Allein Victors Körperhaltung und Gesichtsausdruck verrieten überdeutlich, dass die Situation viel zu schwer auf seinen Schultern lastete. Allein das wäre Grund genug, Faye in seine Probleme einzuweihen. Ganz abgesehen von der Sache mit dem Lügen, die absolut kein guter Weg zu gehen waren. Wenn er in ihrer Gegenwart ebenso niedergeschlagen aussah, dann müsste die junge Brünette blind sein, nicht zu merken, dass er etwas verheimlichte. Also alles in allem eine echte Zwickmühle, deren Ausmass Aryana je länger je mehr bestens begreifen konnte. Und es wäre wirklich schon anstrengend genug gewesen, so wie es jetzt war. Sie hatte schon so keine Ahnung mehr, was sie Victor sagen konnte und wusste nicht recht, ob es überhaupt eine gute Idee gewesen war, herzukommen. Vielleicht war er froh, über seine Probleme reden zu können - vielleicht hatte sie ihm auch nur seine Schwierigkeiten weiter vor Augen geführt, weil sie gefühlstechnisch ein solcher Tollpatsch war. Sie wusste es eben nicht besser. Erst recht nicht eine halbe Minute später, als eine andere Stimme die Stille durchschnitt und Aryana - ihrer neugewonnenen Schreckhaftigkeit sei Dank - heftig zusammenzucken liess. Das Wasser aus dem Glas, welches sie davor in Gedanken versunken zwischen ihren Fingern gedreht hatte, spritzte dabei ein wundervolles Muster über den Tisch und ihren Pulli, bevor sie es kontrolliert behutsam abstellte und dabei die Augen schloss. Fuck. Wann bitte war Faye nach Hause gekommen?? Wie hatten sie beide die Tür nicht hören können? Natürlich bewegte ihre kleine Schwester sich leise, aber es war eine Haustür, die konnte sie ja auch nicht wie ein Geist einfach durchschwebt haben! Was hatte sie alles gehört und warum... Warum hatte das jetzt auch noch passieren müssen? Warum hatte sie all die Dinge gesagt, die ihr die letzten Minuten über die Lippen gekommen waren und die absolut nicht für Fayes Ohren bestimmt gewesen waren? Wirklich, warum war sie hergekommen? Sie hatte alles ausser Ärger gesucht, kein Drama stiften und sicher nicht die beiden Menschen, die Glück und Frieden so bitter nötig und so hart verdient hatten, gegeneinander aufspielen wollen. "Faye, bitte... Es tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen... Ich wollte nicht...", die ältere Cooper war mittlerweile ebenfalls von ihrem Stuhl aufgestanden, auch wenn sie nicht wirklich wusste, wohin sie mit sich sollte. Wahrscheinlich sollte sie gehen. Aber es fiel ihr schwer, solches Chaos zu stiften und dann das Schlachtfeld zu verlassen. Sie rannte nicht von ihren Fehlern weg, das hatte sie nicht gelernt. Bloss war es hier wohl schwierig, noch irgendwas davon wieder gut zu machen, was sie gerade zerstört hatte. "Ich wollte nicht Ärger stiften, wirklich... ich hab' einfach nicht nachgedacht...", ja, das dürfte nicht besonders viel von dem wieder gut machen, was sie soeben zerbrochen hatte, das sagte auch der eindeutige Blick ihrer Schwester, der einfach nur verletzt und voller purer Enttäuschung strotzte. So viel zum Thema des schönen Abends, den sie gesucht hatte. So viel zum Thema Ablenkung. Vielleicht hatte sie Ablenkung von ihrem eigenen, nicht sonderlich spannenden Leben bekommen, dafür hatte sie sich sehr viel mehr Ärger geschafften - mit der einen Person, die sie wirklich nicht hatte verletzen wollen. Um die sie sich sonst schon dauerhaft Sorgen machte, auch wenn die Karten mittlerweile wieder etwas besser standen. Gestanden hatten. Was auch immer...
Sie wirkten beide mehr oder weniger schockiert von ihrer Anwesenheit. Was kein Wunder war, denn wenn sie gewusst hätten, dass Faye die Wohnung betreten hatte, hätten sie sich kaum so unbekümmert über ihre Belastbarkeit - respektive das Fehlen ebendieser - unterhalten. Zumindest glaubte sie das, wäre sonst aber auch wirklich schlimm. Noch schlimmer als so schon... Sie hasste, wie die beiden sie anschauten, wollte die überrumpelten Blicke nicht sehen und wünschte sich einfach, nichts von dem hier wäre gerade wirklich passiert. Dass Victor nicht wirklich bei Aryana nach Rat fragen müsste, weil er nicht wusste, wie er am behutsamsten mit ihr umgehen könnte. Das war doch vollkommen lächerlich..! Und jetzt flackerte da tatsächlich Panik in seinem Blick. Wegen ihr. Wovor hatte er denn jetzt Angst?? Dass sie hier auf der Stelle zusammenbrach, weil sie mit den Neuigkeiten nicht umgehen konnte, wie er das wohl befürchtet hatte?! Faye konnte gar nicht mehr wirklich einordnen, was in diesem Moment alles schmerze, aber die Messer bohrten sich zahlreich in ihr Herz, ohne, dass sie auch nur einen der erlernten Schutzmechanismen anwenden könnte, die ihr so lange eingetrichtert worden waren. Sie hatten sich über sie unterhalten. Victor hatte Aryana von einem Geheimnis erzählt, bevor er dies mit ihr geteilt hatte. Aryana hatte ihm zugehört und Recht gegeben. Victor blickte sie an als hätte er Angst, als wäre es ein Fehler von ihr, jetzt hier zu stehen. Er entschuldigte sich mit einem Satz, den er nicht zu Ende sprechen musste. Und Aryana tat das Gleiche. Tat dazu noch fast so, als hätte sie Victor beinahe zu dieser Erzählung gedrängt. Dabei kannte Faye ihre Schwester mit am Besten und Aryana war nicht der Typ Mensch, der um jeden Preis irgendwelchen Klatsch und Tratsch kennen musste, der andere dazu drängte Dinge zu erzählen, die sie nicht freiwillig offenlegen wollten. Also war das hinfällig. Victor musste von sich aus auf die Idee gekommen sein, diese Information gerne zuerst mit Aryana und dann erst - eventuell, wenn der Mond und die Sterne gerade gut standen und sein linker Zeh ihm das bewilligte - mit Faye zu teilen. Entsprechend blieb ihr Blick nun auch erstmal eine Weile stumm auf ihrem Freund liegen, lange nachdem er etwas hilflos ausgeredet hatte. "Nur hattest du Angst, ich würde deswegen wieder dem leichten bis mittelschweren Wahnsinn verfallen. Wieder darüber nachdenken, was alles schiefgehen könnte. Mir wieder zu viele Sorgen machen um Dinge, die das doch gar nicht wert sind. Ich weiss...", gab sie leise zurück, dass sie sehr wohl verstanden hatte, warum er es ihr nicht gesagt hatte. Sie hatten es ja laut und deutlich besprochen, bis vor ein paar Augenblicken. Faye bemühte sich noch immer darum, die Tränen nicht aus ihren Augenwinkeln tropfen zu lassen, aber so langsam wurde das dezent unmöglich. So dauerte es auch nur noch ein paar Sekunden, bis die erste davon sich selbstständig machte und ihre Wange hinab rollte. War ja auch schon unverhältnismässig lange her, seit sie zuletzt geweint hatte. Wenn sie so darüber nachdachte, dürften es schon mehr als Wochen gewesen sein, kurz vor ihrem ersten Arbeitstag. Besser, sie änderte das hier und jetzt mal wieder, um hier ja keine neuen Rekorde aufzustellen... Sie drehte den Kopf leicht in die Richtung ihrer Schwester, die sich mittlerweile ebenfalls auf die Füsse bewegt hatte. "Ich weiss. Ihr habt das nicht gemacht, um mich zu belasten. Nur, weil ihr euch so viele Sorgen macht. Aber das müsst ihr nicht. Mir gehts gut. Im Gegensatz zu euch beiden, offenbar", erklärte sie mit steigender Ironie nun auch Aryana, als hätte sie das davor nicht mitbekommen. Und mit diesen Worten war ihr Wille, hier zu stehen, dann aber auch gänzlich aufgebraucht. Sie drehte sich im Türrahmen um und trat den Rückzug an, noch immer voll eingekleidet zurück zur Wohnungstür, die sie in dieser Stunde besser nicht passiert hätte.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Es war schwer in Worte zu fassen, wie sehr ich mich gerade dafür hasste, dass ich Faye rein gar nichts gesagt hatte. Dass ich auch noch zuerst zu Aryana damit gegangen war - zwar weniger geplant und sehr viel mehr ziemlich spontan, aber getan hatte ich es trotzdem. Natürlich nicht, weil ich meiner besseren Hälfte etwas Böses wollte, sondern viel mehr im Gegenteil und trotzdem hatte ich ihr gerade genau dadurch weh getan. So sehr, dass sie schon wieder den Tränen nahe war und jene letztendlich sogar ihre Wangen hinab zu kullern anfingen. Auch ihre ältere Schwester hatte mit ihren Worten nämlich nicht viel bis gar nichts wieder richten können - was kein Wunder war -, weshalb ich absolut aufgeschmissen im Raum stand, während Faye noch einmal das Wort ergriff. Beteuerte, dass ich wir uns gar keine Sorgen um sie zu machen brauchten, obwohl ihre aktuelle Gefühlslage ziemlich genau das Gegenteil untermauern würde und wir uns lieber mal alle beide an die eigene Nase fassen sollten. Aber vielleicht war es Faye tatsächlich gar nicht so schlecht gegangen, nur eben bevor ich angefangen hatte den ganzen Mist zu verheimlichen und sie schließlich dieser Situation auszusetzen. Ja, vielleicht hätte sie die Wahrheit tatsächlich schon viel früher verkraftet und auf jeden Fall hätte sie es besser weggesteckt als das, was sich hier gerade abspielte. Denn sie war schon wieder drauf und dran mich einfach stehen zu lassen und das erinnerte mich ungemein an die Situation in der Psychiatrie, als ich ihr während der Auseinandersetzung bezüglich des weiblichen Pflegepersonals ein paar sehr direkte Worte an den Kopf geworfen hatte, woraufhin sie für mehrere Stunden einfach verschwunden war. Ich vor Sorge fast krank geworden war und das obwohl ich ihr sogar die nette, alte Dame auf die Fersen geschickt hatte, die sie wie von mir erhofft sogar gefunden und zurückgebracht hatte. Zwar hätte ich den Stich im Herzen sicher verdient, wenn sie jetzt aus der Wohnung verschwand und mich wieder mal - mehr oder weniger - alleine stehen ließ, aber ich hatte auch dieses Mal kein gutes Gefühl dabei sie einfach ziehen zu lassen. Sie hatte jedes Recht dazu jetzt nicht in meiner Nähe sein zu wollen, nachdem ich ihr all das verheimlicht hatte. Dennoch hoffte ich darauf, dass sie sich von mir dazu überreden ließ zu bleiben. Ich ertrug ja allein schon den Gedanken daran nicht, dass ich wieder viel zu viele Minuten lang nicht wissen würde, wo sie war, wie es ihr ging und außerdem war ich mir nach wie vor nicht sicher damit, wie stabil sie psychisch im Moment wirklich war. Würde sie auf dumme Ideen kommen und ihr stieß etwas zu, dann würde ich mir das nie verzeihen, also galt es allein schon die Chance darauf nach Möglichkeit auszuradieren. Sie müsste auch nichts von all dem Schmerz und der Enttäuschung in sich hinein fressen, sondern sollte wenn es nach mir ging ruhig offen damit umgehen und es an mir auslassen, was ihr sicher ganz gut täte. Vielleicht würde es den negativen Emotionen zumindest ein kleines Ventil geben und die junge Frau dadurch zumindest etwas weniger aufgewühlt zurücklassen. Ich setzte bald nachdem Faye sich in Bewegung gesetzt hatte zur Verfolgung an und kaum zog sie die Wohnungstür einen Spalt breit auf drückte ich einfach halb hinter ihr stehend mit der Hand dagegen, damit sie ziemlich plötzlich und dadurch etwas unsanft zurück ins Schloss fiel. Ich ließ die rechte Hand an der Tür liegen und legte die linke zögerlich an die Schulter der zierlichen Brünetten, um sie ein klein wenig mehr zu mir umzudrehen. "Bitte geh nicht, Faye... knall mir alles an den Kopf was du willst, aber bitte... bleib hier.", versuchte ich sie mit durchweg besorgt klingenden Worten dazu zu überreden hierzubleiben. Schluckte im Anschluss ganz leise, ohne den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden und versuchte schon währenddessen mit unruhigen Augen eine Antwort aus ihren Gesichtszügen zu lesen. Selbstverständlich würde es mir auch nicht besonders gut gefallen, wenn sie mir noch weitere schmerzliche Worte servierte, aber das war leichter erträglich als Unwissenheit. Vielleicht würde es mir auch damit helfen meiner Freundin in Zukunft weniger zögerlich meine Probleme anzuvertrauen, ganz egal um was es dabei ging. Wohin das Gegenteil davon führte hatte ich jetzt herausgefunden und es war sicher nur gerecht, wenn sie mir noch einmal unmissverständlich ausmalte, was sie nun davon hielt - beziehungsweise eben nicht.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Sie hatte gerade wirklich nicht die Nerven, sich weiter mit Victor oder Aryana auseinanderzusetzen. Sie wollte auch gar nicht mit ihnen reden, wenn sie weinte. Und es war auch bestimmt nicht besonders intelligent, mit solch erhitztem Gemüt ein Gespräch zu suchen. Sie wollte keine Dinge sagen, die sie später bereute, die ihre Zurechnungsfähigkeit weiter untergrabten und die Beiden letztendlich nur in ihrer Vermutung unterstützen, dass Faye ganz einfach noch immer keine schlechten Neuigkeiten verkraften konnte, ohne im Anschluss einen Nervenzusammenbruch hinzulegen. Darum beschleunigten sich ihre Schritte auch, als sie merkte, dass Victor zur Verfolgung ansetzte. Sie war schon bei der Wohnungstür angelangt, als er sie erreichte und wäre sicherlich auch nach draussen getreten, hätte er ihre Pläne nicht sehr bestimmt durchkreuzt. Die Tür fiel wieder ins Schloss und Faye blickte beinahe etwas irritiert auf das dunkle Holz. Als könnte sie nicht wirklich glauben, dass er ihr gerade ernsthaft die Tür vor der Nase wieder geschlossen hatte, als hätte er in diesem Moment irgendein Recht auf ihre Anwesenheit. Die im Übrigen sehr offensichtlich ja auch gar nicht erwünscht gewesen war heute Abend. Ihre Finger lagen noch um die Türfalle geschlossen, als seine Hand auf ihrer Schulter sie schwach zusammenzucken liess, bevor sie sich ein kleines Bisschen zu ihm umdrehte. Ihr Blick verriet wohl ziemlich eindeutig, dass sie wenig von dieser Aktion hielt und nicht wirklich gewillt war, seiner leisen, ungewöhnlich belegt klingenden Bitte Folge zu leisten. Er wollte also nicht, dass sie ging. Natürlich nicht... Man liess schwache, unzurechnungsfähige, hochemotionale, verletzte und aufgewühlte Psychopatinnen normalerweise eben ungern allein auf die Strassen. Sie könnten ja was Dummes anstellen. Sich was Dummes antun, wenn sie plötzlich zu affektuell und unüberlegt handelten. Seine Stimme klang besorgt. Sein Blick war besorgt. Seine Worte waren besorgt, das, was er davor zu Aryana gesagt hatte, war besorgt gewesen... Gott, was machte sie mit diesem Menschen?? Was musste er von ihr denken, dass er überhaupt je abwägen musste, ob er ihr bestimmte Dinge aus seinem Alltag erzählen konnte oder ob sie das emotional nicht verkraften würde?? Sie hatte wirklich gehen wollen. Aber je länger sie ihn in ihrem Zwiespalt anschaute, umso klarer wurde ihr, dass sie wirklich sehr dringend mal reden mussten. So fiel ihre Hand nach einigen langen, stillen Sekunden von der Tür ab und Faye drehte sich ganz zu ihrem Freund um. "Ich schätze, wir sollten Reden, Victor", ihre Stimme klang genauso belegt wie seine, während sie sich aber mittlerweile mit tiefem Durchatmen wieder soweit im Griff hatte, dass sie es wagen konnte, die Tränen aus ihren Augenwinkel zu wischen. Auch wenn sie es nicht ganz so geplant hatte, schritt sie also etwas zögerlich mit ihm zurück in die Wohnung. Sie blieb kurz stehen, als sie Aryana ziemlich verloren im Rahmen der Küchentür stehen sah. "Du kannst nach Hause... Und hör auf, mich so besorgt anzuschauen, Aryana. Ich bin nicht mehr an diesem Ort, okay? Ich bin nicht mehr krank", Faye wusste nicht, wie sie das jemals glaubhaft beweisen würde. Sie wollte sich nicht immer rechtfertigen müssen. Sie wünschte, die anderen würden das verstehen. Aber wahrscheinlich würde ihre Schwester sich ein Leben lang Sorgen um sie machen. Genau wie das umgekehrt auch der Fall war. Nur hiess das eben nicht, dass die Brünette damit einverstanden war oder das sogar gutheissen würde... Aryana nickte langsam, setzte zu einer weiteren Entschuldigung an, die Faye aber mit einem Kopfschütteln sofort unterbrach. Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie auf ihre Schwester zuging, diese kurz aber eng umarmte, bevor Aryana dann wirklich in Richtung Tür aufbrach. Faye würde nicht so schnell über die Geschehnisse dieses Abends hinweg sehen, so war das nicht. Aber sie hatte in ihrem Leben genug erlebt, um zu wissen, dass sie sich niemals in einem Streit von ihrer Schwester trennen wollte. Dass sie Aryana niemals ohne das obligatorische "Pass auf dich auf", durch eine Tür nach draussen treten lassen würde. So auch heute nicht. Und nach dem leisen, noch immer sehr gedrungen klingenden "Ihr auch...", verschwand ihre ältere Schwester dann auch, liess Victor und Faye alleine zurück, wobei die Brünette nun langsam ins Wohnzimmer trat, um sich dort aufs Sofa zu setzen. Sie zog sofort die Beine an und starrte zuerst auf den Boden, ehe ihre Augen langsam damit anfingen, Victor zu mustern. Als möchte sie all die anderen Dinge finden, die er noch vor ihr verheimlicht hatte, weil er sie nicht hatte belasten wollen. "Erzählst du's mir jetzt? Alles?", murmelte sie in seine Richtung. Sie fühlte sich doof, danach zu fragen - als gäbe es in diesem Moment noch eine andere Option als die Wahrheit für ihn. Sie wollte nicht so nach seinem Wohlergehen fragen müssen. Wünschte sich doch, dass er ihr von allein alles erzählte, was ihn bedrückte. Aber das würde sie später sagen. Zuerst wünschte sie sich jetzt nämlich nur eines: nämlich endlich die Wahrheit.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Es fühlte sich wirklich so an, als würde Faye eine endlose Ewigkeit erst über meine Bitte nachdenken müssen. Ich fürchtete gefühlte Stunden weiter darum, dass sie jetzt trotzdem ging und mich hier stehen ließ, weil ich mir mit meinem Schweigen einfach zu viel erlaubt hatte. Aber je länger wir uns ansahen, desto weicher schien ihr Blick wieder zu werden und als sie schließlich das Wort ergriff, konnte ich endlich aufatmen. Natürlich hieß das jetzt, dass ich mich durch ein wahrscheinlich sehr unangenehm werdendes Gespräch mit meiner besseren Hälfte quälen musste, aber das war wohl einfach die gerechte Strafe für mein bisheriges Schweigen, das ich womöglich erst nach unzähligen weiteren Tagen irgendwann gebrochen hätte, wenn Faye nicht heute hier aufgetaucht wäre. Dennoch wollte sie mir eine Chance dazu geben alles zu erklären, darüber zu reden und das nahm ich mit einem schwache Nicken und einem leisen "Ja." hin, als sich meine Schultern wieder entspannten und ich daraufhin auch die Hand langsam von der Tür rutschen ließ. Die beiden Schwestern verabschiedeten sich verhältnismäßig flüchtig voneinander und bevor Aryana durch die Tür verschwand, ließ ich ihr noch einen schwach nach oben zuckenden Mundwinkel bei kurzem Blickkontakt zukommen. Mir war nicht nach einem Lächeln, aber ich wollte der älteren der beiden Cooper-Schwestern zumindest flüchtig signalisieren, dass ich ihr an dieser Situation hier keine Schuld gab. Es war schließlich nicht ihre Idee gewesen Faye all das zu verheimlichen und sie hatte mir lediglich ihr Gehör geschenkt - wofür ich auch immer noch dankbar war, obwohl mich genau das jetzt in die Bredouille gebracht hatte. Daran war ich selbst Schuld und nicht meine einstige Befehlshaberin bei der Army. Trotzdem war ich froh darüber, dass sie verschwand und mich mit der zierlichen Brünetten alleine zurückließ, damit wir unsere Ruhe hatten und nicht ein weiteres paar Ohren zuhörte. Mochte schon sein, dass Aryana jetzt auch ein bisschen mit in diese Misere involviert war, aber darüber konnte sie auch wann anders noch mit ihrer Schwester reden. Sie war schließlich nicht das Kernproblem. Auch, wenn die Angst davor, dass Faye einfach nach draußen verschwinden würde, sich jetzt gelegt hatte, als ich ihr langsam ins Wohnzimmer folgte, spürte ich einen sehr unangenehmen Druck im Magen. Der rührte wohl aus blanker Nervosität darüber, wie Faye nun weiter reagieren und ob sie mir das überhaupt verzeihen würde. Dementsprechend unruhig war ich auch, als ich mich tief durchatmend auf dem Sitzpolster des Sofas niederließ. Ich stützte mich nochmal mit den Armen nach vorne, dieses Mal auf meine Knie, um mir ein weiteres Mal mit den Händen übers Gesicht zu reiben. Noch währenddessen fragte die Brünette unweit von mir danach, ob ich ihr denn nun alles erzählen würde - als stünde überhaupt irgendetwas anderes zur Debatte. Mal ganz davon abgesehen, dass sie selbst sicher auch endlich die Wahrheit wissen wollte, würde es mich umbringen, wenn ich sie mir von nun an jeden Tag vorwurfsvolle Blicke zuwarf, weil ich nicht mit der Sprache rausrückte - oder gar noch viel Schlimmeres. Ich schluckte also leise, während ich mich wieder zum Sitzen aufrichtete und nickte dann langsam. Sie anzusehen fiel mir gerade aber zu schwer, also klebten meine Augen vorerst fest an dem Couchtisch vor uns. "Der Tag vor drei Wochen, an dem ich später nach Hause gekommen bin... das... da hatte ich die Panikattacke, nicht nur irgendwelche Kreislaufprobleme... der Ausbilder hat uns im Praxisunterricht mit einer Messerattrappe konfrontiert und das... hab ich nicht gepackt. Es kam alles wieder zurück..." Dass es sich bei alles um das in meinem Bein steckende Messer aus den Hügeln und das ganze Drumherum handelte, war sicher überflüssig zu erwähnen. Ich unterbrach die Erklärung kurz, um nochmal etwas durchzuatmen und setzte dann erneut zum Reden an. "Ich hab keine Luft mehr gekriegt, hyperventiliert, konnte mich nicht mehr beruhigen. Also haben sie den Notarzt gerufen und deswegen war ich so spät Zuhause... er wollte mich eigentlich gar nicht selber mit dem Auto fahren lassen und hat sich erst nach einer Ewigkeit dazu überreden lassen, mich einfach gehen zu lassen... dass es mir noch Tage danach nicht gut ging weißt du ja. Als ich dann das erste Mal wieder im Kurs war wollte der Ausbilder mich natürlich rausschmeißen und ich kann von Glück reden, dass er selber Veteran ist. Er will mir helfen die Schulung ganz durchzuziehen, also kriege ich jetzt separaten Unterricht was die Praxis angeht... das kostet mich nur leider dementsprechend wesentlich mehr und...", ich atmete ein weiteres Mal tief durch, "...ich mache nur sehr kleine und langsame Fortschritte, Faye. Schusswaffen sind eigentlich kein Problem, aber Messer... ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch hinkriege. Es ist als würde sich einfach ein Schalter in meinem Kopf umlegen... die Narben haben auch wieder angefangen wehzutun und dass ich schlecht schlafe hast du selbst mitbekommen.", murmelte ich so vor mich hin und fing vor lauter innerer Unruhe noch beinahe an auf dem Hinter hin und her zu rutschen. Stattdessen hatte ich irgendwann zwischendurch die Hände ineinander gelegt, knetete mir die Finger unterbewusst ein wenig durch. Senkte erst jetzt meinen Blick auf meine Hände und hörte deswegen mit der Kneterei auf, versuchte mich mit einer der zahlreichen 'Ruhig-atmen-Techniken' zu beruhigen. Das funktionierte nach einigen schweigsamen Sekunden auch tatsächlich zumindest ein bisschen, weshalb ich meinen Kopf danach erstmalig in Fayes Richtung drehte und sie vorsichtig ansah. "Ich weiß, dass es nicht meine Entscheidung sein sollte, was du vertragen kannst und was nicht... und dass es nicht okay war stattdessen einfach zu schweigen... aber ich... ich könnte dich gerade einfach nicht auch noch mit abfangen und..." Ich wurde immer leiser, brach mit einem schwachen Schulterzucken und einem leisen Seufzen schließlich ab, wendete den Blick zurück auf meine Finger. Sie hatte vorhin schon gehört, dass ich wie so oft einfach nach meiner Angst davor, sie auf welche Weise auch immer verlieren zu müssen, gehandelt hatte und es war überflüssig das noch ein weiteres Mal zu erwähnen. Eine Entschuldigung konnte nach alledem aber wohl gar nicht oft genug erfolgen. "Es tut mir wirklich leid, Faye... ich hätte dir das nicht verschweigen sollen." Meine Stimmbänder formten wiederholt mehr nur ein leises Murmeln, aber das änderte wohl nichts an dem durchweg schuldbewussten Unterton in meiner Stimme.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Es war Victor überdeutlich anzusehen, dass er sich nicht wohl fühlte. Dass er dieses Gespräch eigentlich lieber nicht führen würde. Nur war das eben keine Option. Ihre Beziehung war so überhaupt gar nicht auf Geheimnisse ausgelegt. War sie noch nie und würde sie hoffentlich auch nie sein, denn eigentlich waren Vertrauen und Wahrheit doch Grundbausteine von jeder funktionierenden Beziehung. Glaubte sie jedenfalls zu wissen. Und darum war es höchste Zeit dafür, dass er ihr erklärte, was denn nun das Problem war, von dem sie nichts hatte wissen sollen. Faye betrachtete den jungen Mann ein Bisschen unsicher dabei, wie er auf dem Sofa herumrutschte, bis er sich schliesslich doch noch aufrichtete. Weiterhin ohne sie anzusehen, begann er dann auch zu sprechen. Und sie hörte zu, versuchte die Ereignisse, die er schilderte, in ihre Gedanken einzuordnen. Ja, sie erinnerte sich bestens an den Abend, an dem es bei ihm so spät geworden war. Mitunter deshalb, weil sie sich damals doch auch Sorgen um ihn gemacht hatte. Natürlich. Es war ja keine angekündigte Verspätung gewesen, also hätte ihm in dieser Zeit auch irgendwas komplett anderes zustossen können, als ein paar Kreislaufprobleme auf der Arbeit. Die, so wie sich nun herausstellte, gar nie in der ihr ursprünglich bekannten Fassung stattgefunden hatten. Er hatte keine Kreislaufprobleme gehabt, sondern eine Panikattacke. Ausgelöst durch ein Messer. Oder auch nur ein Sinnbild dessen, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Tatsache war, dass, egal ob sie die Therapie soweit abgeschlossen hatten, egal, ob sie die Klinik hinter sich gelassen hatten, egal wie viel Zeit seit da vergangen war, das Trauma aus den Hügeln im weit entfernten Syrien sie noch immer nicht losgelassen hatte. Es wahrscheinlich niemals vollends tun würde. Und es haftete nicht nur an ihr selbst, sondern eben auch an Victor. Egal wie sehr viel besser er sich jeweils im Griff gehabt hatte, egal wie gut er das alles gemeistert hatte - auch bei ihm blieben die Spuren zurück, die sich nicht leugnen liessen. Und schon wieder drohte der grausame Teufel ohne Namen ihnen etwas zu nehmen, ihre Zukunft zu zerstören, ihre Träume zu verbauen, ihre Herzen zu vergiften. Faye hörte ihm zu, bis Victor zu Ende gesprochen hatte. Ihre Augen waren mittlerweile abgedriftet und lagen auf ihren gefaltete Finger. All die Emotionen die seine Worte in ihr hervor riefen machten es praktisch unmöglich für sie, in diesem Moment irgendwas zu erwidern. Es tat ihr unendlich leid, dass ihm das alles passiert war und er schon wieder durch einen Alptraum aus Unsicherheit wandeln musste, so kurz nachdem ihr Leben endlich wieder etwas vielversprechender ausgesehen hatte. Sie spürte den Hass auf den IS aufflammen, für das, was sie ihnen angetan hatten. Sie fühlte die Unsicherheit im Anbetracht der Tatsache, dass Victor ihr das nicht früher gesagt hatte, die Angst, dass er ihr noch mehr verschweigen könnte, dass sie ihm nur zur Last fiel, weil er sie - wie er so schön ausgedrückt hatte - nicht auch noch mit abfangen konnte. Und natürlich machte sie sich Sorgen. Genau wie er und Aryana befürchtet hatten. Wie könnte sie das auch nicht tun, wenn es ihm offensichtlich seit Längerem ziemlich beschissen ging? Sie liebte ihn doch, wollte nicht, dass er litt, versuchte ihm zu helfen. Nur war das diesmal eben nicht so einfach... Die Brünette hob den Kopf wieder, richtete ihren Blick langsam zurück in seine Richtung und nur ein paar Sekunden später erhob sie sich, um näher zu ihm zu rutschen, sich direkt an seiner Seite wieder ins Polster des Sofas sinken zu lassen. Noch bevor sie überhaupt wusste, was sie für Worte formen sollte, griff sie nach seinen Fingern, bettete diese zwischen ihre Hände und strich über die weiche Haut. "Das... das kriegen wir wieder hin, Victor... Genau wie alles andere davor, okay?", murmelte sie in ähnlicher Lautstärke wie er davor geredet hatte. Ihr Augen suchten den Weg zurück in seine, obwohl sie nicht sicher war, ob es der Situation half, wenn er alle Emotionen aus ihrem Blick lesen konnte, die sich zweifellos darin abspielen dürften. "Ich will dir auch helfen dabei. Ich will für dich da sein und tun, was du brauchst und was ich kann. Aber du musst das auch zulassen, verstehst du..? Du kannst mich nicht aussperren und glauben, dass es so besser wird...", wahrscheinlich war ihm das mittlerweile auch klar. Faye war sich aber trotzdem nicht wirklich sicher, ob er in Zukunft tatsächlich von solchen Schutzmassnahmen ihr gegenüber absehen würde. Sie wünschte es sich. Und es wäre auch fair im Gegenzug dazu, dass er von ihr immerhin dasselbe möchte. Aber er hatte ihr vielleicht auch einfach ein paar Mal zu oft bei ihren unzähligen Nervenzusammenbrüchen zuschauen müssen, als dass er das Risiko eingehen wollte, einen weiteren dieser Sorte zu riskieren. Da konnte sie wohl noch tausend Mal erklären, dass sie jetzt an einem anderen Punkt stand, sowas nicht so schnell wieder passieren würde und sie nicht mehr so labil war. In seinem Kopf war das definitiv noch nicht zu hundert Prozent angekommen, was sie ihm noch nicht mal wirklich verdenken konnte...
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Würde ich die Angst davor, dass Faye sich erneut an ihre Psyche verlieren würde, wohl irgendwann mal ablegen? Ich hoffte es wirklich, sah jenen Zeitpunkt im Moment aber eher nicht in unmittelbarer Nähe auf mich warten. Es würde wohl noch eine ganze Weile brauchen bis ich einsehen würde, dass ich die Brünette so oder so nicht vor der ganzen Welt beschützen konnte. Ganz gleich, wie sehr ich das wollte, war das schlicht und ergreifend ein Ding der Unmöglichkeit und es wäre sicher gesünder für jeden von uns beiden, wenn ich einfach damit anfangen würde sie wieder wie ein selbstständiges Lebewesen zu sehen und zu behandeln. Sie konnte ja schlecht wieder ein normales Leben führen, wenn ich mich dabei querstellte. So mit ihr umging, als hätte sich seit unserem Auszug aus der Psychiatrie rein gar nichts geändert. Als hätte sie nicht auch in unseren letzten Wochen dort schon große Fortschritte gemacht. Nur war das für mich wesentlich schwerer als es klang. Ich war mir ziemlich sicher damit, dass ich mehr Angst davor hatte Faye doch noch an die heimtückische, menschliche Psyche zu verlieren, als vor einer Messerattacke auf meine Person. Es blieb also einfach zu hoffen, dass ich beide Ängste irgendwann ablegen können würde, wobei die hinsichtlich Faye wohl doch die wichtigere war - es wäre zwar auch schwer mich berufliche neu zu orientieren, bevor ich überhaupt wieder richtig hatte Fuß fassen können, aber wenn ich Faye nicht wieder an mich ranließ, dann würde ich früher oder später mit Sicherheit unsere Beziehung an die Wand fahren und damit letzten Endes genau das bewirken, was die Angst ursprünglich verhindern wollte. Die Welt war nun mal einfach nicht fair und hier und da durchaus fies, davor konnte ich meine bessere Hälfte nicht schützen. Genauso wenig wie vor mir und meinem offensichtlich vorhandenen, psychischen Knacks, den ich ebenfalls mit ihr teilen musste. Eine Beziehung war nun mal alles oder gar nichts und nicht irgendetwas dazwischen. Meine Augen waren wieder vermehrt nach unten abgerutscht, bis Faye sich schließlich in Bewegung setzte, um mir ein ganzes Stück näher zu kommen. Damit allein signalisierte sie mir wie so oft, dass meine Bedenken eigentlich wirklich dämlich waren. Selbst jetzt, wo sie von der ganzen Sachen erfahren hatte und wirklich mit gutem Grund sauer auf mich hätte sein können, reagierte sie ruhig. Knallte mir nichts an den Kopf, obwohl ich das durchaus verdient hätte, sondern griff stattdessen nach meiner Hand und meine Augen lagen daraufhin für einen Moment lang auf ihren Fingern. Erst, als die junge Frau schließlich das Wort ergriff, hob ich den Blick wieder in ihre Augen an. Ich wollte ihr glauben, dass wir auch das wieder irgendwie hinbekommen würden - wirklich. Nur ließ sich kaum all die Unsicherheit, die sich in den letzten drei Wochen in meinem Inneren aufgebaut und angestaut hatte, innerhalb weniger Sekunden einfach so auslöschen. Dass sie selbst ebenfalls nach wie vor sichtbar aufgewühlt war - vollkommen zu recht -, war dahingehend vielleicht auch einfach ein wenig kontraproduktiv. Das würde sich heute jedoch kaum mehr legen und es wäre mit Sicherheit gut für uns, wenn wir und auch morgen nochmal in aller Ruhe, wenn die Gemüter nicht mehr so erhitzt und durch den Wind waren, darüber unterhielten. Über eine Sache erst einmal eine Nacht hinwegzuschlafen konnte hier und da Wunder bewirken. Vielleicht ging es mir schon deutlich besser, wenn ich einfach nur sah, dass Faye noch immer da war. Wenn ich neben ihr aufwachen konnte und wir uns genauso wie sonst auch immer nur ungern aus dem Bett bewegen wollten, weil es zu zweit unter der Decke einfach angenehm warm und kuschlig war, während der Winter leider immer näher kam. Ich nickte also erst einmal nur ein wenig, bevor die Brünette noch weitere Worte an mich loswurde und damit traf sie ins Schwarze. Ja, ich musste sie lassen. Musste ihr überhaupt erst die Möglichkeit dafür einräumen mir unter die Arme zu greifen, bevor ich erwarten konnte, dass auch nur irgendwas von den mich erschlagenden Bedenken sich langsam etwas verflüchtigte. "Ich... ich weiß. Eigentlich...", murmelte ich erst einmal nur leise, kaum hörbar. Denn ja, mir war bewusst, dass von Nichts auch nur Nichts kommen konnte. Das hieß nur eben sehr offensichtlich nicht im gleichen Zug auch, dass ich das Wissen in Taten und vor allem auch in Worte umsetzte. Ich stand mir selbst und vor allem auch der Beziehung zu Faye ganz gekonnt im Weg mit meinem Schweigen und womöglich war es gar nicht schlecht, dass es jetzt auf diese unangenehme Art und Weise herauskam. Natürlich fühlte ich mich wegen Alledem gerade mehr als schuldig, aber das war wohl ganz einfach der Dämpfer, den ich nötig hatte. Der wegen all der negativen Gefühle inzwischen wieder leise vor sich hin zwickende Rücken unterstrich das überdeutlich. "Ich werd' wirklich versuchen, dir von jetzt an... naja, wieder mehr zu erzählen." Ich seufzte leise. "Aber ich fürchte die eine oder andere Sache wirst du mir wahrscheinlich trotzdem weiterhin aus der Nase ziehen müssen. Also bohr vielleicht in nächster Zeit einfach noch extra aufdringlich nach, so zur Sicherheit.", meinte ich und zuckte ein wenig mit den Schultern. Ich konnte Faye nicht versprechen, dass ich ihr wirklich Alles aus freien Stücken erzählen würde, wäre das doch nur eine Lüge an mich selbst und auch an sie. Ich hatte es über Jahre hinweg perfektioniert Sachen in mich hineinzufressen und ließ diese eigentlich wirklich nicht gute Eigenschaft aus Angst heraus gerade wieder aufleben. Ich neigte mich der Brünetten etwas mehr entgegen, lehnte meinen Kopf vorsichtig an ihren und streckte auch meine zweite Hand noch nach ihren aus. "Hab wohl doch ich den Therapeuten grade eindeutig nötiger als du.", stellte ich abschließend leicht sarkastisch, wenn auch weider mehr nur gemurmelt und womöglich aber auch ein Stück weit wahrheitsgemäß fest. Zwar könnte es Faye sicher auch nicht schaden, jetzt wo sie mit der Arbeit wieder angefangen hatte und früher oder später vielleicht mit Irgendetwas Unschönem konfrontiert wurde, aber bei mir war mehr Therapie gerade wohl wichtiger. Dieser fast schon krankhafte Beschützerinstinkt und der Wille dazu am besten immer alles alleine hinzukriegen, nur um Faye mit nichts zu belasten, war sehr offensichtlich nämlich nicht gesund und ich wusste, dass sich das nur schwer von mir ablegen ließ.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Es dauerte eine Weile, bis er den Blick hob und sie ebenfalls anschaute. Und dann brauchte es nicht lange, bis sie es war, die ihre Augen wieder abwärts driften liess, nachdem er zu sprechen begonnen hatte. Sie schaute auf ihre Finger. Die trotz allem, was sie gemeinsam durchlebt hatten, trotz all den Stolpersteinen - und teilweise waren das wirklich viel mehr wahre Felsen und Berge als Steine gewesen - noch immer miteinander verschränkt da lagen. Weil sie beide sich weigerten, loszulassen. Wenn sie so darüber nachdachte, und das hatte sie schon oft getan, war das wahrlich mehr als ein Wunder. Als sie sich kennengelernt hatten, hatte Victor noch knietief in seiner ersten PTSD gesteckt und Faye war selber mehr schlecht als recht mit irgendwas in Syrien klar gekommen. Sie hatten sich dadurch angenähert, dass sie gegenseitig versucht hatten, sich ein Bisschen Linderung im Kriegsalltag, ein wenig Zuflucht und Ruhe zu schenken. Ein offenes Ohr und eine zärtliche Hand. Dann war das eine Weile gut gegangen und sie hatten nach nicht allzu langer Zeit beschlossen, die verbotene Grenze gemeinsam zu überschreiten, was sie bis heute nicht bereute. Tja und dann war da die ganze Sache mit Warren gewesen, an die Faye noch heute lieber gar nie wieder dachte, weil alles daran falsch und schrecklich gewesen war. Sie wollte sich aber auch weiterhin nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn sie diesen Weg nicht gewählt hätte. Wenn sie diesen Fehler nicht gemacht hätte. Jedenfalls hatten sie trotz diesem Versagen ihrerseits wieder zueinander gefunden, weil er ihr verziehen hatte und sie sich selbst irgendwann um Einiges später auch. Wieder war einen Moment lang alles scheinbar in Ordnung gewesen. Oder einfach soweit in Ordnung, wie ihr Leben im Krieg es eben sein konnte. Bis dann mit der Entführung der Fall ins Bodenlose gefolgt war. Und noch immer waren sie dabei, aus diesem tiefen, rabenschwarzen Loch zu kriechen. Mittlerweile war das Sonnenlicht gut ersichtlich, zum Greifen nah. Manchmal konnte man beinahe schon die Wärme der Welt da oben fühlen, manchmal hörten sie schon die Stimmen. Das Lachen. Die Zukunft. Aber sie waren eben noch immer nicht draussen. Und immer mal wieder rutschten sie ab und kullerten ein paar haltlose Meter zurück in die Tiefe. So wie heute. Oder besser gesagt schon vor ein paar Wochen, was Faye aber bis jetzt nicht wirklich gewusst hatte. Sie hörte seinen Worten zu, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Herz dadurch nur noch ein Bisschen schwerer wurde, ein Bisschen mehr weh tat. Wie lange noch? Wie lange würde er noch an dem Elend festhalten, das sie gewesen war, als sie vom Krankenhaus in die Psychiatrie verlegt wurden? Sie würde sich nicht als besonders starke Person bezeichnen, natürlich nicht. Sie war nicht stark. Sie war oft zu emotional und ausserdem viel zu leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber sie wollte nicht, dass er das als Grund sah, ihr zu verschweigen, wenn es ihm beschissen ging. Wie wenn sie es nicht sowieso merken würde. Ja, es belastete sie, wenn seine Ausbildung nicht lief wie geplant. Wenn die Gefahr bestand, dass er einmal mehr straucheln und stürzen würde. Aber das belastete sie nicht halb so sehr, wie das andere: Wenn er ihr eben nicht sagte, wie die Dinge wirklich standen. "Okay...", hauchte sie vor sich hin, schloss einen Moment die Augen um tief durch zu atmen, als er seinen Kopf an ihren lehnte. Sie konnte seinen Atem spüren. Und seine Finger. Und seine Wärme, seine Nähe. Er war direkt bei ihr. Zumindest physisch. "Wir sind beide noch nicht ganz... geheilt. Ich weiss das... Aber du musst wirklich versuchen, mich in deinem Kopf nicht... nicht als so kaputt zu zeichnen... Ich... ich bin nicht mehr an dem Punkt, an dem ich... naja, wegen einer Kombination von schlechten Nachrichten von der Klippe habe springen wollen... Dass ich mir Gedanken darüber mache, wenns dir schlecht geht, kannst du nicht verhindern - aber das ist... doch normal, denke ich?", sie hatte die Augen wieder aufgeschlagen, blickte aber in Gedanken versunken auf ihre Finger hinab, strich mit dem Daumen über seinen Handrücken. Faye war sich nicht sicher, inwiefern diese Worte irgendwas brachten. Aber sie wünschte sich, dass er ihr zuhörte, er das was sie sagte verstand. "Jedenfalls kann es kaum besser sein, wenn du dir so viele Sorgen darüber machst, was eine weniger gute Nachricht bei mir auslösen könnte, dass du dich selbst darüber noch zusätzlich krank machst, anstatt mit mir zu reden...", sie wollte wirklich nicht so gekränkt klingen. Aber es fiel ihr doch dezent schwer, jetzt, wo sie mal wieder im Status totaler Verunsicherung festklemmte. Sie hätte besser kein Wort davon gehört. Hatte nicht wissen wollen, was er oder Aryana von ihrer psychischen Gesundheit hielten. Denn was, wenn die beiden Menschen, die sie am allerbesten kannten, Recht hatten?
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Faye hatte Recht mit dem, was sie sagte - und ich wusste das. Verstand jetzt, wo ich zum ersten Mal auch in dieser Richtung wirklich über die Situation nachdachte durchaus, dass es eigentlich gar Niemandem half, wenn ich die Brünette weiterhin als so wahnsinnig kaputt ansehen würde. Sie für ewig in Watte packen würde, nur weil ich Angst davor hatte, dass die Welt - offenbar auch inklusive mir selbst - sie noch irgendwann vollends zu Grunde richten würde. Schließlich funktionierten wir beide so nicht. Wir hatten nach unserer anfänglichen Kennenlern-Phase immer über alles geredet. Hatten dem jeweils anderen alles anvertraut, das uns belastete. Uns gegenseitig etwas Schutt vom Herzen gekratzt, um unter all dem psychischen Stress in Syrien doch noch weiter zu funktionieren, während wir unter der Liebe aufgeblüht waren. Vielleicht mochte mich das nie vollends von meiner tief verankerten, psychischen Störung befreit haben, aber es hatte immer geholfen mit Faye zu reden. Ich lebte mit ziemlicher Sicherheit auch nur noch deshalb, weil mein Körper und mein Geist selbst in der Bewusstlosigkeit noch immer an Faye festgehalten hatten - und natürlich auch, weil Mitch mich aus dem Hügel geschleift hatte. Sich Kugeln eingefangen hatte, um meinen Körper abzuschirmen. Aber dennoch war ich mir eigentlich sicher damit, dass auch die vorherigen Wunden längst zum Sterben ausgereicht hätten, wenn ich das gewollt hätte. Wenn ich aufgegeben hätte, weil ich mit dieser ganzen Scheiße in meinem Kopf einfach nicht mehr leben wollte, was ich sehr sicher getan hätte, wenn ich das brünette Nervenbündel hier nicht hätte. Womöglich wäre ich aber auch einfach schon vorher irgendwo auf dem Schlachtfeld verreckt, weil ich mich selbst und auch alles um mich herum aus dem Blick verloren hätte. Es war nichts als dämlich die junge Frau nun aus meinem Kopf auszusperren, nur weil ich sie schützen wollte. Faye klang gekränkt und ich hatte mit der Heimlichtuerei nichts als Enttäuschung und Schmerz ausgelöst, was inzwischen offensichtlich war... und dennoch fiel es mir schwer von diesem Verhalten abzulassen, mich ihr wieder gänzlich zu öffnen. Vielleicht war es einfach die Macht der Gewohnheit. Ich hatte schon nach meinem ersten Trauma ziemlich konsequent alle Menschen um mich herum ausgesperrt, auch meine damalige Freundin. Eigentlich sollte es mir eine Warnung sein, dass sie mich mitunter genau deshalb verlassen hatte und sie war im Gegensatz zu Faye keine Person gewesen, die ebenfalls einen psychischen Knacks weghatte oder chronisch zu viel dachte. Nur funktionierte mein Gehirn so scheinbar nicht und machte gern den selben Fehler gleich zwei Mal. Damit es sich auch lohnte oder weiß Gott was es sich davon versprach. Psychische Krankheiten verfolgten schließlich keinen besonderen Zweck - außer einem das Leben zur Hölle zu machen, versteht sich. Ich schluckte leise und schwieg erstmal noch eine kleine Weile, weil ich nicht wirklich wusste, was ich noch dazu sagen sollte, während mich die Gedanken um all das herum förmlich erschlugen. Dass ich den falschen Weg eingeschlagen hatte wusste ich, aber der Weg in eine andere Richtung schien für meinen Kopf ganz einfach weiterhin versperrt zu sein. Hinter einer Wand aus Felsbrocken zu liegen, die ich vermutlich erst einmal mit sinnbildlich blutenden Händen bei Seite rollen musste. "Das... ja, natürlich ist das normal.", bestätigte ich sie vor mich hin murmelnd erst einmal darin, dass es eigentlich nicht wirklich sonderbar war sich über seinen Partner Gedanken und Sorgen zu machen, wenn es ihm offensichtlich nicht gut ging. Nur war ich ansonsten gerade innerlich so aufgewühlt, dass ich kaum mehr geradeaus denken konnte. Mal ganz davon abgesehen, dass ich heute auch ganz sicher gar nicht mehr auf einen grünen Zweig kommen würde. Zumindest nicht so weit, dass ich guten Gewissens ehrlich behaupten konnte, dass ich Faye von nun an nichts mehr verschweigen würde. Einfach weil es unter Umständen eine Lüge wäre. Ich wollte nicht noch so eine Situation wie diese hier provozieren, wirklich nicht - aber das war in meinem Fall schlichtweg viel leichter gesagt oder gedacht, als getan. "Ich weiß doch auch nicht, warum ich mich so daran festbeiße... vielleicht... muss ich einfach nur mal wieder raus und... durchatmen. Ich kann nicht mehr denken...", murmelte ich weiter vor mich hin, ließ die Augen auf unsere Hände gesenkt. Natürlich konnte ich denken - nur halt nicht geradeaus und sinnvoll, solange mir die Decke und all die Sorgen auf den Kopf fielen. Da wurde nur irgendwie mit der Vermeidungstaktik um essentielle Fragen und Probleme herumgedacht, damit man sich nicht damit auseinandersetzen musste und darin war ich leider schon lange wirklich einsame Spitze. Vielleicht würde es also tatsächlich helfen, den Kopf bei einem längerem Spaziergang irgendwo im Nirgendwo, wo mir keine Menschenseele über den Weg lief, wieder freizukriegen. Ich konnte ja schon seit dem Vorfall kaum mehr an etwas anderes denken und dadurch auch nur bedingt für die Theorie lernen. Zwar ließ sich Vieles auch mit logischem Denken erschließen, gerade für Jemanden, der schon so einige Erfahrung im Kampf an sich hatte - wenn auch mehr im Fern-, als im Nahkampf -, aber trotzdem gab es Dinge, die ich mir mittels Lernen einbläuen musste. Funktionierte nur aktuell in etwa fast genauso gut wie das Praxistraining. Es musste also dringend ein Tapetenwechsel her, damit ich mal aus diesem Trott und dadurch auch mit etwas Glück aus dem immer gleichen Gedankenmuster herauskam, das mich selbst jetzt noch glauben lassen wollte, dass ich Faye doch nicht einfach so mit meinem psychischen Ballast erschlagen konnte.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Sie hatte seine Antwort nicht wirklich gebraucht, war sich durchaus selber bewusst darüber gewesen, dass diesmal - für einmal - eben nicht sie das Problem war. Also schon irgendwie. Aber eben nicht das Hauptproblem. Glaubte sie, aber wenn sie so darüber nachdachte, war sie sich schon wieder nicht mehr wirklich sicher, ob das stimmte. Jedenfalls würde jeder Partner in einer halbwegs gesunden Beziehung, in der ohne Zweifel Liebe im Spiel war, sich an ihrer Stelle Sorgen um Victor machen. Einfach nur, weil es ihm nunmal gerade eher schlecht ging. Und je länger er redete, umso klarer wurde, dass es ihm nicht nur eher schlecht sondern dezent beschissen ging. Sie wusste nicht, was sie von seinen Worten halten sollte. Das mit dem raus gehen und durchatmen... Was meinte er damit? Falls er frische Luft und einen Spaziergang meinte, dann konnte sie ihn bestens verstehen. Das Gefühl in Innenräumen zu ersticken kannte sie nur zu gut, vor weniger als zehn Minuten hatte sie das ebenfalls aufkommen spüren. Darum hatte sie ursprünglich lieber nochmal nach draussen als hier aufs Sofa zu ihm gehen wollen. Einmal Atmen, den Kopf durchlüften und versuchen, klar zu denken, bevor sie solche Gespräche führten, konnte grundsätzlich nicht falsch sein. Aber normalerweise war das eben sie, die nach draussen floh und einen Moment brauchte, um sich selber wieder zu erden. So war sie sich auch nicht sicher, ob er wirklich das gemeint hatte - oder doch eher im übertragenen Sinne von Rausgehen und Durchatmen redete. Im Sinne von Abstand und Distanz - von ihr. "Wie... meinst du das?", stellte Faye schliesslich ziemlich leise genau diese Frage. Obwohl sie gerne die Emotionen in seinem Blick gesehen hätte, hatte sie doch auch Angst davor, was sie darin entdecken könnte. Und so blieben ihre Augen weiterhin auf ihren Fingern haften, die als Einziges weiterhin verschränkt blieben. Es war wirklich ein unendliches Übel, dass die Liebe jedes Mal, wenn es irgendwie mal wieder bergauf gehen konnte, doch erneut so sehr wehtun musste. Immer und immer wieder. Sie beide waren wirklich einsame Spitze darin, sich süssen Honig einzuträufeln und im nächsten Moment messerscharfe Dolche ins Herzen des jeweils anderen zu bohren. Mal weil sie sich beschützen wollten, mal weil sie Angst hatten, den anderen zu verletzen, immer wieder, weil sie zu ehrlich oder nicht ehrlich genug waren und am allermeisten ständig aufgrund der irrational hohen, alles begründenden Angst, sich zu verlieren. So auch heute. Es war dumm, natürlich. Sie konnten beide nicht ohne einander und Faye war sich sicher, dass sie ihr Leben freiwillig in die Tonne kippen würde, wenn Victor sie verliess. Genauso bewusst war ihr auch, dass das einer mitunter nicht ungefährlichen Abhängigkeit gleichkam. Aber das hatte sie in den Therapien nie erwähnt. Sie hatte nie versucht, an dieser Angst zu arbeiten. Weil sie sich ironischerweise stets zu sehr davor gefürchtet hatte, dass die Psychologen dann eine Trennung - und sei es nur auf eine bestimmte Zeit - vorschlagen würden. Und das konnte und wollte sie nicht durchleben. Nicht nach allem, was sie die letzten Monate über schon erlebt hatten. Je länger sie hier in der Stille sass, umso weiter spannen sich die Gedanken in ihrem Kopf. Bis sie schliesslich nicht nur ihre Finger um die seinen legte, sondern sich förmlich an seinen ihr zugewandten Arm klammerte - ohne sich dessen aber wirklich bewusst zu sein, weil ihre Augen weiterhin abwärts starrten. "Einfach nicht... Weggehen... bitte... zumindest nicht, ohne Zurückzukommen...", nuschelte sie an seine Schulter. Ja, es wäre wohl besser, wenn sie dieses Gespräch hier beendeten. Denn es war offensichtlich nicht nur Victor, der nicht mehr Denken konnte.
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Mein Schädel war gerade so schwer, dass selbst Fayes Frage einen Moment brauchte, um wirklich bei mir anzukommen. Mir war vorher gar nicht wirklich aufgefallen, dass man durchaus zweierlei Dinge aus meinen Worten deuten konnte. Dass es irgendwer überhaupt in Erwägung ziehen konnte, dass ich länger als nur für eine mehrstündige Wanderung - womöglich am besten in Kombination mit ein bisschen Joggen oder einer Strecke bergauf, damit ich danach ausgepowert war - wegbleiben könnte. Oder Faye gar allein hier in der Wohnung sitzen lassen würde, um erst nach einer Ewigkeit oder gar nicht mehr zurück zu kommen. Als könnte ich wirklich gehen. Ich wäre wohl nicht mal dann im Stande dazu die zierliche Brünette sich selbst zu überlassen, wenn ich es wirklich wollen würde. Außerdem würde letzteres mit einhundertprozentiger Sicherheit sowieso nicht passieren. Der einzige Weg mich dazu zu bewegen mich längerfristig oder gar für immer von ihr zu distanzieren, wäre, wenn man drohen würde ihr wehzutun, wenn ich es eben nicht täte. Hier bildete ich selbst aber auch offensichtlich die Ausnahme - schließlich hatte ich ihr im Grunde die ganzen letzten drei Wochen über wehgetan, auch wenn das jetzt erst hochkam. So oder so würde ich Faye aber niemals den Rücken kehren, weshalb ich ziemlich eindeutig den Kopf schüttelte, kurz nachdem die junge Frau sich förmlich an meinen Arm zu klammern begonnen hatte. Mich augenscheinlich sowas wie festzuhalten versuchte, damit ich auch ja nicht einfach aufstand und ging - als würde das überhaupt zur Debatte stehen. "Gott, nein...", wimmelte ich ihre indirekte Befürchtung mit doch etwas eindringlicherem Tonfall ab, damit sie mir das auch wirklich abnahm und sich darüber nicht auch noch Gedanken machte. Das war ein Stein, den ich nun wirklich gar nicht erst ins Rollen kommen lassen wollte und deshalb drehte ich mich der Brünetten noch ein wenig mehr zu. Löste meine Finger vorsichtig aus den ihren, aber nur, um den selben Arm im Anschluss daran nach ihrer Taille auszustrecken, nachdem ich ihn aus ihrem Griff gelockert hatte. Ihn ihr um den Körper zu legen, gleichzeitig auch meine andere Hand unter ihren Beinen durchzuschieben und sie so gewohnt behutsam seitlich auf meinen Schoß zu heben. Mit Sicherheit aber nicht nur, um ihr zu verdeutlichen, dass ich nicht gehen würde, sondern auch, um das Gefühl in mir zu betäuben, dass Faye sich zum jetzigen Zeitpunkt schrecklich weit weg anfühlte. Natürlich war sie hier bei mir und würde wohl kaum von meiner Seite weichen, aber auch, wenn dieses ungute Gefühl gänzlich auf meinen eigenen Mist gewachsen war und ich selbst Schuld daran war, ließ es sich deshalb noch lange nicht leichter ertragen. Eher ganz im Gegenteil - ich fühlte mich gleich doppelt schuldig, weil ich sie von meinem kaputten Kopf fernzuhalten versuchte, obwohl sie den doch nun wirklich schon eine halbe Ewigkeit lang kannte. Mich schon in einem unguten Zustand kennengelernt und mich zumindest für eine Zeit lang ein kleines bisschen wieder repariert hatte. Nur war jetzt eben... einfach alles ein bisschen anders, nach der Entführung. Schwierig und kompliziert, oder zumindest redete ich mir das weiter konsequent ein. Denn im Grunde war die Lösung ja eigentlich sehr simpel: Ich müsste zukünftig einfach nur mit meiner besseren Hälfte darüber reden, was mich belastete und Niemand müsste sich mehr Gedanken machen als nötig. So weit zumindest die Theorie, mit der sich mein Kopf bis jetzt mehr nur schlecht als recht anfreunden konnte. Sobald ich das kleine Nervenbündel quer auf meinem Schoß platziert hatte, legte ich die eine Hand über ihre Beine und seitlich an ihren Oberschenkel, während die andere an ihrem Rücken nach oben bis unter ihre brünetten Strähnen in den Nacken wanderte. Dort streichelte ich sanft mit dem Daumen über ihre Haut und beugte mich gleichzeitig vermehrt in ihre Richtung, um sie zärtlich auf den Wangenknochen zu küssen. "Ich meinte eher sowas wie eine etwas längere Wanderung und keine Flucht.", versicherte ich Faye zur Sicherheit auch noch wortwörtlich, worauf ich mit meinen vorherigen Worten hinausgewollt hatte. Hätte beinahe noch sowas wie 'Ich kann dich doch nicht allein lassen' mit angefügt, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Es war ja nicht so, dass ich die Brünette allein nicht für lebensfähig hielt, aber genau so hätte das jetzt wahrscheinlich geklungen. "Wenn du willst, kannst du auch mitkommen... wenn dir ein bisschen Muskelkater nichts ausmacht zumindest.", schlug ich an ihre Wange gemurmelt vor, dass sie vor mir aus auch einfach mitkommen konnte, wenn sie sich nicht wohl damit fühlte, mich allein für eine ganze Weile lang auf die Natur loszulassen. Oder eben falls sie sich selbst auch so erdrückt fühlte und ein paar Stunden frische Luft genauso gut gebrauchen konnte wie ich. Ob es nun gut oder schlecht wäre, wenn sie mitkam, das wusste ich nicht. Einerseits täte es mir sicher gut, wenn ich mal ganz allein wäre. Andererseits hatten Faye und ich aber auch schon sehr lange keinen richtigen Ausflug mehr zu zweit gemacht und es könnte uns theoretisch wieder ein bisschen zusammenschweißen, wenn wir einfach mal ein bisschen... na ja, zusammen auf Tour gingen. Raus gingen, was anderes als den momentan tendenziell eher anstrengenden Alltag miteinander erlebten, der sehr offensichtlich einen harten Tribut einforderte. Einfach mal wieder wir waren, ohne, dass uns die Wände von allen Seiten immer näher kamen. Außerdem hatte ich aktuell schon noch etwas mehr Freizeit als Faye mir ihrer Arbeit, also konnte ich für den Fall, dass nach einem gemeinsamen Ausflug noch immer die ganze Welt für mich Kopf stand, danach auch einfach noch mal alleine rausgehen. Es war ja nicht so, als würde das eine das andere zwangsweise ausschließen.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Es dauerte zwar eine Weile, bis sie eine Antwort seinerseits zu hören bekam, allerdings fiel diese dann überraschend klar aus. Sein Nein klang nicht unbedingt so, als hätte er wirklich erst darüber nachdenken müssen oder wäre sich nicht ganz sicher darin, ob Wegzugehen nicht doch eine verlockende Option darstellte. Und eigentlich wusste sie das. Eigentlich war ihr bewusst, dass ihre Symbiose auf gegenseitiger Abhängigkeit beruhte und er sie im gleichen Ausmass brauchte wie sie ihn. Trotzdem war es so leicht, dies ständig zu vergessen in der Angst, ihn zu verlieren. Sie hatte unzählige Therapiestunden damit verbracht, an dieser Angst zu arbeiten, nachdem es in den Hügeln fast zur Katastrophe gekommen wäre. Hatte ewig damit gekämpft, zu glauben, dass bloss weil es dort so knapp geworden war, nicht zwingend die ganze Welt sie auseinanderreissen wollte. Aber wahrscheinlich würde auch das für immer ein Teil von ihr bleiben. Weil sie nie vergessen würde, wie er fast verblutet war. Wie sie ihn an die Ohnmacht verloren hatte, nur Minuten bis maximal Stunden vom Tod entfernt. Wie sie hilflos auf dem Boden gelegen und absolut gar nichts hatte tun können gegen die Teufel, die ihn ihr zu entreissen versucht hatten. Wie einzig und allein Mitch, der plötzlich aufgetaucht war, sie beide davor gerettet hatte, einander auf ewig entrissen zu werden. Ihm und Aryana hatten sie es zu verdanken, heute überhaupt hier beieinander - aufeinander - sitzen zu dürfen. Es war also kaum überraschend, dass die Panik ihn doch noch zu verlieren, jedes Mal, wenn sie einen noch so irrationalen Grund entdeckte, wieder aufflammen und ihr Herz lähmen wollte... Darum war sie auch einfach nur froh, dass er ihr diese Bedenken für diesen Moment so deutlich ausgeredet hatte, sie stattdessen auf seinen Schoss zog und in seine Arme betete, wie er das schon so oft getan hatte. Und sie flüchtete sich noch immer genauso gern hier hin. Trotz allem, was heute und die letzten Wochen passiert war. Obwohl sie vielleicht enttäuscht war, vielleicht unsicher, vielleicht traurig, aufgrund seines Verhaltens. Seine Arme blieben trotzdem ihr Lieblingsplatz, für immer. Seine Nähe war der süsseste Duft und seine Worte genau das, was sie brauchte. Eine etwas längere Wanderung... Daran hatte sie nicht einmal gedacht. Es war eine Ewigkeit her, dass sie sowas zuletzt getan hatten. Und damit meinte sie das eine Mal, als sie zusammen im Heimurlaub gewesen waren und sowohl Energie als auch Antrieb genug verspürt hatten für solche kleinen Abenteuer. Aber ja, warum eigentlich nicht wieder? Klar konnte etwas passieren auf einer Wanderung alleine draussen. Aber es konnte jeden Tag etwas passieren, im Strassenverkehr, auf der Arbeit, beim Kochen und sogar beim Schlafen. Und das war nicht die Art von Angst, die Faye normalerweise bedrückte. "Eine längere Wanderung klingt schön...", murmelte sie vor sich hin, wagte es mittlerweile wieder, den Blick zu seinem Gesicht direkt vor ihrem zu heben. Dass er sie im Anschluss sogar zum Mitkommen einlud, hatte sie wirklich nicht erwartet. Entsprechend zögerte sie auch einen Moment mit der Antwort, weil sie sich nicht sicher war, ob er das nur sagte, um sie zu beruhigen oder ob es wirklich eine Option war, dass sie zu Zweit gehen würden. "Wenns dir nichts ausmacht... Vielleicht täte mir das tatsächlich auch gut", meinte sie nach ein paar Augenblicken, hob dabei die linke Hand an, um sie an seine Wange zu legen, mit ihrem Daumen immer wieder über seine Haut zu streichen. "Aber nur, wenn du nicht lieber alleine gehen würdest. Ich... ich kann das schon auch verstehen", zumindest bis zu einem bestimmten Grad. Gerade nach Heute. Wie gesagt, sie wusste, dass sie zu abhängig von ihm war und ihr ein Bisschen Einsamkeit zwischendurch vielleicht ganz gut tun würde - genau wie ihm auch. Hiess nur nicht, dass sie solche Massnahmen auch wirklich begrüssen würde. Trotzdem wollte sie nicht, dass er sich gezwungen fühlte, sie mitzunehmen. Er wusste trotz allem wahrscheinlich besser, was ihm in diesem Moment am meisten helfen könnte. "Und hast du schon eine Idee, wohin du gehen möchtest?", hängte Faye noch vor seiner Antwort die nächste Frage an. Der Gedanke an einen Ausflug, eine Wanderung, war nunmal sehr viel angenehmer als die Vorangehenden, die sich mit Victor, seiner Unehrlichkeit und sowohl seiner als auch ihrer, mehr erst behelfsmässig geflickten, Psyche befasst hatten.
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Meine Augen trafen das erste Mal seit ein paar Minuten wieder etwas unbefangener auf Fayes, kaum hatte sie die nächsten paar Worte von sich gegeben. Die zierliche Brünette schien selbst auch nichts gegen ein bisschen frische Luft und einen kleinen Ausflug zu haben. Schaden konnte ihr das sicher genauso wenig wie mir und allein deswegen sollte schon kaum etwas aus ihrer Sicht dagegen sprechen. Theoretisch könnte sie sich dann parallel zum Seele baumeln lassen auch noch davon überzeugen, dass ich eben wirklich nicht weglaufen wollte. Nur für den Fall, dass sie sich darüber tatsächlich weiterhin ziemlich unberechtigte Sorgen machen würde, obwohl ich so eindeutig verneint hatte. Ich war hier im Raum leider nicht die einzige Person, die eine ausgezeichnete Veranlagung dafür hatte grundsätzlich zu viel nachzudenken. Meine bessere Hälfte schien sich mitunter auch darüber Gedanken zu machen, ob es denn wirklich okay für mich war, wenn sie mitkam. Was das anging ließ ich mir ebenfalls nicht viel Zeit mit einer Antwort, nickte schon bald ein klein wenig. Wenn auch eher nur langsam, weil ich nicht wollte, dass sie ihre schmalen Finger wegen meiner Bewegung wieder von meiner Wange nahm. Gerade bei meinem aktuell eher aufgewühlten Gemütszustand genoss ich die kleine Streicheleinheiten, waren jene doch grundsätzlich immer Balsam für meine Seele. "Ich hätte es dir nicht vorgeschlagen, wenn's mir was ausmachen würde.", vermittelte ich Faye mit ein paar gemurmelten Worten, dass sie sich was das anging sicher sein konnte. Schmiegte noch gleichzeitig unterbewusst meinen Kopf etwas mehr an ihre Hand. Machte sogar einen kurzen Moment lang die Augen zu, um die Zärtlichkeit nach dem unschönen vorherigen Moment förmlich in mir aufzusaugen. Mich noch dabei zunehmend an den Gedanken zu gewöhnen, nach langer Zeit mal wieder einen kleinen Ausflug mit Faye zu machen. Ein Allheilmittel für meinen Kopf war das zwar mit Sicherheit auch nicht, aber es reichte auch, wenn dadurch genug Platz für neue und vor allem bessere, etwas positivere Gedanken in meinem Oberstübchen entstand. Wenn es der jungen Frau auf meinem Schoß genauso half wie mir - zumindest hoffte ich das für uns beide -, umso besser. Wenn sie auf mich den Eindruck erweckte etwas fitter und glücklicher zu sein würde es mir vielleicht zukünftig auch ein bisschen leichter fallen, ihr so wie früher lückenlos meine Sorgen anzuvertrauen und mit der nichts als kontraproduktiven Heimlichtuerei aufzuhören. "Und falls ich danach doch auch noch ein bisschen Zeit allein draußen brauche, kann ich das ja immer noch machen... wir waren schon so lang nicht mehr zu zweit unterwegs.", redete ich weiterhin eher ziemlich ruhig, etwas leiser vor mich hin, weil auf die äußerst kurze Distanz zwischen uns mehr nun wirklich nicht notwendig war. Der leicht sehnsüchtige Unterton dürfte aber trotz der leiseren Stimmlage noch bei Faye angekommen sein und ich löste meine Hand langsam aus ihrem Nacken, um ihr stattdessen eine lose Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. Danach wanderte ich mit dem Daumen sanft an ihrem Kiefer entlang, folgte meinem Daumen dabei mit meinen Augen. Zwar waren wir ein oder zwei Mal gegen Ende der Therapie mit einer kleinen Gruppe anderer Patienten draußen gewesen, aber das war so gar nicht das gleiche. Je länger ich darüber nachdachte, desto angenehmer wurde der Gedanken für mich statt allein durch die Gegend zu laufen meine Freundin mitzunehmen. Aber wohin, das wusste ich jetzt noch nicht. Ehrlich gesagt kannte ich mich hier in der Umgebung auch allgemein nicht besonders gut aus. Ich wusste wie ich zum Kurs kam, wo sich gut einkaufen ließ und auch, wo das Fitnessstudio war, in dem ich mich eigentlich mal anmelden wollte. Aber auch das war irgendwie so eine Sache, die ich aus nicht ganz eindeutigen Gründen vor mir herschob. Zwar hatte ich den Sport nicht gänzlich ausgesetzt seit wir aus der Klapse ausgezogen waren, aber mehr als eine Runde Joggen oder Homeworkouts hatte ich dann ja doch nicht gemacht - war dementsprechend von meiner Höchstform nach wie vor ziemlich weit entfernt. Vielleicht fehlte meinem Kopf auch ein wenig der Ausgleich durch den richtig anstrengenden Kraftsport. Klang für mich zumindest recht plausibel. War der Körper ausgelastet wurde einfach auch der Schädel etwas ruhiger. "Nein, nicht wirklich... ich kenn mich hier nach wie vor mehr schlecht als recht aus.", stellte ich mit einem kaum hörbaren Seufzen fest. "Also falls du schon irgendwas im Sinn hast: Nur zu.", zeigte ich mich mit einem schwachen, leicht schiefen Lächeln offen für Vorschläge, als meine Augen wieder die ihren fanden. Wenn Faye genauso wenig Irgendwas auf dem Schirm hatte wie ich selbst, dann war uns mit Sicherheit das Internet eine ausreichende Hilfe. War auch nicht so als hätte ich was dagegen erst eine Stunde weit mit dem Auto zu fahren, um zu einem tauglichen Wanderweg zu kommen. So oder so würden wir uns mit Sicherheit ohnehin für einen Tag entscheiden, an dem Faye nicht arbeiten musste. Alles andere wäre vermutlich ziemlich stressig und das war eher nicht Sinn und Zweck der Sache. Wir wollten ja dabei abschalten und nicht alle paar Minuten auf die Uhr sehen.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Und wieder schien Victor sich beinahe darum zu bemühen, dass sie sich gar keine Zweifel zusammenspinnen konnte - so bald wie er auf ihre indirekte Frage antwortete und verneinte, dass sie auf einer Wanderung besser nicht dabei wäre. Das wiederum quittierte sie mit einem noch relativ schwachen Lächeln, bei dem sich ihre Mundwinkel ein paar Millimeter nach oben zogen. "Dann ist ja gut...", murmelte sie zurück, betrachtete sein Gesicht, während er einen Moment die Augen geschlossen hielt und ihr Daumen weiter über seine Haut streichelte. Er schien die Berührung zu schätzen, zu geniessen. Das war nicht wirklich was Neues - sie tauschen oft und gerne Zärtlichkeiten aus und lebten und atmeten diese Art von Liebe seit Beginn weg. Natürlich waren sie noch immer dabei, auch in diesem Bereich zu ihrer ehemaligen Höchstform zurück zu finden. Und wer weiss, vielleicht lag es mitunter auch daran, dass er sie noch immer nicht als gesund sehen konnte. Weil sie noch nicht wieder die war, die sie mal gewesen war. Die Frage, die sich hier stellte, war nur, ob sie das je wieder sein würde... Nach allem was gewesen war. Sicherlich würde sie noch näher zu ihrem alten Selbst zurückfinden, daran zweifelte sie nicht. Aber trotzdem würde eben nie wieder alles sein wie davor. Sie mussten sich also zwangsläufig mit dem abfinden, was ihnen geblieben war, was sie heute ausmachte. Und dazu gehörte wahrscheinlich eben auch, dass sie für immer ein Bisschen kaputt bleiben würden - einfach irgendwann so gut damit umgehen konnten, dass es keiner mehr merkte, der nichts davon wusste. "Ja, das stimmt... Das letzte Mal ist eine Ewigkeit her", stimmte sie seiner leisen Bemerkung zu. Eine viel zu lange Ewigkeit. Sie hatten unendlich viel nachzuholen. Alles, was in dem kleinen Büchlein, welches seit dem Umzug hauptsächlich unberührt in der Schublade ihres Nachttisches gewohnt hatte, stand - und noch so viel mehr. Fayes Blick blieb weiter auf seinem Gesicht liegen, auch während seine Hand über ihre Wange und ihren Kiefer wanderte und ihr ein weiteres, zartes Lächeln auf die etwas erschöpften Züge malte. Er wusste noch nicht wohin... Das war ebenfalls erwartbar gewesen - war die Idee mit der Wanderung immerhin erst vor ein paar Minuten aufgekommen. Es wäre etwas schnell gegangen, wenn er in dieser Zeit schon einen ganzen Plan im Kopf gefertigt hätte. So war nun sie es, die einen längeren Moment schwieg und offensichtlich nachdachte, dabei aber noch immer die linke Hand auf seiner Wange liegen hatte, während ihr Daumen sanft und langsam, aber doch unermüdlich über seine Haut strich. "Hmm... Nein, auch noch nicht... Aber wir finden sicher was Schönes. Wohnen hier ja zum Glück nicht mitten in einer Metropole, von der der nächste Berg - oder schon nur Wald - tausend Meilen entfernt ist...“, meinte sie für einmal wieder ganz optimistisch. Die Wahl eines tollen Ortes für ihr geistiges Durchlüften stellte sie sich wirklich nicht allzu schwer vor. Blieb also nur noch ein Datum zu finden, das für sie beide passte und an dem das Wetter auch noch so einigermassen mitspielte und sie waren so gut wie startklar. „Schade, dass wir schon mitten im Herbst stehen, sonst hätten wir noch eine Übernachtung im Zelt einbauen können..“, lächelte sie ihm entgegen, auch wenn sie nichtmal wusste, ob sie für sowas überhaupt schon bereit wären. Das letzte Mal Zelten war ja bekanntlich in einem Land in weiter Ferne gewesen, mit dem sie keine guten Erinnerungen verband. Aber es ging ja auch nicht unbedingt ums Zelten sondern um das Ausmass ihrer kleinen Auszeit, die sich damit um eine Nacht in die Länge ziehen würde.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Faye ließ sich ihre Zweifel darüber, ob ihre Anwesenheit von mir bei dem kleinen Ausflug denn auch wirklich erwünscht war, leicht wieder ausreden und das war gut. Ich glaubte zu wissen, dass mir eine weitere anstrengende Gesprächspassage nicht wirklich gut getan hätte. Ich vermutlich auch gar nicht mehr wirklich genug Energie für sowas übrig hätte und dementsprechend ab einem gewissen Punkt womöglich einfach nachgegeben hätte und allein gegangen wäre. War also gut, dass es dazu gar nicht erst kommen musste und wir uns sehr einig damit waren, dass die zierliche Brünette mitkommen würde. Genauso wie damit, dass wir wirklich mehr gemeinsam unternehmen sollten. Es konnte eben auch wirklich nicht schaden, sondern hielt im Grunde nur Gutes für uns bereit: Wir kämen aus unserem Alltag raus, würden uns noch dazu bewegen und gemeinsame Momente sammeln, die uns bestimmt wieder etwas näher zusammenrücken ließen. Vielleicht wäre es also gut, wenn wir uns so etwas regelmäßig vornahmen. Nicht nur alle paar Monate mal zusammen die Welt von einer anderen, weniger anstrengenden Seite sahen, sondern deutlich öfter. "Vielleicht sollten wir uns sowas öfter vornehmen... wöchentlich wäre mit deinen Schichten vermutlich nicht hinzukriegen, aber zumindest so... alle drei Wochen vielleicht? Wie's eben machbar ist...", murmelte ich nachdenklich vor mich hin und zuckte leicht mit den Schultern, sah Faye jedoch direkt an. Einmal im Monat reichte mir natürlich auch, wenn es nicht anders ging oder uns mehr zu stressig war. Es ging mir gerade mehr nur darum Faye nach ihrer Meinung zu fragen, was diese Sache anbelangte. Was unseren ersten gemeinsamen Ausflug als freie Menschen - während unserer Zeit bei der Army waren wir ja nun eher nicht frei gewesen, auch wenn der Urlaub natürlich allein von uns planbar war, was die Aktivitäten anging - anbelangte hatte auch meine bessere Hälfte gerade noch keinen spontanen Einfall, wo wir hingehen würden. Aber das war ja auch nichts, was wir zwangsweise noch heute festlegen mussten, das hatte mit Sicherheit noch ein paar Tage Zeit. Eben so lange, bis wir uns überhaupt mal einen Tag dafür ausgesucht hatten. Ich wusste nicht, ob die Brünette ihren Schichtplan im Kopf hatte oder das auf der Arbeit nochmal nachsehen müssen würde, aber wie gesagt - musste alles nicht mehr heute festgelegt werden. "Ja, wir finden sicher was Schönes.", bestätigte ich Faye mit einem leichten Lächeln auch noch darin, dass wir bestimmt einer Route fündig werden würden. Gegen Campen hätte ich auch nicht unbedingt etwas, aber es war nachts inzwischen eben wirklich schon ziemlich kalt draußen. Vielleicht war es noch aushaltbar mit genug Thermoklamotten beim Schlafen, aber fröstelnd oder gar richtig frierend aufwachen wäre wirklich nicht schön. "Ja, ist nachts leider schon ziemlich frostig... aber können wir ja in ein paar Monaten mal nachholen.", meinte ich und lehnte mich dann zu ihr nach vorne, um sie sanft auf die Stirn zu küssen. Zwar würde ich dann kein Feldbett mehr wollen, weil das doch sehr viele ungute Erinnerungen wecken würde, sondern lieber nur einen Schlafsack mit Isomatte oder Luftmatratze drunter, aber da ließ sich bestimmt irgendwas Gutes finden, um die Rückenschmerzen auf dem harten Boden erfolgreich einzudämmen. Dem Übernachten in der Natur war ich also nicht abgeneigt. "Hast du eigentlich Hunger? Aryana hat dir auch eine Portion Nudeln mitgenommen.", ließ ich die junge Frau wissen, dass für sie auch noch was zu Essen da war, falls sie hungrig von der Arbeit nach Hause gekommen war. Aber vielleicht war ihr der Appetit nach der unschönen Offenbarung auch gänzlich vergangen. Ich wollte nur wie gewohnt dafür sorgen, dass es ihr an möglichst wenig mangelte und ihr mitteilen, dass sie nicht hungernd ins Bett musste, wenn sie keine Lust mehr haben sollte sich selbst etwas zu Essen zu machen. Diese Arbeit blieb ihr so oder so erspart.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Er hatte Recht. Und trotz der Tatsache, dass die Idee an diesem Abend eigentlich von keinem schönen Ort stammte, konnte sie sich doch sehr gut damit anfreunden. Ab und zu einen Ausflug zu machen, würde nicht nur ihren Alltag deutlich interessanter gestalten, sondern ihnen auch helfen, sowas wie Normalität für sich zu finden. Das war es doch, was normale Pärchen taten: Zusammenleben und am Wochenende zwischendurch Ausflüge unternehmen, wenn ihnen die Laune danach stand. Nicht sich abgesehen von der Arbeit dauerhaft in einer Wohnung verkriechen, weil die Aussenwelt noch immer viel zu oft einfach überwältigend wirkte und eine absolute Reizüberflutung darstellte. Wenn sie jemals aus diesem Kaputtsein herausfinden wollten, mussten sie eben nach draussen. Nicht zwingend in die Stadt, aber eben raus. Solche Ausflüge klangen da wie ein wundervoller Zwischenweg aus Einsamkeit und Abenteuer. "Ja, das klingt tatsächlich wie ein guter Plan. Ab und zu ein Bisschen was anderes sehen... Zusammen", nickte sie, auch wenn ihre Augen die Bestätigung wohl längst ausgesprochen hatten. "Wir können uns jeden Monat meinen Schichtplan anschauen und wenn wir ein Datum finden, das für uns beide passt, machen wir einen Ausflug, wenn wir zwei finden, machen wir zwei Ausflüge", schlug sie vor, wobei sie auch hier wenig Einsprüche seinerseits erwartete. Es mussten ja auch nicht jedes Mal Ganztagesausflüge sein - im Winter reichte Eislaufen und ein anschliessendes Abendessen auch aus. Oder was auch immer sie dann machen würden. Sie sollten zuerst den Ausflug in die Natur planen, der am nächsten bevorstand. Aber darum würden sie sich wohl morgen kümmern, da sie bisher noch keine Ideen bieten konnten. Dass sie den Campingausflug nachholten, wenns draussen wieder warm genug war, fand sie ebenfalls eine schöne Idee. Bis dahin dürfte die Gefahr von Rückfällen auch kleiner geworden sein, was ein weiterer Vorteil der Verschiebung darstellte. "Ja, das ist gut", murmelte Faye bestätigend, lächelte mit geschlossenen Augen leicht in sich hinein, als sie seine weichen Lippen an ihrer Stirn spürte, er ihr damit ein leises Seufzen entlockte. Es war immer viel zu ermüdend, wenn sie sich stritten, sie hasste das. Okay, selbst heute konnte man wohl nicht von einem richtigen Streit sprechen. Aber Frieden hatte eben auch nicht geherrscht. Und alles, was ihr wirklich passte in Hinsicht auf Victor, war nunmal pure Harmonie. So schlug sie die Augen nach einem Moment wieder auf, legte die Hand, die bisher an seiner Wange geruht hatte, an seinen Hinterkopf und zog ihn so etwas näher zu sich, um den nächsten sanften Kuss direkt auf seinen Lippen zu platzieren. Und den übernächsten auch gleich. Dann schüttelte sie noch ein kleines Bisschen den Kopf, um seine Frage zu verneinen. Begleitete von den Worten: "Nein... ich hab gerade keinen Hunger, aber die kann man ja sicher Morgen noch warm machen...", verschwenden würde sie das Essen sicher nicht. Erstens wars ein Geschenk und zweitens klang einmal weniger Kochen immerhin auch nicht schlecht. Sie war zwar der Küche gegenüber nicht ganz so negativ eingestellt wie ihre Schwester, aber es brauchte eben doch immer Zeit, Essen zuzubereiten - egal ob sie das nun gerne tat oder nicht.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Welcher Tag war heute? Ich glaubte zu wissen, dass es die 345 war, die ich mir heute in den Kalender kritzeln würde, wenn ich einen hätte. Es waren nur noch zwanzig Tage, dann saß ich schon ein ganzes, endlos langes Jahr in diesem gottverdammten Drecksloch fest. Wenn ich auch nur daran dachte, dass ich erst eins von 25 Jahren abgesessen hatte, wollte ich mir inzwischen umgehend die Kugel geben. Denn je länger ich hier war, desto heikler wurde die Ausgangslage für mich. Machen wir uns nichts vor - es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich mal explodierte, wenn mir von allen Seiten immer nur Drohungen und Hass der Häftlinge entgegenschlugen, während die Wärter mich - und alle anderen Häftlinge - krampfhaft unterdrückten. Ich war schlicht und ergreifend nicht dafür gemacht, mich bedingungslos als Fußabtreter Anderen unterzuordnen und für mich selbst kam der Ausraster, den ich nach etwa siebeneinhalb Monaten Haftzeit präsentierte, kein Stück überraschend. Es war quasi schon ein wahres Wunder, dass diese Konstellation überhaupt so lange gut gegangen war. Irgendwann war das Fass aber einfach voll und tatsächlich war es an diesem Tag das letzte Mal gewesen, dass mir einer der Veteranen zahlreiche Beleidigungen und Drohungen an den Kopf geschmissen hatte. Denn danach hatte ich ihn beinahe zu Tode geprügelt und damit eine riesige Schlägerei zwischen meiner Gang und der Veteranen-Gruppe ausgelöst, bei der teilweise auch mit geschmuggelten oder selbst hergestellten Klingen zugestochen wurde. Vermutlich war es gut, dass mir während alledem Niemand einen Spiegel vors Gesicht hielt, weil ich andernfalls sicher vor mir selbst erschrocken wäre. Das schon richtig psychotisch wirkende, aggressive Funkeln in meinen Augen in Kombination mit den blutverschmierten Fäusten und zwei, drei Blutspritzern im Gesicht konnte nichts als gruselig für jeden normalen Menschen gewesen sein. Es waren die Wärter, die sich diesen Blick von mir verdienten, als sie anfingen sich einzumischen. Für einen war das Selbstmord, wenn auch nicht durch meine Hand. Trotzdem teilte ich auch in diese Richtung mit aus, bis das Gefängnispersonal sich gewaltsam wieder die Überhand gesichert hatte. Natürlich kam ich dabei selbst auch keinesfalls ungeschoren davon. Ein Finger meiner linken, schwächeren Hand war gebrochen, ich hatte einen tiefen Schnitt an der Schulter kassiert und zahlreiche Prellungen. Natürlich kostete mich das Anzetteln eines Aufstands aber noch deutlich mehr. Ich verlor sämtliche meiner durch bisher weitgehend unauffällige Führung erlangten Privilegien und wanderte für zwei Wochen in eine Einzelzelle. Bekam einen Besuch von Aryana in diesem Zeitrahmen gestrichen, was wohl der einzige Grund dafür war, dass ich die Schlägerei bereute. Denn es tat mir kein bisschen leid, dass die Arschlöcher bekommen hatten, was sie verdienten - aber es tat mir leid um die Brünette, der ich damit unnötig noch mehr Sorgen bereitete, als ich das womöglich ohnehin schon tat. Sie war ja nicht blind. Merkte mit Sicherheit bei jedem Besuch mehr, wie sehr ich hier drin mental unterging. Ich empfand ihre Besuche immer noch als das einzige wirklich positive hier drinnen, aber ein Lächeln von mir zu kriegen wurde jedes Mal schwieriger für sie. Ich machte zunehmend weniger Witze, verlor wieder mehr und mehr von meinem vor kurzem erst zurückgewonnen Ich. Natürlich wollte ich nicht ein weiteres Mal zu einem Monster mutieren, aber ich kam einfach nicht ewig gegen all die negativen, meinen Schädel tyrannisierenden Einflüsse an. Die anfänglich nur vorübergehende Einzelhaft wirkte sich auch noch zusätzlich mies auf mich aus, war es doch alles andere als gut, mich mit meiner wieder leichter reizbaren Psyche alleine einzusperren. Als ich danach wieder zurück in meine alte Zelle kam, wollte mein Mitinsasse nichts mehr mit mir zu tun haben und redete kaum noch mehr als das Nötigste mit mir. Auch der Rest der Gruppe, die ich bisher als meinen Schutz genutzt hatte, sah mich von da an mit wesentlich kritischeren Augen und das sorgte für noch mehr Spannung, die mich gar nicht mehr zur Ruhe kommen ließen. Vielleicht war ich übermäßig paranoid, aber ich hatte ganz einfach Angst davor, dass sie mich loswerden wollten und meinen Mitbewohner dazu anstachelten, mich im Schlaf zu ersticken oder abzustechen. Demnach schlief ich eine ganze Weile lang deutlich zu wenig, was sich - oh Wunder! - auch nicht positiv auf mein Gemüt und meinen Geisteszustand auswirkte. Das ging so weit, dass ich nach ungefähr zehn Monaten Haftzeit auch Aryana unterschwellig anzuschnauzen begann, wenn sie irgendetwas sagte, das mir nicht in den Kram passte oder das ich ganz einfach nicht hören wollte. Ich hatte irgendwann auch damit aufgehört ihr die schlimmen Dinge hier drin zu verschweigen, sondern redete - wenn auch nicht laut - in den meisten Fällen ziemlich offen darüber, dass sich hier und da mal ein Paar gegenseitig abstachen oder die Wärter an schlechten Tagen ab und an mal grundlos auf einen auserkorenen Sündenbock einschlugen. Auch die Massenschlägerei hatte ich nicht schön zu reden versucht. Wozu auch? Ich war mir ziemlich sicher, dass die lokalen Medien ohnehin darüber berichtet hatten, weil es ein paar Todesopfer gegeben hatte. Eine Eskalation in diesem Ausmaß passierte dann ja doch nur eher selten, brachte sichert eine fette Schlagzeile ein. Als der dauerhafte Schlafmangel und mein immer turbulentere Runden drehender Kopf schließlich nach ziemlich genau zehneinhalb Monaten dann noch einen weiteren, deutlich schlimmeren Tribut forderten, besiegelte ich damit gleichzeitig meinen eigenen Ruin. Nicht nur der Wärter, der mich während des Freigangs dumm von der Seite anmachte und absolut unnötig provozierte, hatte zu diesem Zeitpunkt einen mehr als schlechten Tag. Ich hatte mich schon zuvor mit meinem Mitinsassen - ohne Fäuste - gestritten und so ließ ich die Wut einfach an dem Kerl in Uniform aus, der gar nicht so schnell gucken konnte, wie ich ihn entwaffnet hatte. Nach ein paar Schlägen wurde ich ziemlich unbarmherzig mit dem Elektroschocker eines anderen Wärters außer Gefecht gesetzt. Leider verstand die Gefängnisleitung bei einem Angriff aufs hauseigene Personal noch viel weniger Spaß als bei Auseinandersetzungen mit anderen Insassen. Zwar strichen sie mir nicht wieder die Besuchszeit, steckten mich dafür aber auf vorerst unbestimmte Zeit zurück in eine Einzelzelle. Sagten mir zwar auch, dass ich bei einer Besserung meines Verhaltens - trotz des mich voraussichtlich erwartenden Strafverfahrens wegen jetzt schon mehreren Körperverletzungen - eine Chance darauf hatte zurück in einen weniger einsamen Trakt zu kommen, aber ich schenkte ihnen was das anging keinen Glauben. In meinen Augen wollten sie mich einfach nur weg haben, damit wieder mehr Ruhe in meinem vorherigen Trakt herrschte, wo ich doch zunehmend mehr für Stress gesorgt hatte. Ich fristete jetzt also rund einen Monat schon mein Dasein tagein und tagaus vollkommen allein. Anfangs hatte ich versucht, mich mit ein bisschen Singen selbst zu beruhigen und einen klaren Kopf zu bewahren so gut es ging, weil das jetzt in der Einzelzelle Niemanden mehr stören würde. Aber irgendwann wurde der Hals wund und ich ließ es wieder bleiben. Das einzig positive an der Einsamkeit war, dass ich jetzt in Ruhe schlafen konnte und das so viel, wie ich wollte. Statt zu wenig Schlaf bekam ich jetzt zu viel davon, was bekanntlich auch nicht gesund war und im Grunde machte mich das genauso dauermüde, wie ich es vorher schon gewesen war. Aber ich ertrug es nicht mehr als nötig wachzubleiben und die immer gleichen, kahlen und gefühlt täglich näher kommenden Wände anzustarren. Mir währenddessen auch noch den Kopf darüber zu zerbrechen, wo genau ich im Leben zum ersten Mal so richtig falsch abgebogen war und meine ganz persönliche Hölle in die Weg geleitet hatte, die Aryana zwangsweise miterlebte, weil sie noch immer an mir festhielt. Ohne jeden Zweifel wäre es besser für sie, wenn sie mich zurücklassen würde, aber sagen konnte ich ihr das nicht. Wollte und konnte sie gar nicht loslassen, wo sie doch alles war, was ich noch hatte. Nur ihr wirklich zeigen, dass sie mir noch immer die Welt bedeutete, das tat ich kaum mehr. Wirkte zeitweise fast schon etwas apathisch, wenn sie mich besuchte, weil ich meinen Kopf einfach nicht mehr umzupolen schaffte. Ich versuchte noch immer jeden Tag ein wenig Sport zu machen, wenn ich meinen alleinigen, deutlich kürzeren Ausgang hatte, aber inzwischen fehlte mir selbst dafür fast jeglicher Antrieb. Ich war nicht länger mehr als ein eingesperrtes Tier, das sich depressiv in die Ecke trollte und im Gegenzug aber nach allem und jedem schlug, der es wagte die Tür des Käfigs aufzumachen und nicht entsprechend vorbereitet war. Ich wurde hier drin auf meine Urinstinkte runtergebrochen und im Gefecht mochten jene teilweise zwar oft nützlich sein, aber auf Dauer waren sie pure Folter. Meine Stimmung wechselte nur noch zwischen 'mental müde und kurz davor mich selbst mit dem Kissen zu ersticken' und 'komm mir nicht zu nah und schau mich bloß nicht schief an, sonst setzt es was'. Meine Nerven waren nicht nur zum Zerreißen gespannt, sondern gefühlt schon tausendfach unter all dem Druck zerrissen. Heute war aber irgendwie alles ein bisschen anders und bisher erschloss sich mir wirklich nicht, warum das so war. Der Wärter, der mir das Frühstück durch das Loch in der Tür zuschob, sah mich über das Fenster darüber ziemlich merkwürdig an. Musterte mich mit einer Mischung aus kritischem und ungläubigem Gesichtsausdruck dicht gefolgt von einem Kopfschütteln, was ich nicht zu deuten wusste. Im ersten Moment schenkte ich dem aber auch gar nicht wirklich viel Aufmerksamkeit, sondern schob mir nur das gewohnt ziemlich trockene Brot zwischen die Kiemen. Döste danach eine ganze Weile lang vor mich hin, schlief aber nie wirklich richtig ein, weil im Gang hinter meiner Tür deutlich mehr Trubel herrschte als sonst. Schließlich weckte mich eine ziemlich eindringliche Stimme von der anderen Seite der Zellentür aus, spuckte meinen Namen förmlich zu mir rein. Der Wärter forderte mich dann durch das kleine Fenster sehend dazu auf mich von der zu dünnen Matratze zu rollen und mich mit den Händen gut sichtbar an die Wand gegenüber der Tür zu stellen. Ich zog die Augenbrauen tief ins Gesicht, murrte leise vor mich hin. Mein innere Uhr sagte mir, dass es noch nicht ganz Mittagszeit war und den Ausgang hatte ich auch immer erst ziemlich unmittelbar nach dem Essen. Das konnte also eher nicht der Grund für diesen Aufriss sein. Gesundheitscheck stand auch keiner auf dem Plan und Aryana würde mich auch erst nächste Woche besuchen. Oder war mein Kopf inzwischen schon nicht mehr dazu fähig jene Termine richtig zu ordnen? Wegen meines inzwischen offensichtlich gewordenen Aggressionspotenzials traten die Wärter zu zweit an mich heran. Während einer mich ganz akribisch im Blick behielt legte mir der andere Handschellen an. Seufzte dabei "Sie sind wirklich ein gesegneter Mann mit sehr reichen Freunden, Mitchell. Machen sie was draus." vor sich hin. Ich hatte keinen Schimmer, wovon zum Teufel er da sprach und zog lediglich die rechte Augenbraue verwirrt nach oben, kurz bevor er mich dazu aufforderte von der Wand wegzutreten und ihm zu folgen. Ich kam der Anweisung mit gewohnt angepisstem Gesichtsausdruck nach, während Nummer Zwei hinter mir ging. Die eine Hand dabei am Schlagstock im Gürtel, die andere hielt einen Taser bereit. Ich wurde immer skeptischer was hier vor sich ging, weil wir einen ganz anderen Weg als gewöhnlich einschlugen. Weder ging es in Richtung der Besucherräume, noch zum Doc oder in Richtung des Platzes an der frischen Luft. Nein, wenn mich meine Sinne nicht vollkommen täuschten, dann ging es in Richtung der Vorderseite des Gebäudes, der ich mich sonst nie näherte. Wir kamen vor einem Tresen an einem der eindeutig in Richtung Ausgang steuernden Gänge zum Halten, hinter dem eine der wenigen weiblichen Ordnungshüterinnen hier drinnen dabei zu sein schien, mein Zeug aus einer Tüte zu holen. Erst als ich das sah weiteten sich meine Augen sichtbar und ziemlich plötzlich. Ich verstand nach wie vor nicht, was hier nun genau vor sich ging, aber ich kam hier raus. Das war nämlich der absolut einzige Grund, aus dem der zum Anfang der Haftzeit abgegebene Kram wieder rausgeholt und einem in die Hände gedrückt wurde. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich förmlich, als es danach noch weiter in Richtung Ausgang ging und am liebsten wäre ich einfach blind losgerannt. Nur brachte es mir eben so gar nichts mit noch gefesselten Händen an dem hohen Eingangstor herumzustehen, wenn mir das im Alleingang Niemand aufmachen würde. Mein Puls beschleunigte sich aber auch ohne einen Sprint und ich war zum ersten Mal seit unzähligen Wochen wirklich hellwach.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
345 - es war so schwer zu fassen. 345 und sie zitterte am ganzen Körper. 345 und sie würde nicht glauben, dass es wahr war, bis er in ihren Armen hing. 345 und sie stand vor dem Gebäude, dass sie nach heute nie wieder besuchen wollte. 345 und sie waren frei. Nicht ganz. Aber mehr als je zuvor. So frei, wie sie es zusammen noch nie gewesen waren. Mehr, als sie sich die letzten 345 Tage über auch nur in ihren kühnsten Träumen hatten vorstellen können. Aryana atmete nochmal tief durch - das gefühlt eintausendste Mal an diesem Morgen. Steckte die feuchten Hände in die Taschen ihrer Shorts, als die warme Brise des Frühsommers (Ich glaube, das mit den Jahreszeiten geht bei uns sowas von nicht mehr auf... Aber ich mag Sommer lieber, also sind wir wieder hier. x'D) ihr ein paar Strähnen des frisch gewaschenen Haars ins Gesicht wehte. Sie kackte hier wirklich nächstens in die Hose, so wie sie sich fühlte. Blickte wieder und wieder auf die Uhr. 10:24 Uhr. Vor 10:30 Uhr brauchte sie nirgendwo zu sein, das hatten sie ihr schon klar gemacht. Er würde nicht vorher da raus spazieren. Als würden diese Minuten noch eine Rolle spielen. Nach fast einem Jahr. Wenn man die Tortour vor und während den Gerichtsverhandlungen, zwischen der Geiselnahme in Syrien und dem Gefängnis in Amerika dazuzählte, war es sogar weit mehr als ein Jahr gewesen, seit sie sich das letzte Mal wirklich unbefangen geküsst hatten. Aber jetzt war Schluss damit. Keiner würde mehr Regeln für diese Beziehung aufstellen, ausser Mitch und Aryana selbst. Keiner würde ihnen mehr sagen, wann sie sich in den Armen halten durften und wann nicht. Keiner würde mehr Sekunden zählen. Keiner würde sie mehr beobachten. Ihnen noch schräge Blicke zuwerfen, die, wenns dumm ging, alles ruinieren konnten. Nein. Damit war jetzt endlich Schluss. Nach ungefähr 180 Tagen hatte es angefangen, schlechter zu werden. Anfangs hatte er sich gut zusammengerissen, das hatte sie gesehen. Akribisch genau beobachtet, jedes Mal, wenn er mit ihr geredet hatte. Sie hatte darüber Buch geführt - Tagebuch, über jede Interaktion, die sie mit ihrem Freund im letzten Jahr noch hatte erleben dürfen. Hatte die Gespräche darin zum Teil fast Wort für Wort zitieren können, weil sie sich so sehr auf ihn konzentrierte, wenn sie eine der seltenen Chancen dazu bekommen hatte. Und sie hatte gesehen, wie es kontinuierlich schlechter geworden war. Bis sie dann, nach 230 Tagen sogar einmal einen Anruf erhalten hatte, mit dem ihr einer der sowieso viel zu selten angelegten Besuche gestrichen wurde. Gründe wurden ihr keine genannt. Aber die bekam sie doch in viel zu vielen Details zu hören. Details, die ihr schlaflose Nächte bereiteten, wie sie sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Der Krieg hatte ihr gelernt, auch unter prekärsten Bedingungen, im tiefsten Stress einschlafen zu können, wenigstens ihrem Körper die Ruhe zu gönnen, die er dringend brauchte. Aber Mitch besetzte andere Gebiete ihres Unterbewusstseins, als Bomben und Gewehrläufe sie je zu erreichen vermochten. Nur er allein war so tief eingedrungen, dass er sie auch in den einsamsten Stunden der Nacht, wenn sie alleine in dem grossen Bett - warum auch immer sie ein derart grosses Bett gekauft hatte - lag und die schwarze Decke anstarrte, verfolgte. Manchmal streckte sie die Hand aus, als würde sie erwarten, ihn plötzlich neben sich zu finden. Aber da war immer nur Leere und Mitch war niemals da. Da war immer ein Teil ihres Herzens, den sie vermisste und ein Loch in ihrer Brust, das so sehr weh tat, dass sie nicht mehr wusste, wie sie atmen sollte, ohne zu schreien. Sie spürte die Schlinge, die sich um ihren Hals legte, sich immer weiter zuzog. Sie wusste, dass die Schlinge für ihren Freund bestimmt war. Aber wie Mitch unterging, versank Aryana mit ihm. Immer mehr. Sie wollte nichts mehr, als ihn da raus zu holen, endlich zu befreien, bevor er ganz verloren war. Bevor sich das, was nach 280 Tagen eintraf, zur Normalität entwickelte. Der apathische Blick auf seinem Gesicht. Seine Abweisung ihr gegenüber. Sie hatten sich nicht gestritten... Aber das hatte nur daran gelegen, dass die Brünette es nicht sehen konnte, wie sie wertvolle Minuten, die sie Angesicht zu Angesicht sitzen durften, damit verschwendeten, sich anzuschreien. Doch sie hätte ihm so gerne gesagt, dass er das nicht tun konnte. Dass er ihr diese Ignoranz nicht antun durfte. Dass er es ihr schuldig war, zu kämpfen. Dass er versprochen hatte, nicht aufzugeben. Und trotzdem schwieg sie, während das Seil immer enger wurde. Weil sie ihn noch immer liebte. Noch immer nicht loslassen konnte. Weil sie noch immer an ihm festhielt. Weil sie ihm auch etwas versprochen hatte. Das sie bei ihm blieb. Und dass sie ihn da raus holte. Sie hatte tausend Szenarios durchgespielt. Aber eine Lösung hatte sie auch nach zehn Monaten noch nicht gefunden. Und sie wurde zunehmend verzweifelter. So sehr sie auch dagegen ankämpfte, schwand auch bei der jungen Frau selbst die Hoffnung darauf, rechtzeitig einen Ausweg zu sehen. Sie würde es niemals zugeben, aber alles was sie versuchte, war aussichtslos. Wie bekam man also einen Mann, der noch über vierundzwanzig Jahre abzusitzen hätte, aus einer Haftstrafe raus - ohne dafür das Gefängnis in die Luft sprengen zu müssen? Sie wollte nicht den Rest ihres Lebens davonrennen müssen, auf der Flucht sein, weil sie es nicht schaffte, ihn anderweitig aus den Klauen der Justiz zu reissen. Sie musste ziemlich zerstört ausgesehen haben, an diesem Abend, an dem sie ihn zum sechsten Mal besucht hatte. Nach zehn Monaten. Er hatte sie einmal mehr alle Nerven gekostet und es machte sie komplett fertig, ihn so kaputt zu sehen. So abgekämpft. Als hätte er schon jetzt die Hoffnung aufgegeben, dass es je wieder gut sein konnte. Dass er noch eine Zukunft mit ihr haben würde, auf die er sich freuen konnte. Natürlich war das nachvollziehbar - das Leben da drin musste grausam sein und je mehr er ihr davon erzählte umso erstaunlicher war es auch, dass er nicht schon viel früher abgelöscht und untergegangen war. Und doch machte das ihre Lage nicht einfacher, denn Aryana war noch nie gut darin gewesen, aufzugeben. Oder gar zu verlieren. Sie war nicht der Typ dafür, war nicht bereit, jemanden gewinnen zu lassen - schon gar nicht, wenn der Preis dafür ihr Glück, ihre Zukunft, das Leben ihrer Liebe war. Wahrscheinlich hatte sie die Geschichte nun schon drei Mal dem Barkeeper erzählt, der ihr den vierten Whiskey ausschenkte. Obwohl sie nicht trinken sollte, weil sie und Alkohol sich noch immer ziemlich schlecht vertrugen. Entsprechend benebelt fühlte sich ihr Kopf auch schon an, als sie im Augenwinkel realisierte, wie jemand einen Barhocker herbeizog und sich neben sie setzte. Weigerte sich auch erstmal, den durch und durch verlorenen Blick auch nur für eine Millisekunde von ihrem Glas zu lösen. Bis seine Stimme leise den Raum durchschnitt und somit zwangsläufig ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es waren fast keine Leute hier, wäre also schwer geworden, einen sicher an die zwei Meter grossen und durch und durch imposant gebauten Mann zu ignorieren, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Als wäre sein "Eine Frau wie Sie sollte sich hier nicht alleine betrinken... Die Gegend züchtet viel zu viel Abschaum", komplett an ihr vorbei gegangen. Die Brünette hatte bereits die Augen verdreht und den nächsten Tropfen des brennenden Gesöffs ihren Rachen hinunter geschüttet, bevor sie ihn doch noch eines skeptischen Blickes würdigte. Er war komplett schwarz angezogen - das war aber auch die einzige äusserliche Gemeinsamkeit, die sie verband. Der Mann hatte kurz geschorenes, schwarz gekraustes Haar, ein kantiges Gesicht, war gut doppelt so breit wie sie. Hatte eine dunkle Hautfarbe und einen stechenden Blick. Ihre Augenbrauen verzogen sich sofort zuerst in Erstaunen und dann in tiefem Misstrauen, als sie ihn erkannte. Sie kannte seinen Namen nicht. Aber er war einer der Wärter des verhassten Gefängnisses, hinter dessen Mauern ihr Freund vor sich hin schmorte. Und dieser Mann wusste das. Er war es, der ausnahmslos jedes Mal in der Tür des Besucherraumes stand und sich mit einem Auf Wiedersehen Miss Cooper von ihr verabschiedete, wenn sie zum Nach-Hause-Gehen gezwungen würde. Sie hatte ihn bis heute nie beachtet, höchstens böse angefunkelt. Und daran änderte sich auch in diesem Moment nichts. "Was?? Denkst du, acht Jahre Army reichen nicht aus, um mich gegen Abschaum zu verteidigen?!", knurrte sie zurück, rutschte einen demonstrativen, möglicherweise etwas riskant schwankenden, halben Meter nach Rechts um ihm deutlich genug zu signalisieren, dass sie kein Interesse an einem Gespräch mit einem Hüter des Rechts hatte. Sie wusste auch nicht, warum sie ihre Vergangenheit bei der Army überhaupt erwähnt hatte. Whiskey und Schwindel sei Dank, wahrscheinlich. Wie dem auch sei, es brachte nichts. Seine Augenbrauen zuckten einen Moment beinahe erfreut nach oben und wenn sie sich konzentriert hätte, wäre Aryana das durchaus zufriedene Zucken seines linken Mundwinkels nicht entgangen. Als hätte er erwartet, dass sie das sagen würde. Als wäre ihm das gar nicht so neu. "Doch. Das denke ich tatsächlich. Darum bin ich auch hier. Weil ich glaube, dass du mehr könntest. Und dein Freund, der mittlerweile genug gesehen hat. Und weil ich dir seit sieben Monaten dabei zusehe, wie du versuchst, ihn nicht loszulassen. Ihn vor dem Wahnsinn zu retten. Aber das kannst du nicht, Aryana Cooper. Fünfundzwanzig Jahre in der Hölle, ohne Selbstbestimmung, ohne Freiheit, ohne Möglichkeiten, ohne Zuneigung und Liebe machen jeden Menschen kaputt", redete er unverblümt weiter, rührte in seinem hässlichen Drink und schaute sie die ganze Zeit vollkommen unverfroren an. Aryanas Augen hatten sich zu schmalen Strichen verengt und ihre Knöchel stachen weiss aus ihren Fäusten heraus, die geballt auf der Bar lagen. Sie war innerlich offensichtlich überfordert damit, dass er tat, als würde er sie kennen, obwohl sie nie zuvor mit ihm gesprochen hatte. Und der Alkohol tat zweifelsohne den Rest, liess ihre Zunge schwer und ihren Kopf langsam sein. So langsam, das letztendlich nicht mehr als ein gezischtes "Wenn du fertig bist - also jetzt - kannst du dich gerne wieder verpissen, ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt", über ihre Lippen glitt. Doch der Fremde liess sich nicht aus der Ruhe bringen, lächelte nur wieder und schlürfte in einem ziemlich ekelhaften Ton an seinem Drink. "Interessiert dich mein Angebot denn überhaupt gar nicht? Auch wenn es deinem Liebsten Vierundzwanzig Jahre ersparen könnte? Den totalen Irrsinn?", er wusste, dass er damit einen Jackpot landete, noch bevor ihre Augen wieder in seine Richtung gezuckt waren. Sein Lächeln, das seine weissen Zähne hinter den vollen Lippen aufblitzen liess, verriet alles. Und bevor Aryana wirklich darüber nachgedacht hatte, hörte sie ihre eigene Stimme die erwartete Gegenfrage stellen. "Welches Angebot?", es klang misstrauisch. Aber auch traurig verzweifelt, wie sie definitiv nicht hatte klingen wollen. Der Mann schüttelte leicht den Kopf. "Nicht jetzt", er winkte den Barkeeper heran, liess sich einen Stift und die Rechnung geben. Zahlte seine Getränke wie auch die etwas zu vielen Whiskeys der Brünetten. Dann nahm er ihre Hand, kritzelte zehn Ziffern und einen Namen auf ihren Unterarm und schüttelte daraufhin ohne zu fragen ihre Pfote. "Trevor. Trevor Fisher. Ich würde mich freuen, von dir zu hören. Du wirst es nicht bereuen, glaub mir", erklärte er zuversichtlich. Und bevor Aryana etwas hätte sagen oder tun können, war er auch schon weg. Und sie alleine in einer Bar - betrunken und absolut verwirrt. Sie hatte weniger als vierundzwanzig Stunden gebraucht, um die Nummer in ihrem Handy einzutippen und den grünen Hörer zu drücken. Am liebsten hätte sie es getan, als er die Bar verlassen hatte. Aber sie war immerhin schlau genug gewesen, zu realisieren, dass sie betrunken war und das eine sehr schlechte Idee war - auch wenn sie wissen wollte, was Trevor ihr hatte erzählen wollen, bevor er wie ein Schatten in der Nacht verschwunden war. Als sie ihn dann aber angerufen hatte, hatte er wieder nicht mit der Sprache rausrücken wollen. Auf ein weiteres Treffen verwiesen. Und wäre sie nicht so verzweifelt gewesen, hätte sie sich sicherlich nicht dazu hinreissen lassen. Aber was hatte sie denn bitte noch für Optionen? Ihr Freund vergammelte in einer modrigen Zelle, konnte jeden Tag der Nächste sein, der sich dort drin selbst ein Ende setzte - oder dem zum Ende verholfen wurde. Sie drehte hier draussen am Rad, kämpfte darum, nicht ihren elenden Job zu verlieren, den sie brauchte, um ihr Leben zu finanzieren, das sie momentan einfach nur hasste. Versuchte, ihrer Schwester nicht zu viele Sorgen zu bereiten und fühlte sich gleichzeitig nichts als komplett allein. Darum traf sie ihn, Trevor. Und er machte ihr tatsächlich ein Angebot. Ein Angebot mit vielen Haken, das war klar. Aber nichts, absolut gar nichts an diesem Angebot war schlimmer als das, was sie gerade durchlebten - sie und Mitch. Er hatte ihr drei Wochen gegeben, um das Ganze zu überdenken. Sie hätte es nach zwei Tagen unterschrieben. Aber Trevor hatte sie erst nach drei Wochen wieder treffen wollen, um sicher zu gehen, dass sie es sich auch wirklich überlegte. Angeblich eine Vorgabe seines Bosses, den Aryana noch nie getroffen hatte. Drei Wochen, in denen sie auch Mitch einen weiteren Besuch abstattete. Nur um zu sehen, wie er ihr langsam komplett entglitt. Vollkommen grausam. Am nächsten Tag hatte sie die Unterschrift gesetzt. Und wenn er sie irgendwann dafür hassen würde, sollte er das tun. Sie konnte so nicht weiterleben. Nach dem Unterschreiben war alles ganz schnell gegangen. Aryana war rundum damit beschäftigt gewesen, ihre Wohnung wieder wie ein Zuhause aussehen zu lassen, nachdem die letzten Wochen komplettes Chaos geherrscht hatte. Sie tendierte dazu, die Gemütslage in ihrem Kopf auf ihre Wohnung zu übertragen, womit sich das Durcheinander bestens erklären liess. Aber damit war jetzt Schluss. Sie hatte alles perfekt aufgeräumt, auf Hochglanz poliert. Hatte sich sogar die Mühe gemacht, ihre sehr schlichte Einrichtung etwas aufzuwerten, indem sie mit ein paar Zimmerpflanzen etwas Leben reinbrachte und zwei Bilder aufhängte. Sie hatte neue Kleider eingekauft, damit sie nicht mehr aussah wie eine obdachlose Pennerin. Hatte sogar einen Friseur besucht. Aryana hatte das Bett frisch bezogen und ein zweites Kissen besorgt. Einen Teil ihres Schrankes für ihn freigeräumt. Sie hatte den Kühlschrank mit mehr Essen aufgestockt, als er im letzten Jahr jemals beinhaltet hatte - darunter selbstverständlich auch zwei Packungen Sushi, vom besten Takeaway für Sushi, das sie bisher gefunden hatte. Irgendwann würde sie die dämlichen Röllchen selber machen, aber dazu würde sie heute keine Zeit haben, da war sie sich relativ sicher. Es war alles bereit, als sie die frisch durchlüftete Wohnung hinter sich abschloss und zum Auto ging. Die Strecke zur Anstalt gerade so unfallfrei hinter sich brachte. Und nun stand sie hier, wie ein Schulkind mit starker Sozialphobie vor dem ersten Tag der ersten Klasse. Trottete auf die Mauern zu, als wären ihre Beine nichts als Pudding. Sie stiess die Tür um 10:29 Uhr auf. Und wurde umgehend dazu angewiesen, noch einen Moment zu warten. Klar. Es war noch nicht 10:30h. Und sie kotzte gleich in eine Ecke, wenn er nicht bald hier war.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Ja, naja... meine Geheimwaffe ist halt Leute mit Texten erschlagen... oder so. Was sind diese Absätze, von denen immer alle reden? Braucht man die eigentlich? o.o XD Und das mit den Jahreszeiten ist voll oke, ich mag alles was kalt ist ja sowieso nicht, haha. :'D __________
Ich wusste gar nicht, wo ich auf den letzten Metern in die Freiheit zuerst nach denken sollte. Es schien, als hätte mich Irgendjemand hier raus gekauft, konnte ich mir doch den Kommentar des Wärters, der mich weiterhin begleitete, nicht anders erklären. Das konnte aber kaum Aryana selbst gewesen sein, weil ich mir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen wollte, was für eine Unsumme ich meinem Freikäufer nun mehr oder weniger schuldete. Natürlich eher nicht rechtlich gesehen, weil ihn Niemand dazu gezwungen hatte mich hier rauszuholen und richtiger Menschenhandel wohl verboten war, aber das änderte nichts an der Schuld, die für mich daraus resultierte. Allerdings war es mir wohl noch nie weniger wichtig gewesen als jetzt, wie sehr die amerikanische Justiz mit Geld bestechlich war, solange ich nur dadurch aus dieser Hölle herauskam. Wenn ich mich nur endlich mal wieder für ein paar Minuten so fühlen könnte, als würde ich wirklich atmen und nicht nächstens ersticken, weil mir die Decke auf den Kopf fiel. Herz und Verstand täglich ein bisschen mehr ausbluteten und dadurch nur mehr eine schrecklich kalte Leere mit gleichzeitig zu viel Platz für Gedanken zurückließen. Zwar brauchte ich mir kaum vorzumachen, dass mein Kopf von jetzt auf gleich wieder brauchbar sein würde, nur weil ich nicht mehr in einem Betonklotz eingesperrt war, aber es konnte nicht weniger als eine immense Erleichterung sein. Holte Aryana mich ab? Mit Sicherheit. Ich wusste zwar wirklich nicht, wie sie es jetzt tatsächlich fertig gebracht hatte einen Idioten zu finden, der dazu bereit war mich aus diesem Drecksloch zu kaufen, aber eigentlich konnte sonst Niemand hinter Alledem stecken. Sie war die einzige Person auf diesem Planeten, die sich trotz all der schlimmen Dinge, die ich getan hatte, noch immer für mich interessierte und mich nicht der Todesstrafe ausliefern wollte. Die glaubte, dass es noch irgendetwas an mir gab, dass es wert war hier rausgeholt zu werden. Niemand, wirklich absolut gar Niemand, hätte es ihr übel genommen, wenn sie Kehrt gemacht hätte, nachdem ich selbst für unsere Gespräche nichts Positives mehr beizutragen gehabt hatte. Ich wusste auch nicht, ob die Brünette sich selbst noch sicher damit war, dass sie mir nicht egal war. Dass ich in den Gesprächen oft übellaunig und an sich weniger gesprächig gewesen war, könnte ja durchaus darauf schließen lassen. Andererseits kannte sie mich vielleicht auch schon viel zu gut dafür, um nicht zu wissen, dass das mehr nur das Ergebnis davon war, dass mir der Schädel komplett den Bach runterging. Ich wurde nur kurz von all jenen Gedanken abgelenkt, als ich in einen Nebenraum geleitet wurde, in dem ich mich umziehen sollte. Ich ließ die Knastklamotten nur allzu gerne hinter mir. Fragte mich im selben Moment noch kurzzeitig, wo eigentlich der Rest meiner Sachen - also alles, was nicht meine Klamotten aus dem Australien-Urlaub waren, die sie mir nach dem Eklat im Lager nachgeschickt hatten, nachdem wir per Express für die Versorgung im Krankenhaus in die Staaten geflogen worden waren - jetzt war, beziehungsweise was die Army damit angestellt hatte. Andererseits gab es dabei ohnehin nicht viel, was mir am Herzen gelegen hätte und aus der Warte gesehen war es mir dann auch schon wieder scheißegal, als ich mir meinen Geldbeutel in die hintere, rechte Hosentasche schob und danach die Tasche mit dem Rest wieder in die Hand nahm. Solche Sachen wie mein Handy, MP3-Player und Co. hatten sie wahrscheinlich den Bullen für die Untersuchungen übergeben, aber wie auch immer. So oder so setzte mein Herz noch zum nächsthöheren Gang ein, als die letzte schwere Kombination aus drei abgeschlossenen Türen, die mir im Weg sein würde, von dem vorausgehenden Wärter aufgeschlossen wurde. Er hielt bei der letzten kurz inne und drehte sich halb zu mir um, sah mich argwöhnisch an. "Keine hastigen Bewegungen, bis Sie draußen hinter der Mauer sind, klar?", hielt er mich dazu an Ruhe zu bewahren. Natürlich - die Handschellen waren ja ab, seit ich mein Zeug mit mir herumtrug und theoretisch könnte ich Amoklaufen. Als würde ich meine Freiheit jetzt noch riskieren wollen. "Alles was du willst, Hank, solange du mich nur endlich hier rauslässt.", ließ ich ihn mit bitter klingender Ironie wissen, dass er nichts zu befürchten und ich verstanden hatte. Er musterte mich noch einen Augenblick lang skeptisch, schloss dann aber auf und ich musste gar nicht erst durch den breiten Türrahmen treten, um Aryana etwas entfernt in dem größeren Eingangsbereich zu sehen. Ich hätte den Ordnungshüter am liebsten bei Seite gestoßen, als er vor mir durch die Tür schritt, aber ich hielt mich zu etwas Anstand an, um mir die Tour nicht selbst zu vermasseln. Sobald der Weg aber frei war ging ich an ihm vorbei und die letzten Meter direkt auf die brünette Schönheit zu. Ob meine Bewegung dabei an sich hastig war oder nicht war wohl eine Sache der Interpretation, aber ich würde sie eher als nur sehr zielstrebig und zügig deklarieren. Außerdem ließ ich mein Zeug tatsächlich einfach fallen. Nicht direkt vor meinen Füßen, würde ich sonst noch drüber stolpern, sondern eben etwas zur Seite weg, aber ich musste die Hände frei haben und mein Zeug würde weder davon kaputtgehen, noch plötzlich Beine kriegen und weglaufen. Mein Blick hielt unruhig funkelnd Aryanas, kurz bevor wir bei etwas mehr als für mich halber Strecke aufeinander trafen und ich atemlos meine Arme um sie legte. Mein Herz setzte ganz bestimmt mindestens zwei Schläge aus, während ich einen Arm eng um ihre Taille und auch den anderen weiter oben um sie schlang, um die Hand an ihren Hinterkopf legen zu können. Sie zum ersten Mal seit einer viel zu quälenden, endlos langen Ewigkeit für mehr als gefühlt gar keine Sekunden an mich zu drücken. Ihren Duft einzuatmen und damit den Sturm in meinem Kopf zumindest ein bisschen zu beruhigen, während ich die Augen geschlossen hielt und das Gesicht einfach an ihrer Halsbeuge vergrub. Dabei endlich nicht mehr gedanklich die Sekunden mitzählte, sondern einfach nur ihre wohlig warme, noch immer vertraut wirkende Wärme spürte. Irgendwo im Hintergrund hob Wärter Nummer zwei schon mit einem Seufzen meine Sachen auf, aber das bekam ich nicht mal mit. Versank für den Augenblick einfach in einem kleinen Paralleluniversum, in dem es nur Aryana und mich gab und in dem wir schon gar nicht mehr hier im Gefängnis herumstanden. Zumindest so lange, bis sich der Kerl mit meinem Kram in den Händen leise räusperte und dabei mit Bedacht an uns herantrat. "Ich weiß, dass Sie beide sich vermisst haben... aber Sie müssen hier zuerst ganz raus, in Ordnung? Das dauert höchstens noch zwei Minuten, danach haben Sie alle Zeit der Welt.", sagte er ruhig, nicht ansatzweise gehetzt. Logan. Ein noch ziemlich junger Kerl, der bis jetzt wohl noch sowas wie Empathie und Ruhe besaß, an sich auch ziemlich freundlich war. Ob er sich im Lauf seiner Karriere an die anderen Arschlöcher hier drin anpassen würde blieb abzuwarten. Bevor ich seiner Aufforderung aber nachkam hob ich meinen Kopf ein klein wenig an, um Aryana meine Lippen an die Wange zu legen. Ein kaum hörbares "Danke... danke, danke, danke." an ihre Haut zu hauchen und sie dabei immer wieder zärtlich auf den Wangenknochen zu küssen. Erst danach lockerten und lösten sich meine Arme von ihr, wobei ich mit der rechten Hand im Anschluss gleich nach ihrer griff. Nur für den Fall, dass es sich Jemand plötzlich anders überlegte und sie mir wieder wegnahm. In jenem Fall würde ich dann nicht mehr dafür garantieren hier nicht noch ein weiteres Mal Opfer meines strapazierten Gemüts zu werden und die Fäuste auszupacken. Die andere Hand brauchte ich wohl oder übel für den Griff der Tasche, die mir jetzt zum zweiten Mal in die Hand gedrückt wurde. Andernfalls hätte ich meinen ganz persönlichen Schutzengel womöglich einfach nach draußen getragen. Kurz nach der erneuten Übergabe meiner Sachen folgte eine Armbewegung von Hank, die uns bedeuten sollte mit raus an die frische Luft und weiter zu dem massiven, sicher vier Meter hohen Ausgangstor zu gehen. Nichts. Lieber. Als. Das.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Nene, braucht keiner, passt schon so! x'D _________
Die Minute zog sich wie Kaugummi und Aryana war sich sicher, dass es weit mehr als 10:30 Uhr am Morgen dieses 345. Tages war, als sich endlich endlich endlich die Tür bewegte, an deren Metall ihre Augen seit einer gefühlten Ewigkeit förmlich klebten. Aber es passierte. Das Warten und Bangen fand ein Ende. Sie erblickte ihn - erkannte Mitch kaum wieder in diesen Klamotten, die überhaupt nichts mit Army, Krankenhaus oder Knast zu tun hatten. Sofort begann sie in seine Richtung zu stolpern, wäre gerannt, wenn ihre Beine es zugelassen hätten. Aber sie wollte hier weder zurückgerissen werden, noch den Boden küssen, und so war es letztendlich sehr schnelles Gehen, womit sie sich begnügte, während ihr Puls in die Höhe schnellte. Ihr wurde leicht schwindlig, weil sie wahrscheinlich sehr nahe an einer Hyperventilation kratzte, aber Aryana könnte sich nicht weniger darum kümmern, jetzt, wo dieser Moment gekommen war, auf den sie so lange hingefiebert hatte. Sie ihn endlich vor sich hatte. Endlich in seine Arme fallen konnte. Und ihre Hände sich um seinen etwas schmaler gewordenen Körper schlangen wie Schraubstöcke, ihn nie wieder loslassen wollten. Ein erstickter Laut floh über ihre Lippen, während sie sich dicht an ihn presste, gar nicht merkte, wie sich verlorene Tränen in ihre Augen stahlen. "Mitch!", war das einzige Wort, das sie von sich gab, irgendwann in diesem Delirium aus Schwindel, Freude und purer Überwältigung. Er war da. Und niemand konnte ihnen sagen, dass diese Umarmung zu viel war. Dass seine Hände nicht auf ihren Körper gehörten. Ihre Lippen nicht auf seine Haut. Dass er zurückstehen sollte. Dass die Sekunden vorbei waren. Dass das verboten war. Die Schlacht war vorbei. Gewonnen. Sie. Hatten. Es. Geschafft. Das Räuspern und die Worte des Wärters bekam sie erstmal gar nicht mit, weil sie noch immer dabei war, überhaupt wieder nach Atem zu ringen. Aber vielleicht hatte er Recht, jetzt wo sie die Geräusche langsam rekonstruierte und den Sinn dahinter mehr oder weniger verschwand. Sie sollten raus. Weg hier. Bevor irgendwer doch noch auf dumme Ideen kam. Sie hörte vier leise Worte an ihrem Ohr, die ihr durch und durch überwältigtes, endlich wieder freies, unbekümmertes Grinsen noch breiter werden liessen. Griff fest nach seiner Hand, als er diese um ihre Finger legte. Und dann war es Zeit, zu gehen. Endlich. Es war nicht weit zum Tor. Ein paar Meter. Und dann nach draussen. Aryana erlebte jeden Schritt wie in Trance. In einem Film, von dem sie noch nicht ganz sicher sein konnte, ob er wirklich echt war. Aber er musste es sein. Niemals sonst würde sie diese Gefühle spüren, würde ihr Herz derart überquillen vor Freude und Liebe. Sie wurden nach draussen gelassen. Mitch mit ihr. Und obwohl sie keine Augen für irgendeinen Teil dieses Gefängnisses hatte, vor ihrem Blick alles ein Bisschen verschwommen wirkte, sah sie ihn am Tor stehen. Trevor grinste breit vor sich hin. Weil er der Einzige war, der wusste, was hier wirklich vor sich ging. Er nickte ihr zu und Aryanas tat es ihm gleich, ihr Körper zuckte kurz unter einem Laut, der einem erleichterten Schluchzen gleichkam. Eines von der Sorte, die einem Menschen nur genau dann entwich, wenn dreitausend Tonnen Schmerz und Sorge von ihrem Herzen gehoben und in Luft aufgelöst wurden. Dann waren sie draussen. Ihre Schritte beschleunigten sich und Aryana riss Mitch mit sich, zwang ihn dazu, mit ihr zu rennen. All die Schritte bis zu ihrem Auto, das sie wie immer mit Absicht so weit wie möglich vom Eingang dieser Hölle entfernt geparkt hatte. Sie flogen über den staubigen Boden und erst, als sie den alten Ford erreicht hatten, kam die Brünette zum Stillstand. Drehte sich strahlend zu ihm um und fiel ihm ein zweites Mal um den Hals. Klammerte sich an seinen Körper, presste sich an ihn, legte ihre zitternden Hände an seinen Hinterkopf, um ihn zu sich zu ziehen und ihren Mund auf seine Lippen zu drücken, die sie viel zu lange nicht mehr so gespürt hatte, wie sie sie spüren musste, um zu glauben, dass das hier echt war. Dass es geklappt hatte. Dass sie frei waren.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Auch als wir das Gebäude verlassen hatten und ohne Umwege weiter zum Tor gingen, wirkte der Moment für mich noch sehr surreal. So als wäre es eher nur ein sehr fieser Scherz, weil eigentlich nichts von Alledem hier hätte passieren sollen, wenn man den Mann mit dem Hammer von damals im Gerichtssaal danach fragen würde. Aber Niemand hielt uns auf. Niemand wollte versuchen mir die Handgelenke wieder in nicht selten zu eng verschlossene Handschellen zu legen und keiner der Scharfschützen auf den Türmen packte sein Gewehr aus, als die Schwelle zur endgültigen Freiheit erreicht war. Ich hatte auf dem Weg zum Tor immer wieder zwischen Hank und Aryana hin und her gesehen. Sah dementsprechend auch, dass sie Jemandem zunickte und folgte daraufhin ihrem Blick. Jener schien einen der Wärter nahe des Tors zu treffen, den ich mehr nur so vom Sehen her kannte, weil ich selbst mit ihm so gut wie nichts zu tun gehabt hatte. Lag wohl einfach daran, dass jeder der Ordnungshüter so sein Aufgabengebiet hatte und nur bei Bedarf mal in ein anderes verschoben wurde. Womöglich kannten die beiden sich lediglich daher, dass Aryana hier immer wieder vorbei gemusst hatte, wenn sie zu mir gekommen war, aber jetzt gerade war mir auch nicht wirklich danach das Grinsen und das Genicke weiter zu hinterfragen. Ich hatte irgendwann später genug Zeit darüber zu sinnieren, zählte für mich im Moment doch einzig der immer stärker werdende Duft nach Freiheit. So oder so hatte ich gar keine Zeit darüber nachzudenken, denn kaum war das Tor passiert setzte Aryana zu einem deutlich schnelleren Gang an und ich hatte absolut nichts dagegen, mich zu einem Lauf animieren zu lassen, um diese gottverdammte Hölle so schnell wie nur irgendwie möglich hinter mir zu lassen. Erst dabei hoben sich meine Mundwinkel schließlich zu einem schwachen Grinsen an und ich warf noch einen letzten Blick über meine Schulter zurück - was man grundsätzlich nicht tun sollte, wenn man rannte, weil man dann selten auf die Schnauze flog. Jedoch passierte bei dem kurzen Blick nach hinten nichts dergleichen und ich grinste noch ein ganzes Stück breiter, als ich dann wieder nach vorne sah. Ich würde nur zu gerne die Gesichter all der Vollidioten sehen, die versucht hatten mich klein zu machen, wenn sie beim alltäglichen Gefängnis-Klatsch später beim Freigang erfuhren, dass ich raus war. Einfach so, aus dem Nichts. Nach einem statt nach 25 Jahren. Weil die Army-Romanze, mit der sie mich aufgezogen hatten, eben nicht nur eine solche war und dass Aryana sich nicht einfach nebenbei schon jemand Besseren gesucht hatte. Nicht, als hätte ich an letzteres je wirklich geglaubt, aber die hübsche Brünette war einfach meine mit Abstand größte Schwachstelle gewesen. Das hatten sie gewusst und immer wieder darauf abgezielt - trotzdem hatte ich Recht behalten. Offenbar am richtigen fahrbaren Untersatz angekommen machte Aryana schließlich Halt und ich musste gestehen, dass sich meine Lunge schon nach dem eigentlich nicht allzu langen Lauf total eingestaubt anfühlte. Das ließ sich aber nur allzu leicht ignorieren, weil sich meine überglückliche, bessere Hälfte wieder zu mir umdrehte. Mir ein weiteres Mal um den Hals fiel und damit einen erneuten Abgang meiner Sachen provozierte, lösten sich meine Finger doch gleich noch ein weiteres Mal von dem Griff. Ihre Lippen lagen schon auf meinen, als ich den linken Arm um ihren Körper legte. Dabei ihr Shirt wohl etwas nach oben schob, weil sich meine Hand so wie früher nur allzu gerne unter dem Stoff verkroch, während ich sie an mich drückte und sich meine andere Hand an ihre Wange hob, um sie zu streicheln. Das Gefühl, das sich bei dem Kuss in mir ausbreitete, war gar nicht in Worte zu fassen. Das ohnehin schon bis zum Anschlag vor sich hin pochende Herz sprang mir nächstens aus der Brust, als sich all die angestaute Sehnsucht, Leidenschaft und Liebe an unseren Lippen vereinte. Es war als wäre ich über Monate hinweg ausgehungert. Als hätte man mir meine liebste Droge von jetzt auf gleich weggenommen und würde sie mir jetzt auf dem Silbertablett servieren. Deshalb konnte ich auch gar nicht wirklich genug davon kriegen, ließ eine halbe Ewigkeit nicht von den weichen Lippen der Brünetten ab. Legte erst dann eine Pause ein, als es langsam wirklich knapp mit dem Sauerstoff wurde. Dabei entfernte ich mich aber gar nicht weit von ihr und mein - wohl auch der Aufregung an sich wegen - beschleunigter Atem prallte an ihren Lippen ab, als ich ihr noch einmal über die Wange und von da an gleich eine Strähne hinters Ohr strich. Dann lehnte ich meine Stirn mit noch geschlossenen Augen an ihre, strich mit den Fingern währenddessen über die Haut an ihrem Rücken. Es fühlte sich unbeschreiblich gut an, sie endlich wieder wirklich spüren zu können, sie einfach nur ohne Zeitlimit bei mir halten und küssen zu können. Es gab nur sehr wenige Momente im Leben, die mich mit meiner großen Klappe sprachlos machten, aber gerade war so einer. Deshalb schwieg ich auch einige Sekunden lang, bevor ich dann doch ein paar Worte loswurde. "Ich fass' es nicht, dass du das hingekriegt hast...", hauchte ich noch immer ein wenig ungläubig und gleichermaßen überwältigt an ihre Lippen, bevor ich sie noch einmal liebevoll, innig küsste, wobei mir dann doch eine einzige, winzige Freudenträne aus dem Augenwinkel kullerte. Natürlich musste die Sache irgendeinen Haken haben, ich war ja nicht blöd, aber gerade im Moment war mir nichts unwichtiger als der Preis, den ich hierfür zahlen müssen würde. Und so viel war sicher: "Ich lass' dich nie wieder allein. Niemals.", murmelte ich noch ein paar mehr Worte zu ihr runter, bevor sich auch mein zweiter Arm um ihren schlanken Körper legte und ich sie einfach noch einen Moment lang festhielt. Lieber würde ich sterben, als mich noch einmal einsperren oder mir diesen Engel wegnehmen zu lassen, denn genau so hatte sich das das letzte Jahr über angefühlt.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +