ich weiterhin stehen und lehnte die zweite Krücke an den Tisch, bevor ich die frei gewordene Hand langsam in Fayes Richtung ausstreckte und dabei erneut ihren Blick suchte. Ich nahm dabei bewusst den Arm ohne Brandverletzung. Sie war oberflächlich gut verheilt, aber leider nach wie vor sehr überdeutlich zu sehen. Ich hatte Glück, dass nur ein kleiner Teil nahe des Ellbogens immer direkt in den Kontakt mit der Krücke kam und der Rest trotz dieser Gehhilfe gut heilen konnte. Den Teil, der am oberen Teil der Krücke auflag, schützte ich durch ein gepolstertes Wundpflaster. Gegen einen Rollstuhl hatte ich mich so weit wie möglich ebenso gesträubt, wie gegen die Medikamente - deswegen war ich auch erst jetzt hier, wo ich endlich mehr oder wenig fähig zu gehen war. "Komm... komm her. Bitte...", flüsterte ich schließlich ein paar hauchdünne Worte zu ihr runter, die durch ihren Ton und die parallel dazu etwas glasig werdenden Augen sehr deutlich machten, wie sehr es mich nach all den einsamen Wochen nach ihrer Nähe dürstete. Wie sehr ich sie vermisst hatte und gerade brauchte, mehr noch als gestern. Mehr als vorgestern und all die endlos langen Tage zuvor. Ja, ich hatte meine Einsamkeit selbst gewählt - aber ich hatte auch Niemanden gebraucht. Niemandem außer Faye.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Wurde halt mal wieder Zeit ne... auch wenn ich nicht wirklich zufrieden war mit dem Endprodukt - so nach 2 Stunden akzeptiert mans aber einfach wies ist. x'D Und also ich muss schon sagen, diese Geschichte macht mich echt fertig im Moment… :,) ______
Ihre Augen fanden auch ohne ihre Anweisung den Weg zur Tür. Auch wenn sie Angst hatte vor dem, was sie sehen würde, konnte sie trotzdem nicht wegschauen. Vielleicht hatte sie gar nicht damit gerechnet, dass Victor wirklich hier sein konnte... Aber er war es doch. Er stand da und sie konnte nicht anders, als ihn ebenfalls anzustarren, als wäre er ein altbekannter Geist. Ihr Herz pumpte das Adrenalin in Rekordgeschwindigkeit durch ihre Adern, auch dann noch, als der Rest ihres Körpers bis auf das Zittern wie versteinert innehielt. Auch sie brauchte Aimees Stimme, die Victor dazu ermutigte, noch ein paar Schritte in ihre Richtung zu machen, um ihnen das grösstmögliche Mass an Privatsphäre zuzusichern. Faye blinzelte ein paar Mal, als er sich zu der Pflegerin umdrehte, was ihre Augen automatisch dazu animierte, seinen ganzen Körper zu mustern. Er ging an Krücken. Aber er stand aufrecht in ihrem Zimmer. Seine Schritte wirkten nicht an sich unsicher oder gebrechlich, eher so, als wäre sein Fuss einfach noch nicht ganz geheilt. Sie sah einen Teil der Narbe an seinem Arm. Und die andere Narbe an seinem Hals. Die erste Träne rollte ihre Wange hinab und tropfte auf den dicken Pulli, der alles versteckte, was sie für sich behalten wollte. Naja, zumindest den physischen Teil davon. Was sich in ihrer Seele abspielte, war dank ihren Augen wie immer zu lesen wie ein offenes Buch. Ihre Fingernägel kratzten wieder über ihre Haut, während sie noch nicht im Stande war, auch nur ein einziges Wort über ihre bebenden Lippen zu senden. Ihr Kopf fühlte sich an als würde er gleich explodieren - aber der Druck war trotzdem vergleichsweise geringer als der auf ihrem Herzen. Er blieb stehen, so nah, dass sie ihn schon fast erreicht hätte, wenn sie sich nach ihm ausgestreckt hätte. Und dann hielt er ihr die Hand hin... Einfach so. Auch ihr linkes Auge war definitiv nicht mehr im Stande, das Mass an Tränen zu bremsen, welches über die Dämme schwappte und von da an beidseitig ihre Wangen befeuchtete. Komm her... Er sagte sogar Bitte... Wie? Wie konnte das sein erster Gedanke sein, wenn er diesen Raum betrat? Wenn er sie sah? Wenn er sah, was aus ihr geworden war, aber hauptsächlich auch, wenn er wusste, was sie ihm angetan hatte?? Sie verstand das nicht. In ihrem Kopf gab es nur eine einzige Erklärung dafür, und die wäre ziemlich fatal. Ein leises Schluchzen entsprang ihrer Kehle, sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen und sich gleichzeitig ganz dringend übergeben zu müssen. Faye hob ein weiteres Mal den Blick in seine Augen, aber da war nichts... Nichts, was darauf hindeuten würde, dass er böse auf sie war. Nichts Anklagendes. Keine Schuldzuweisung. Kein Ekel. Nur dieselbe Sehnsucht, die sie gemeinsam mit der Angst mal wieder zu zerreissen drohte. Faye brauchte zwei Anläufe, bis sie sich auf die wackeligen Beine gequält hatte. Ein Teil von ihr, wollte ihm um den Hals fallen. Der andere wollte fliehen. Der dritte aus dem Fenster springen, weil die Schuldgefühle so akut auf sie nieder prasselten, dass sie glaubte, komplett erschlagen zu werden. "V...Victor", das erste Wort, welches sie zu ihm sprach, war sehr leise und heiser sein Name. Voller Schmerz - aber auch voller Liebe. Sie hatte ihn genauso vermisst wie er sie, kein noch so kleines Stück weniger. Aber es war nicht mehr nur Liebe, die sie mit ihm verband. Es war auch so viel Schuld und Schmerz und Scham. Sie machte einen kleinen Schritt auf ihn zu, hob ihre kalte, zitternde, nicht in die Schiene gepackte Hand an, schaffte es aber noch nicht, sie mit seiner zu verbinden, bevor sie erneut in der Bewegung inne hielt. Ihre Augen lagen in den seinen, unfähig wirklich etwas zu erkennen. "Kannst… kannst du dich erinnern?", es klang nach einer unsensiblen, beschissenen Frage, die sie ihm bangend stellte. Statt einem wie gehts dir oder schön, dass du da bist, was beides weitaus angemessener gewesen wäre. Aber wenn er sich nicht erinnern konnte, dann musste sie ihm zuerst erklären, was passiert war - egal, wie wenig sie das wollte, egal, wie wenig ihm das bekommen würde. Denn was sie am allerwenigsten verkraften würden - also beide - wäre, wenn sie sich auf wundersame Art und Weise wiederfanden, nur um dann erneut zu zerbrechen, wenn er eines Tages erkannte, was passiert war. Wenn er merkte was sie getan hatte und was die Folgen davon wirklich gewesen waren.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Ach waaaaas, also mir gefällts. :D Sexy smexy. Ich kann dich beruhigen, geht mir kein bisschen anders... Hab ja beim Schreiben eben mal wieder fast geheult, bin ich ehrlich. v.v x'D _______
Allein der Anblick ihres ersten, wackeligen, zittrigen Aufstehversuchs schwemmte noch ein paar mehr Tränen in meine Augen. Ich hatte zu lange gebraucht, oder? Ich hätte früher hier sein müssen. Vielleicht hätte ich weniger egoistisch sein und mich doch schon im Rollstuhl hier reinschieben lassen sollen, damit Faye nicht so lange ohne mich gewesen wäre... aber dann hätte sie mich noch kaputter gesehen, als ich es jetzt noch war. Hätte sich damit wahrscheinlich nur noch schlechter gefühlt, als sie das jetzt auch noch tat. Ihre Tränen ließen den Druck auf meiner Brust noch erstickender werden und ich spürte, wie sich auch in meinem Hals ein Kloß bildete. Ich wollte wirklich nicht mit ihr um die Wette heulen, ihr nicht noch offensichtlicher zeigen, wie schwer der emotionale Schmerz auf meinem Herzen wog. Wollte ihr das Wiedersehen nicht noch schwerer machen, aber wem machte ich hier eigentlich was vor? Faye streckte zwar ihre Hand nach mir aus, berührte mich aber nicht. Unterstrich diese Geste auch kurz darauf noch damit, dass sie weiterhin darum fürchtete, ich würde mich nur mangels Erinnerung noch in ihre Nähe wagen. Sie hielt es noch immer für möglich, dass ich sie einfach von mir stoßen würde, weil sie Ryatt etwas zu sehr geholfen hatte. Weil sie ihm ihre Telefonnummer gegeben hatte und damit alles ausgelöst hatte. Oder wegen was genau auch immer, es spielte für mich überhaupt keine Rolle. Sie hatte niemals bewusst herbeiführen wollen, dass wir beide ein weiteres Mal so endeten - das wusste ich und das war auch alles, was für mich zählte. Ich ließ die Hand sinken und kniff für einen kurzen Moment die Augen zu. Schluckte gut sichtbar, versuchte dadurch den Druck im Hals und hinter den Augen loszuwerden. Am Ende erreichte ich dadurch aber gar nichts, außer einer sich aus meinem rechten Augenwinkel lösende Träne. Ich wusste nicht, wieso ich geglaubt hatte hier und heute auch nur ansatzweise standhaft bleiben zu können, aber diese Naivität war dämlich. Es hätte selbst in ein paar Wochen noch genauso weh getan, wie es das in diesem Moment tat. Wahrscheinlich selbst Jahre später noch. Ich wusste selbst mit am besten, dass Zeit allein Wunden nicht heilte. Vielleicht hätte ich nicht so mit den Tränen kämpfen müssen, wenn Faye nicht weinen würde. Aber selbst dann wäre der Stich ins Herz genauso schlimm gewesen. "Von allem, was passiert ist, seit sie uns aus dem Hotel gebracht haben... tut das hier mit Abstand am meisten weh.", hauchte ich mit gedrückter Stimme und sah daraufhin zum Boden zwischen unseren Füßen nach unten weg. Sie hatte sich noch nie so fern angefühlt. Nicht einmal nach der Folter in Syrien. Sie hatte mich damals auch auf Distanz gehalten, aber da war nicht dieses Schuldgefühl gewesen, das sie jetzt zwischen uns stellte. Vielleicht sollte ich ihr nicht sagen, wie sehr sie mir allein schon mit diesen paar Worten, dieser einen Frage weh tat. Vielleicht löste das nur noch mehr Schuldgefühle aus, vielleicht stürzte sie das nur noch tiefer. Aber sie musste das wissen. Sie sollte den Schmerz, der sich in meinen dunklen, nassen Augen widerspiegelte, nicht falsch interpretieren. Sollte nicht glauben, dass der Schmerz tatsächlich daher rührte, dass ich sie als die Schuldige ansah. "Dass du glaubst, dass ich nach allem, was wir bis hierhin schon zusammen durchgemacht haben... wirklich so denken könnte... dass ich dich nicht mehr wollen könnte... dass es einen Unterschied macht, ob ich mich erinnere oder nicht..." Meine Stimme war noch immer nicht mehr als ein Flüstern und ich schüttelte schwach den Kopf, machte dabei noch einmal kurz die Augen zu. Aber alles durchatmen half überhaupt nichts, während ich das Gefühl hatte, dass sich der imaginäre Gurt um meinen Brustkorb immer enger schnürte, mir mehr und mehr die Luft zum Reden und Atmen nahm. Ich hob den leicht nach vorne gesunken Kopf wieder an, als sich eine zweite Träne löste und ich mit meinen Augen die ihren suchte. "Ja, ich erinnere mich... an alles, bis zur Bewusstlosigkeit... und ich hasse mich dafür, dass ich dich wirklich damit allein lassen wollte... aber wir sind jetzt immer noch beide hier.", beantwortete ich schließlich schweren Herzens ihre Frage. Ließ auch mein offensichtlich gescheitertes Suizidkommando nicht außen vor. Danach war es auch mit meiner ohnehin nur wackeligen Selbstbeherrschung vorbei. Die Tränen bahnten sich immer stetiger ihren Weg an meinen Wangen hinunter und ich spürte, wie meine Unterlippe zu beben begann. Also presste ich die Lippen aufeinander um das Gezitter zu eliminieren, aber es half nicht. Stattdessen begannen auch die Muskeln in der Oberlippe zu zucken, während mir der Kopf förmlich zu platzen drohte und der Druck im Hals immer schmerzhafter wurde. War es wirklich so viel zu viel verlangt, dass sie mich einfach so bedingungslos mit ihren Armen empfing, wie sie das sonst immer tat?
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