Es ging genau gleich weiter, wie es angefangen hatte. In kompletter Überforderung ihrerseits. Ihr Arm und ihr Körper fühlten sich taub an unter den Schmerzen ihrer Schulter, die alles andere in den Schatten stellten, während sich das Geschehen um sie herum überschlug. Gil riss ihren ausgekugelten Arm so lange in die Höhe, dass sie glaubte, er wollte sie damit endgültig in die Bewusstlosigkeit entsenden. Die schwarzen Ränder in ihrem Blickfeld kündeten fröhlich an, dass es dafür gar nicht mehr so viele Sekunden anhaltender Schmerzen brauchte. Aber entgegen ihrer Erwartungen war nicht sie es, die sich verabschiedete. Zuerst bekam sie nicht mit, dass Victor mit dem Geschehen abgeschlossen hatte und den Kopf gegen das Holz bretterte. Dafür war Gil viel zu fleissig dabei, ihr weh zu tun und ihr auf die Pelle zu rücken und sie war viel zu beschäftigt damit, nie wieder in Victors Richtung zu blicken. Bis sie es eben doch tat. Weil Mateo zu Boden krachte und Gil für einen Moment ihre Haare losliess, sogar seine Hand mit ihrem Arm ein paar Zentimeter tiefer sank. Und Faye konnte wunderbar dabei zuschauen, wie Victor in seiner Verzweiflung kaum noch sprechen konnte, bevor seine Augen zufielen und sein Körper einfach nach vorne kippte. Und keiner hielt ihn auf, während er zu Boden rutschte, in den Seilen hängend halb sitzen, halb liegen blieb. Sein Kopf hing vornüber und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis ihm in dieser Position das Blut in den Rachen lief und er einfach jämmerlich erstickte. Aber das durfte er nicht. Vielleicht hatte er das mit Absicht getan, wahrscheinlich wollte er - genau wie sie - einfach sterben. Aber sie konnte nicht zulassen, dass er hier wegen ihr drauf ging, konnte nicht zulassen, dass er überhaupt starb. Weil sie ihn niemals loslassen könnte, jetzt, wo der Moment gekommen war. Nach den ersten, schrecklichen Schocksekunden, in denen sich keiner wirklich gerührt hatte, war es schliesslich die Brünette selbst, die als erstes wieder in Bewegung kam. Und zwar indem sie mühselig versuchte, wieder auf die Füsse zu kommen und sich an dem Pfahl, der ihr zum Dank weitere zähe Splitter in die Arme und den nackten Rücken setzte, nach oben kämpfte. Gil schleuderte ihre Handgelenke mit einem wütenden Knurren von sich und starrte zu seinem Bruder und seiner Schwester. "Macht ihn los, verdammt, du hast versprochen, dass heute keiner stirbt!", Faye erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, so heiser und panisch wie sie klang. Aber das war egal, - alles war vollkommen egal, wenn Victor tatsächlich starb. Sie riss kopflos an den Fesseln, wenn auch nur mit einem Arm, weil der andere nicht mehr funktionierte. Ihre nackten Füsse traten gegen den Pfosten und gegen Gil, den sie aber nicht erreichte, weil er hinter ihr stand und nichts tat. Bis er eben nicht mehr hinter ihr stand, sondern sehr dicht direkt vor ihr, womit er zugleich auch ihre Beinfreiheit wieder ausreichend einschränkte, dass sie ihn nicht treten konnte. Sie sah im Augenwinkel, wie Mateo endlich ein Messer an Victors Fesseln setzte, da hatte Gil schon wieder ihren Hals gepackt, drückte diesmal aber zu um ihr die Luft zumindest teilweise abzuschnüren und ihr missmutig in die roten, tränenverschmierten Augen zu starren. "Du hast eindeutig zu viel Glück im Leben, Faye. Summer. Cooper. Dabei hast du keinen einzigen Teil davon verdient und das weisst du ganz genau", zischte er ihr eisig entgegen, da tauchte die Klinge des Messers schon wieder neben ihrem Gesicht auf. Sie hatte keine Zeit ihm zuzuhören, war viel zu angestrengt dabei zu versuchen, Mateos Bewegungen zu beurteilen. Versuchte zu prüfen, ob er Victor richtig auf den Boden legte, nachdem die Fesseln endlich ab waren. So, dass er eben nicht erstickte. Aber Gil war gut darin, ihr die Sicht durch seinen breiten Oberkörper zu verbieten, als er sich ein Bisschen nach links verschob. Seine Hand hatte sich wieder von ihrem Hals verflüchtigt, was sie automatisch nach Luft ringen liess. Und er griff wieder nach ihrer Brust, diesmal aber richtig fest, sodass sich die Haut darüber spannte wie die Leinwand, auf der er zu zeichnen plante. Es war ein einziges Wort, welches er quer über ihre linke Brust ritzte. Aber er bemühte sich darum, die Buchstaben möglichst fett zu gestalten und die Spitze des Messers mehrmals quer durch die Linien zu reissen, damit keine Zweifel darin entstehen konnten, dass die Narbe gut leserlich und für jeden sichtbar da stehen blieb. Für immer, bis sie starb. MINE. Und selbst wenn er sie nicht haben konnte, würde dieser Teil immer ihm gehören. Aber Faye schrie nicht mehr. Sagte nichts mehr. Nur ein paar zähe Tränen tropften von ihrem Kinn auf die frische Wunde. Vermischten sich auch heute mit dem Blut, um dann ein paar frische Spuren auf ihrer nackten Haut zu malen. Spielte keine Rolle mehr. War ja nicht wirklich ihre Haut. Nicht wirklich ihr Körper. Nicht wirklich ihre Entscheidung. "Irgendwann, kleine Schlampe... Irgendwann hast auch du kein Glück mehr", Gil raunte ihr die Worte so leise, dass keiner ausser ihr es hören konnte, zu, nachdem er sein Werk begutachtet und sich wieder aufgerichtet hatte. Sein Körper schmiegte sich ein weiteres Mal viel zu dicht an ihren, sodass sie alles spüren konnte, was sich unter seinem Shirt und seiner Hose versteckte. Von den Muskeln bis zu seiner Erregung und es war absolut ekelhaft. Aber auch das war egal. Denn bis Gil sein Versprechen einlösen und sie ihr anscheinendes Glück ausgereizt haben konnte, wäre sie längst nicht mehr unter den Lebenden. Tanzte irgendwo in der Ewigkeit über ein paar weiche Wolken - ganz ohne Malereien und ohne Schmerz und ohne Angst und ohne Verzweiflung. Das, oder sie lag in einem dunklen Grab und da war einfach gar nichts mehr. Was noch immer besser wäre als das hier, da gab sie Victor absolut recht. Und beinahe beneidete sie ihn um seine Bewusstlosigkeit, die möglicherweise im Tod münden würde, wenn er sich irgendwelche Hirnschäden zugezogen hatte oder die drei Geschwister beschlossen, ihn einfach sich selbst zu überlassen.
Vielleicht war das eine ganz dumme Idee gewesen, ihre Brüder einfach machen zu lassen. Sie hatte gewusst, dass die beiden ebenfalls wütend waren, hatte das ja im Vorfeld auch schon angekündet. Aber mit wütend hatte sie eigentlich nicht das gemeint. Sie hatte nicht daran geglaubt, dass Gil so weit gehen würde, dass nichtmal sie sich mehr wirklich sicher war, ob er hier tatsächlich gleich sein bestes Stück herausholte, um die panische Brünette gegen den Pfahl zu nageln. Eigentlich war sie schwer davon ausgegangen, dass er keine Vergewaltigung in ihrer Anwesenheit plante. Erstens, weil man dazu doch keine Zuschauer brauchte (oder?) und zweitens, weil sie noch immer seine Schwester war. Sie brauchte keine Bilder in ihrem Kopf davon, wie ihr Bruder eine kleine heulende Schlampe fickte. Echt nicht. Das war widerlich und zugleich verstörend und bestialisch. Victor schien da die gleiche Meinung zu vertreten, denn er beschloss kurzum, sich einfach selber ins Aus zu diktieren. Riley schloss kurz die Augen, als Mateo allen Ernstes zu Boden ging und sie fasste sich an die Stirn. Änderte aber nichts daran, dass der massige Kerl ebenfalls der Schwerkraft folgte - offensichtlich nicht mehr ansprechbar langsam zusammenklappte. Tja. Ciao Victor, danke für die Vorstellung. Sie betrachtete die zusammengefaltete, geschundene Gestalt einen Augenblick andächtig, als sich auch schon seine kleine Freundin zu Wort meldete, nachdem sie unter schon beim Zuschauen schmerzhafter Anstrengung zurück auf die Füsse gekommen war. Das wiederum liess Riley die Augen verdrehen, bevor sie Mateo, der sie abwartend anblickte, auch schon mit einer energischen Handbewegung signalisierte, Victor endlich loszumachen. “Du weisst selber, dass du ihn nicht töten kannst, Mateo. Also sorg verdammt nochmal dafür, dass er am Leben bleibt", knurrte sie ihm entgegen, woraufhin er in Begleitung seiner blutenden Nase und einer ganzen Menge leiser spanischer Flüche dazu überging, Victor vom Pfahl zu lösen und ihn in einer mehr oder weniger akkuraten Seitenlage zu stabilisieren. Das dauerte seine Zeit und offenbar lang genug, um Gil noch ein Bisschen spielen zu lassen. Aber als Riley sah, dass er scheinbar auch dann noch nicht genug hatte, nachdem er wieder ein Stückchen Picasso raushängen durfte, zogen sich ihre Augenbrauen nochmal etwas tiefer zusammen. "Es reicht jetzt Gil", wies sie ihn kühl darauf hin, dass er das, was er gerne vorgezeigt hätte, wohl vergessen musste. Gil verdrehte im Folgenden die Augen, wich aber keinen Millimeter zurück, während sein Blick zu Victor rutschte. Mateo hatte den Verletzten liegen gelassen, um erstmal eine Flasche Wasser zu besorgen. Ein Eimer wäre besser gewesen, aber die Scheune verfügte leider nicht über den Luxus eines Wasseranschlusses und so war die Flasche alles, was er auf die Schnelle organisiert kriegte. Dank der kühlen Aussentemperatur war der Inhalt aber immerhin schön erfrischend und würde seinen Zweck sicherlich auch irgendwie erfüllen, als er den Schwall Wasser ohne Umschweife über Victors Gesicht kippte. Und als dieser nicht sofort die Augen aufmachte, folgte eine unsanfte - aber netterweise auch nicht allzu grobe - Ohrfeige. Er musste schon wach sein, wenn sie ihn gleich mit seiner unnötigen Freundin gemeinsam aussetzten. Sonst müssten sie ihn ja aus der Scheune tragen und das war vollkommen ausgeschlossen weil zu anstrengend. Wenn er die Freiheit wollte, von der weder er noch Faye bisher irgendwas ahnten, musste er dafür schon wach werden. Sie konnten die beiden ja schlecht hier, am Ort des Geschehens, liegen lassen. Die Scheune sollte immerhin anonym bleiben und keiner würde sie je finden, wenn sie Victor und Faye erstmal im Dunkeln weit genug von ihr weg führten. Und das war genau der Plan, sobald sich der nette Herr mal wieder zurückmeldete. Denn scheinbar waren ihre Kelche voll und die Grenzen des Ertragbaren erreicht. Sie durften nicht weiter spielen, wenn sie riskierten, dass einer oder beide von ihnen dann einfach verreckten - dem hatte der gute Vater erfolgreich einen Riegel vorgeschoben.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Zugegeben - ich hatte nur wenig an mögliche Folgen gedacht. Nicht wirklich darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn die Geschwister mich nicht einfach verrecken ließen. Das mochte daran liegen, dass ich es nicht in Erwägung gezogen hatte, dass ich nicht so oder so sterben würde. Halt nur heute statt erst morgen... oder übermorgen... oder noch später, nachdem Gil sich weiß Gott wie oft an Faye vergangen hatte. Das Ziel war gewesen das Licht in Eigenregie für immer auszuknipsen und nicht ein paar Minuten später wieder aufzuwachen. Nicht noch länger in die Gesichter der Bestien sehen zu müssen, als ich das ohnehin schon hatte tun müssen. Faye nicht noch länger leiden sehen zu müssen... doch das schien mir nicht vergönnt zu sein. Vielleicht hatte ich den Kopf nicht hart genug gegen den Pfahl gedonnert. Vielleicht zu wenig Schwung gehabt, als meine Stirn mit Mateos Nase kollidiert war. Es spielte auch nicht wirklich eine Rolle, woran mein Vorhaben genau gescheitert war. Fest stand, dass ich so viel Glück nicht haben sollte und mit einem tiefen, röchelnden Atemzug die flackernden Lider erneut öffnete. Allerdings kniff ich die Augen kurz darauf während einem schwachen Husten wieder zusammen. Ich hörte nichts anderes als einen dumpfen, gleichbleibenden Ton und mir explodierte gefühlt der Kopf. Außerdem sah ich alles doppelt, also lieber einfach nicht hinschauen und Augen wieder zumachen in der Hoffnung, dass ich erneut in die Dunkelheit abdriften würde. Ein leidendes Wimmern kroch meine Kehle nach oben, als Jemand nach meinem Kinn griff und mich mit dem schwachen hin- und herwiegen meines Kopfes dazu bewegen wollte, die Augen wieder aufzumachen. Mateo, wie ich zu erkennen glaubte, als ich die Lider widerwillig anhob. Er versuchte mit mir zu reden, aber er verstärkte damit nur den gleichbleibenden Ton in meinen Ohren und ich verstand kein Wort. Konnte nicht einmal versuchen von seinen Lippen zu lesen, weil ich die nicht klar sah. Das gedoppelte Bild machte mir das unmöglich und ich schaffte ohnehin nicht einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Mateo ließ mein Gesicht los und mein Kopf sank haltlos zurück in seine Ausgangsposition. Dass im Hintergrund erneut Worte gewechselt wurden bekam ich wieder nur durch die in meinen Ohren ansteigende Frequenz mit und es dauerte daraufhin nicht lang, bis ich neuen Schmerz am unverletzten Unterarm spürte und ihn instinktiv wegzog. Da sich der Schmerz allerdings schnell wieder verdünnisierte, konnte es sich dabei um kaum mehr als ein festes Kneifen gehandelt haben. Ich machte die Augen zu, bis ich schließlich Hände an meinen Schultern spürte. Der nächste ausgedehnte, schmerzverzerrte Laut kroch über meine leicht geöffneten Lippen, als ich beidseitig vom Boden hochgezogen wurde und sich gefühlt alles drehte. Meine nackten Füßen streiften weiterhin frontal den Boden, als ich mich in einer augenscheinlich relativ aufrechten Position befand und mir ins rechte Ohr gebrüllt wurde. Um was es dabei auch immer ging, ich verstand es nicht. Ich drehte den Kopf nur zur anderen Seite weg, damit mir der Gehörgang nicht gesprengt wurde. Dann ging es vorwärts, was ich erkannte, als ich die Augen wieder aufmachte. Es war wohl mehr Macht der Gewohnheit als bewusstes Handeln, dass ich Gil und Mateo so gut ich konnte mit sehr unbeholfenen Schritten dabei half, mich aus der Scheune zu kriegen. Vermehrt mit dem linken Fuß, weil der rechte doch nach wie vor sehr wehtat. Wahrscheinlich war ich keine besonders effektive Hilfe, während ich mit den Armen über ihren Schultern hing. Den Kopf ließ ich auch wieder nach vorne sinken, weil es fürchterlich anstrengend war ihn oben zu halten. Wenn ich sowieso nicht effektiv sehen konnte, konnte ich genauso gut die halb geschlossenen Augen auf den Boden vor meinen Füßen kleben. Das hatte zwar zur Folge, dass ein paar der Blutstropfen seitlich an meinem Kopf runter und damit wieder in meinen Mund liefen, aber das eisenhaltige Zeug auszuspucken bekam ich noch grade so beiläufig auf die Reihe. War wohl auch einer dieser Selbsterhaltungstriebe des Menschen, der zu viel Blut im Magen - oder gar in der Lunge - schlichtweg nicht vertrug. Ich verstand nicht, wieso wir die Scheune offenbar verließen. Hätte es vielleicht noch nachvollziehen können, wenn sie mich dort endgültig umgebracht und danach dann irgendwo entsorgt hätten, wo mich im Idealfall Niemand fand. Es sähe diesen Arschlöchern aber auch ähnlich meinen Leidensweg bis dahin noch in die Länge zu ziehen und mich das Ganze mehr oder weniger bewusst erleben zu lassen. Aber sei's drum - solange ich mich ihren Psychospielchen nicht länger hingeben musste, würde ich die Zeit schon noch rumkriegen. Faye sah ich nirgends, aber ich war auch viel zu kaputt, um mich noch eigenständig nach ihr umzusehen. War vielleicht ohnehin besser so.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Für einmal hatten wohl auch sie und ihre Brüder ein Bisschen Glück bei dem ganzen Theater, denn Victor begann tatsächlich nochmal zu röcheln und dann zu husten. Er hatte also den Löffel noch nicht endgültig abgegeben und dafür war sie ihm schon ein Bisschen dankbar. Wie gesagt - ihr Vater hatte nie festgelegt, in welchem Zustand ihre Besucher entlassen werden mussten, also passte das schon. Es dauerte nicht lange, bis Mateo feststellte, dass er Victor nicht von selbst zurück auf die Füsse kriegte. Was wohl bedeutete, dass Gil sich von seinem Spielzeug verabschieden musste, um ihm stattdessen unter die Arme zu greifen. Gemeinsam bekamen sie das auch irgendwie hin, obwohl ihr Ballast ziemlich schwer sein dürfte. Sie zerrten Victor nach draussen und so war Riley schliesslich allein mit Faye, die halbnackt an dem Pfahl hing und auf den Boden starrte. Dahin, wo ihre Tränen und ihr Blut tropften. Riley liess sich ein paar Sekunden Zeit, um die mittlerweile dezent teilnahmslose Brünette stumm zu mustern. Sie hatte die leisen Gewissensbisse nicht hereingebeten, die sich längst hartnäckig in ihr Bewusstsein geschlichen hatten. Aber sie waren eben doch da und stellten ihr unweigerlich die Frage, ob sie das so beabsichtigt hatte. Sie hatte Faye einen Denkzettel verpassen und sie eigentlich auch umbringen wollen. Dafür, dass sie ihr ihren Bruder gestohlen hatte. Aber vielleicht war das zu viel gewesen. Vielleicht hatte ihr Vater Recht und für einmal nicht Sean, nicht Mateo, nicht Gil. Vielleicht war Sean selber Schuld und es war nicht fair, Faye und mit ihr auch Victor die letzten Stunden angetan zu haben. Vielleicht kamen solche Gedanken jetzt aber auch einfach zu spät und sie brauchte sich gar keinen Kopf mehr zu machen. So wie sich augenscheinlich auch ihre Brüder keinen Kopf machten. Riley seufzte schwer, ihr Gesicht wirkte für einen Moment komplett leer, mitgenommen und müde. Spielte ja keine Rolle, solange keiner sie sah. Ausser vielleicht Faye, aber die war sowieso woanders, hob ja nichtmal den Kopf als Riley auf sie zuging. Und sie war immer noch halbnackt, was definitiv nicht mehr sein sollte. Sie hatte genug gesehen von ihrem Bruder, war besser, wenn er nicht nochmal auf dämliche Ideen kam. So drehte sie sich nochmal um, ging raschen Schrittes zu einer der hinteren Ecken der Scheune. Sie hatte keine Decke oder gar Ersatzkleidung für Faye. Und sie würde ihr ganz bestimmt auch nichts von sich abgeben, nur für den Fall, dass das mit dem den-Cops-nicht-sagen nicht klappte. Aber da hinten hing ein ehemals weisses, dickes Tuch, mit dem wohl früher irgendwelche Maschinen abgedeckt worden waren. Als hier drin noch Maschinen gestanden hatten. Riley holte das Tuch hervor, schnitt es bei Faye angekommen in der Hälfte durch, bevor sie einen Teil kurz kräftig durchschüttelte, um wenigstens den gröbsten Staub loszuwerden. Dann wandte sie sich mit den leisen Worten "Halt einfach still, okay?", an Faye, von der aber auch darauf keine Reaktion folgte. Riley schnitt die Fesseln durch und zog Faye an dem Arm, der nicht gleich wie ein Fremdkörper nach unten abfiel, zu sich heran. Sie war nicht besonders behutsam oder liebevoll, als sie den nackten Oberkörper der Brünetten unter dem Stoff verbarg, aber das brauchte sie jetzt auch wirklich nicht mehr zu sein. Der Schaden war angerichtet und die junge Frau sowieso schon kaputt. Wahrscheinlich wäre sie sogar ohne zu meckern nackt nach draussen spaziert und hätte sich nichtmal die Mühe gemacht, einen Arm vor ihre Brüste zu heben, weil sie schlicht so wirkte, als wäre ihr mittlerweile alles vollkommen gleichgültig. Riley griff erneut nach Fayes Arm, zog sie an ihrer Seite aus der Scheune hinaus in die dunkle Nacht. Sie löschte das Licht und schloss die Schlösser vorsorglich ab - nicht dass sich noch einer hierher verirrte, bevor sie die Spuren beseitigt hatten. Dann beförderte sie Faye zu Victor hinten in den Transporter und warf die Tür wortlos zu. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, die junge Frau festzubinden, wo sollte sie auch hin? Der Wagen war abgeschlossen und sie gleich darauf damit unterwegs auf die Hauptstrasse zurück. Da Mateo zu beschäftigt mit seiner noch immer blutenden Nase war und sie Gil lieber gar nichts mehr machen liess, war es auch Riley, die hinter dem Steuer sass, während der Mercedes möglicherweise etwas zu schnell die Strasse runter bretterte. Sie konnten sie nicht in der Stadt absetzen, weil die Chance viel zu gross war, dass irgendjemand sie dabei beobachtete. Sie konnten sie auch nicht mitten auf den Highway pflanzen, weil auch hier zu viel Verkehr und damit das Risiko, gesehen zu werden, zu gross war. Unweit der Stadt war ein kleiner Wald. Es war derselbe Wald, in dem auch das Hotel lag, von welchem sie ihre Passagiere abgeholt hatten - nur die andere Seite davon. Riley lenkte den Wagen vom Highway runter auf die Nebenstrasse, die nach wenigen Metern zwischen den Bäumen verschwand. Sie fuhr nicht weit in den Wald hinein, weil ihr schon klar war, dass das letztendlich noch immer einem Todesurteil gleichkam, wenn ihre beiden Freunde die Kraft nicht mehr fanden, sich von hier wieder nach draussen zu retten. Nur weit genug, um ungesehen halten und die Fracht loswerden zu können. Genau dazu setzte sie auch an, als sie am Rand der Schotterstrasse hielt und die Handbremse zog, sich kurzum vom Sitz schwang, um in Begleitung ihrer Brüder nach hinten zu gehen und die Tür zum Laderaum zu öffnen. Vielleicht war Victor ja schon wieder bewusstlos, war ziemlich gut möglich. Vielleicht auch beide. Das wäre aber etwas suboptimal.
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Ich war heilfroh darum, dass ich bald wieder auf der Seite liegen konnte und sich der Druck in meinem Kopf dadurch etwas regulierte. Auch wenn ich nicht besonders sanft abgelegt worden war, was vielleicht bis zu einem gewissen Grad auch unmöglich war bei meinem Gewicht. Zumindest für zwei pseudomäßig gut durchtrainierte Kriminelle, die sich allgemein ein bisschen dumm anstellten. Der Boden war hart und ich konnte in der Dunkelheit draußen nicht wirklich erkennen, wo genau ich war. Tastete deshalb mit den Fingern in Zeitlupe den Boden ab, der wahrscheinlich zu dem Transporter gehörte, in dem wir schon vor der Eskapade gesessen hatten. Wo es wohl dieses Mal hinging? Hoffentlich dauerte die Fahrt nicht lange. Denn schon kurz nach dem Anfahren stieg mir vermehrt der Geruch von Blut und Angstschweiß in die Nase. Für den Moment hätte ich von mir aus gerne auch noch den Geruchssinn verlieren können. Zumindest so lange, bis das kleine bisschen, das von Fayes Eigengeruch noch an ihr übrig geblieben war, mir ebenfalls um die Nase wehte. Ich wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, dass sie diese wahrscheinlich letzte Reise mit mir gemeinsam antrat. Wusste auch nicht, ob sie Gil trotz meines Fast-Suizid-Kommandos zum Opfer gefallen war, weil ich keine Ahnung davon hatte, wie lange ich bewusstlos gewesen war. Und man für eine Vergewaltigung wahrscheinlich auch gar nicht lang brauchte, wenn man es nur genug drauf anlegte. Aber ich wusste zumindest, dass ich diesen Geruch immer gerne in meiner Nähe gehabt hatte, also suchte ich mit geschlossenen Augen und der unverletzten Hand nach ihrer. Hätte sie wahrscheinlich nie gefunden, hätte Faye meine verzweifelte Suche nicht bemerkt und ebenfalls ihre Finger ausgestreckt. Ab da war alles schon irgendwie in Ordnung, auch wenn mir der Fahrtlärm in den Ohren lag und mein ganzer Körper ein einziger, riesiger Haufen Schmerz zu sein schien. Hauptsache noch ein letztes Mal über ihren Handrücken streicheln und damit signalisieren, dass ich an diesem Punkt einfach in Frieden mit alledem abschloss. Das war schließlich der einzige Gefallen, den ich mir an dieser Stelle noch tun konnte. Meine Finger lockerten sich mit den auf der Straße davonrinnenden Minuten immer mehr und ich hielt Fayes Finger kaum noch fest, als das Fahrzeug erneut anhielt. Freute mich eigentlich schon darauf zurück ins Nichts zu gleiten, als die Heckklappe aufging und es scheinbar erneut Zeit wurde auf die Beine zu kommen. Oder eben so ähnlich, weil Gehen bei mir schlichtweg nicht mehr im Bereich des Möglichen lag. Es lag also wieder an Mateo und Gil mich von der Ladefläche zu zerren und stattdessen ein paar Meter weiter draußen abzulegen. Ich machte die Augen eigentlich nur auf, um zu merken, dass ich nach wie vor nicht gut sah und es bleiben lassen konnte. Dass ich wieder mehr oder weniger stabil auf der Seite lag trug aber dazu bei, dass mir der Geruch des Waldbodens in die Nase stieg und ich die trockenen Blätter spürte. Für einen Moment war es fast still, als sie Faye ebenfalls abgesetzt hatten. Vielleicht weil die Geschwister sich nicht einig damit waren, wer nun das letzte Wort haben sollte. Es würde wahrscheinlich Riley sein, die dann ein paar letzte Sätze sprach. Aber das Geräusch in meinen Ohren wurde langsam wieder etwas leiser, was mir wohl signalisieren sollte, dass die nächsten bewusstlosen Minuten nicht mehr weit entfernt lagen. Die auf dem Schotter davonrauschenden Reifen reizten mir das Trommelfell kurz darauf noch einmal ordentlich, aber danach war es angenehm still. Noch nicht ganz bewusstlos-still, aber sicherlich nah dran und das war mir nur recht. Ich war müde und der stellenweise moosige Waldboden gar nicht mal so unbequem.
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Sie hatte keine Ahnung, warum sie nochmal ins Auto gesetzt wurden. Verstand nicht wo diese Reise hingehen sollte und auch nicht, warum Riley ihr das Tuch um die Schultern gelegt hatte. Natürlich hielt sie es trotzdem mit den schmerzenden Fingern des noch mehr oder weniger intakten Armes an Ort und Stelle, aber sie könnte auch nackt hier sitzen und würde sich nicht schlimmer fühlen. An diesem Punkt spielte irgendwie sowieso alles keine Rolle mehr. Es war nicht so, als würde einer von ihnen noch sowas wie Würde halten, aber das war ja glücklicherweise gar nicht mehr nötig auf dieser Reise in den Tod. Die hatten sie längst abgegeben und es interessierte keinen mehr, ob sie nun aufrecht und mit gestrafften Schultern in diesem Transporter sass oder kraftlos den Boden küsste. Ihre Augen starrten leer und teilnahmslos auf den Boden vor ihren Füssen, beobachteten einen winzigen Kieselstein, der bei jeder Unebenheit der Strasse einen Hüpfer in eine willkürliche Richtung machte. Sie bemerkte Victors suchende Finger zuerst gar nicht und als sie sie dann wahrnahm, dauerte es nochmal einen langen Moment, bis sie sich dazu überwinden konnte, das Tuch loszulassen, um dafür ihre Finger mit seinen zu verbinden. Vielleicht hatten die Schmerzen und die Bewusstlosigkeit ja dazu geführt, dass er vergessen hatte, was vorhin passiert war. Und vielleicht war es ihm auch einfach egal, weil sie sowieso sterben würden und sie bis dahin auch getrost noch so tun konnten, als hätte niemand sie so irreversibel und grausam auseinandergerissen. Sie schloss die Augen und liess die zarte Berührung wirken, obwohl sie sie eigentlich hatte vermeiden wollen. Trotzdem war da ein winziger, unzerstörbarer Funke in ihrer Brust - an der Stelle, wo zuvor ihr Herz geschlagen hatte. Ein kleines Bisschen Wärme, das nur ihr und Victor gehörte. Sie hatte eigentlich nicht mehr dran geglaubt, dass das Flämmchen noch brennen konnte.. Aber scheinbar tat es das doch. Und das war irgendwie ein schöner, beruhigender Gedanke, so kurz vor dem Ende. Nur dass es scheinbar nicht das Ende war. Jedenfalls nicht, wenn es nach den Köpfen derer ging, die nach gar nicht langer Zeit das Auto erneut auf eine Schotterstrasse lenkten, dort stoppten und gleich darauf die Hecktür aufrissen. Das Tuch war in der Zwischenzeit von Fayes Schultern gerutscht, aber sie hatte es kaum bemerkt. Sie streckte sich auch nicht danach aus, als Gil sie unsanft aus dem Transporter zog, liess einfach geschehen, dass sie so wieder praktisch nackt auf dem steinigen Untergrund platziert wurde. Es blieb also erneut an Riley hängen, das Stück Stoff genervt aus dem Auto zu fischen und Fayes ausgelaugten Körper ein zweites Mal darunter zu verstecken, während ihre Brüder sich mit Victor abmühten. Schliesslich war der am Wegrand abgelegt und bevor Fayes Kopf so weit gekommen wäre, sich zu fragen, warum zur Hölle sie hier einfach rausgeworfen wurden, stand Riley wieder direkt vor ihr. Faye hob den Kopf nicht an, um sie anzusehen, reagierte allgemein gar nicht auf ihre Präsenz sondern blickte weiter apathisch zur Seite weg. Aber damit war Riley wiederum nicht einverstanden, griff nach ihrem Kinn, um sich ihre Aufmerksamkeit zu sichern. Nur dass Faye sowas wie Aufmerksamkeit eigentlich gar nicht mehr besass und noch immer nicht wirklich in die richtige Richtung blickte. "Faye! Hör mir zu, verdammt", Rileys Stimme klang wütend, wenn auch nicht mehr auf die gleiche Art wie zuvor. Und als Worte keine Wirkung zeigten, legte sie ihre Hände an Fayes Schultern, um sie leicht zu schütteln. Das wiederum liess die müde Brünette umgehend nach Luft schnappen, was Riley sofort die Hände zurückziehen liess, als ihr bewusst wurde, dass die Schulter wohl nicht von selbst geheilt war und noch immer dezent weh tun dürfte. Immerhin lag der gebrochene Blick aus den aufgeschreckten Augen der jungen Frau nun auf ihr und Riley setzte erneut zum Sprechen an. "Wir fahren jetzt weg. Und du gehst nachher zum Highway, verstanden? Dort hältst du das nächste Auto an und bittest um Hilfe, damit ihr ins Krankenhaus kommt", ihre Hände legten sich rechts und links an Fayes Gesicht, während sich ihr Blick eindringlich in ihre Augen bohrte. "Und ihr sagt keinem, was passiert ist. Denn wenn ihr ein zweites Mal einem von uns auf den Schlips tretet, wird keiner mehr da sein, um Gnade walten zu lassen. Also: Keine Aussage, kein Wiedersehen, verstanden??", es war wohl irgendeinem Automatismus zu verdanken, dass Faye nickte. "Kein Wort, Faye. Und er auch nicht. Sonst passiert alles nochmal. Aber in länger... schmerzhafter... grausamer... und definitiv tödlicher", Faye nickte wieder und Riley liess sie nach einem kurzen Zögern, dem aber keine weiteren Worte folgten, los, drehte sich um und ging zum Auto. Mateo folgte und Gils dreckige Hand legte sich an ihre Wange, strich hauchzart über die geschlossene Wunde an ihrer Schläfe und von dort ihren Hals hinab bis zu ihrer Schulter. "Machs gut, kleine Schlampe. Ich freue mich schon auf unsere nächste Begegnung... und falls dus schon vorher mal nötig hast - du weisst, wo du mich findest", raunte er ihr nur für ihre Ohren bestimmt zu, leckte sich mit der Zunge über die weissen Zähne, bevor er ihre Schulter absichtlich drückte und ihr Keuchen mit einem Lachen beantwortete. Und erst als Riley sich nochmal umdrehte, um ihn wütend anzufunkeln, liess auch er final von ihr ab, stieg ins Auto und verschwand. Faye war längst wieder in die Taubheit abgedriftet, während sie dem Rücklicht hinterher blickte und einfach stehen blieb. Erst mehr als eine ganze Minute später wanderten ihre Augen zu Victor und sie liess sich daneben auf den Boden sinken. Sie streckte die Finger aus, zog sie nochmal zurück, weil sie nicht wusste, ob sie ihn wirklich berühren sollte. Aber dann tat sie es doch, weil ihr Gehirn angefangen hatte, ganz rational über ihre Situation nachzudenken - jegliche Gefühle und Emotionen einfach wegzusperren und weiterhin taub zu bleiben. Sie wusste nicht recht, wo sein Gesicht überall Wunden aufwies und das Mondlicht war zu schwach, als dass sie es wirklich sehen könnte. So strichen ihre Finger fast ohne ihn zu berühren von seiner Stirn nach hinten über seine Haare, immer wieder. "Victor...", flüsterte sie, hoffte, dass er sie noch hörte, weil sie unbedingt eine Antwort brauchte. "Victor, soll ich... soll ich Hilfe holen? Oder... ist es besser...", wenn wir hier einfach gemeinsam sterben, hätte der Satz geendet. Aber sie sprach ihn nicht aus, weil es sowieso das einzig logische Ende für ihre angefangene Aussage war. Es gab nur zwei Optionen. Hilfe holen oder sterben. Sie würde an den Verletzungen, die sie momentan hatte, nicht sterben. Aber dem konnte sie ganz gut nachhelfen und sie hätte auch kein Problem damit, es hier und jetzt zu tun. Sich mit einem spitzen Ast irgendwie die Hauptschlagader aufzureissen. Denn Faye wusste wirklich nicht, was besser wäre. Weil sie sich sehr gut ausmalen konnte, was folgte, wenn sie ins Krankenhaus kamen. Und sie wusste nicht, ob sie das nochmal schaffte. Ob sie mit der Schuld leben konnte, die ihr die Seele zerquetschen würde, wenn die Taubheit irgendwann von ihr wich. Alles, was sie wusste, war, dass sie nicht Hilfe holte, bloss weil Riley ihr das befohlen hatte.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Wenn ich mich nur möglichst wenig bewegte - also am besten gar nicht, was mir aktuell nicht sonderlich schwer fiel - dann spürte ich auch verhältnismäßig wenig von dem Schmerz. Natürlich ließen sich die Kopfschmerzen davon nicht beeinflussen, aber zumindest all die äußerlichen, offenen Wunden wurden so nicht mehr unnötig gereizt. Ob mein Kopf noch blutete? Um ehrlich zu sein konnte ich das nicht einschätzen. Die Haare an meinem Hinterkopf und Nacken waren allesamt feucht, da ließ es sich ohne hinzufassen schwer beurteilen, ob noch immer irgendwas tropfte. War mir im Grunde aber auch ziemlich egal, es änderte ja nichts. Hätte mein Ableben maximal ein wenig beschleunigt... und eigentlich rechnete ich unterbewusst wohl noch immer damit, dass gleich der finale Schlag auf den Kopf mit einem Baseballschläger erfolgte. Oder irgendeine andere Form der Hinrichtung. Tatsächlich aber blieb es eine verhältnismäßig lange Zeit ziemlich still, als der Transporter davongerauscht war und wäre mein Hirn dazu fähig gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich gefragt, warum das so war. Diese Grenze war jedoch überschritten und so wartete ich eigentlich nur darauf, dass mein Hirn wieder in den Notlauf-Zustand fuhr. Alle unnötigen Funktionen abschaltete und mich schlafen ließ, bis es zum Aufwachen dann zu spät war. Es kam dementsprechend unerwartet, dass ich plötzlich einen schwachen Luftzug und letztlich ein paar Finger an meiner Stirn spürte. Auch in den Haaren. Es dauerte ein paar Sekunden - schließlich glaubte ich jedoch zu wissen, dass es Faye sein musste. Ganz einfach deshalb, weil sie mich nicht zum ersten Mal streichelte. Sie hatte das öfter Mal gemacht, wenn ich meinen Kopf am Abend für ein paar Minuten auf ihren Schoß gebettet hatte, weil mein Tag anstrengend oder nervtötend gewesen war. Die eine oder andere kleine Streicheleinheit konnte da Wunder wirken und die Nerven besänftigen. Aber wieso tat sie das jetzt? Geradliniges Denken war mir bei dem dröhnenden Schädel fast unmöglich, aber es war schon komisch. Wieso saß sie jetzt überhaupt bei mir? Und was versuchte sie mir ein paar Sekunden später zu sagen, während die dumpfen Klänge unter ihrer Stimme wieder stärker wurden? War das mein Name? Und warum durfte sie überhaupt mit mir reden? ... Ach nein, die waren ja weggefahren. Moment... die Geschwister waren weg? Ich lag hier nur mit Faye irgendwo im Wald rum? In dem Moment, in dem es Klick in meinem gerade sehr langsamen Gehirn machte, zuckten die Muskeln in meinem Gesicht. Das tat dank der Schläge vorhin ziemlich weh, also verzog ich das Gesicht im Anschluss daran nochmal deutlich stärker. Daraufhin regte ich mich erneut ein paar Sekunden lang gar nicht, bis ich schließlich den oberen, angewinkelten Arm unter meinem Kinn hervorzog. Mühselig, langsam und von angestrengten Atemzügen begleitet. Als der verbrannte Unterarm fast ganz ausgestreckt war, winkelte ich bis auf den Zeigefinger langsam alle Finger an und versuchte unter schmerzlichem Aufstöhnen in die Richtung zu zeigen, in die der Transporter gefahren war. Oder zumindest glaubte ich, dass es diese Richtung gewesen war. Das Geräusch hatte sich nur extrem unpräzise orten lassen. "G... Geh.", womöglich sprach ich so undeutlich unter dem schweren Atemzug, dass sie das gar nicht verstand. Der ausgestreckte Finger war sicher effektiver gewesen, aber ich wollte nicht, dass Faye hier sitzen blieb. Jedoch nicht wegen mir selbst. Ich rechnete um ehrlich zu sein nicht wirklich damit, in meinem desolaten Zustand überhaupt noch die Kurve kriegen zu können, obwohl ich es besser hätte wissen müssen, so oft wie ich schon im Krankenhaus gelegen und als Soldat die bestmögliche Versorgung und Technik erhalten hatte. Mir ging es dabei aber um die zierliche Brünette, nicht um mich selbst. Sie sollte zumindest noch eine Chance kriegen, auch wenn sie die wahrscheinlich ebenso wenig wie ich zu diesem Zeitpunkt noch wollte. Ich wäre wohl der letzte, der ihr Vorwürfe dafür gemacht hätte, sterben zu wollen... aber da war noch Aryana. Sicher, sie hatte Mitch - der war eben nur nicht ihre Schwester und außerdem grade kaum eine Hilfe. Ich hegte den letzten, winzigen kleinen Funken Hoffnung, dass der ehemaligen Sergeant meine bessere Hälfte noch bekehren konnte. Und wenn nicht, dann hatte ich zumindest die eine letzte Aufgabe, Faye nochmal lebend zurückzubringen, nicht auch noch verkackt. Sie sollte um Himmels Willen also bitte aufhören mich mit ihren schmalen, behutsamen Fingern sanft in den ewigen Schlaf zu wiegen und stattdessen das Weite in Richtung Zivilisation suchen.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Es dauerte eine ganze Weile und Faye zweifelte schon ziemlich stark daran, von Victor noch Hilfe bei dieser Entscheidung zu bekommen, als er sich auf einmal doch noch regte. Sehr langsam und angestrengt streckte er den Arm und schliesslich den Finger aus, was ihr, von einem undeutlichen Wort begleitet, wohl klarmachen sollte, was er von ihrem Wunsch, hier zu sterben, hielt. Nämlich nicht viel. Faye schloss für drei Sekunden die Augen, konnte innerlich nicht leugnen, es sich anders gewünscht zu haben. Aber wenn er ihr sagte, dass sie Hilfe holen sollte, dann musste sie das tun. Dann musste sie Rileys Anweisungen folgen und zum Highway gehen. Mit fremden Menschen sprechen. Und hoffen, dass die Rettung nicht zu spät kam. "Bleib am Leben", flüsterte sie Victor zu, als ihre Finger ein letztes Mal seine Haare streiften. Dann kämpfte sie sich auf die Beine, machte sich daran, die beschwerlichen Meter zurück zur Strasse zu stolpern. Ihre Füsse taten weh und die Steine machten das nicht besser, aber sie spürte es kaum. Der Schmerz war dumpf, wie alles andere auch. Am liebsten hätte sie Rileys beschissenes Tuch in irgendeine Ecke gepfeffert, damit sie die kalte Nachtluft auf ihrer nackten Haut spüren konnte, anstatt den weissen Stoff mit roten Flecken zu besudeln, jedes Mal wenn er eine frische Wunde touchierte. Natürlich war es kalt. Aber das war doch egal. Genauso egal wie es wäre, wenn jeder Mensch auf dieser Strasse sie nackt sehen konnte. Was spielte das noch für eine Rolle nach allem, was passiert war... Aber sie hielt das Tuch mit zwei Fingern an Ort und Stelle, während sie den kurzen Weg im Laufe einer Ewigkeit zurücklegte. Bei der Strasse angekommen, wusste sie auch nicht wirklich, was sie überhaupt tun sollte. Es war immerhin Nacht und so viele Autos waren auch hier nicht unterwegs. Und wenn eines kam, was machte sie dann? Winken oder lieber vor die Motorhaube springen und einen schnellen Tod sterben? Sie konnte gar nicht winken, wenn sie das Tuch festhielt, haha. Wie scheisse. Faye versuchte, das offene Ende behelfsmässig mit dem Rest des Stoffes zu verknoten und dann wartete sie. Nicht lange, aber es reichte aus, um sich noch ein paarmal mehr zu überlegen, ob sie nicht entgegen Victors Bitte einfach umdrehen sollte. Aber dann waren da Lichter. Und sie hob den Arm und winkte, auch wenn die Spannung die lange Wunde an ihrer Seite noch weiter aufriss. Und das Auto stoppte und ein Mann sprang heraus, ohne den Motor abzuschalten. Was irgendeinen verwirrten Rezeptor in ihrem Gehirn dazu animierte, sie sofort wieder zwei Schritte zurückweichen zu lassen. "Ich... ich... brauche Hilfe... Wir müssen... ins Krankenhaus... Mein... Freund... stirbt sonst...", wahrscheinlich war es gut, dass Riley ihr nochmal eingetrichtert hatte, was sie sagen musste. Sonst hätte sie diese paar halben Sätze wohl noch weniger über die Lippen gebracht. Der Mann war sichtlich aufgebracht und verwirrt, fragte sofort nach, wovon sie sprach und wo ihr Freund sei aber Faye blickte nur durch ihn hindurch und deutete dann wieder hinter sich auf den Waldweg, den sie langsam rückwärts in Victors Richtung schritt. Es war wohl am Ende pures Glück, dass der Mann ihr folgte, bevor die Polizei, die er natürlich umgehend alarmiert hatte, vor Ort war. Er redete laufend über sein Handy mit der Einsatzzentrale, während er ihr mit dem Auto das kurze Stück in den Wald folgte. Und als er Victor erblickte und dessen Zustand weiterleitete, dauerte es keine zehn Minuten mehr, bis auf dem Feld auf der anderen Strassenseite ein Helikopter landete. Die Rettungskräfte packten den jungen Mann auf die Trage und brachten ihn weg und Faye wurde in einen Krankenwagen verfrachtet und kaum steckte eine Infusionsnadel in ihrem Arm, verabschiedete sich auch ihr Bewusstsein endlich. Dann war es endlich still, endlich friedlich, es spielte endlich alles keine Rolle mehr. Sie hatte getan, was sie hatte tun können, um zu retten, was sie zerstört hatte. Der Schlaf war ruhig und traumlos, die pure Erleichterung nach den letzten Stunden. Und als sie wieder aufwachte, war sie längst im Krankenhaus. Dumm nur, dass die Ärztin neben ihr unbedingt wissen wollte, was passiert war. Denn Faye schüttelte nur schwach den Kopf, gefolgt von einem tonlosen, kratzigen "Nichts." Die Ärztin versuchte ihr klar zu machen, dass die Spurensicherung nur dann etwas nutzen konnte, wenn die Spuren noch frisch waren. Aber Fayes Kopf wiegte erneut nach links und rechts, denn sie wollte keine Spurensicherung. Aber die Ärztin blieb hartnäckig. Bis Faye sie mühsam darauf hinwies, dass jede der kunstvollen Schnittwunden für den Rest ihres Lebens in einer Narbe enden würde und dass ihre Schulter und ihr Finger auch so sehr wohl ärztlich dokumentiert würden. Woraufhin wiederum sie darüber aufgeklärt wurde, dass nie von diesen Spuren die Rede gewesen war. Aber wenn ein Sexualdelikt vorlag, könne dies nur so eindeutig nachgewiesen werden, womit sie sich die Situation von Aussage gegen Aussage vor dem Richter ersparen könnte. Doch auch darauf schüttelte Faye nur stumm den Kopf, ehe ihr Blick wieder abschweifte und sich irgendwo an der Decke verlor. Sie schlief noch einmal, während endlich irgendwer ihre Schulter wieder einrenkte. Auch von der OP ihres Fingergelenkes bekam sie nichts mit. Ganz allgemein hatte sie keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als sie in ein sauberes Krankenhaushemd gehüllt in einem weissen Bett wieder aufwachte. Sie war noch alleine in dem Zimmer, dessen blendend weisse Wände ihre Netzhaut reizten. Draussen war es hell, also musste mindestens der nächste Tag angebrochen sein. Und ihr erster Gedanke war Victor. Weil sie ihn nicht mehr gesehen hatte, seit er zum Helikopter gebracht worden war. Ein Teil ihres kaputten Selbst war schon fast dabei, die Klingel zu pressen, um die Forderung stellen zu können, ihn sofort zu sehen. Aber es brauchte nicht mehr als die Zeit, die sie benötigte, um überhaupt ihre Finger in die Richtung des Knopfes zu bewegen, damit sie sich wieder erinnerte. Und umgehend die Hand zurückzog. Das war eine schlechte Idee. Auch wenn sie trotzdem wissen musste, ob er in einem stabilen Zustand war... Aber das war er wohl nicht, sonst hätten sie ihn doch sowieso ohne zu fragen zu ihr gebracht, nicht? Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, klopfte es auch schon an der Tür.
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Ich hörte Faye wieder reden, dann nur noch ihre Schritte. Stille und Dunkelheit, bis der Schmerz schließlich erneut versiegte. Ich war dankbar um das Aussetzen meines Bewusstseins. Hatte mich zu diesem Zeitpunkt mental längst darauf vorbereitet in den Zug Richtung Tod gestiegen zu sein. Vielleicht fiel mir das so leicht, weil ich eigentlich schon ganze zwei Mal hätte sterben sollen. Alle guten Dinge sollten Drei bleiben, diesmal würde mich das Ticket endgültig ans Ende befördern. So jedenfalls in der Theorie, die meinem Wunsch folgte. Ein paar Tage lang, nachdem ich bewusstlos vom Waldboden aufgelesen worden war, standen meine Chancen darum auch noch relativ gut. Ich hatte damals in den syrischen Hügeln zwar sicherlich deutlich mehr Blut verloren und bis auf die Verbrennung schweren zweiten Grades waren meine Verletzungen äußerlich nicht allzu schlimm - der Fuß war nicht mal gebrochen, nur durch den Stiefelabsatz sehr unschön geprellt - aber mein Kopf machte Probleme. Die Platzwunde an sich war leicht geflickt, der Schädelknochen hatte auch keine Fraktur und eine Hirnblutung konnte ebenfalls ausgeschlossen werden, aber durch den mehrfachen Aufprall schwoll mein Gehirn im Bereich des Hinterkopfs deutlich an, wie mir die Bilder des MRTs irgendwann später noch zeigen sollten. Es dauerte mehr als Vierundzwanzig Stunden, bis die Medikamente das Ödem zu lindern begannen. Da sich der Zustand nur langsam besserte, versetzte der leitende Arzt mich für drei Tage ins künstliche Koma, das ich damit ebenfalls ein zweites Mal von meiner Liste mit Nah-Tod-Erfahrungen streichen konnte. Dass Faye Niemandem von den Geschehnissen erzählte, bestätigte ihn nur zusätzlich in diesem Handeln - ich könnte mich an schlimmste Szenarien erinnern, wenn ich aufwachte und eine Panikattacke oder Ähnliches hätte meinem Gehirn mit Pech noch den Rest gegeben. Außerdem war es sicher auch in Anbetracht all der anderen Wunden das beste, wenn mein Körper und mein Kopf sich auf nichts anderes als die Heilung konzentrieren mussten. Wie es mir dann danach ging und ob sich beim Aufwachen ein doch weitreichenderer Schaden am Gehirn herausstellte, war dabei ja erstmal egal - Hauptsache ich kratzte nicht ab. Meine Eltern und auch meine Schwester sahen das ähnlich, als sie im Krankenhaus eintrafen und sich für die kommenden Tage erstmal ein Hotel in der Stadt nahmen. Eigentlich war viel Trubel und der erneute sorgengetränkte Blick meiner Angehörigen in etwa das Letzte, das ich brauchen konnte, wenn ich erst einmal aufgewacht war, aber da hatte ich während des Komas leider kein Mitspracherecht. Als ich dann langsam zurück ins Reich der Lebenden driftete, fühlte ich erstmal eine Menge gar nichts - starkem Schmerzmittel und wahrscheinlich noch anhaltendem Muskelrelaxan sei Dank. Meine selbstständige Atmung stellte sich gleich mit als erstes wieder ein, aber der Beatmungsschlauch sollte noch eine Weile an Ort und Stelle bleiben. Erst ein paar Stunden später ersetzten sie den Schlauch im Mund durch nasale Beatmung, weil ich konsequent weiter durchatmete, das ganze aber noch etwas zu schwach, um die Beatmung ganz sein zu lassen. Dann drängten sich bald die Geräusche der Geräte nahe meines Betts in den Vordergrund, aber auch das passierte noch mehr unterbewusst. Denn es sollte noch weitere zwölf Stunden dauern, bis mein Körper sich dazu bereit fühlte mir das aktive Bewusstsein zurückzugeben. Das äußerte sich durch einen etwas tieferen Atemzug und ein verunsichertes Blinzeln, woraufhin ich wiederum bald in das Gesicht des achtunddreißigjährigen Arztes sah. Er schob sich nur vorsichtig mit seinem weißen Kittel und einem Lächeln in mein noch verschwommenes Sichtfeld. Führte bereits erste objektive Tests an mir durch, während ich noch dabei war zu begreifen, was gerade passierte. Das erste, was mir einfiel, war dass ich nicht mehr am Leben sein sollte. Das zweite war, dass ich nicht mehr wusste, wieso das so war. Ich bekam aber nicht viel Zeit um darüber nachzudenken, weil der Kittelträger bald meine aktive Aufmerksamkeit haben wollte und nicht nur den orientierungslosen Blick auf dem Klemmbrett, das er vor sich hielt. Er stellte mir ein paar einfache Ja-oder-Nein-Fragen, die ich mit der Hand beantworten sollte, um den Kopf möglichst wenig bewegen zu müssen. Es fiel mir noch sehr schwer seinen Worten zu folgen und dementsprechend darauf zu reagieren. Eine Schwester kümmerte sich nebenbei um den Infusionsbeutel, als er dann mit den motorischen Tests begann, die noch nüchtern ausfielen. Ich wusste schon, was er von mir wollte, aber ich konnte mich nur schwer bewegen. Die Fingerbewegung zuvor hatte mir schon viel abverlangt, da konnte er das Durchstrecken der Zehen erstmal noch getrost vergessen. Auf Geräusche und Schmerz reagierte ich normal, aber meine Augen hinkten noch immer hinterher. Ich konnte dem Kugelschreiber in seiner Hand schon folgen, die noch unklare Sicht und helle Lichtpunkte, die sporadisch auftauchten, machten das jedoch sehr anstrengend. Das ließ sich relativ einfach dadurch erklären, dass das Sehzentrum hinten im Gehirn lag und es würde sich wahrscheinlich ebenso wie meine noch mangelnden Bewegungen in den nächsten Tagen wieder bessern. Sprechen stand als nächstes auf Der Liste und ich bekam nur kaum verständliche Wortfetzen zusammen gestammelt, aber das war in meiner Verfassung wohl ebenfalls vorübergehend normal. Auch die offensichtlich vorhandene Amnesie würde sich wahrscheinlich mindestens teilweise wieder in Luft auflösen, wenn mein Gehirn sich weiter von den Schlägen erholt hatte. Und es war genau das, was mich in diesem Moment am meisten plagte. Dass ich nicht mehr wusste, wieso ich in diesem Bett lag. Den Rest hatte ich - bis auf die Sehstörung - schon einmal durch, das beunruhigte mich also im ersten Moment nicht wirklich, weil sich viele meiner derzeitigen Probleme sehr wahrscheinlich in Luft auflösen würde. Hatten sie ja letztes Mal mit anschließender Bewegungstherapie auch getan und da hatte ich wegen der massiven Rückenverletzungen sehr lange erstmal fast nichts tun müssen. Aber was war passiert? War Faye auch hier - weil sie auf mich wartete, oder weil sie auch verletzt war? Das letzte, woran ich mich klar erinnern konnte, war der Auszug aus unserer Wohnung nach ihrem Zusammenstoß mit Sean, die Fahrt zum Hotel... und ich wusste nicht ob ich mir wünschen sollte für immer in Unwissenheit zu schwelgen, oder mich wieder an das zu erinnern, was mein Gehirn vorübergehend aus dem Datensatz gestrichen hatte. Ich konnte den Arzt aber auch nicht fragen, weil ich den Satz nicht mal halb vollständig ausgesprochen bekam. Also sagte er ich solle erstmal noch tief durchatmen und mich am besten um gar nichts sorgen, um mein noch etwas fragiles Hirn nicht zu überlasten. Das sagte sich leicht, wenn man nicht derjenige war, dem die Erinnerungen fehlten. Er sagte mir auch, dass meine Eltern bereits hier waren und deutete auf das Fenster zum Flur. Ich nahm aufgrund des verschwommenen Bildes in meinem Augenwinkel einfach mal an, dass die beiden umschlungenen Gestalten meine Eltern waren, weil meine Mutter sehr wahrscheinlich schon seit Stunden heulte und auf mein Lebenszeichen wartete. Auch schon zum dritten Mal. Jedenfalls erlaubte er ihnen und auch Hazel erst ein paar Stunden später am Abend, mich für wenige Minuten zu besuchen... und es war wahnsinnig anstrengend für mich, auch wenn ich mir davon nicht viel anmerken ließ. Es war ja wirklich schön, dass sie sich darüber freuten, dass ich noch lebte und natürlich war ich froh sie zu haben, aber ich war noch immer der festen Überzeugung, dass ich hätte tot sein sollen. Erst am nächsten Tag nach einer weiteren Mütze voll Schlaf bekam ich es dann auf Biegen und Brechen hin der Krankenschwester die Frage nach Faye mit einem einzigen Wort sehr unleserlich auf ein Stück Papier zu schreiben. Sie wirkte nicht so, als würde sie mir diese Frage beantworten wollen, tat es nach einigen schweigsamen Sekunden aber dennoch. Ja, sie war hier. Sie war verletzt, aber das war nicht lebensbedrohlich. Sie war jedoch inzwischen in die psychiatrische Abteilung verlegt worden, weil noch kein Platz in einer nahen, richtigen Psychiatrie frei war und man sie nicht entlassen konnte, wegen... Gründen, die sie mir nicht nannte. Natürlich wollte ich Faye sehen oder zumindest sprechen. Ersteres konnte ich selbst aber nicht bewerkstelligen und zweiteres noch weniger, weil ich ja fast nichts an Worten hinbekam. Mit anrufen war also auch nicht. Meine Mutter und auch mein Vater verneinten bei ihrem nächsten Besuch, ihr etwas von mir auszurichten. Der Arzt hatte ihnen wohl gesagt, dass der Kontakt erstmal noch vermieden werden sollte, eben die gleiche Scheiße wie beim letzten Mal - nur jetzt noch so endlos viel dramatischer wegen meiner Hirnprellung, weil ich mich nicht aufregen sollte und bla, bla, bla. Nur konnte ich mich dieses Mal deutlich schlechter dagegen auflehnen, weshalb es letztendlich an meiner jüngeren Schwester Hazel hängenblieb, die mich am Nachmittag allein besuchte. Sie rang mit sich und wir diskutierten ein paar Minuten lang übers Papier, wobei ich jedes Mal beim Kritzeln die Augen zusammenkneifen musste, um besser zu sehen. Kurze Distanzen fielen mir aber insgesamt deutlich leichter als größere. 'Das ist keine gute Idee, Vicky.' Ich weiß. 'Und wenns dir nur wehtut?' Nichts Neues. 'Aber Liebe sollte nicht weh tun.' Daraufhin warf ich ihr einen Blick zu, mit dem ich sie fragte, ob diese Feststellung jetzt ihr Ernst war und ob sie darauf wirklich eine Antwort von mir brauchte. Sie stöhnte genervt und warf die Hände in den Kopf, nickte später dann aber. Machte sich erstmal aus dem Staub, um herauszufinden wo genau Faye residierte und um mit ihr zu reden. Ihr zu sagen, dass es mir den Umständen entsprechend ganz okay ging. Herauszufinden, wie es ihr wiederum wirklich ging und ob sie in naher Zukunft irgendwann zumindest mal kurz herkommen konnte. Oder ob sie wenigstens Aryana zu mir schicken konnte, wenn sie schon selber nicht herkam. Ich gab Hazel schräg, wackelig und krumm geschriebene Ein-Wort-Stichpunkte mit, damit sie auch nichts vergaß. An Tag 5, 16.37 Uhr..? Falls ich die Uhr an der Wand gegenüber denn auch korrekt las. Ich sollte mir nicht zu große Hoffnungen machen, oder? Aber es wäre zumindest ein Anfang zu wissen, ob mir die Schwester Lügenmärchen erzählt hatte.
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Eigentlich hatte im Grunde keiner ihr sagen wollen, wie es Victor ging. Das Problem war nur, dass sie sich, je weniger Antworten sie bekam, umso mehr Sorgen machte. Dass sie umso mehr darauf drängte, Informationen zu bekommen, die ihr keiner geben wollte, weil sie wohl fürchteten, sie damit kaputt zu machen. Aber die wussten ja auch nicht, dass da nichts mehr kaputt gehen konnte. Sie brauchten sich keine Sorgen zu machen, Riley und ihre Brüder hatten ganze Arbeit geleistet. Ihr wurde gesagt, dass Victor noch lebte. Aber das war irgendwie gleichbleibend zu Er ist praktisch tot. Und je mehr Stunden und letztendlich Tage dieser vermeintliche Zustand anhielt, umso mehr zweifelte sie an der Wahrheit der immer gleichen Aussagen. Was eine denkbar schlechte Kombination mit dem Pulverfass in ihrem Kopf darstellte. Die Messer, die sie zu den Mahlzeiten, welche sie grundsätzlich nie berührte, aufgetischt bekam, waren eigentlich nicht dafür geeignet, präzise Schnitte durchzuführen. Aber die Pulsader begann auch zu spritzen, wenn der Schnitt nicht schön war. Und es hätte beinahe gereicht. Fast wäre die Tür zu spät aufgegangen. Fast wäre sie endlich und für immer eingeschlafen. Fast wäre sie dem unaushaltbaren Schmerz entkommen und hätte endlich den Frieden gefunden, von dem sie sich sicher war, ihn auf dieser Erde nie wieder spüren zu können. Aber eben nur fast. Denn Faye hatte dank den ganzen betäubenden Medikamenten vergessen, dass ihr heute Morgen jemand mitgeteilt hatte, dass der Stationsarzt Aryana angerufen und über ihren Aufenthaltsort informiert hatte. Es passte wunderbar zu dem Bild, welches sich in ihrem Leben abzeichnete, auf dem sie scheinbar die Menschen, die sie am meisten liebte, irgendwann ganz oder zumindest teilweise irreversibel kaputt machte, dass ausgerechnet ihre Schwester die Tür aufschob und panisch ihren Namen schrie. Gleich darauf ihre Hand auf die Wunde presste und um Hilfe rief. Und es passte auch ganz gut zu dem Glück, welches sie ständig verfolgte, dass die Hilfe sofort kam und die Blutung tatsächlich gestoppt wurde. So erfolgreich war also Tag drei gelaufen - und jetzt war sie natürlich eingesperrt. Die Medikamente sorgten ziemlich bald dafür, dass sie wieder in der Taubheit versank und nunmehr gar nichts mehr fühlte. Sie spürte weder die Schmerzen ihrer körperlichen Wunden noch das Stechen der Scherben ihres Herzens oder die Angst um den Mann, der ihr alles bedeutet hatte. Sie spürte nichts, wenn sie in den Spiegel schaute, nicht einmal dann, wenn sie den Verband entfernte, um die langsam verheilenden roten Striche auf ihrer Brust zu betrachten. Sie konnte in einer emotionslosen Tonlage quittieren, dass die Heilung gut voran schritt, ohne dabei zu weinen, erinnerte sich nicht einmal an das Gefühl, das in dem Moment so präsent gewesen war, als Gil das Messer durch ihre Haut gezogen hatte. Alles war betäubt und als Aryana das nächste Mal vorbeikam, konnte sie sich ganz ruhig mit Faye unterhalten. Sie fragte natürlich, was passiert sei. Aber Fayes etwas teilnahmsloser Blick rutschte nur zur Seite ab, als sie langsam den Kopf hin und her wiegte. Nichts. Da war einfach nichts passiert. Und Aryana durfte auch gar nicht fragen - schon gar nicht ein zweites Mal. Und das tat sie auch nicht, was Faye mit einem seichten Lächeln quittierte, das ihre Augen aber absolut unberührt liess. So verliess ihre Schwester den Raum auch wieder, als die Besucherzeit abgelaufen war und ihre Augen blickten besorgter zurück als je zuvor. So aufgewühlt, dass sogar Fayes totes Herz einen dumpfen Stich vernahm. Aber er tat nicht weh, hier tat gar nichts mehr weh. Genau wie gar nichts mehr Freude machte. Ausser vielleicht die Neuigkeit, die ihr am Abend des vierten Tages - also ihres ersten Tages zurück hinter vergitterten Fenstern - von einem Arzt persönlich überbracht wurde. Er teilte ihr mit, dass Victor aufgewacht sei. Und für einen kurzen Moment war da ein unendlich erleichtertes Lächeln auf ihrem Gesicht und Tränen in ihren Augen, obwohl sie nie gewusst hatte, dass er überhaupt schlief, beziehungsweise im Koma lag. Sie bedankte sich aufrichtig dafür, dass er es ihr gesagt hatte und nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie klar kam, war er wieder weg. Und das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand. Er hatte im Koma gelegen. Das machte man nicht einfach so. Warum hatte er im Koma gelegen? Und der Arzt hatte nur gesagt, dass er aufgewacht war. Was, wenn er bleibende Schäden davontrug? Wenn er jetzt nicht mehr Sehen konnte, nicht mehr Sprechen konnte, wenn er behindert war, wenn er sich nicht mehr an sie erinnerte? Das wäre vielleicht das beste. Denn dann konnte sie von einer Klippe springen, sobald sie hier wieder raus war und keiner mehr so akribisch auf sie aufpasste. Was im Übrigen auch der Grund war, weshalb sie jetzt nicht sofort damit begann, ihren Kopf gegen die Wand zu brettern, bis er wieder so taub war wie zuvor. Oder tot. Denn würde sie das tun, würde sie nur wieder ruhig gestellt und in das Zimmer mit den Matratzenwänden gesperrt werden, bis sie damit aufhörte. Und dann dauerte es noch viel länger, bis sie wieder raus kam, als es das eh schon tun würde, weil sie sich den Arm aufgeschnitten hatte. So weinte sie nur stumm vor sich hin. Bis es nicht mehr so stumm war und jemand ihre Schluchzer hörte und sich zu ihr gesellte, damit sie alles sagte, was sie belastete. Und es war schwer, das nicht zu tun, wenn ihr Kopf trotz all den Medikamenten so laut wurde, dass sie glaubte, sehr bald unter dem Druck zu Grunde zu gehen. Der fünfte Tag verlief relativ ereignislos, bis auf die Gespräche mit mehreren Leuten, die nicht akzeptieren konnten, dass Nichts passiert war. Immerhin war eine Psychologin, die auf den unspektakulären Namen Mrs Hill hörte, dann so klug, das "Nichts" zwar nicht so anzunehmen, weil es ja eine offensichtliche Lüge war, Faye aber anzuerbieten, dass sie reden konnte, ohne dass sie dann im Umkehrschluss damit zur Polizei rannte, wenn Faye das nicht wollte. Faye versprach ihr, über das Angebot nachzudenken, auch wenn sie das eigentlich nicht wirklich vorhatte. Sie würde sich die Mühe nicht ein zweites Mal machen, wusste ganz genau, wie verdammt anstrengend es war, sich mit diesen Therapien wieder ins Leben zurück zu hangeln. Und sie wollte nicht zurück ins Leben. Nicht so. Dann konnte sie sich die Gespräche auch sparen, dann brauchte sie Mrs Hill auch nicht über die Geschehnisse aufzuklären, die sie selbst aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte, weil es einfacher war, trotz offensichtlicher Beweise so zu tun, als hätten sie nie stattgefunden. Der einzige Nachteil, den sie daraus zog, war eben, dass sie so wahrscheinlich länger hier bleiben musste, als wenn sie redete. Aber sie hatte ja noch viel Zeit um sich das zu überlegen, alleine in ihrem Zimmer mit den Gittern vor den Fenstern. Jedoch wurde sie mal wieder beim Denken - beziehungsweise krampfhaften Nicht-Denken - unterbrochen, als eine Schwester Besuch ankündete. Hazel Rivera. Fayes Augen verloren sich am Boden und sie schüttelte den Kopf, was eher einem Zittern gleichkam. Sie konnte nicht mit Hazel sprechen. Was wenn... Was wenn sie wusste, wer Schuld am Zustand ihres Bruders war? Was wenn sie hier war, um ihr das zu sagen, was sie nicht hören konnte, ohne dass sie sich dann selbst unter Bewachung beim nächsten Essen die Gabel - Messer gabs nicht mehr - ins Herz bohrte? "S-sagen Sie ihr... Ich... ich... Sagen Sie ihr bitte, es tut... mir so unglaublich leid... Und dass ich ihn nie wieder... kaputt machen werde, v-versprochen!", Sie brachte nicht mehr als die paar Worte über die Lippen und blickte die Schwester dabei absolut panisch an, sodass die nur ein paar beruhigende Worte sprach und ihr versicherte, dass alles gut wäre und sie sich mit niemandem unterhalten müsse, wenn sie nicht möchte blah blah. Faye war sich nicht sicher, ob das, was sie gesagt hatte, es wirklich bis zu Hazel schaffte. Aber mehr lag gerade nicht im Rahmen des Möglichen, was Victors Familie anging. Sie würde liebend gerne von ihr erfahren, wie es Victor ging, ob er alleine atmete, ob die Wunden Probleme machten, ob die Ärzte sagten, dass er sich wieder erholen würde. Aber sie würde eine Unterhaltung mit Victors Schwester unmöglich ohne Zusammenbruch schaffen, das wusste sie sehr genau. Und sie durfte nicht zusammenbrechen, wenn nicht sie es war, die unschuldig auf der Intensivstation lag. Es war einfacher am nächsten Tag mit Aryana zu reden. Sie hatte sich wieder gefangen, war wieder in ihrer tauben Blase verschwunden, auch wenn sie irgendwie das Gefühl hatte, die Taubheit würde bereits schon wieder ätzend viele Emotionen zulassen. Vielleicht hatten die Ärzte gemerkt, dass sie zu abgelöscht gewirkt hatte und darum schon beschlossen, die Dosis zu verringern. Vielleicht lag es auch an der Sorge um Victor. Sie wusste es nicht, aber es war unangenehm. Auch dann, wenn sie mit ihrer Schwester sprach. Weil sie das Stechen eben auch dann verspürte, als sie Aryana darum bat, nach Victor zu sehen. Oder mit Hazel zu sprechen, je nach dem was im Bereich des Möglichen lag. Dumm nur, dass Aryana Hazel nicht kannte. Sie konnte es also eigentlich nur damit versuchen, Victor aufzuspüren und falls er nicht ansprechbar war, vor seiner Tür auf seine Familie zu warten. Tat Faye ja leid, weil sie ganz genau wusste, wie sehr ihre Schwester Soziale Situationen - besonders dann, wenn sie solch unangenehmer Natur waren - jeweils genoss, aber es musste wohl sein. Und Aryana liess sich auch nicht anmerken, was sie davon hielt.
Und so war es etwa Mitte Nachmittag, als sie sich von Faye verabschiedete, um bei der Rezeption nach Victor zu fragen. Keine Besucher, hiess es da natürlich als Erstes. Aber sie besass gewisse Verhandlungskompetenzen, die wohl sogar beim Krankenhauspersonal zogen, jedenfalls wurde sie von einem Arzt auf die Intensivstation begleitet. Vor eine Zimmertür, hinter der ihre Zielperson wohl lag. Der Arzt erklärte ihr nochmal lang und breit, dass sie sich nicht mit Victor unterhalten konnte und er ihr maximal zehn Minuten Zeit gab. Wohl auch in Anbetracht der Tatsache, dass sie Fayes Schwester war - seine Reaktion auf diese Information war nämlich nicht an ihr vorbei gegangen. Aber dann klopfte er trotzdem an, um zuerst selbst einzutreten und Victor zu fragen, ob er mit Aryana sprechen wollte. Denn wenn er das nicht wollte, würde Aryana sowieso umdrehen und nach Hause gehen - beziehungsweise eben auf Hazel warten - müssen.
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Es hatte wohl nicht gerade lang gedauert, bis mein Plan hinsichtlich Faye das erste Mal ins Stocken gekommen war, wie Hazel mir am nächsten Morgen nach dem Frühstück berichtete, das bei mir noch weiterhin über Nadel und Schlauch erfolgte. Wenn mein Kopf weiterhin so gut mitmachte, könnte ich aber morgen mit Glück die erste Suppe haben, weil das Beatmungsgerät heute noch rauskam... auch wenn ich nicht scharf darauf war von einer fremden Frau gefüttert zu werden. Dennoch würde ich wirklich gerne Irgendwas schmecken. Oder mich ganz allgemein gerne mal wieder wie ein Mensch fühlen und nicht wie eine lebensunfähige Made, die nicht viel mehr konnte als in Schmerzmittel badend rumzuliegen. Jedenfalls waren meine Eltern noch vor der Zimmertür durch eine Unterhaltung mit dem auf Gehirne spezialisierten Arzt beschäftigt, während meine Schwester schonmal ins Zimmer kam. Ihr Gesichtsausdruck allein hätte für ein alles vernichtendes Nein schon vollkommen ausgereicht. Sie hatte Faye zwar gefunden und sie hing scheinbar wirklich in der psychiatrischen Abteilung fest, aber Hazel war nicht bei ihr gewesen, weil sie das nicht gewollt hatte. Auch konnte sie mir nichts Näheres dazu sagen, wie ihr es ging. Nicht gut, das war offensichtlich, aber sie bekam auch keine weiteren Informationen von der Schwester, weil sie keine Angehörige war. Sie wollte nicht mit ihr reden und es tat ihr leid, das war alles. Also wusste ich nicht wirklich mehr als vorher, auch wenn mich diese Entschuldigung seitens Faye zunehmend zum Nachdenken anregte, je länger sie durch meinen Kopf geisterte. Was tat ihr denn leid? Sie würde mir kaum selbst auf den Kopf eingeschlagen haben, das war absurd. Aber wer war es dann gewesen? Der Arzt hatte gesagt, dass es wirklich massive Gewalteinwirkung gewesen sein musste, so angesichts meines Zustands bei der Einlieferung. Die Polizei schien laut meiner Mutter darauf zu drängen, endlich mit mir reden zu können, aber da schob mein Arzt auch ohne zusätzliche Ermutigung sehr konsequent einen Riegel vor. War scheinbar noch viel zu gefährlich, sie könnten ja irgendwas gefunden haben und mit diesen Informationen jetzt mein Gehirn in der Erinnerung zu sehr motivieren. Aber mal abgesehen davon konnte ich ja sowieso nicht effektiv antworten und bisher wusste ich auch gar nichts, das irgendwie hilfreich hätte sein können. Sean saß hinter Gittern, laut meinem aktuellen Stand... und seine Schwester dürfte doch kaum im Stande dazu sein mich als doch sehr hochgewachsenen Mann in die Mangel zu nehmen, oder? Ich war sehr überfordert mit den Gedanken und kam auch kein Stück weiter. Am Nachmittag stattete mir der Arzt dann unerwartet noch einen Besuch ab, obwohl er erst gegen Mittag kontrollmäßig da gewesen war. Dementsprechend fragend sah ich ihn auch an, während meine Sicht schon ein kleines bisschen klarer war als gestern. Vielleicht redete ich mir das aber auch gerne ein. Er seufzte leise und sagte mir dann, dass Aryana vor dem Zimmer stand und gerne mit mir reden wollte. Auch dass er von dem Besuch abraten würde, was mich natürlich nicht juckte. Das hatte es früher nie getan und das tat es auch jetzt nicht, als ich eine lass sie rein-Geste mit der unverletzten Hand deutete. Er zeigte sich sehr unerfreut über diese Entscheidung und sagte mir, dass ich sofort den Knopf drücken sollte - den er mir kurzum zur Sicherheit auch gleich in die Hand drückte - wenn etwas nicht in Ordnung war und sie wieder gehen sollte. Ich würde den sowieso fallen lassen, wenn ich eine Frage an Aryana hatte, die sich nicht mit den Augen oder der Hand allein kommunizieren ließ, aber wenn er sich damit besser fühlte... Er verließ das Zimmer mit einem letzten akribischen Blick in meine Richtung, bevor er die Brünette schließlich zu mir ließ. Das Lächeln auf meinen Lippen wirkte in sich wahrscheinlich noch etwas träge, als Fayes Schwester zu mir kam und ich sie so gerade ansah, wie mir mit der getrübten Sicht möglich war. Aber es war ehrlich, weil ich mich mit Aryana momentan sicher mehr verbunden fühlte, als mit meinen Eltern. Die Beziehung zu meiner Schwester würde immer eine innige sondergleichen bleiben, aber bei meinen Eltern hatte ich oft das Gefühl, dass sie sich schwer in mich hineinversetzen konnten. Auch bei der Schwester meiner Partnerin war das anders - wir waren Freunde, sie kannte mindestens einen Teil meines Schmerzes selbst sehr gut und bewegte sich auf einer anderen Ebene mit mir, die meinen Eltern gar nicht möglich war. Außerdem hatte sie auch Informationen, die ich ganz dringend haben musste, um mich nicht mehr den lieben langen Tag mit den immer gleichen Fragen alleine im Kreis zu drehen. "Ar...", ich hatte in der Freude sie zu sehen glatt vergessen, dass ich nach wie vor kaum reden konnte und ihr Name verlor sich in Gestammel. Ich atmete etwas tiefer durch und sah dann doch etwas beschämt auf die Bettdecke, während die junge Frau sich in dem Stuhl unweit meines Bettes niederließ. Der blieb immer an ein und derselben Stelle stehen. In dem Winkel, der für mich in der halb aufrecht sitzenden Position am bequemsten war und vermied, dass ich den Kopf auf die Naht der Platzwunde rollen musste. Ich ließ den Knopf los und hob langsam die Hand an, um auf das Brett mit Papier und den Filzstift zu deuten, die auf dem Nachtschrank lagen. Das Schreiben hingegen hieß der Arzt gut - solange ich mich dabei nicht überanstrengte, trainierte das schließlich meine noch mangelhafte Feinmotorik und je früher ich damit anfing, desto schneller sollte ich normalerweise auch wieder auf den Beinen sein.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Faye hatte ihr gesagt, dass sie sich neue Feinde gemacht hatte. Vor einer Woche und zwei Tagen. Aber die Information war sehr sachlich ausgefallen, hatte eher nach maximal nur mässigen Schwierigkeiten geklungen, weil sie zugleich auch versichert hatte, dass die Justiz alles im Griff hatte und sie solange unter Polizeischutz standen, bis ihre Widersacher geschnappt wurden. Vielleicht hatte Aryana zu wenig nachgefragt. Vielleicht hätte sie die Wahrheit erfahren, wenn sie ordentlich gebohrt und nicht locker gelassen hätte. Aber das Problem war, dass sie mit Mitch in Laos festgesessen hatte, um irgendeinen reichen Vollidioten dabei zu unterstützen, die Weltherrschaft an sich zu reissen oder was auch immer und sie sowieso nichts hätte tun können, weil einfach mal eben nach Hause fliegen in Easterlins (erstmal hundert Seiten zurückblättern, um herauszufinden, wie der Typ hiess.. x'D) Programm leider nicht drin war. So waren sie erst am frühen Morgen vor drei Tagen am nahen Flughafen gelandet - eine halbe Stunde bevor ihr Telefon geklingelt hatte und ein Arzt ihr mit aller Professionalität die Information überbracht hatte, dass Faye im Krankenhaus lag und es ihr scheinbar mental nicht so gut ging. Er bat sie darum, vorbei zu sehen, wohl weil er sich davon erhoffte, dass sie etwas am Zustand ihrer Schwester ändern konnte. In ihrer Überforderung fiel Aryanas Reaktion sehr spärlich aus und alles was sie sagte, war, dass sie so rasch wie möglich dort wäre. Erst, als der Arzt schon wieder aufgelegt hatte, schaltete ihr Hirn weit genug, um sich zu fragen, ob Faye alleine war. Denn wenn das der Fall wäre, dann konnte sie ihr ganz bestimmt nicht helfen. Wenn Victor im Stande wäre, ein Telefon zu bedienen, hätte er sie angerufen und nicht ein Arzt. Wenn Victor bei Faye liegen würde, würde es ihrer Schwester nicht so schlecht gehen, dass sie ein solches Telefonat erreichte. Also schloss sie beide Optionen aus. Und das lief unweigerlich auf ein Worst Case Szenario hinaus. Sie konnte nicht aus dem Auto springen, das soeben zu Easterlins Revier abbog. Konnte auch nicht einfach davonrennen, sobald der Wagen still stand. Und so gingen wertvolle Minuten verloren, in denen sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen, bis sie endlich in ihrem eigenen Auto sitzen und zum Krankenhaus rasen konnte. Das Zimmer ihrer Schwester war schnell eruiert und Aryana sprintete die Treppen hoch in den zweiten Stock, weil kein Fahrstuhl der Welt sie rasch genug dorthin gebracht hätte. 215 lasen die blassen Zahlen an der Tür, die sie gleich darauf nach einem hastigen, einzelnen Klopfen aufstiess, ohne eine Antwort abzuwarten. Und alles, was sie dahinter sah, war Blut. Es geht ihr nicht so gut. Nein, nicht nicht so gut. Wäre sie fünf Minuten später eingetroffen, hätte Aryana keine Schwester mehr gehabt. Nachdem ihr eiserner Griff um Fayes Handgelenk durch professionellere Methoden ersetzt worden war, wurde Aryana regelrecht wieder aus dem Zimmer gescheucht. Sie wurde gebeten, nach Hause zu gehen und Morgen wieder zu kommen, als wäre das alles, was momentan für sie getan werden konnte. Aber Aryana konnte nicht nach Hause, schlich durch die Gänge und krallte sich die Finger in die Kopfhaut. Sie versuchte herauszufinden, ob Victor irgendwo war. Und tatsächlich fand sie heraus, dass er unter dem gleichen Dach atmete. Oder beatmet wurde. Und keiner konnte ihr sagen, was zur Hölle hier passiert war. Wahrscheinlich hätte Aryana sich irgendwo in eine Ecke gelegt und hätte hier auf dem Fussboden die Nacht verbracht, wenn Mitch sie nicht angerufen und dann nach einiger Überzeugungsarbeit nach Hause geholt hätte. Änderte herzlich wenig daran, dass sie kein Auge zutat, während sie alles daran setzte, herauszufinden, wer Schuld am desolaten Zustand der zwei Menschen trug, die ihr neben Mitch am nächsten standen. Sie rief sogar bei der Polizei an. Aber wenig überraschend redete auch da keiner mit ihr. Ein Muster, das sich direkt in den nächsten Tag weiterzog, als sie Faye endlich besuchen und mit ihr sprechen konnte. Oder eher könnte, denn Faye sprach eigentlich gar nicht. Jedenfalls nicht über das, was geschehen war. Sie erkundigte sich lieber danach, wie es Aryana ging, wie der Einsatz in Laos gelaufen war, ob dort die Sonne schien, was Mitch gerade machte und ob sie jetzt ein paar Tage frei hatten. Aryana fiel es mehr als schwer, irgendeine Frage davon zu beantworten, wenn das alles doch so nebensächlich war. Aber die Stationsärztin hatte ihr verboten, Fragen zu stellen, die Faye aufwühlen könnten, weil das in diesem Stadium scheinbar nicht passieren durfte. Aber das brauchte sie wirklich nicht der Frau zu sagen, die am Tag zuvor in ein Zimmer mit spritzenden Venen spaziert war. Die Gespräche an Tag fünf und sechs verliefen ähnlich. Faye vermied die Antworten auf jede einzelne Frage, die darauf abzielte, Informationen zu den Gründen dieses Totalabsturzes zu eruieren. Nach Victor fragte Aryana absichtlich nicht - nicht nur, weil ihr das sogar explizit nochmal verboten worden war, sondern auch, weil sie daran zweifelte, dass Faye mehr wusste als sie. Diese These wurde auch von der Bitte unterstrichen, die ihre Schwester ihr am sechsten Tag unterbreitete. Faye fragte nicht danach, ob sie selber nach Victor schauen durfte und Aryana hatte den Eindruck, dass sie das auch gar nicht wollte - sich ganz gut mit der Tatsache arrangieren konnte, die abgeschlossenen Türen dieser Abteilung als Entschuldigung für einen fehlenden Besuch zu akzeptieren. Aber sie wünschte sich, dass Aryana ihr Bericht erstattete und versuchte, bis zu Victor zu kommen. Ein nicht ganz einfaches Vorhaben wie sich herausstellte, denn eigentlich wollte keiner sie wirklich zu dem jungen Mann durch lassen. Die Kombination der Argumente, er habe nach ihr gefragt (wovon sie in Wirklichkeit nichts wusste) und sie würde sich ganz bestimmt darum bemühen, ihn nicht weiter zu belasten, schien letztendlich mehr oder weniger anzuschlagen. Jedenfalls mit Victors ausdrücklichem Einverständnis, welches der Arzt mehr oder weniger vor ihren Augen einholte. Aryana trat nach dem erneuten Hinweis, dass ihr maximal zehn Minuten vergönnt blieben, vorsichtig ein, setzte sich auch sehr bald auf den Stuhl, den sie gemäss Arzt zu benutzen hatte. Ihre Augen glitten über das Gesicht des jungen Mannes, auf dem sich ein kleines Lächeln gebildet hatte, welche sie so gut es ihr möglich war erwiderte. Er sah absolut schrecklich aus mit den Hämatomen im Gesicht und den ganzen Apparatschaften, die ihn umgaben, im Kontext einer Intensivstation. Sie spürte eine Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper, während sie sich zum wiederholten Mal fragte, wie verdammt nochmal das alles einfach so hatte passieren können. Als sie abgereist waren, war alles in Ordnung gewesen und jetzt..? "Hey Victor...", grüsste sie ihn leise, nachdem er bereits am Versuch, ihren Namen auszusprechen, gescheitert war. Darauf war sie ebenfalls vorgewarnt worden. Dass er noch nicht wirklich sprechen konnte und die Kommunikation besser übers Schreiben lief, er sie aber weitestgehend verstand, wenn sie sprach. Aryana griff nach dem Papier und dem Filzstift, überreichte aber vorerst beides an Victor, weil sie eigentlich keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte. Sie würde ihn kaum ebenfalls mit der Frage belasten, was in der letzten Woche passiert war, sonst handelte sie sich hier sehr schnell ein Hausverbot ein. Ausserdem war Victor physisch gesehen in einer weitaus schlechteren Verfassung als Faye - die Wahrscheinlichkeit, dass er ihr diese Frage beantworten würde, war also eher winzig. Sie wusste nicht, wie es mit seiner Psyche aussah, aber vielleicht war er momentan einfach noch zu zugedröhnt, um sich mit den gleichen Problemen herumzuschlagen wie Faye. Das war ja nach Syrien auch schon so gewesen. Die ersten Tage hatten beide mehr oder weniger selig in ihren weissen Bettchen gelegen und sich keine Sorgen gemacht - die Wellen des Wahnsinns waren erst später über sie hereingebrochen. Diesmal hatte aber wohl nur Victor ausreichend körperliche Schäden davongetragen, um diese Schonfrist zu durchlaufen. Was nicht heissen sollte, dass das besser war...
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Hachja, die liebe Namenssuche... die macht immer ganz besonders viel Spaß. x'D ________
Ich nickte Aryana kaum sichtbar dankend zu, als sie mir das Brett überreichte. Das Nicken fand deutlich mehr mit einem langsamen Blinzeln statt, als mit tatsächlicher Bewegung meines Kopfes. Ich schob das Klemmbrett noch etwas auf meinem Schoß zurecht und mühte mich dann mit der Kappe des Filzstiftes ab - versuchte aber auch das jedes Mal positiv zu sehen, weil es mir die Finger wieder intakt bringen würde. Irgendwann. Die Kappe kullerte vom Brett auf die Bettdecke daneben, während ich den Stift aufnahm. Meine Besuchszeiten waren grundsätzlich immer noch auf wenige Minuten beschränkt und ich wusste, dass die Zeit dementsprechend auch drängte, weshalb es mich unsagbar ankotzte, dass ich allein schon für das Ansetzen des Stiftes eine gefühlte Ewigkeit brauchte. Solange ich die leicht zusammengekniffenen Augen auf das Blatt auf meinen Oberschenkeln gerichtet ließ, konnte ich aber wenigstens keine Emotionen in Aryanas Gesicht erkennen, die ich lieber gar nicht sehen wollte. Klar, ich musste nach wie vor beschissen aussehen und ja, es war mir schon deutlich besser gegangen. Wusste ich. Es half mir aber auch nicht, wenn mich ständig Jemand so ansah, als wäre ich ein im Regen ausgesetzter Welpe, der gar nicht wusste, was ihm eigentlich passiert war. Oder was er falsch gemacht hatte, dass er sich jetzt von den Regentropfen durchnässen lassen musste. Ich schrieb ein paar wenige Stichworte, teils sehr kurz geratene Sätze auf das Papier, wobei der erste Punkt natürlich der Wichtigste war. Faye? Ich wusste ja noch immer gar nichts, außer dass sie noch atmete, dass sie hier war und dass sie schon wieder entschuldigte. Zumindest ein kleiner Anhaltspunkt zu irgendeinem Teil ihrer offensichtlich geschädigten, psychischen Gesundheit wäre wirklich nett. Wieso nicht hier? Ich hasste es übrigens jedes Mal, wenn ich ein S schreiben musste und das war der mit Abstand hässlichste Buchstabe, den ich momentan so zusammen kritzelte. Die waren grundsätzlich immer wahnsinnig schief und stellenweise zittrig eckig. Eigentlich alle Buchstaben mit Rundungen und die Fragezeichen, gefühlt schlimmer als bei einem Vorschulkind. Vielleicht bekam ich auf diese Frage auch jetzt wieder keine Antwort, aber einen Versuch war es wert. War ja nicht so als hätte ich andere Optionen, als Jemanden nach Antworten zu fragen. Bin okay. Als letztes fand diese Feststellung den Weg aufs Blatt, bevor ich das Brett ohne den Stift loszulassen langsam zu Aryana umdrehte, damit sie die Worte auch ansatzweise identifizieren konnte. Sie brauchte nicht zu schreiben, ich konnte sie ja hören und auch mehr oder weniger gut sehen, als ich den Blick wieder anhob. Natürlich war es Definitionssache, ob ich okay war. Aber ich hatte keine Schmerzen, das war schonmal ein netter Bonus meines Zustands. Selbstverständlich ginge es mir weitaus besser, wenn ich nicht ins Koma gemusst hätte. Wenn ich mich jetzt nicht mit so alltäglichen Dingen wie Sprechen herumplagen müsste, als hätte ich es noch nie gekonnt. Aber die Panik darüber blieb aus. Wegen der Medikamente und auch deswegen, weil ich das so ähnlich in etwas weniger schlimm schon einmal durchlebt hatte. Es dauerte einfach einige Tage, bis sich das Gehirn nach dem Koma erholt hatte. Manche Dinge musste man mit Pech neu lernen, aber schon das letzte Mal hatte mein Kopf nur ein paar Tage gebraucht, um sich allmählich immer besser an alte Abläufe zu erinnern. Er brauchte nur hier und da einen Stups in die richtige Richtung. Ich drückte mir also einfach selbst die Daumen, dass das dieses Mal genauso sein würde. Die noch anhaltende Unwissenheit war nüchtern betrachtet ein richtiger Segen für meine Psyche - auch wenn die sowieso durch die Medikamente mit unterdrückt wurde, machen wir uns an dieser Stelle mal nichts vor - aber das wollte ich eher weniger wahrhaben. Die fehlenden Informationen machten mich nämlich ein bisschen wahnsinnig, so viel Zeit wie ich momentan zum Nachdenken hatte. Aber ja - es ging mir schon irgendwie ganz okay, den Umständen entsprechend. Eben wenn man davon absah, dass ich nicht wusste, warum es Faye so schlecht ging, dass die Ärzte sie weder entlassen, noch zu mir lassen wollten.
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Ist aber auch irgendwie schon wieder lange her, dass wir was von denen geschrieben haben.. x'D ________
Eigentlich wusste sie längst, welche Frage durch Victors Hand den Weg aufs Blatt finden würde, theoretisch müsste er sich also gar nicht so abmühen dafür. Aber sie liess ihn trotzdem machen, mit der einfachen Motivation dahinter, dass sie Zeit brauchte um sie ihm zu beantworten. Eigentlich hätte sie sich das vorher überlegen können. Und sie hatte auch darüber nachgedacht, nur war sie nicht wirklich zu einem Schluss gekommen. Sie wollte Victor nicht anlügen, das wäre nicht nur sinnlos, sondern auch unfair. Er verdiente die Wahrheit. Die Frage war nur, ob sein Kopf diese Wahrheit auch verkraftete oder sie im befürchteten Besuchsverbot ihrerseits endete. Ihre Augen folgten seinem Stift, wie er langsam einen um den anderen Buchstaben auf das Blatt brachte. Und Victor hätte das Klemmbrett nicht zu ihr umzudrehen brauchen, sie hatte schon vorher gelesen, was da stand. Was nicht bedeutete, dass sie es jetzt nicht nochmal eingehend las, obwohl ihr bestens bewusst war, wie beschränkt ihre Zeit in diesem Zimmer war. "Es... es geht ihr nicht gut, Victor...", entschied sie sich am Ende für die mehr oder weniger ungeschönte Wahrheit. Nicht gut war ja eigentlich noch immer eine Untertreibung, aber da Victor bestimmt bewusst war, dass alles, was man ihm momentan sagte, eher etwas sanft formuliert wurde, konnte er das wahrscheinlich ziemlich akkurat interpretieren. Aryana bemühte sich darum, nicht allzu zu leise zu sprechen, damit er ihre Worte überhaupt verstand. Aber ihr war schon eher nach flüstern als schreien zumute, weshalb sie sich nicht ganz sicher war, wie gut ihr das letztendlich gelang. "Sie braucht noch etwas Zeit... bis sie wieder raus kann, denke ich...", weil sie sich unbewacht ja gerne Mal die Pulsader aufriss. Aber das war ganz bestimmt kein Gesprächsstoff für dieses Setting. Überhaupt würde Victor vielleicht besser nie davon erfahren, es sei denn, Faye wollte es ihm persönlich erzählen. "Aber sie hat nach dir gefragt... Darum bin ich hier", vielleicht beruhigte es ihn, zu wissen, dass seine Freundin sich ebenfalls Sorgen um ihn machte. Machte seine Lage zwar nicht unbedingt besser, aber es brachte ein kleines Bisschen Normalität rein - sie machten sich ja allgemein gerne Sorgen umeinander. Nur dass diese Sorgen im Moment offensichtlich beidseitig mehr als berechtigt waren. Es lag ihr auf der Zunge, ihn trotz allem zu fragen, ob er irgendwas von den Geschehnissen wusste. Er musste ihr ja auch nicht davon erzählen, nur sagen, ob sie in irgendeiner Zeitspanne Aussicht darauf hatte, etwas zu erfahren. Aber sie entschied sich vorerst wie befohlen dagegen, lenkte das Gespräch stattdessen auf ein anderes Thema. "Was sagen die Ärzte zu deinen Verletzungen..? Und Heilungsprognosen?", erkundigte sie sich vorsichtig, weil nicht ganz sicher war, ob das auch ein heikles Thema war. Aber wenn er behauptete, soweit okay zu sein, dann würde er doch wieder gesund werden, oder? Sie hatte nicht sehr viele Kenntnisse zur Medizin oder Erfahrungen mit Menschen auf Intensivstationen, konnte also nicht beurteilen, ob sein Zustand normal für erst kurz wieder aus dem Koma geholte Patienten war. Vielleicht konnte er auch nie wieder sprechen? Oder hatte andere bleibende Schäden, die sich schon jetzt abzeichneten? Aber das würde sie sicherlich nicht an Faye weiterleiten. Zumindest noch nicht.
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Das gibts halt leider auch erstmal nich so viel... außer Einsätze. x'D ________
Nicht gut. Nicht gut war beschissen. Es war nicht so, als hätte ich das nicht schon geahnt. Es würde schließlich seinen Grund haben, warum der Arzt jeglichen Kontakt und auch sämtliche Informationen vor mir verbergen wollte. Warum sie noch auf der Psychiatrischen feststeckte und warum sie nicht für ein paar Tage mit zu Aryana nach Hause ging, damit sie nicht allein war. Warum sie offenbar eine Gefahr für sich selbst darstellte, weil es keinen anderen Grund dafür geben konnte, dass sie die zierliche Brünette hier festhielten. Aber wenigstens hatte sie nach mir gefragt. Wenigstens war diese eine Sache Teil der Normalität geblieben, auch wenn das ein schwacher Trost war. Ich atmete etwas tiefer ein und seufzend wieder aus, sah einen Moment lang auf die Bettdecke. Wusste nicht, was ich davon halten sollte, dass Faye offenbar noch eine Weile hierbleiben müssen würde. Das hieß zwar, dass sie nicht Gefahr lief irgendwas Dummes zu tun - zum Beispiel so wie damals während unserer Therapie mal eben für eine ganze Weile in die Kälte zu verschwinden... oder gar Schlimmeres - es bedeutete aber auch, dass es ihr wirklich schlecht gehen musste. Während ich hier im Schmerzmitteldelirium schweben durfte und mir zumindest nur mäßig viele Sorgen machen musste. Es gab dafür leider nur eine einzige Erklärung. Nämlich dass mein Gehirn mich ein paar sehr essentielle und wahrscheinlich sehr schlimme Dinge hatte vergessen lassen, an welche die zierliche Brünette sich bestens zu erinnern schien. Und ich wusste nicht, was das für mich bedeuten sollte. Wollte ich mich lieber erinnern, um auch dieses Problem mit ihr teilen zu können? Das letzte Mal hatten wir auch zusammen irgendwie die Kurve gekriegt... aber wenn das, was ich vergessen hatte, Faye so sehr weh tat, dann würde es bei mir nicht anders sein. Und das wiederum bedeutete, dass das sehr wahrscheinlich der Grund dafür war, warum ich mir trotz meiner völligen Unwissenheit so sicher damit war, dass ich nicht hier im Bett, sondern in einem Sarg hätte landen sollen. Hätte landen wollen. Natürlich waren körperlicher Schmerz und das ewige, langsame Heilen jedes Mal aufs Neue furchtbar beschissen, aber das war nicht das, was mich jedes Mal meiner etwas zu häufigen Wiederauferstehungen im Nachhinein für eine Weile lang hatte sterben lassen wollen. Es war immer mein Kopf gewesen, nie der Körper. Immer die Psyche. Es würde dieses Mal denselben Grund haben. Ich versuchte mich nicht weiter in diesem Gedanken zu verlieren, als Aryana mir eine ganz andere Frage stellte. Eine, die bei all den körperlichen Verletzungen etwas mehr Worte auf dem Papier gebraucht hätte, als ich schreiben wollte. Früher oder später verkrampften sich meine Finger dabei nämlich jedes Mal. Also versuchte ich die Schreiberei weitgehend zu umgehen. Das Anheben meines unverletzten Armes war zwar auch anstrengend, aber ich hatte danach ja sowieso wieder ganz viel Zeit zum Nichtstun. Und es ging zumindest ein kleines bisschen schneller, es galt wichtige Zeit zu sparen. Ich deutete zuerst ans Fußende und wackelte unter der Decke schwach mit den Zehen des linken, gesundes Fußes, gefolgt von einem Daumen nach oben. Die Prellung war nicht dramatisch und im schlimmsten Fall musste ich das Gehen ein bisschen neu lernen, aber ich konnte die Zehen ja schon jetzt besser bewegen als gestern noch. Danach deutete ich auf meinen anderen Unterarm, dessen Verbrennung noch in voller Länge abgedeckt war. Sie würde immer sichtbar und hässlich bleiben, aber das Feuer hatte keine Nerven oder Muskelgewebe gefressen - also auch dafür ein Daumen hoch. Anschließend machte ich eine kurze Pause, hob wenig später dann leicht zitternd die Hand und deute mit zwei Fingern auf meine Augen. Dicht gefolgt von schwachem hin und her wippen meiner ausgestreckten Handfläche, was ein solala deuten sollte, bevor die Hand zurück aufs Bett sank. Es war gut möglich, dass ich bald wieder normal sehen konnte. Es konnte aber auch genauso gut sein, dass ich mich gar nicht wirklich davon erholte. Leider ließ sich das weder vorhersagen, noch positiv von der Medizin beeinflussen. Da brauchte ich Glück. Mal wieder. Weil ich den Arm nicht nochmal bis an den Mund heben konnte, um auf das Sprachproblem zurück zu kommen, musste dafür wieder das mühselige Gekritzel her, wofür ich kurzerhand das Klemmbrett zu mir zurückzog. Sprechen ✓. Zumindest sahen die Ärzte bisher noch keinen Grund dafür mir sagen zu müssen, dass das nicht mehr hinzukriegen war. Dafür war der neurologische Schaden bei aktuellem Stand sehr sicher zu gering. Erinnerung weg. Das war wohl ein wichtiger Punkt, den ich Aryana nicht verschweigen wollte. Schließlich trug mitunter genau das dazu bei, dass ich mich hier verhältnismäßig entspannt erholen konnte. Allerdings sagte ihr das bisher noch nicht, wie es darum stand. ≈ ✓ hängte ich kurz darauf also noch hintenan, weil das sehr viel kürzer als 'wahrscheinlich kommt alles früher oder später zurück' war. Und vor allem insgesamt auch weniger anstrengend als es jedes Wort für sich gewesen wäre. Daraufhin hob ich den schwammigen Blick wieder in ihr Gesicht an, um ihre Reaktion darauf sehen zu können.
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Passt schon, wir haben ja erstmal genug zu schreiben, bis die anderen Kinder wieder fit sind..^^ __________
Seine Reaktion machte gut deutlich, dass er verstanden hatte, was sie mit ihrer schwammigen Erklärung zu Fayes mentalem Zustand umschrieben hatte. Er kannte seine Freundin eben auch gut genug, um zu wissen, wie ein nicht gut bei ihrer Psyche aussah. Und vielleicht hätte sie ihm das nicht sagen sollen, weil er sich nun sehr sicher Sorgen machen würde. Aber das hatte er auch davor schon gemacht und wie gesagt entsprach Anlügen eben einfach auch nicht ihrer Philosophie. Immerhin für den Moment schien sie ihn aber mit der Frage nach seinem eigenen Zustand nochmal erfolgreich abgelenkt zu haben, da er sich im Anschluss erstmal darum kümmern musste, ihr bei jeder Körperfunktion zu erklären, ob diese noch okay war beziehungsweise wieder funktionieren würde oder nicht. Insgesamt schienen seine Verletzungen aber doch nicht irreversible Schäden zu hinterlassen, was nicht nur Aryana sondern ganz sicher auch ihre Schwester erfreuen würde. Aryana wusste nicht, was mit seinem Fuss nicht gut war. Oder mit seinem Arm, der in den blendend weissen Verband gehüllt war. Sie wusste auch nicht, wer ihn am Kopf verletzt hatte und warum er nicht mehr gut sah. Doch sie hatte die Vermutung, dass sie das auch niemals erfahren würde. Was in Ordnung wäre, wenn er wieder gesund wurde und Faye wieder gesund wurde. Sonst nicht. Denn sonst war sie es, die sehr bald zum Aufstand aufbrach. Sie verstand sich im Übrigen nämlich ganz gut darin, mit ihrem Lieblingskomplizen zusammen Menschen umzubringen, die ihrer Schwester etwas zuleide taten - siehe Ex-Lieutenant Warren, der direkt auf ihre Abschussliste gewandert war, nachdem er Faye für sein ekelhaftes Vergnügen missbraucht hatte. Oder die ganzen Syrer in ihrem Loch, die dafür draufgegangen waren, dass sie Victor und Faye eingesperrt und gefoltert hatten. Normalerweise mordete sie nicht im heiligen Amerika, aber es sollte bei Gott oder wem auch immer bloss keiner glauben, dass dieser Standort ihn beschützte. "Das ist schonmal nicht allzu schlecht...", kommentierte sie Victors Antwort mit einem nachdenklichen Nicken. Also war hauptsächlich das Sehen das Problem und dass er eben zumindest vorübergehend vergessen hatte, was passiert war. Fayes Zustand nach zu urteilen stellte sich hier aber wirklich die Frage, ob das Fluch oder nicht doch eher Segen war. Klar waren Gedächtnislücken äusserst unangenehm, aber waren sie wirklich unangenehmer als das, was Faye dazu animiert hatte, sich mit einem normalen, wahrscheinlich nicht einmal besonders scharfen Tafelmesser den Arm aufzuschneiden, bis das Blut gespritzt war? "Die Erinnerungen werden wohl bald genug kommen... versuch besser nicht, zu sehr daran zu arbeiten. Das hat ja noch Zeit - im Moment kannst du mit den Informationen ja doch nichts anfangen", meinte sie zu diesem Punkt, obwohl ihm das vielleicht die Ärzte eh schon gesagt hatten. Ausserdem war es wohl leichter gesagt als getan, sie war es ja nicht, die hier tagelang allein in diesem Zimmer lag, weil der Besuch immer ganz schnell wieder rausdirigiert wurde. Gut möglich, dass seiner Familie mehr als zehn Minuten mit ihm vergönnt waren, aber es dürften auch keine Stunden sein. "Wie viel siehst du denn jetzt? Nur verschwommen oder noch weniger?", gar nichts war es ja offensichtlich nicht, da er schreiben konnte und sie auch immer wieder anschaute. Sein Blick war dabei ziemlich trüb, aber er schien doch noch was zu erkennen. Und wenn sich das mit dem Sprechen erst noch wieder entwickelte, blieb wohl hoffend abzuwarten, dass das Sehen auch wieder kam...
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Es könnte mir jetzt sicher auch noch deutlich schlechter gehen, das stimmte schon. Zwar standen die Chancen grundsätzlich besser, je kürzer das Koma ausgefallen war, aber das war nicht sowas wie eine Garantie. Es könnte mir nach drei Tagen Dauerschlaf deutlich schlechter gehen, gerade bei älteren Patienten war das wohl nicht selten der Fall. Wie gut, dass ich also noch nicht mal ganz an der Dreißig kratzte... Aryanas Worte diesbezüglich kommentierte ich mit einem schwachen Schulterzucken und gleichzeitig mit einem ebenso milden Nicken. Was ihren netten Rat hinsichtlich meiner Gedächtnislücken anging wusste ich im ersten Moment nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Mir sagte ständig irgendwer, dass es wahrscheinlich besser für mich war, wenn sich meine Erinnerung mit dem Zurückkommen noch Zeit ließ oder sogar ganz ausbleiben würde. Es war sicherlich besser für meinen Kopf, solange sich mein Gehirn noch nicht ganz erholt hatte, weil zu hoher Blutdruck und Stress dahingehend gerade sehr ungesund für mich wären. Trotzdem war es zum Kotzen, dass ich mich nicht erinnern konnte. Vielleicht könnte ich Faye helfen, wenn ich Aryana sagen könnte, was passiert war. Zugegeben war das etwas sehr optimistisch, weil das nichts ungeschehen machen würde. Aber dann wäre sie zumindest schon nicht mehr ganz allein damit, oder? Das wäre gut. Wir hatten uns nach Syrien ja kaum gegenseitig vorm Absturz bewahren können, wie sollte sie dann jetzt alleine mit diesem Loch klarkommen, in das sie gefallen war? In dem ich bestimmt eigentlich auch sitzen sollte... Doch. Könnte erzählen. Ich sah wieder vom Papier auf und zu der Brünetten im Stuhl. Wahrscheinlich würde ich nicht gerne darüber reden. Würde mich selbst erst bis zu einem gewissen Grad damit auseinander setzen müssen und das auch erfolgreich, bevor ich darüber sprechen - oder schreiben - könnte. Aber ich hatte mir schon immer leichter damit getan Dinge auszusprechen, als das bei Faye der Fall war. Nicht, dass es mir Spaß machte über meine Traumata zu reden - es war jedoch eines der Dinge, das langfristig dabei halfen irgendwie, irgendwann damit klarkommen zu können. Außerdem hätte es wenigstens einen Sinn es der Schwester meiner Freundin zu erzählen und nicht wieder nur irgendeinem Psychologen, den ich dann schon ein paar Monate später nicht mehr sehen musste. Das machte es zwar nicht leider, aber was war in den letzten Jahren bei mir auch mal wirklich richtig leicht gewesen? Außer mich Hals über Kopf sehr unerwartet zu verlieben, meine ich. Das war leicht gewesen. Sehr sogar. Verschw., kommentierte ich auch meine noch schwammige Sicht mit dem Stift auf dem Papier. Den Rest des Wortes ersparte ich mir, weil Aryana schon wissen würde, was ich meinte, hatte sie es doch eben selbst noch gesagt. Lichtpunkte., schrieb ich noch ein weiteres Wort. Im Vergleich zu gestern war das heute aber schon weniger und passierte nur noch, wenn ich in helles Licht sah - deswegen war hier drin auch nicht mehr Licht an, als ich für angenehm hielt. Morgen Zeit?, richtete ich schließlich noch eine Frage an die junge Frau, sah sie daraufhin abwartend an. Es ging mir dabei aber nicht nur um mich und mehr Gesellschaft, sondern auch darum, ob sie vielleicht Zeit dafür hatte, sich kurz mit Hazel zu unterhalten. Sie könnte ihr sehr viel detaillierter beschreiben, was der Arzt so diagnostiziert hatte. Außerdem war es so oder so vielleicht ganz gut, wenn die beiden sich ein bisschen austauschten. Da brauchte - theoretisch - keiner dem jeweils anderen schonende Worte zu servieren, vielleicht kamen da mal ein paar Fakten auf den Tisch. Aber dafür müsste Aryana überhaupt erstmal Zeit haben... ich wusste auch gar nicht, welcher Wochentag heute war. Empfand es jedoch auch als sehr irrelevant angesichts der Tatsache, dass ich wahrscheinlich nicht unbedingt zeitnah ganz hier rauskommen würde. Wahrscheinlich würde ich verlegt werden, wenn mein Zustand so richtig unerschütterlich stabil war. Eine Reha kam sicher auch dieses Mal wieder zum Zug.
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Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass er ihr in der Sache mit den Erinnerungen zustimmte. Wie gesagt war es doch immer etwas ganz anderes, ob man selbst von der Amnesie betroffen war oder das Ganze vermeintlich rationaler von aussen betrachten konnte. Und ja, natürlich hatte er Recht - er könnte erzählen. Aber würde er es denn wirklich erzählen wollen? Da war sie sich nicht so sicher. Je nach dem ob er einen Sinn darin sehen würde, das Erlebte zu teilen, oder eben nicht, so wie Faye. Aryana zuckte also als einzige Antwort darauf etwas unentschlossen mit den Schultern. Es war schwer, das zu beurteilen, ohne zu wissen, was denn nun eigentlich vorgefallen war. Scheinbar hatte jemand Victor unter roher Gewalteinwirkung fast umgebracht und Fayes Arm ausgekugelt und Finger gebrochen. Und beide hatten laut der Ärztin, die sie über Fayes Zustand aufgeklärt hatte, bevor sie das zweite Mal für einen Besuch vorbeigekommen war, diverse Schnitt- und Stichwunden erlitten. Ausserdem bestand offenbar der Verdacht einer Vergewaltigung oder eines Missbrauchs, was aber nicht nachgewiesen werden konnte, solange Faye sowohl eine Untersuchung als auch ihre Aussage so vehement verweigerte. Die Umstände all dieser Gräueltaten waren allerdings unbekannt. Scheinbar hatte die Polizei eine Vermutung, aber auch hier war alles total unsicher und schwammig, solange keiner gegen irgendwen Anzeige erhob oder zumindest aussagte. Also ja, es könnte Vorteile haben, wenn Victor redete. Aber das war nicht sicher. Auch auf die Erklärung seiner Sehprobleme gab es ihrerseits nicht mehr viel mehr zu erwidern als ein Nicken. Sie hoffte wirklich sehr, dass er sich davon wieder erholte, aber am Ende des Tages konnten sie auch hier nur abwarten. Immerhin war sein Augenlicht nicht komplett weg und schlimmer als jetzt würde es bestimmt auch nicht mehr werden. Aber das sprach sie nicht aus, weil das ziemlich unsensibel wäre, wenn nicht sie davon betroffen war. Bekanntlich konnte man gut reden, solange man nicht selbst unter den Folgen litt. Erst auf die dritte Thematik, die er auf dem Blatt verewigte, gab es ihrerseits schliesslich wieder mehr zu sagen. Sie lächelte schwach und nickte dann wieder, ging im ersten Moment immerhin nicht davon aus, dass es ihm dabei noch um was anderes ging, als nur um einen weiteren Besuch gegen die Einsamkeit. "Wir haben noch ein paar Tage frei, weil wir gerade erst von Laos zurückgekehrt sind. Ausserdem bin ich Morgen ja sowieso wieder hier, um bei Faye vorbei zu schauen, da lässt sich sicherlich auch ein weiterer Besuch auf dieser Etage einrichten. Also ja, ich hab Zeit", bestätigte sie ihm seine Frage auch noch wörtlich. Sie würde wohl auch nachher nochmal zu Faye gehen, aber das würde kaum etwas daran ändern, dass sie es Morgen ebenfalls wieder tun würde. So wie sie das mitbekommen hatte, war sie nämlich die Einzige, der abgesehen von dem Personal der Zutritt zum Zimmer ihrer Schwester gewährt wurde.
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Zum Glück hatte Aryana gute Nachrichten, was weitere Besuche bei mir anging. Ich erinnerte mich jetzt, wo sie es erwähnte, auch noch daran, dass Faye mir erzählt hatte, dass Aryana und Mitch nach Laos aufbrachen. Allerdings konnte ich nicht mehr sagen, wie lang genau das jetzt schon zurücklag und wie lange sie weg gewesen waren. Irgendwie war mein Zeitgefühl noch sehr lädiert, wobei das mitunter vielleicht auch an der mangelnden Erinnerung an die letzten Tage lag. Es war auf jeden Fall schön, dass die beiden heil auf amerikanischem Boden angekommen waren. Das würde wohl jedes Mal ein Grund zum Feiern bleiben und ich hoffte wirklich, dass unseren Schutzengeln weiterhin nichts Schlimmes zustoßen würde. Sie waren beide ausgezeichnete Kämpfer und an ihren Fähigkeiten scheiterte es bestimmt nicht, aber der Feind spielte leider nicht immer fair. Mein letzter offenbar ja auch nicht, den Spuren der Fesseln an meinen Handgelenken nach zu urteilen... hätte ich mich wehren können, dann läge ich jetzt vermutlich nicht hier. Wieder fand der Stift in meiner Hand den Weg aufs Papier. Schön. Vor allem deswegen, weil Faye dann nicht so alleine war. Ich konnte sie ja leider nicht besuchen, da machte mir mindestens mein eigener Körper momentan einen dicken Strich durch die Rechnung. So ganz ungeachtet einiger anderer, unguter Faktoren. 10-11?, stellte ich ihr eine Frage nach möglicher Uhrzeit. Von 8 bis 9 Uhr stand ein erneuter körperlicher Check für mich an. Sie wollten auf Nummer Sicher gehen, was meinen Schädel anging und das war für mich so auch völlig in Ordnung. Sollten doch noch andere Komplikationen auftreten - was ich natürlich nicht hoffte -, dann sollten die besser früher als später entdeckt werden. Außerdem war Hazel im von mir vorgeschlagenen Zeitraum auch irgendwann da. Sie hatte mir nicht gesagt, wann sie genau kam, weil sie auf jeden Fall ausschlafen und in Ruhe frühstücken wollte, aber irgendwann in diesem Zeitfenster wollte sie aufschlagen. Meine Eltern kamen dann wieder irgendwann am späteren Nachmittag, weil ich sie darum gebeten hatte, dass wir es beibehielten nicht die ganze Familie auf einmal in einen einzigen Besuch zu quetschen. Erstens war ich dann insgesamt weniger allein und zweitens war es auch weniger anstrengend für mich, als wenn die drei hier alle auf einmal im Zimmer hockten. Zumal ich mich - offensichtlich - mit Hazel ganz anders unterhalten konnte. Ich schlug also gekonnt drei Fliegen mit einer Klappe. ⤷Hazel, ergänzte ich noch den Namen meiner Schwester, leitete ihn mit dem Pfeil von der Uhrzeit ab. Da ich relativ groß schreiben musste, weil ich es sonst selbst nicht lesen konnte, war das Blatt mit diesem letzten Hinweis auch ziemlich voll. Meine Augen suchten erneut nach Aryanas und ich sah sie schwach lächelnd an. Erst dabei fiel mir auf, dass die Brünette vielleicht gar nicht wusste, wer das war. Ich glaubte nicht, dass ich ihr bisher schon einmal von meiner Familie erzählt hatte. Wenn dann nur beiläufig und bestimmt nicht namentlich. Wenn Faye also vielleicht gar nicht erwähnt hatte, dass meine Schwester versucht hatte zu ihr durchzudringen, dann erwartete mich unter Umständen gleich ein fragendes Gesicht. Wie gut, dass ich noch ein paar Blätter hatte.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Ja, das fand sie in der Tat auch schön. Es blieb nur wirklich zu hoffen, dass Easterlin sie nicht nicht zwei Wochen schon wieder losschickte... Auch wenn das leider sehr gut möglich war, wollte sie lieber nicht daran denken, wie sie dann in einem fremden Land tagtäglich fast umkam vor Sorge. Und sie wollte vor allem auch nicht daran denken, Faye ganz alleine in einer Psychiatrie zu wissen, falls Victor ihr bis dahin nicht gefolgt war oder sie zumindest öfter mal besuchen konnte. Wonach es momentan aus diversen Gründen ja nicht wirklich aussah... Zum einen war da sein Gesundheitszustand, von dem sie nicht wusste, wie schnell er einen Standortwechsel oder seine freie Bewegung zulassen würde, und zum anderen die ganzen Ärzte - und wie schon einmal angedeutet möglicherweise eben nicht nur die Ärzte - die so vehement davon abrieten, dass er und Faye wieder aufeinander trafen. Dass Faye jemand anderes als sie und Victor in ihre Nähe lassen würde, war momentan auch höchst fraglich... Natürlich hoffte Aryana, dass sich das bald bessern würde. Aber das Einzige, was sie sicher wusste, war, dass sie ihre Schwester noch nie in einem so katastrophalen psychischen Zustand gesehen hatte. Was schon was heissen sollte, nach allem was hinter ihnen lag... Es war nur nicht normal, dass Faye mit gar keinem reden wollte und sich so offensichtlich das Ende herbeiwünschte, dass es ihr dabei sogar sehr egal war, welche wahllose Krankenschwester sie mit ihrem plötzlichen Blutbad traumatisierte. Aber sie sollte besser nicht jetzt darüber nachdenken, weil ihre zehn Minuten hier bestimmt gleich abgelaufen waren und sie Victor nicht mit der steilen Falte auf ihrer Stirn beunruhigen wollte. Seinen Zeitvorschlag konnte sie gut und gerne bejahen, dann konnte sie im Anschluss gleich ihre Schwester besuchen und mit ihr Mittagessen. Die Ärztin hatte gemeint, das wäre sowieso ein empfehlenswerter Versuch im bisher stark zum Scheitern verurteilte Vorhaben, Faye zum Essen zu motivieren. Also willigte sie auch noch wörtlich mit einem "Klar, das sollte ich schaffen", ein, als Victor den Stift ein weiteres Mal ansetzte, was ein leichtes Fragezeichen auf ihr Gesicht zauberte. Hazel? Was hatte Hazel mit 10-11 zu tun? Beziehungsweise wer war das? Dem Lächeln nach zu urteilen, mit dem er im Anschluss in ihre Richtung blickte, sollte sie die Frau wohl kennen. Und wenn sie ihren Kopf genügend anstrengte, glaubte sie auch zu wissen, warum. "Deine Schwester?", fragte sie also alles andere als sicher nach der Wahrheit ihrer erstbesten Vermutung. Soweit sie sich erinnern konnte, war irgendwann mal von Hazel die Rede gewesen, nachdem Victor und Faye für ein Wochenende seine Familie besucht hatten. Und es würde ja auch Sinn machen, dass er hier von seiner Schwester sprach, da seine Familie sicherlich als Erstes angereist war, nachdem sie über sein Schicksal informiert worden war. Warum Victor aber wollte, dass Aryana sich mit seiner Schwester unterhielt, war ihr trotzdem nicht ganz klar. Denn nein, natürlich hatte Faye den Zwischenfall nicht erwähnt, weil sie ja grundsätzlich nur Belangloses über sich oder ihre Tage berichtete. Weil sie nicht darüber redete, dass sie Victor oder seine Familie nicht sehen wollte oder konnte. Weil sie nicht sagte, was ihr Problem war oder wieso.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Das Lächeln auf meinen Lippen wurde prompt ein bisschen breiter, als Aryana bestätigte morgen am späten Vormittag noch nichts anderes vorzuhaben. Wenig später hakte sie hinsichtlich des Vornamens auf dem Papier nach. Entweder hatte Faye meine Schwester tatsächlich erwähnt, oder aber die Brünette hier im Stuhl erinnerte sich dunkel an irgendein Gespräch hinsichtlich meiner Familie. Jedenfalls lag sie mit ihrer Vermutung goldrichtig und bekam deshalb ein schwaches Nicken von mir. Dennoch löste sich das Fragezeichen in ihren Augen aber nicht wirklich auf, also war wohl davon auszugehen, dass Faye zumindest vom gestrigen Besuchsversuch nichts berichtet hatte... aber das wunderte mich auch nicht wirklich, nachdem sie Hazel ohne ein einziges persönliches Wort wieder hatte wegschicken lassen. Die beiden verstanden sich sonst eigentlich immer ziemlich gut, sie musste also einen triftigen Grund dafür haben. Aber wie verklickerte ich Aryana jetzt mit möglichst wenigen Worten am besten, dass die beiden sich - wenn es nach meinem Kopf ging - mal unterhalten sollten, ohne dabei die zwei wichtigsten Gründe dafür außen vor lassen zu müssen? Es nervte mich wirklich unsagbar, dass weder meine Lippen, noch meine Hand tadellos funktionierte. Man sollte als gesunder Mensch die Sprache mehr wertschätzen. Ich blätterte etwas umständlich mit der einen Hand um und seufzte im Anschluss leise, während ich noch einen Moment lang darüber nachdachte, was ich schreiben sollte. Hazel ➞ Diagnose, versuchte ich Aryana verständlich zu machen, dass die junge Frau ihr besser sagen konnte, was der Arzt mir - und meiner Familie - so den lieben langen Tag an Prognosen stellte. Was seine Einschätzung zur Genesung und der Dauer waren, eben was es so alles zu meinem Gesundheitszustand zu sagen gab. Den Arzt selber fragen konnte Aryana zwar auch, aber da würde sie kaum eine Antwort kriegen. Glaubte ich zumindest. Ich deutete kurz etwas krumm mit dem Stift auf mich selbst, in der Hoffnung mein Gekritzel so etwas verständlicher zu machen. Hazel nach, ich musste eine kurze Pause machen, weil meine Hand immer stärker zu zittern und sich zu verkrampfen anfing. Ich versuchte die Finger ein bisschen zu lockern, ohne den Stift loszulassen, bevor ich weiterschrieb: Faye fragen. Mein Blick suchte wieder nach Aryanas. Wahrscheinlich konnte sie damit jetzt im ersten Moment nicht viel anfangen, aber sie würde morgen schon verstehen, was ich gemeint hatte. Dazu musste sie meine Schwester einfach nach ihrer eigenen fragen, daraufhin dürfte sich die Unklarheit dann bald in Luft auflösen. Ging nur leider erst morgen und bis dahin müsste sich Fayes ältere Schwester wohl noch allein den Kopf darüber zerbrechen. Auch deshalb, weil ich gar nicht mehr die Chance dazu bekommen sollte ihr noch mehr zu erklären. Unabhängig davon, dass mein Handgelenk und meine Finger gerne eine Pause machen wollten, sah auch Dr. Caldwell den Besuch als beendet an. Er klopfte zwar flüchtig an und dirigierte meine Augen damit unweigerlich zur Tür, aber er kam ohne Umschweife rein und machte eine ausladende Handgeste in Richtung der Zimmertür.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +