Sie hatte gedacht, sie hätte schon jede Art von Hölle durchlebt in den vergangenen Jahren. Da war so vieles gewesen, waren so viele gestorben. Ihr Vater, ihre Mutter, ihr Bruder. All die Soldaten. All das Leid. Sie war verletzt worden, hatte sich wieder aufgerafft, hatte zahllose Kämpfe und Schlachten überlebt, eigene Landsleute genau wie syrische Kinder, Familien, Männer, Frauen langsam verrecken sehen. Zerstückelte Männer, verkrüppelte Frauen, traumatisierte Kinder. Sie hatte die Angst gesehen, den Teufel in jeder Form, Unterdrückung erlebt und Ungerechtigkeit mit angeschaut. Und beinahe wäre ihr auch ihre Schwester entrissen worden. Auch hier hatte sie nackter Panik in die Augen geschaut und gedacht, es wäre das Schlimmste, was sie je sehen würde. Und vielleicht war es das auch. Aber es war nicht alles gewesen. Denn die zwei Wochen in diesem gottverlassenen Krankenhaus in der Hitze dieses verhassten Landes, zeigten ihr einfach nur die nächste schreckliche, unerbittliche Form purer Folter auf. Sie konnte sich tatsächlich noch drei weitere Tage lang kaum auf ihrer eigenen Matratze drehen, weil ihr Körper in so viele Verbände eingepackt war und irgendwie alles ein Bisschen kaputt zu sein schien. Aufstehen kam ohne Hilfe überhaupt nicht in Frage und selbst dann, wenn irgendeine Schwester sie unterstützte, kam es ihr vor, als würde sie den Mount Everest persönlich und ohne Sauerstoff besteigen. Mitch blieb an sein Bett gekettet und somit für sie komplett unerreichbar, was ihre psychische Gesundheit gefährlich zu untergraben drohte. Denn sie hatte Angst. Und die Umstände, unter denen sie hier eingesperrt waren, sorgten nicht dafür, dass diese Angst sich wieder von ihrem Herzen löste. Im Gegenteil. Mittlerweile träumte sie fast jede Nacht davon, dass er ihr ganz entrissen wurde und nicht selten geisterten die Worte des Soldaten vom ersten Tag in ihrem Kopf herum. '...Und wenn sie nicht ganz eifrig auf die Todesstrafe hinarbeiten wollen, sollten sie sich langsam am Riemen reißen, Warwick.' Die Todesstrafe war nie wieder erwähnt worden. Aber ihr Unterbewusstsein hatte den Satz gespeichert und spielte ihn ihr in den unpassendsten Momenten vor. Vorzugsweise nachts, damit sie aus Träumen hochschreckte, die ihr nur allzu bekannt vorkamen. Nur, dass sich die Bilder darin verändert hatten. Noch immer handelten sie davon, dass sie Mitch verlor - wie immer, seit sie ihn ein Bisschen zu lieb gewonnen hatte. Aber er wurde meistens nicht mehr auf dem Schlachtfeld enthauptet, nicht mehr von einer Granate in tausend Stücke gerissen, nicht mehr vom IS zu Tode gefoltert. Jetzt waren es dunkle Löcher in Hochsicherheitstrakts, ein Stuhl mit Fesseln, eine Spritze tödlichen Giftes... Oder ein Seil aus Bettlaken nach endlosen Nächten in der grausamen Folter der Einzelhaft. Sie hatte Faye noch am ersten Tag geschrieben. Irgendeinen mühselig zusammengekratzten Zweizeiler. Ab dem dritten Tag hatte sie sie dann ab und zu angerufen. Aber sie wusste nicht, was sie reden sollte, weil ihr Kopf so voll und so leer war. Ihrer Schwester gegenüber schob sie das auf die Medikamente, liess sich stattdessen belanglose Geschichten erzählen, die sie ablenken sollten. Nur, dass nichts davon für länger als die Zeit der Telefonate funktionierte. Sobald die dünne Stimme der jüngeren Cooper in der Leitung verstummt war, kehrten alle Gedanken zurück, die sie nicht haben wollte. Und so langsam zweifelte Aryana daran, überhaupt noch über was anderes als die kommenden Gerichtstermine und alles, was danach sein mochte, nachdenken zu können. Sie lag und sass tagelang in ihrem Bett und starrte zu Mitch rüber, versuchte, sich mit ihm zu unterhalten oder ihn einfach nur anzuschauen. Sie war nicht an ihr Bett gefesselt. Aber es schien fast so, als würde jedes Mal ein Alarm losgehen, wenn sie aufstand - jedenfalls war jeweils ziemlich bald jemand im Zimmer um nach ihrem Wohlergehen zu schauen. Also um sie wieder unter die Bettdecke zu befördern, weil sie laut den Ärzten noch nicht selber aufstehen sollte. Es gab keinen Weg für sie, sich zu Mitch zu schleichen, in seine Arme zu fliehen, seine Nähe zu spüren. Alles, was ihnen blieb, war Reden und Anschauen. Wenn sie nicht gerade mit zu viel Beruhigungsmittel zum Schlafen gezwungen wurde. Die zwei Wochen zogen sich endlos dahin, aber Aryana kam nicht umhin, sich zu fragen, ob sie sich nicht in ein paar weiteren Wochen genau hierher zurückwünschen würde. Sie wollte nicht so pessimistisch denken, aber irgendwie kam was anderes im Moment kaum in Frage, während sie innerlich fast durchdrehte vor Sorge und niemand ihr etwas davon abnehmen konnte. Weil sie schlichtweg in der Scheisse sassen und irgendwas anderes als Gefängnis zumindest für Mitch kaum mehr machbar aussah. Weder in Syrien noch später in Amerika, nachdem der Überflug dann auch geschafft war. Die Anwälte sprachen ungefähr das Gleiche aus, was sie schon wussten - auch wenn die Gutverdiener natürlich betonten, alles zu tun, um ihnen die besten Ergebnisse zu erzielen. Für was anderes wurden sie aber auch nicht bezahlt, also war das kein grosses Versprechen... Dass es für sie selbst nicht ganz so düster aussah wie für Mitch - eigentlich nicht ansatzweise so düster, wenn man die Sache genau nahm, war gut. Ihr konnte ja auch kam etwas anderes vorgeworfen werden, als dass sie Informationen zurückgehalten und Mitchs Machenschaften geheimgehalten hatte. Allerdings erst dann, als diese schon abgeschlossen waren, was ein ziemlich ausschlaggebendes Argument war. Und dass sie gegen Ragans Befehl gehandelt hatte, als sie mit Mitch auf eigene Faust zu den Hügeln aufgebrochen waren. Ach und die Liebesbeziehung zum Verbrecher persönlich natürlich - aber sowas verlief für gewöhnlich ohne Strafe, wurde schlicht mit einer Verlegung beantwortet. Aber noch war überhaupt nichts vorbei oder geregelt. Und mit dieser Ausgangslage sollte sie nun ihrer Schwester und Victor gegenübertreten, die beide absolut keine Ahnung hatten, was passiert war. Aryana hatte sich - jetzt, wo keiner sie beobachtete und keiner wirklich was dagegen tun konnte, weil dieses Treffen ausnahmsweise nicht unter Beobachtung stattfand - an ihren Krücken zu Mitch rüber geschleppt. Nicht nur, weil sie ihm so lange wie möglich so nahe wie möglich sein wollte, sondern auch, weil sie sich vor dem fürchtete, was jetzt kam. Sie hatte Faye seit Monaten nicht mehr gesehen und es dürften auch für sie nicht unbedingt die einfachsten Wochen gewesen sein. Ihre Stimme hatte oft genug ohne entsprechende Worte verraten, dass es der jüngeren Brünetten ebenfalls verschissen ging. Ihr jetzt noch eine schlechte Nachricht zu überbringen, war sicherlich kein besonders intelligenter Schachzug. Aber was sollte sie denn sonst tun? Aryana konnte sie nicht belügen, wenn sie übermorgen theoretisch schon in ein Gefängnis wandern könnte - irgendwann musste sie noch versuchen, so viel wie möglich so sanft wie möglich zu erklären. Und zwar bevor irgendein Seelenklempner Faye mit der Feinfühligkeit einer Mistfliege erzählte, dass ihre Schwester Scheisse gebaut hatte... Und so sass sie auf dem Bettrand neben dem jungen Mann, als das Drehen des Zimmerschlüssels erklang, sie sofort jeden Muskel ihres Körpers anspannen und auf die Füsse rutschen liess.
Sie hatten wirklich geglaubt, es wäre in irgendeiner Form intelligent, Victor aus ihrem Zimmer - aus ihrem Leben - zu entfernen. Nur für ein paar Wochen, hatten sie gesagt. Und es war bis dato mit Abstand das Dümmste, was sie ihr erzählt hatten. Wenn er da war, wachte sie Nachts panisch auf, glaubte, ihn zu verlieren, sah dann, dass er noch bei ihr war und hatte zumindest den Hauch einer Chance, sich innert nützlicher Frist wieder soweit zu beruhigen, dass sie sich nicht mit Medikamenten zurück in den Schlaf ballern musste. Wenn er nicht da war, hörte die Panik nicht auf, wenn sie aufwachte. Dann konnte sie nicht eindeutig widerlegen, dass das, was in ihren Träumen passierte, der Realität entsprach. Dann konnte ihr keiner garantieren, dass Victor noch lebte, dass es ihm rein körperlich gesehen gut ging, dass er nicht irgendwo blutete und langsam dem weissen Licht entgegen schwebte, während sie in dieser ewigen Dunkelheit festhing. Wenn er nicht da war, spürte sie nur die Narben auf ihrem Rücken, das Brennen einer Peitsche, den Strom eines Schockers, das Reissen ihres Herzens. Dann hörte sie seine Schreie, dann sah sie das dunkle Lachen, dann legten sich die Hände um ihren Hals. Und der namenlose Syrer mit dem grausamen Gesicht kniete sich auf ihre Brust, bis sie keine Luft mehr bekam und langsam in einer Ohnmacht versank, ohne wirklich das Bewusstsein zu verlieren. Sie hatte es tausend Mal gesagt. Jedes Mal, wenn eine Nachtwache in ihrem Zimmer gestanden und das zitternde Häufchen Faye zurück in die Realität hatte holen wollen. Jedes Mal, wenn sie geschrien hatte, jedes Mal, wenn sie geweint hatte. Und nach zwei Wochen hatte endlich jeder eingesehen, dass diese Trennung vollkommen zweckfremd war und sie niemals ans Ziel bringen konnte. Seit da war es ein Bisschen besser. Besser im Sinne von sie musste sich nicht mehr die ganze Zeit darauf konzentrieren, überhaupt glauben zu können, dass Victor wirklich noch lebte. Stattdessen durchliefen sie die Hölle einfach weiter zu zweit. Beobachteten sich dabei, wie sie beide nicht klar kamen, beide immer und immer wieder von vorne begannen und erneut kraftlos kollabierten. Faye bemühte sich darum, ihren Rücken vor allen - inklusive sich selbst - zu verbergen. Schaute sich das Übel bis heute weder auf Bildern noch im Spiegel an, ganz egal wie oft irgendein Therapeut oder eine Psychologin ihr das angeraten hatte. Ganz egal, wer sie auf diesem Weg begleiten wollte. Sie wollte auch nicht, dass Victor es sah, zog sich nur dann um, wenn sie alleine im Raum war oder er ihr mindestens den Rücken zukehrte. Vor etwas mehr als einer Woche hatte Faye angefangen, in den Therapien so zu tun, als wäre sie darüber hinweg und hätte sich alles in einer ruhigen Minute alleine im Bad angeschaut. Sie war sich nicht ganz sicher, ob irgendwer ihr das glaubte - aber es war ihr egal, solange keiner fragte. Nur Victor konnte sie nichts vorspielen, da sie ihr Verhalten diesbezüglich im Gegenüber nicht verändert hatte. Ihr nackter Rücken war Tabu - sowohl für seine Blicke als auch für seine Hände. Umarmungen fanden nur mit Kleidung statt. Und Massagen, mit denen sie auch in weiterhin ab und zu versorgte, wenn seine Schmerzen mal wieder unerträglich wurden, wollte sie keine. Erzählte stattdessen, als er einmal danach fragte, dass es dazu noch zu früh wäre und das wehtun würde. War ja nicht so, als würde ein Physiotherapeut genau das zweimal wöchentlich tun, um die Narbenbildung zu minimieren. Das waren im Übrigen auch die Therapien, die sie mit am meisten hasste... Als sie zwei Tage kein Lebenszeichen von ihrer Schwester bekommen hatte, ihr stattdessen von einem anderen Soldaten in Syrien - Luke - gesagt wurde, dass Aryana gerade auf einem Einsatz in einer Stadt wäre, hatte sie sich schon Sorgen gemacht. Es hatte nicht nach der Wahrheit geklungen, egal wie einleuchtend Luke die Geschichte mit einer spontanen Mission geschildert hatte. Aber als Faye dann die Nachricht von Aryana aus dem Krankenhaus bekommen hatte, hatte sie - mal wieder - richtig Panik geschoben. Sie war aus dem Zimmer gestürmt, in dem sie gerade alleine gesessen hatte, weil Victor noch bei einer Therapie gewesen war, und hatte versucht, diesen Ort hier endlich hinter sich zu lassen. Aber sie war nicht weit gekommen, weil sie noch vor dem Erreichen des Haupteinganges in ihrer Panikattacke zum selben jämmerlichen Häufchen Elend zusammengebrochen war, welches sie viel zu oft verkörperte. Die Anrufe hatten es besser gemacht. Aryana klang nicht gut, stattdessen vollkommen durch den Wind und neben sich, aber sie lebte. Und sie kamen beide nach Hause, in weniger als zwei Wochen schon. Genau das half Faye schliesslich dabei, sich erneut aufzuraffen und mit aller Kraft endlich aufzuhören, immer wieder bei Null beginnen zu müssen. Sie wollte stark wirken, gesund, wenn sie ihre Schwester wiedersah. Vielleicht war das utopisch - so weit, wie sie von stark und gesund entfernt war. Aber zumindest wollte sie dem Zustand in den nächsten Tagen noch so nahe wie möglich kommen. So fühlte sie sich dann auch nicht ganz so beschissen, als das lang ersehnte Wiedersehen endlich bevorstand. Sie freute sich wirklich darauf, Aryana und auch Mitch zu treffen - egal wie oft betont worden war, dass sie nicht zu euphorisch auf den Moment warten sollte. Sie hatte sich sogar schon überlegt, ob Aryana irgendwelche Gliedmassen fehlen würden. Aber diesbezüglich war sie von ihrer Schwester schon beruhigt worden, also sah sie der Warnung eher gelassen entgegen, als sie den Krankenhausflur entlang zu dem Zimmer der beiden Verletzten gingen. Auch das komische Verhalten des Polizisten vor der Tür ging irgendwie etwas an ihr vorbei. Sie hatte keine Ahnung, warum ein Beamter diese Tür bewachte. Aber was sollte sie sich Gedanken darüber machen, wenn das lästige Stück Holz im nächsten Moment auch schon aufgeschlossen - warum bitte steckte hier überhaupt ein Schlüssel..? - und zur Seite geschoben wurde, ihr den Weg frei räumte um umgehend nach Drinnen zu schlüpfen? Faye schnappte vor Aufregung leicht nach Luft, als sie Aryana tatsächlich erblickte. Und zwei Sekunden später stand sie auch schon vor ihrer Schwester und hatte halbwegs vorsichtig die Arme um sie geschlungen. Sie kannte die Verletzungen, die Aryana davongetragen hatte, also bemühte sie sich, nicht zu sehr einem schwächelnden Schraubstock zu gleichen. Und doch war sie in diesem Moment einfach nur endlos erleichtert. "Aryana...!", murmelte sie erstickt, hatte das Gesicht an ihrer Schulter vergraben, irgendwie bemüht, jetzt nicht zu weinen. Sie weinte zu oft. Und sie war doch nur unendlich glücklich, dass sie alle in Sicherheit waren. Alle Vier. Endlich in Amerika. Es gab wirklich keinen Grund, warum sie jetzt nicht glücklich sein sollten.. Glaubte sie. Glaubte sie wirklich. Auch noch, als sie den Kopf wieder leicht anhob um über Aryanas Schulter hinweg zu Mitch zu schielen, ihn ebenfalls schwach anzulächeln. "Hey, Mitch", hauchte die junge Brünette leise, ehe ihr Augen zurück zu Victor fanden und auch ihn anlächelten, ohne etwas zu sagen. Ihr Blick sprach ja doch schon alles aus, was sie dachte. Endlich. Alle. Sicher. Endlich. Alle. Frei.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Ich ging nach Faye durch die Tür des Krankenzimmers, warf über meine Schulter hinweg noch einmal einen Blick zu der Therapeutin, die wirklich wie bereits angekündigt nicht weiter an unseren Fersen kleben blieb, sondern außerhalb im Flur verweilen würde. Sie warf mir noch ein flüchtiges Lächeln zu, das ich geflissentlich ignorierte, als ich die Tür hinter uns wieder ins Schloss zurückschob. Das hatte nichts mit ihr oder der Situation an sich zu tun, mir war nur so ganz allgemein schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr danach zu lachen oder wenigstens zu lächeln. Das letzte Lachen, das mir über die Lippen gekommen war, lag wohl in der von Morphium getränkten Zeit im Krankenhaus zurück, als es um die Klatschblatt-Schlagzeile von Aryana und Mitch gegangen war und selbst das war ja nur ziemlich leise gewesen, weil mehr zu dem Zeitpunkt rein körperlich gar nicht möglich gewesen war. Man könnte fast meinen meine Mundwinkel waren inzwischen in neutraler bis negativer Haltung festgewachsen. Im Gegensatz zu Faye behielt ich auch jetzt noch die vorherige Warnung seitens ihrer Schwester im Kopf und konnte mich der Euphorie meiner Freundin nicht wirklich anschließen, die kurzzeitig den Raum flutete, als sie sich der Umarmung mit Aryana widmete. In der Zwischenzeit ging ich zu Mitch, der sich aufrecht hinsetzte, begrüßte ihn mit einem lockeren Handschlag und den Worten "Hey... was macht die Schulter?", bevor ich wieder einen Schritt vom Bett zurückmachte, wobei ich mir ein schwaches Lächeln abrang. Vermutlich war die ehemals gerissene Sehne in seiner Schulter inzwischen sein allerkleinstes Problem, wo seine Stimmung doch irgendwie ziemlich gedrückt wirkte und er augenscheinlich erneut durch andere Verletzungen ans Bett gefesselt war. Auch seitens Aryana konnte ich gerade nicht viel von purer Freude erkennen. Natürlich schien sie sich darüber zu freuen ihre jüngere Schwester wiederzusehen, aber wenn ich die Szene im jetzigen Moment mit dem letzten Wiedersehen im Krankenhaus verglich, als Faye wach geworden war und sie sich das erste Mal nach der Befreiung aus den Hügeln wirklich unterhalten hatten... nein, dann wirkte auch die zweite Cooper gerade im Vergleich nicht besonders glücklich. Es schien allgemein irgendwie eine eher unschöne Spannung in der Luft zu liegen, die wohl nur bei Faye gerade gänzlich in der Freude darüber unterging, dass sie ihre Schwester wiedersah und sie endlich nicht mehr zurück nach Syrien zu müssen schien, obwohl der Vertrag längst nicht abgelaufen war. Dennoch ging ich noch einmal kurz um Mitchs Bett herum, um auch Aryana zu begrüßen, als Faye sich langsam wieder von ihr zu lösen begann. Ich beließ es dabei bei einem "Hi." und einer sehr flüchtigen Umarmung - erstens um der Brünetten nicht weh zu tun und zweitens, weil ich angesichts der Stimmung irgendwie nicht recht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Die ältere Schwester war durch Faye auch zu einem Teil meiner Familie geworden, die ich eigentlich durchweg immer sehr herzlich begrüßte, aber der Moment war einfach ein bisschen komisch. Ich rang mir auch für die ältere Cooper ein schwaches Lächeln ab, bevor meine Augen Fayes' trafen. Es war wirklich unheimlich schön zu sehen, dass sie sich das erste Mal seit langem wieder aufrichtig zu freuen schien. Aber die Angst darum, dass sich das zeitnah wieder in Luft auflösen würde, ließ mich zu ihr aufschließen und vorsichtig nach ihrer Hand greifen, um meine Finger mit den ihren zu verschränken. Als könnte ich sie damit vor irgendwas bewahren.
Als die beiden dann tatsächlich ins Zimmer kamen und Aryana sich sogleich wieder von meinem Bett erhob, richteten sich auch meine eigenen Augen auf die sich öffnende Tür, durch die schon bald Faye und Victor hinein spazierten. Mir war nach wie vor etwas unwohl in der Magengegend, aber ich versuchte den beiden trotzdem möglichst neutral entgegenzuschauen. Vielleicht malte ich mir das noch folgende Geständnis schon jetzt etwas zu schwarz aus, aber ich konnte mir einfach absolut nicht vorstellen, dass die beiden das mal eben auf die leichte Schulter nehmen und mich danach nicht mit anderen Augen sehen würden. Schließlich kannten sie mich nicht wie Aryana, wussten nicht, dass das mehr oder weniger nur ein sehr fataler Ausrutscher meines eigentlich gar nicht so verkehrten Charakters war. Ich wusste, dass ich hier und da meine Ecken und Kanten hatte und bei weitem nicht perfekt war - wer war das schon? -, aber es Jemandem zu verzeihen, dass er andere mutwillig dem Tod überlassen hatte... dazu gehörte wohl einfach ziemlich viel. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass Faye es nach wie vor gutheißen würde, dass ihre Schwester weiter mit mir zusammenbleiben wollte. Selbst dann noch, wenn ich in den Knast wanderte - daran wollte sie weiterhin festhalten -, was ich dank meines Anwalts inzwischen für ziemlich unumgänglich hielt. Dementsprechend tief hing eben auch meine Laune permanent, was sich vor keinem der beiden wirklich verbergen lassen würde. Schließlich war ich noch nie der Typ Mensch dafür gewesen meine Emotionen zu verbergen. Ich erwiderte Fayes Begrüßung lediglich mit einem leicht gemurmelten "Hi.", bevor mein Blick auch schon weiter zu dem großgewachsenen, dunkelhaarigen Mann glitt, der zu mir ans Bett trat. Den unverletzten Arm streckte ich nach seiner Hand aus und erwiderte den kurzen Handschlag, nickte Victor noch im gleichen Moment leicht zu. Die Schulter, ja... ich wünschte mich wirklich in die Zeit zurück, als die zerschossene Sehne mein einziges Problem gewesen war. Als ich noch seelenruhig mit Aryana in meinen Armen im Krankenhaus in Texas herumgelegen und mir die Welt plötzlich viel schöner ausgemalt hatte. Langsam aber sicher schien sie die bunten Farben jedoch wieder zur verlieren und mich erneut in dieses unschöne, triste Grau abtauchen zu lassen, das ich so zu hassen gelernt hatte. "Zwickt nur noch hier und da.", legte ich dem ehemaligen Soldaten die gegebene Tatsache dar und zuckte leicht mit den Schultern. Normalerweise verspürte ich in der Schulter keine Schmerzen mehr, eben nur hier und da noch bei extremer Belastung oder stark dehnenden Bewegungen, an die sich die Sehne noch nicht wieder vollständig gewöhnt hatte. Ich folgte dem jungen Mann dann im Anschluss mit meinem Blick, als er ebenfalls kurz zu Aryana ging, um sie zu begrüßen. "Und wie geht's euch?", erkundigte ich mich im Anschluss nach dem Wohlergehen des Paares, was zumindest seitens Victor mit einem leisen Seufzen und etwas tieferem Einatmen einherging. "Mal besser, mal schlechter...", murmelte er ein paar Sekunden danach lediglich vor sich hin, ohne irgendwie ins Detail zu gehen. War vermutlich auch besser so, wenn wir es allesamt bei diesen oberflächlichen Fragen beließen, wenn es um unser Wohlergehen ging. Denn Niemandem in diesen vier Wänden schien es wirklich gut zu gehen. Ich stand im Grunde schon mit beiden Beinen im Knast, Aryana durfte darunter zukünftig ganz ausgiebig leiden und Faye, sowie auch ihr Freund sahen nach wie vor ziemlich müde und kaputt aus. Allzu erfolgreich konnte die Therapie der beiden bisher also auch nicht verlaufen sein.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Anblick ihrer Schwester so sehr wehtun würde. Aryana hatte gewusst, dass Faye gelinde gesagt eine schwere Zeit durchlebte. Aber sie hatte trotzdem nicht das schmale, schwache Geschöpf erwartet, das durch die Tür auf sie zu geschlüpft kam. Fayes Haut war noch blasser, fahler als ihre Eigene, sie hatte abgenommen, was bei ihrem Körperbau schonmal vorprogrammiert eine schlechte Idee war. Ihre Augen wirkten ängstlich und glanzlos, selbst dann, wenn sie müde lächelte und sich offensichtlich über das Wiedersehen zu freuen schien. Sie bewegte sich noch vorsichtiger als früher, als möchte sie auf keinen Fall zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und sie fühlte sich so kalt und zerbrechlich an in ihren Armen, dass Aryana sich für einen Moment fürchtete, ihr schon mit der durchweg lockeren Umarmung weh zu tun. Und umgekehrt schien das irgendwie gleich zu sein - jedenfalls wirkte ihre Schwester erstmal genauso unsicher. Als sich die Arme langsam wieder lösten, schickte sich Aryana auch noch an, Victor ebenfalls zu begrüssen. Er sah im Übrigen ähnlich mitgenommen aus wie Faye. Okay, sie sollte sich nichts vormachen... Sie sahen alle so aus. Vollkommen fertig, mit Augenringen bis nach Neuseeland, weil sie alle von Dämonen gejagt wurden, die sie nachts nicht schlafen liessen. Müde, fertige Gesichter, vom Krieg und seinen Folgen gezeichnet, mitgenommene Körper, die unter den ewigen Narben noch nicht ansatzweise zu ihrer Stärke zurückgefunden hatten. Glanzlose Augen, die wachsam, fast argwöhnisch in die Welt hinaus blinzelten und in denen doch stets ein gewisses Mass an Panik funkelte. Nein, ganz egal was sie sich immer wieder erzählten - gut ging es hier keinem. Was jetzt nicht wirklich zur Entspannung der allgemeinen Unsicherheit führte. Aryana rutschte etwas zurück, setzte sich wieder auf den Bettrand, während ihr Blick von ihren Füssen wieder nach oben zu den beiden Besuchern wanderte. Noch immer keine Ahnung, was sie sagen sollte. Fühlt euch wie zu Hause? Nein, eher nicht. Lange nicht gesehen? Auch eher nicht. Was macht die Klapse? Nein. Besser, sie schwieg einfach. Bis auf ein leises "Danke, dass ihr hergekommen seid...", welches sie gerade so über die Lippen brachte, sowohl ihrer Schwester als auch Victor nochmal dankbar zunickte, ehe ihr Blick sich - ohne das wirklich zu wollen - bei Mitch verlor. Sie rutschte nochmal auf dem Bett zurecht, so, dass sie letztendlich direkt neben ihm sass und nur leicht die Finger in seine Richtung schieben zu müssen, um ihn zu spüren. Näher, als es ihnen eigentlich erlaubt war. Natürlich. Aber wer sollte schon was sagen? Für wen spielte es noch eine Rolle ausser für sie..
Sie waren also wirklich beide zurück, Aryana und Mitch. Sie hatten den Krieg überlebt. Sie mussten nie wieder nach Syrien. Es war vorbei. Und sie war so unendlich erleichtert, so endlos froh. Aber Faye müsste blind sein, um nicht mitzukriegen, dass etwas nicht stimmte. Und das war sie nicht - im Gegenteil. Sie spürte seit jeher ziemlich deutlich, wenn es jemandem nicht gut ging - also psychisch. Hier ging es keinem gut. Und etwas lag in der Luft dieses Raumes, das die Kraft hatte, ihnen allen noch mehr zu nehmen, als sie schon gegeben hatten. Die kleine Begrüssungsrunde fiel weitaus weniger ausgelassen aus, als jedes Gespräch, das sie während ihres letzten Spitalaufenthaltes miteinander geführt hatten. Hier war keiner auf Morphium oder einer vergleichbaren Droge, was einen Teil der Stimmung erklärte. Aber längstens nicht alles davon. Darum griff Faye liebend gerne nach Victors Fingern, als sie diese an ihrer Hand spürte. Weil von ihm zwar auch wenig Freude, aber wenigstens nicht noch mehr Unsicherheit ausging, als sie sie sowieso schon verspürte. Faye setzte sich dicht am Bett auf einen der beiden Stühle - ohne Victor dabei loszulassen - und blickte wieder und wieder auf ihre Schwester und Mitch. Seiner Schulter ging es also gut. Schade, dass es nicht dabei geblieben war... Er hätte die erneuten Verletzungen bestimmt auch nicht gebraucht. Faye beantwortete die Gegenfrage nicht mit mehr als einem antriebslosen Schulterzucken. Sie hatte vor Wochen damit aufgehört, diese Frage zu beantworten. Weil sie nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. Es ging ihr nicht gut. Aber sie war kein Mensch, der gerne seine eigenen Probleme auf andere projezierte oder diese mit allen teilte. Sie wollte nicht darüber reden. Ausserdem wurde ihr diese dämliche Frage schon jeden Tag von irgendeinem Psychotrottel gestellt, obwohl sie sie auch dann nicht beantworten konnte. Sie wusste nicht, wie es ihr ging, weil irgendein dummer Teil von ihr vergessen hatte, wie es ihr den eigentlich gehen sollte. Wie sich das alte Normal angefühlt hatte. So sagte sie nichts dazu, hob stattdessen sachte den Kopf wieder, um sie wenigstens anzuschauen, während sie so mühselig miteinander redeten. "Und... euch..? Müsst ihr noch lange hier bleiben..?", fragte sie möglichst sachte einen Fakt ab, der theoretisch leicht zu beantworten war. Weil Ärzte hierzu gerne ihre Diagnosen stellten, die man dann jedem erzählen konnte, der fragte. Ihr fiel wieder das Schloss an der Tür ein, weil sie sich unwillkürlich fragte, wozu es gut war und ob Mitch und Aryana denn nicht selbst nach draussen durften. Aber noch wollte sie das nicht fragen. Noch wollte sie das gar nicht wissen... Weil ein dummer Teil von ihr schon vermutete, dass irgendwo da der unheilvolle Elefant im Raum begraben lag. Was, wenn die beiden bewacht werden mussten, weil irgendwelche syrischen Truppen hinter ihnen her waren? Selbst hier noch? Was, wenn sie ihnen erzählten, dass sie für immer untertauchen mussten? Was, würde sie dann tun? Sie hatte keine Ahnung. Aber sie wollte nicht die sein, die fragte.Wollte viel lieber glauben, dass 'alles gut' war. Und blieb.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Eigentlich hatte ich mich schon irgendwie darauf gefreut mich endlich mal wieder außerhalb der Psychiatrie aufzuhalten. Nicht unbedingt darauf, dass wir dafür direkt in ein anderes, normales Krankenhaus spazierten, aber es war trotzdem besser als auch heute wieder nur die eigenen Wände zu sehen. Zwar schien der ganze Ausflug irgendwie unter sehr ungünstigen Sternen zu stehen, weil ich das Gefühl, das irgendwas ziemlich Fieses unsichtbar an der Decke hing und nur darauf wartete auf uns runterzufallen, wenn das drum herum Reden sein Ende gefunden hatte. Denn auch Aryana wirkte mit ihren paar wenigen Worten in sich ziemlich unsicher, sehr unruhig. Dabei kannte ich die Brünette ganz anders. Immer gefasst, ihre Emotionen - selbst, wenn sie die junge Frau innerlich sehr wohl belasteten - so gut es ging zurückhaltend. Ich fing ihren Blick auf, nickte erneut mit einem schwachen Lächeln, das wohl genauso verkrampft und gestellt wirkte wie die zuvor auch schon. Half eben nichts - wenn man sich durchweg unwohl fühlte, dann wollten die Mundwinkel einfach nicht angehoben werden. Leisteten zwar Folge, aber eindeutig mehr schlecht als recht. Ich ließ mich einfach von Faye mitziehen, als die Brünette es sich auf einem der Stühle bequem machte und tat es ihr kurzum gleich. Stühle waren zwar nicht mehr unbedingt meine Freunde, aber der hier war doch sehr angenehm gepolstert und barg damit wohl nur eher wenig Risiko für einen weiteren Flashback. Ich parkte mich selbst einfach direkt neben meiner Freundin, um trotzdem noch weiter ihre Hand halten zu können. Hauptsächlich für sie, um ihr damit zumindest ein winziges kleines bisschen Sicherheit geben zu können, jedoch auch um mich selbst etwas ruhiger zu halten. Zwar brachte mir der Anblick der beiden Kriegsgeschädigten nicht irgendwelche Erinnerungen an eigene Verletzungen zurück, aber die ganze Situation wurde einfach stetig unangenehmer, je länger sie anzuhalten vermochte. Wirklich wahrheitsgemäß auf Mitchs Frage zu antworten stand mehr oder minder gar nicht zur Debatte. Erstens wollte ich weitere, explizitere Fragen in dieser Richtung tunlichst vermeiden, damit mir das ganz einfach erspart blieb und zweitens würde das auch absolut nicht dazu beitragen, dass sich irgendwer hier drin besser fühlte. Faye und ich mussten täglich Irgendwem schildern wie es uns erging und was in unseren Köpfen herumschwebte, da konnte ich auf eine neue Variante mit anderen Gesprächspartnern gut verzichten. Dementsprechend war ich auch ziemlich froh darüber, dass Niemandem hier der Sinn danach zu stehen schien noch weiter nachzuhaken. Stattdessen stellte meine bessere Hälfte eine entsprechende Gegenfrage an die beiden Insassen des Zimmers, was mich meinen Blick von ihr abwenden und stattdessen zu Aryana und Mitch sehen ließ. Letzterer ließ zuerst ein ziemlich tiefes, resigniertes Seufzen verlauten.
Ich fing Aryanas Augen mit meinen auf, hielt den Blick einfach für einen Moment, während sie noch ein Stück näher zu mir hinrutschte. Es war grotesk wie nah sie mir war und doch zugleich so unerreichbar schien. Natürlich konnte ich jetzt den Arm um sie legen. Konnte sie theoretisch küssen, sie eng bei mir halten. Das brachte mir in ein paar Tagen dann aber auch nichts mehr. Ich würde übermorgen unweigerlich die Quittung für meine Vergehen kriegen und dann war sie weg. Im Gegensatz zu mir würde die Brünette aber wahrscheinlich wenigstens von undurchdringbaren Gitterstäben und Wänden verschont bleiben. Da war eine Geld- oder höchstens eine Bewährungsstrafe wesentlich wahrscheinlicher, hatte sie doch mit der ganzen Informationsschieberei absolut gar nichts zu tun. Das änderte nur leider absolut nichts daran, dass wir eine halbe Ewigkeit getrennte Wege gehen müssen würden. Meine Augen wanderten wieder zurück zu Faye und Victor, als die junge Frau das Wort ergriff und damit mehr oder weniger ins Fettnäpfchen trat. Vollkommen unbewusst, aber es war irgendwie wahnsinnig schwer diese Frage zu beantworten, ohne dabei das unschöne Thema anzuschneiden, das sowieso absolut unumgänglich bei dieser Zusammenkunft war. Ich war auch schlichtweg nicht der Typ Mensch dafür lange um den heißen Brei herumzureden, warum sollte ich das dann jetzt plötzlich tun? Wir konnten uns hier theoretisch noch so viel Zeit mit mehr oder weniger belanglosen Fragen vertreiben und uns damit gegenseitig vormachen, dass alles halbwegs okay war - nichts davon würde etwas daran ändern, dass diese unschönen Worte noch auf den Tisch mussten. Es führte kein Weg daran vorbei und wir konnten zwar erst noch ein paar Umwege einschlagen, bevor wir am unliebsamen Ziel ankamen, aber bewahren würde uns das vor absolut gar nichts. Deshalb seufzte ich erst einmal etwas angestrengt, während mein Blick kurzzeitig auf die Bettdecke runterfiel und von dort aus dann ein paar Sekunden später zurück zu Aryana glitt. So als würde ich nach einem Hinweis darauf suchen, dass sie es mir nicht schwarz ankreiden würde, wenn ich ihre Schwester und Victor jetzt schon über die Gegebenheiten in Kenntnis setzte. Jedoch machte es im Endeffekt wohl keinen ausschlaggebenden Unterschied, ob sie nun damit einverstanden war die ohnehin schon angeschlagene Stimmung im Raum jetzt gänzlich zu zerstören, weil ich einfach nicht an mich halten konnte. Ich wollte zumindest diesen kleinen Anteil von der schier unendlich großen Last auf meinen Schultern loswerden. Immerhin versuchte ich dabei aber tatsächlich einen relativ sanften, langsamen Weg einzuschlagen und nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, weil alles andere unsere beiden psychischen Krüppel - vor allem aber Faye, die momentan nichts als sehr leicht zerbrechlich aussah - womöglich komplett aus der Bahn schmeißen würde. "Eineinhalb Tage schätzungsweise...", beantwortete ich erst einmal den Kernpunkt der Aussage mit einem Seitenblick auf die Uhr. Das Mittagessen war noch nicht lange her, den morgigen Tag hatten wir dann auch noch und am Morgen darauf wurden wir in die Gerichtsverhandlung gezerrt. Meine Wunden waren zu, erfreuten sich mit ihrem Verlauf bestmöglicher Genesung und die Fäden waren gezogen. Zwar konnte ich nach wie vor nur mit Krücken laufen und ich fragte mich schon ein bisschen, wie sie das mit Handschellen dann im Knast umsetzen wollten mich von A nach B zu kriegen - wohl doch wieder ein Rollstuhl, nur damit ich die Hände keine Sekunde außerhalb einer Zelle frei hatte -, aber ich wagte mal ganz stark zu bezweifeln, dass sie mich nur deshalb noch einmal zurück in ein Krankenhaus stecken würden, bevor es ins Gefängnis ging. Die Wundversorgung mittels Cremes weiter zu unterstützen und zu überwachen würde auf einer internen Krankenstation stattfinden, mehr Tage in indirekter Freiheit würde ich nicht kriegen. "Faye... erinnerst du dich noch daran, dass du mich beim Rauchen vor dem Schacht hinter den Büros erwischt hast?", setzte ich mit einer Frage dazu an, die unschöne Geschichte aufzudecken. Das war noch ganz zu Beginn ihrer Zeit im Camp gewesen und inzwischen war ich ihr sogar richtig dankbar dafür, dass sie mir das gemütliche Rauchen meiner Kippe und das Lauschen nebenher damit versaut hatte. Denn hätte sie es nicht getan würde ich das Spiel vielleicht noch immer treiben oder hätte es ohne diesen Cut zumindest noch eine ganze Weile fortgeführt. Säße hier nicht mit Aryana im Bett und hätte stattdessen wahrscheinlich noch unzählige Menschen mehr dem Tod geweiht. Ich merkte gar nicht, wie ich unterbewusst parallel zu meinen Worten meine Hand nach dem wichtigsten Menschen in meinem Leben ausstreckte und von der Innenseite ihres Handgelenks aus langsam meine Finger zwischen ihre schob.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Einfach alles hier fühlte sich irgendwie ein Bisschen falsch an. Und das fand Faye ziemlich unschön - denn sie wollte nicht wieder an einem Punkt im Leben angelangt sein, an dem sie sich nicht mehr mit ihrer Schwester unterhalten konnte, weil diese sich so komplett von ihr abschirmte. Das hatte Aryana schon früher getan, jedes Mal, wenn etwas Schlimmes passiert war. Weil sie besser darin war, ihre Emotionen für sich zu behalten als Faye, weil sie andere vor ihrer eigenen Schwäche schützen wollte und stark genug war, das auch zu tun. Meistens jedenfalls. Jetzt gerade wirkte auch Aryana nicht stark. Weshalb Mitchs Antwort Faye gleich noch etwas mehr verwirrte und sie leicht fragend die Stirn in Falten legte. Eineinhalb Tage nur noch..? Ihre Schwester hatte noch gar keine Verlegung erwähnt. Ausserdem sahen die beiden auch noch lange nicht fit genug aus, um das Krankenhaus tatsächlich hinter sich zu lassen. Zumindest in ihren Augen nicht. "Das ist... nicht lange..?", murmelte sie irritiert. Und sie hätte fast direkt weitergemacht mit der 'und wohin gehts dann'-Anschlussfrage, wenn nicht Mitch ihr zuvor gekommen wäre. Und zwar nicht mit einer passenden Erklärung sondern um sich nach einem komplett zusammenhanglosen Ereignis zu erkunden. Ob sie sich daran erinnerte, wie er bei den Büros geraucht hatte..? Die Brünette musste sichtlich verwirrt aussehen, als sie langsam nickte und zwischen Mitch, Aryana und Victor hin und her blickte, weil allein schon diese eine unerwartete Frage sie unsicher auf dem Stuhl zurück rutschen liess. Wollte er sie an den Anfang ihrer kurzen und wenig erfolgreichen Armykarriere erinnern? Oder einfach an eines der ersten Male, dass sie sich überhaupt mit ihm unterhalten hatte? Hatten sie da irgendwas Besonderes besprochen..? Nicht, soweit sie sich erinnern konnte. Sie hatten sich eher gestritten und gegenseitig genervt. Es gab also ihrer Meinung nach sehr wenige Gründe, sich an diesen Tag zu erinnern, weshalb sie wohl gänzlich auf eine Erklärung seitens des jungen Mannes angewiesen war, den sie noch immer mit der gleichen unsicheren Verwirrung in den wachsamen aber müden Augen anblinzelte. "Ich kann mich daran erinnern... Aber ich hoffe, du trägst mir nicht mehr nach, dass ich dich damals nicht so sympathisch fand...", bestätigte sie nun auch noch wörtlich, versuchte sich am Ende der zaghaften Worte an einem sehr schwachen Lächeln. Das konnte er ihr doch wirklich kaum mehr vorwerfen. Aber einen anderen Grund, darüber zu sprechen, gab es für sie irgendwie auch nicht.
Es dauerte wirklich keine fünf Minuten und sie schlitterten direkt mit Vollgas auf die Katastrophe zu. Dabei war der Auslöser nur eine vollkommen harmlose Gegenfrage seitens ihrer Schwester gewesen. Etwas, das sich normalerweise genauso leicht beantworten liess wie das standardgemässe 'wie gehts', auf das man ja doch selten bis nie was anderes als 'gut' entgegnete. Nun, sie konnten jetzt schlecht lügen. Und wenn sie nicht lügen wollten, dann blieb weniger als die ganze, bittere Wahrheit auch gar nicht mehr übrig. Ihre Augen trafen Mitchs Blick mit einem eher resignierten Ausdruck. Trotzdem bemühte sie sich darum, ihm mit einem flüchtigen, nur für ihn erkennbaren Nicken zu bestätigen, dass sie auch jetzt nicht von seiner Seite weichen würde und dass es 'in Ordnung' war, das zu Sagen, was er zweifellos im Sinne hatte. Soweit in Ordnung überhaupt noch ein Begriff für irgendwas in ihrem Leben sein konnte. Für einen kurzen Moment hatte sie die Augen geschlossen, als die bröckelige, hässliche Wahrheit langsam und zaghaft ihren Weg nach draussen fand. Aber nicht für lange, dann lag ihr Blick wieder auf ihrer Schwester und Victor. Weil sie sich vor deren Reaktionen fürchtete. Weil sie bereit sein wollte, sobald es darum ging, ihren Freund nicht zum Teufel persönlich zu machen. Weil sie sofort reden würde, sobald sie all die Gründe aufzählen konnte, warum Mitch kein schrecklicher Mensch war, warum sie ihn liebte, warum er eine zweite Chance verdient hatte. Ihre Finger legten sich um die von Mitch, als sie zumindest an ihrer Hand seine tröstende Nähe spüren konnte. Aber selbst jetzt, selbst in dieser Situation, die eigentlich all ihre Konzentration verlangte, schossen ihr die Hintergedanken durch den Kopf, dass all das so bald schon vorbei sein würde. Sie nicht einmal mehr seine Finger spüren dürfte. Seine Hand halten. Dreh nicht durch, Aryana. Wie oft hatte sie sich das schon gesagt in den letzten beiden Wochen...? Jeden Tag... So viele Male... Und sie würde es sich noch so viel öfter sagen können, wenn der Horror erstmal seinen Lauf nahm. Aryana legte ihren Kopf an seine Schulter, während ihr Blick immer wieder irgendwo in weite Ferne zu gleiten schien, jedes Mal, wenn sie sich wieder auf den Moment zu konzentrieren versuchte. Es war ihr egal, was die Welt von ihr hielt. Aber sie hielt den Gedanken kaum aus, dass sich jeder gegen Mitch wenden würde. Einfach bitte nicht auch Victor. Nicht auch Faye.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Es war Faye anzusehen, wie sehr sie von dieser einen, kleinen Frage irritiert war. Wie sehr sie nicht wusste worauf ich damit gerade eigentlich hinaus wollte oder in welche Richtung ich sie damit schubsen wollte. War vermutlich auch gar kein Wunder, wo das Ganze doch ziemlich aus dem Nichts und ohne jeglichen vorherigen Zusammenhang über meine Lippen gekommen war. Innerlich hätte ich glatt schreien können, als die zierliche Brünette auch noch danach fragte, ob ich ihr denn das damalige Verhalten übel nahm. Ob ich es ihr nachtrug, dass sie damals nicht nett zu mir gewesen war. Wie sollte ich? Ich hatte mich zu jenem Zeitpunkt ja selbst permanent wie das letzte Arschloch verhalten und konnte nun wirklich Niemandem einen Strick daraus drehen, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit darauf aus gewesen war andere Leute meine eigene Unzufriedenheit und Wut spüren zu lassen. Fast ausnahmslos jeden sofort auf Abstand gescheucht hatte, indem ich entsprechend kränkende Worte losgeworden war. Selbst bei Aryana hatte ich damals dahingehend noch keinen Unterschied gemacht und hatte mich mit ihr gestritten, so oft sich mir die Möglichkeit dazu geboten hatte. Zum jetzigen Zeitpunkt nichts als absolut unvorstellbar für mich. Ich schüttelte ziemlich zügig nach Fayes Worten den Kopf und machte damit sofort eindeutig klar, dass das nicht mein Anliegen gewesen war. "Nein, tu ich nicht... das war schließlich nur das Echo meines eigenen Verhaltens.", unterstrich ich die Geste noch einmal mit ein paar Worten, um dahingehend absolut jegliche Form von Missverständnissen aus dem Weg zu räumen. Auch wenn die guten Worte vorweg mir bei den noch folgenden Worten kaum eine mentale Stütze sein konnten, wollte ich das einfach klarstellen. "Es ist nur... du...", setzte ich an, brach aber noch einmal mit einem weiteren Seufzen ab und senkte den Kopf nach vorne. Egal wie ich die Worte in meinem Kopf drehte und wendete kam absolut nichts dabei heraus, das irgendwie abmildernd wirkte. Das schonend war, leichter verdaulich als die nackten Tatsachen. Wie sollte ich auch schönreden, was ich getan hatte? Das war einfach nicht möglich, also gab ich die Gedanken an irgendeine besonders wenig schmerzhafte Formulierung ganz einfach auf, als ich den Kopf wieder anhob und meinen Blick erneut zwischen Faye und Victor hin und her wandern ließ. "Ich stand da weder zufällig, noch weil ich für mich allein noch wütender auf die Führungsebene werden wollte...", das war zwar eine Folge dessen gewesen, dass ich gelauscht hatte, aber natürlich nicht der eigentliche Beweggrund. "...ich war die Ratte, nach der alle verzweifelt gesucht haben. Ich hab all die Informationen genommen, die ich bekommen konnte... und hab sie an den IS verkauft. Monatelang, über etliche Einsätze hinweg... als sie die Schächte wegen dir dicht gemacht haben bin ich dann an nichts mehr rangekommen und hab aufgehört... vor zwei Wochen haben die Syrer das Camp zum zweiten Mal plattgemacht und uns beide mit Ragan da behalten... Aryana wegen der Rettungsaktion und mich wegen... allem. Dadurch ist das Ganze jetzt ans Licht gekommen und ich wander' voraussichtlich übermorgen in den Knast.", redete ich alles in allem etwas wirr und aufgelöst vor mich hin, weil ich wohl zum ersten Mal in meinem Leben absolut nicht wusste, wie ich etwas sagen sollte. Eigentlich Niemanden mit meinen Worten verletzen oder von mir wegtreiben wollte, genau das gleichzeitig aber absolut unumgänglich war. Ich fühlte mich schlecht. So schlecht, dass das bisher eher nur flaue Gefühl im Magen zu leichter Übelkeit wurde und mir das Leben noch weiter schwer machte. Sobald ich aufgehört hatte zu reden klebte mein Blick sofort wieder an der schneeweißen Bettdecke und ich schluckte leise. Ich wusste nur zu gut, dass ich in den Augen der meisten Menschen wahrscheinlich gerne lebenslänglich ins Gefängnis wandern sollte. Wusste, dass das mit Sicherheit auch gerechtfertigt wäre, wenn ich mich seitdem nicht geändert hätte. Wenn ich es nicht bereuen würde oder mich gar noch darüber lustig machen würde, wie lange Niemand begriffen hatte, dass ich der Verräter war, so wie ich es früher getan hatte. Aber nichts davon war jetzt noch der Fall. Mir fielen gar keine passenden Worte dafür ein, wie sehr ich mich selbst dafür hasste und wie sehr ich wünschte, dass ich es rückgängig machen konnte. "Ich bin dir eher dankbar, Faye... du hast damit noch Schlimmeres verhindert.", fügte ich noch ein paar letzte, leise gemurmelte Worte an, ohne den Blick anzuheben. Ich schämte mich in Grund und Boden für meine Taten und wollte die Gesichter der beiden keine Sekunde länger sehen müssen, konnte ich die Verachtung doch gefühlt schon bis hierhin riechen ohne sie anzusehen.
Hatte Faye mir mal davon erzählt? Ich glaube nicht. Wenn doch, dann konnte ich mich inzwischen nicht mehr daran erinnern, weil mein Kopf mit viel zu vielen anderen Dingen vollgestopft war. Mitch verneinte auch prompt, dass es darum ging, dass er dafür eine Entschuldigung oder dergleichen hören wollte, hatten die beiden sich zu jenem Zeitpunkt doch offenbar gestritten. War damals für den volltätowierten, jungen Mann aber wirklich keine Besonderheit gewesen, weshalb sich auch mir noch nicht wirklich erschließen wollte, worauf er mit seinen Worten eigentlich zu sprechen kommen wollte. Der Dunkelhaarige entschied sich dann nach kurzem, leicht unschlüssig wirkendem Herumdrucksen auch endlich dazu auf den Punkt zu kommen und die Bombe platzen zu lassen, die schon die ganze Zeit über im Raum gelegen hatte. Die Bombe, von der sicher keiner hier wirklich gewollt hatte, dass sie hochging, weil sie nichts Gutes verhieß. Mitch redete weder besonders schnell, noch ging er extrem ins Detail und dennoch tat ich mir wirklich unfassbar schwer damit alles aufzufassen, was er von sich gab. Vielleicht weil ich nicht glauben wollte, was er uns hier erzählte. Ich nicht wollte, dass er sich zurück in die schäbigen, beschämenden Schatten rückte, in denen Niemand gerne stehen wollte, weil dort nur Verlierer herumstanden. Leute, um die man besser einen riesengroßen Bogen machte, um bloß nichts mit ihnen zu tun haben zu müssen. Ich wusste ja, dass Mitch wirklich ein ziemlich unberechenbar fieser Mensch gewesen war, als wir uns damals kennen gelernt hatten. Dass er nicht gerade Jemanden verkörpert hatte, mit dem ich gern befreundet sein wollte, weil er schlichtweg permanent unfassbar viel negative Energie versprüht hatte, die schon in weiter Entfernung spürbar gewesen war. Jemand schrie irgendwo an der anderen Ecke des Camps einen Soldaten an, weil er nicht schnell oder gut genug arbeitete? Mitch. Jemand gab eine unfassbar gute Vorlage für einen gemeinen Witz ab und wer antwortete darauf? Mitch. Irgendwer bekam spontan einen Ausraster während einer Versammlung? Auch Mitch. Eigentlich sollte es mich vielleicht gar nicht wundern, dass er parallel zu seinem absolut unmenschlichen Verhalten auch dazu imstande gewesen war seine Mannschaft zu verraten. Damit womöglich unzählige unschuldige Männer in den Tod zu schicken, ohne dass jene auch nur das Geringste davon ahnten, dass sie sich auf den Weg zu einer Selbstmordaktion begaben... aber obwohl sich all das irgendwie ziemlich mühelos miteinander verknüpfen ließ, wollte ich es einfach nicht wahrhaben. Es konnte doch nicht möglich sein, dass er zum einen nur gemeinsam mit Aryana zusammen eine Kamikaze-Rettungsaktion für Faye und mich startete, dabei sein eigenes Leben für zwei andere auf die Kante stellte und im selben Atemzug diese unfassbar ekelhafte Art von Verräter war. Mein Gehirn wollte sich nicht wirklich dazu überreden lassen sich jetzt ein derart schlechtes Bild von ihm zu machen, weil ich ihm nach wie vor unheimlich dankbar für unsere Rettung war, aber gleichzeitig konnte ich dann auch nicht einfach so darüber hinwegsehen, was er offensichtlich getan hatte - denn seine Taten erklärten ziemlich gut, warum der Officer vor der Tür stand und darauf aufpasste, dass weder jemand Unbefugtes den Raum betrat, noch einer der beiden Patienten ihn unerlaubt verließ. Hätte er das überhaupt jemals gestanden, wenn man ihm nicht zufällig auf die Schliche gekommen wäre? Hätte er jemals ein schlechtes Gewissen gekriegt, wenn man ihn nicht zum darüber nachdenken gezwungen hätte, weil er deswegen eine Gerichtsverhandlung vor sich hatte? Ich konnte es wirklich nicht sagen. Dass er Aryana mehr oder weniger mit reingezogen hatte machte die Geschichte auch wirklich nicht besser. Zumindest konnte ich für meinen Teil mir nicht vorstellen, dass sie gar nichts davon gewusst hatte bevor sie im Camp festgehalten worden waren. Sie hatte sich ständig mit Mitch unterhalten, da hielt ich das für ziemlich unwahrscheinlich. "Wie konntest du... das... warum?", stammelte ich ungläubig vor mich hin, schüttelte parallel dazu kaum sichtbar den Kopf und umschloss dabei krampfhaft die Kante des Sitzpolsters mit den Fingern meiner freien Hand. Da saß ich nun - drückte mich mit dem Rücken unbewusst an die Lehne und starrte ihn aus geschockten Augen heraus an, weil ich einfach nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. Ja nicht einmal wusste, was ich überhaupt denken sollte. Der Schock saß tief und so wanderte mein Blick erst nach einer halben Ewigkeit von Mitch rüber zu Faye.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Es hatte also nichts damit zu tun, dass sie damals irgendwas falsch gemacht hätte. Das hatte sie auch nicht wirklich erwartet, da es doch eher speziell wäre, wenn er ihr hier Jahre später etwas in die Richtung ankreiden würde. Sie waren damals ja auch weder befreundet noch sonst irgendwie besonders gut aufeinander zu sprechen gewesen. Er hatte sie nicht gemocht, weil sie eine Frau – noch dazu ehrlicherweise auch eine eher emotionale und körperlich schwache Vertreterin ihres Geschlechts – war und sie hatte ihn nicht gemocht, weil er ihr nur mit Vorurteilen entgegengetreten war und noch dazu dauernd schlechte Laune und Beleidigungen verteilt hatte. Also nein, dass er ihr böse war für etwas, was sie in einer komplett anderen Zeit gesagt oder getan hatte, war eher unwahrscheinlich. Wenn es das nicht war, wusste sie aber wirklich nicht, worauf er hinauswollte. Wollte er sich einfach ein Bisschen über alte Zeiten unterhalten? Danach sah es hier ganz und gar nicht aus, so wie er den nächsten Satz anfing und wieder abbrach. Sie damit zwangsläufig noch nervöser machte, weil er in ihr das Gefühl auslöste, damals irgendwas falsch gemacht zu haben. Irgendwas mit dem zu tun zu haben, was gleich kommen sollte. Mittlerweile war jede Faser ihres Körpers irgendwie verkrampft und sie fühlte sich nur noch unwohl, wurde von dem altbekannten Gefühl, so schnell wie möglich diesen Raum verlassen zu wollen, heimgesucht, das sie zu so ziemlich jeder Therapiesitzung begleitete. Würde nicht sowieso jedes Lächeln, das mehr als zwei Sekunden anhielt, ihre Gesichtsmuskeln in ein Burnout treiben, hätten sich spätestens mit Mitchs Worten jegliche Spuren einer glücklichen Mimik definitiv ihrem Gesichtsausdruck entzogen. Dabei folgte die ganze Wahrheit doch erst ein paar Sekunden später. Fayes Augen weiteten sich mit jedem Wort ein Bisschen mehr, sie starrte Mitch und Aryana so lange vollkommen verstört an, bis sie genau das nicht mehr konnte und ihr Blick abwesend auf den Boden wanderte. Wie bitte..?? Er hatte in die paar Sätze so viele Informationen gepackt, dass es ihr vollkommen unmöglich war, alles davon zu begreifen. Mitch hatte gelauscht. Er hatte Informationen verkauft. Er war ein Verräter. Er hatte Leben gefährdet und absichtlich aufs Spiel gesetzt. Es waren Menschen wegen ihm gestorben. Viele davon. Menschen, die Lücken hinterliessen – wie ihr Bruder. Mitch und Aryana waren gar nicht bei einem Einsatz in der Stadt verletzt worden. Sie waren festgehalten worden, weil Mitch Scheisse gebaut hatte und weil sie beide alles riskiert hatten, um Victor und Faye aus den Hügeln zu befreien. Mitch war fast dabei draufgegangen, sie auf der Kamikazeaktion zu retten. Er hatte sein Leben für sie riskiert. Er musste ins Gefängnis. Ihre Schwester liebte ihn. Mitch war ein Freund. Aber scheinbar mit einer mehr als komplizierten Geschichte. Konnte ein Mensch sich so sehr verändern? Eine 180 Grad Kehrtwende einlegen und die schrecklichen Dinge, die er getan hatte, für immer und ohne Rückfälle hinter sich lassen? Ihr war schwindlig, da waren schwarze Punkte in ihrem Blickfeld und trotzdem fühlte sie sich taub. Und einmal mehr in ihrem Leben hatte Faye absolut keine Ahnung, was sie denken oder tun oder sagen sollte. Sie versuchte mühsam tiefer zu atmen, so wie sie es in den Therapien immer und immer wieder ans Herz gelegt bekam. Sie versuchte, sich nicht zu verkrampfen, aber es war absolut unmöglich. Ihre durchgehend kalte Hand drückte Victors Finger und ihr Freund konnte wohl froh sein, dass sie durch ihre allgemeine Verfassung und die Informationen, die ihr gerade zuteil geworden waren, kaum genug Kraft besass, ihm damit ernsthafte Schmerzen zu bereiten. Erst, als Mitch noch zwei weitere leise Sätze nachschob, schaffte sie es, den Kopf wieder anzuheben und den jungen Mann auf dem Bett noch einmal anzuschauen. Ihr Blick war nicht anklagend. Nicht böse. Einfach nur ein einziges, riesiges, verlorenes Fragezeichen, vollkommen aus der Bahn geworfen. Aber Victor hatte die Frage schon gestellt. Und sie brachte sowieso kein Wort über die staubtrockenen Lippen. War zu schockiert, zu verkrampft und zittrig, um überhaupt ein Wort formulieren zu können. Sie hatte sich so sehr auf die Rückkehr von Aryana und Mitch gefreut. Sich an die Vorstellung eines schönen Lebens geklammert, das kommen würde, wenn sie erstmal alle wiedervereint und in Sicherheit waren. Aber so würde es nicht kommen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange Mitch ins Gefängnis musste. Aber es würden zweifellos viele lange Jahre sein. Aryana sah nicht so aus, als würde sie sich von der Vergangenheit beeinflussen lassen, als würde sie von einer Beziehung zu dem jungen Mann absehen. Aber so konnten sie niemals glücklich werden… Schon wieder nicht. Und dieser Gedanke war eindeutig zu viel für die labile Brünette.
Es war wirklich schon schlimm genug, in die Gesichter von ihrer Schwester und Victor zu schauen und zu wissen, dass deren angeschlagene Seelen gleich durch die nächste Folter spazieren mussten. Genauso schlimm war es aber auch, sich die ganze Geschichte aus Mitch’s Mund nochmal anhören zu müssen, nochmal deutlich aufgebunden zu bekommen, was er getan hatte, wie das klingen musste und wie ausweglos seine Lage war. Er sprach es aus, als wäre das Gefängnis eine fixe, unumgehbare Tatsache. Weil es das war, sie wusste es ja. Aber sie wollte es nicht hören, wollte ihr Herz nicht weiter reissen spüren, ihn einfach nicht gehen lassen. Auch ihr war längst wieder schlecht bei diesen Gedanken und sie drückte sich enger an seine Schulter, dichter an seinen Körper. Atmete mehr von seinem Geruch ein und ihr Daumen strich unaufhörlich über seine Hand. Während er sprach und auch dann noch, als er wieder schwieg und die untragbare Stille erneut den Raum erfüllte. Sie wollte das Urteil der anderen nicht hören, nicht spüren, wie schon hier kein Verständnis fliessen würde. Wäre ja nicht weiter erstaunlich, es war ja nicht so, als würde Aryana selbst das verstehen, was Mitch getan hatte. Sie verstand den Hass, den er gegenüber der Army verspürt haben musste, sie verstand, dass die ständige Ungerechtigkeit ihn innerlich aufgefressen hatte. Sie verstand, dass er es ihnen hatte heimzahlen wollen. Aber nein, auch sie konnte absolut nicht nachvollziehen, wie dieser Hass sich in seinem Fall so stark gegen die eigenen Leute gerichtet hatte, dass er mutwillig seine Kameraden in den Tod geschickt hatte. Die Menschen, die genauso unter den Umständen gelitten hatten, wie er selbst. Das Ding war bloss, dass es Aryana mit Sicherheit leichter fiel, Mitch diese schwerwiegenden Fehler zu verzeihen oder zumindest darüber hinweg zu sehen und nicht ständig daran zu denken. Aber niemand hatte so viel Zeit verbracht mit ihm wie sie – zumindest nicht, seit er sich so sehr verändert hatte. Niemand kannte ihn so gut wie sie und kaum jemand wusste, wer er wirklich war. Weil fast keiner sich die Mühe machte, das herauszufinden. Faye und Victor hatten diese Seite an ihm auch schon gesehen, er hatte immerhin nicht weniger für sie getan, als sein Leben dafür zu riskieren, sie beide zu retten. Aber Aryana konnte sie nicht dazu zwingen, nur darauf zu schauen und sie wusste nicht, ob diese Aktion – trotz ihrem immensen Ausmass – ausreichte, um alles andere vergessen zu machen. Sie wünschte es. Sie wünschte, dass wenigstens sie Vier alle am gleichen Strang zogen. Dass Mitch wusste, dass – egal, was im Gerichtsaal und später gesagt wurde – wenigstens sie trotz allem hinter ihm stehen würden. Denn sie wusste nicht, was sie jetzt tun oder sagen sollte, um ihm zu helfen. Sie konnte Victors Frage nicht beantworten. Sollte sie auch nicht, er hatte sie ja nicht ihr gestellt. Aber war irgendeine Erklärung seitens Mitch denn genügend? Es gab nichts, was er sagen konnte, das seine Taten rechtfertigen würde. Sie wusste es, weil sie ihm die gleiche Frage ebenfalls gestellt und sich danach zwei Nächte lang schlaflos darüber den Kopf zerbrochen hatte. Nein. Man konnte all das nicht entschuldigen und nicht ins rechte Licht rücken. Alles, was sie konnten, war vergeben oder akzeptieren, dass es vorbei war. Sie konnten sehen, dass er sich verändert hatte und Mitch nicht nach dem verurteilen, was er damals getan hatte, als sein Herz voller Hass und Wut gewesen war. Denn das war es nicht mehr und das wusste sie. Sonst würde sie nicht so dicht bei ihm sitzen, nicht versuchen, ihm so lange wie möglich so nahe wie möglich zu bleiben. Sonst würde sie ihn nicht lieben und nicht fast alles dafür geben, den nächsten Tagen einen vollkommen anderen Ausgang zu schenken, als der, der für sie vorprogrammiert war. Aryana hob schwach den Kopf an, ohne sich aber von Mitchs Schulter zu lösen. Blinzelte weiterhin vollkommen unsicher in die Richtung von Victor und Faye. Bittend, dass sie nicht wütend wurden. Fast, als hätte sie Angst vor dem, was sie dort sehen könnte. Denn das hatte sie.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Faye sagte absolut gar nichts und Victor stellte mir nur eine stockende Frage, die ich nicht beantworten konnte. Immerhin war damit schon mal nicht meine allerschlimmste Befürchtung wahr geworden, weil Niemand hier im Raum anfing mir sofort wahllos Beleidigungen und Vorwürfe an den Kopf zu schmeißen. Zumindest bis jetzt noch nicht, vielleicht würde sich das noch ändern, wenn ich erneut zum Reden ansetzte und die Frage beantwortete. Ich hob langsam den Blick wieder an, musterte das junge Paar vorsichtig. Noch konnte ich in keinem von beiden Augenpaaren blanke Abneigung oder gar Hass erkennen, sondern viel mehr eine gute Portion geschockte Verwirrung gepaart mit Ratlosigkeit. Das allein erleichterte mich schon ein kleines bisschen, nur machte es mir das Finden einer Antwort auf die Frage des Dunkelhaarigen nicht einfacher, weshalb ich den Blick wieder senkte. Auf Aryanas Hand sah, die in meiner lag und mir mit der sachten Streicheleinheit zumindest einen Hauch von Sicherheit verleihen konnte. Parallel dazu fragte ich mich wohl immer noch, wie sie so darüber hinwegsehen konnte, wo gerade ihr doch immer so am Herzen gelegen hatte jeden einzelnen der Männer nach Möglichkeit vor dem schlimmsten Ende zu bewahren. Ich das komplette Gegenteil davon getan hatte, nur um... was? Mich selbst zu bereichern? Meine Wut am Rest der Welt auszulassen? Ich hatte keinen blassen Schimmer mehr, was ich mir damals dabei gedacht hatte und das machte eine klare Antwort ziemlich unmöglich. Aber ich war mehr als froh darum, dass die Brünette es schaffte über meine Taten hinwegzusehen und bereit dazu war trotz alledem an meiner Seite zu bleiben. Komme was da wolle, selbst wenn es die Gitterstäbe eines Gefängnisses waren. "Ich... ich weiß es nicht... ehrlich nicht...", setzte ich mit einem kaum sichtbaren Schulterzucken zu einer gemurmelten Antwort an, die kaum zufriedenstellend für einen von den beiden sein durfte, weil sie absolut nichts aussagte. "Ich war einfach so... so unfassbar wütend... auf... Alles und Jeden um mich herum. War einfach blind wegen all den Emotionen.. und wohl der Ansicht, das an anderen auslassen zu müssen, weil ich's nicht in den Griff gekriegt habe... das Geld kann's nicht gewesen sein.", redete ich absolut untypisch für mich ziemlich stockend weiter, wusste dabei nicht einmal, was ich eigentlich damit sagen wollte. Es gab sowas wie einen guten Grund für meine Taten schlichtweg nicht, also spielte es vielleicht gar keine so große Rolle. "Ich war einfach am Ende. Was ich getan habe lässt sich nicht rechtfertigen und das will ich auch gar nicht versuchen. Ich weiß, dass ich jeden einzelnen Tag im Gefängnis verdiene, egal wie viele Jahre es sind, weil ich nichts von Alledem wieder gutmachen kann... aber ich...", ich machte eine kurze Pause, atmete mal ein bisschen tiefer durch und suchte erst dann langsam wieder die Augen der anderen beiden mit meinen. Ich wusste nicht, ob ich sie von meinem Sinneswandel irgendwie überzeugen konnte, wenn mein Leben für sie geben zu wollen nicht schon ausreichte. Einen besseren Beweis dafür gab es nicht. "Ich hab mich geändert. Wirklich. Damals wär mir nie in den Sinn gekommen euch zu retten... oder mich zu verlieben...", hängte ich noch ein paar letzte Worte mehr an, bevor mein Blick zu Aryana schweifte. Nein, damals hatte es für mich wohl Niemanden außer mich selbst gegeben. Vielleicht hätte ich sogar Jetman zu Kanonenfutter gemacht, wenn der Wind dafür zufällig in die richtige Richtung geweht hätte. Mit Sicherheit abstreiten konnte ich das auf jeden Fall nicht, aber ich wollte nicht mehr so krankhaft egoistisch sein. Wollte lieber einen großen Teil meines Lebens der hübschen Brünetten an meiner Seite widmen und mal an mehr als nur an mich selbst denken. Würde auch Faye und Victor bereitwillig helfen wieder auf die Beine zu kommen, sofern ich sie auch nur ansatzweise irgendwie unterstützen konnte. Denn entgegen meiner damaligen Einstellung machte es wesentlich mehr Spaß sein Leben nicht allein zu führen, sondern es mit anderen zu teilen. Die Erkenntnis kam nur leider viel zu spät.
Ich hätte Faye wirklich gerne zu mir rübergeholt. Sie auf meinen Schoß gesetzt und meine Arme um sie gelegt, um sie im Rücken meinen Halt spüren zu lassen... nur würde sie das vermutlich nicht wollen. Sie sträubte sich immer schon dagegen, wenn meine Hände einer der Narben nur ein kleines bisschen zu nahe kamen, wenn wir auf dem Bett lagen und die Möglichkeit bestand, dass ich durch ihr Oberteil - das sie vor mir nach wie vor nicht ausziehen wollte - eine der Narben unter meinen Fingern spüren könnte. Ich verstand wirklich wie schwer sie sich damit tat, hatte ich doch damals auch eine lange Zeit dazu gebraucht meinen vernarbten Rücken mit all seiner neuen Dekoration zu akzeptieren und mich nicht mehr daran aufzuhängen... aber es ließ die Beziehung zwischen uns nur noch komplizierter werden. Schob uns nur noch zusätzlich auf Distanz, obwohl wir den jeweils anderen eigentlich gar nicht weg haben wollten. Ich wusste nur einfach nicht, wie ich ihr dabei helfen sollte. Die etwas anstrengend gewordene Beziehung zu ihr war aber immer noch besser, als sie ganz missen zu müssen. Ob Mitch im Schlussakkord auch noch Informationen über Einsätze rausgegeben hatte, an denen wir beide beteiligt gewesen waren? Oder Aryana? Durchaus möglich. Wir hätten in diesem Fall dann nur einfach mehr Glück als all die anderen Soldaten gehabt, die inzwischen unter der Erde lagen oder verletzungsbedingt begnadigt waren. Brüder, Schwestern, Väter, Mütter... was er getan hatte war wirklich grausam und obwohl ich mit keinem der Verstorbenen eine familiäre Beziehung gehabt hatte, versetzte selbst mir das Stiche in der Brust. "Du hättest uns umbringen können, Mitch. Jeden von uns. Wie kann man nur...", setzte ich ein weiteres Mal zu reichlich überfordert klingenden Worten an, während ich gleichzeitig immer wieder über Fayes Finger strich, weil es momentan die einzige Möglichkeit zu sein schien, ihr nahe zu sein. Schließlich wollte ich nicht noch mehr negative Gefühle mit zu viel Nähe in ihr auslösen, wo die zierliche junge Frau doch ohnehin momentan vollkommen aufgelöst zu sein schien. Die Finger meiner anderen Hand lockerten sich langsam wieder vom Stuhl und ich hob sie kurz nachdem ich angestrengt die Luft ausgestoßen hatte zu meinem Gesicht an, um einmal von oben nach unten darüber zu streichen. Aber auch das schien mich nicht schneller begreifen zu lassen, was für ein Ausmaß seine Handlungen gehabt hatten. "Ich weiß...", hörte ich den Tätowierten nur noch vom Bett aus ein paar sehr leise, erstickte Worte murmeln, die ihn mich schließlich wieder ansehen ließen. Es schien ihm wirklich leid zu tun. Es war ihm anzusehen, wie schlecht er sich mit Alledem hier und heute fühlte. Dass er es bereute. Ich glaubte ihm auch, dass er sich geändert hatte - sonst säße er wohl kaum hier mit uns und beichtete die ganze Geschichte, obwohl er genauso gut alles für sich behalten und schweigend in den Knast wandern konnte. Es schien ihm also irgendwie etwas daran zu liegen, uns etwas darüber zu erzählen und uns einzuweihen, bevor er hinter Gitter wanderte. Aber reichte das?
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Sie fühlte sich wie eine Ertrinkende. Mal wieder. Weil auch heute wieder alles auf einmal viel zu viel für sie wurde. Ihre Psychologin hatte ihr gestern schon gesagt, dass dieser Tag sie emotional aufwühlen könnte und sie sich darauf gefasst machen musste, sich danach einige Tage lang aus der Bahn geworfen zu fühlen. Aus welcher Bahn auch immer, war ja nicht so, als hätte sie irgendwelche Fortschritte gemacht in letzter Zeit. Im Gegenteil, wenn, dann stagnierte sie eher - während es sich anfühlte, als würde sie sogar rückwärts gehen. Es war nicht erstaunlich, dass die Therapien anstrengend waren und viel von ihr forderten, gerade im Anbetracht der Tatsache, dass sie auch ohne die Erlebnisse in den Hügeln schon viel zu viel zu verarbeiten hatte, was den Krieg und seine psychischen Folgeschäden betraf. Aber was sie hier wieder zu hören bekam, erschütterte sie ein weiteres Mal bis in ihr tiefstes Innerstes. Mitch hatte sie alle verraten. Vielleicht war es lange her, aber er hatte es getan. Er hatte Gott gespielt mit den Leben seiner Landsleute. Menschen waren wegen ihm gestorben, wahrscheinlich sehr viele Menschen - die ihm auf Leben und Tod vertraut hatten. Menschen wie sie alle. Es erstaunte sie keineswegs, dass er seine Taten nicht wirklich begründen konnte. Wie sollte er auch? Da er sich offensichtlich geändert hatte, musste er selber wohl endlos in Frage stellen, wie er jemals so dumm und egoistisch hatte handeln können. Und doch hatte er es getan. Wer wusste, was alles anders gewesen wäre, wenn er sie nicht alle verraten hätte? Wann hatte er überhaupt damit angefangen? War das schon so lange her, dass er möglicherweise sogar am Tod ihres Bruders eine Mitschuld trug? Dieser Gedanke liess die Brünette endgültig erstickt schlucken, während auch dieser Tag nicht zu einem der wenigen gehören wollte, an denen sie seit den Höhlen nicht geweint hatte. Sie konnte nicht einmal genau sagen, warum die Tränen ihr jetzt schon wieder über die Wangen rollten. Es gab tausend Gründe dafür. Hauptsächlich war sie einfach zu schwach, um irgendwelche Emotionen für sich zu behalten - gerade in einer Situation wie dieser, die sie schlicht masslos überforderte. Faye blickte kurz zu Victor, der theoretisch direkt neben ihr sass und doch mal wieder so weit weg war. Und es gab Momente, da hielt sie diese Distanz nicht aus, selbst dann nicht, wenn sie ihm stattdessen wieder zu nahe kommen und damit das Risiko eingehen musste, dass er spürte, was wirklich aus ihr geworden war. Heute gehörte eindeutig zu diesen Momenten, weshalb die Brünette sich hastig von ihrem Stuhl erhob und sich auf Victors Schoss flüchtete, irgendwo dicht an seiner Brust. Sie konnte ihn nicht anschauen, während sie hier war, weil sie sich davor fürchtete, in seinen Augen Abneigung, Ekel oder auch nur blosse Unsicherheit zu erkennen, die da nicht hingehörte, während sie sich nahe waren. Aber immerhin konnte sie ihn so spüren, immerhin konnte er ihr ein winziges Bisschen Halt zurückgeben und sie ihm - ein kleines Bisschen Trost in dieser hässlichen Welt voller Kummer. Ihre Augen fanden zurück zu Mitch und Aryana, blieben an Letzterer hängen, weiterhin ohne zu wissen, was sie denken sollte. "Wie lange... weisst du das schon..?", flüsterte sie tonlos, starrte unter ihren Tränen hindurch zu ihrer Schwester. Würde es einen Unterschied machen, ob sie zwei Wochen oder vier Monate oder noch länger als Zeitspanne nannte? Nein, wahrscheinlich nicht. Sie wusste auch nicht wirklich, warum sie das fragte. Wahrscheinlich einfach, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. Weil sie glaubte, Antworten zu brauchen, aber sie die Fragen vorher nicht kannte.
Sie kannte die Antwort. Aber damals, als er diese für sie ausgesprochen hatte, hatte noch nicht die Gefängnisstrafe über ihm gedroht, damals hatten sie noch hoffen können, dass sein Gewissen ihm Strafe genug bleiben würde. Und damals hatte sie noch nicht die gleichen Gefühle für ihn gehabt. Sie hatte ihn als Freund gesehen. Ihm vertraut. Sie hatte ihn gemocht und war ihm näher gewesen, als irgendeinem anderen Soldaten zuvor. Aber nicht auf eine verbotene Art, nicht auf Basis von Liebe, einer Beziehung. Zumindest nicht offiziell und ohne es je beim Namen zu nennen. Damals hatte es weniger weh getan. Glaubte sie. Wahrscheinlich war es nicht wirklich so, denn damals hatte er ihr immerhin mit genau diesen Worten ebenfalls gefühlt das Herz gebrochen, sie sich komplett in Frage stellen lassen, weil sie geglaubt hatte, ihn zu kennen und sich nicht so sehr in ihm hatte getäuscht haben wollen. Aber das hatte sie nicht, wie sie jetzt wusste. Sie hatte sich nicht grundsätzlich in ihm getäuscht, er hatte sich einfach verändert. Damals, als sie sich andauernd gestritten hatten, wenn sie sich zufällig auf den Wachtürmen getroffen hatten, war Mitch ein anderer Mensch gewesen als später, nachdem sie Warrens Tod zusammen geplant und durchgeführt hatten. Später, als sie Freunde geworden waren. Und irgendwann auch mehr als Freunde. Das waren zwei verschiedene Menschen, zwei verschiedene Charaktere. Den alten Mitch hatte sie genauso wenig geliebt wie er sie... Aryana beobachtete, wie Faye langsam das Ausmass von Mitchs Geständnis begriff, wie Victor sich genauso schwer damit tat, wie sie selbst es damals getan hatte. Sie verstand jede Emotion auf ihren Gesichtern, auch wenn sie wünschte, dass sie nicht so traurig, so zerrissen wirken würden. Dass Faye nicht weinen würde. Als ihre Schwester sich erhob, fürchtete Aryana ja beinahe für den Bruchteil einer Sekunde, dass die junge Frau einfach nach draussen stürmen würde, weil sie genug gehört hatte. Aber sie blieb, trotz Tränen, trotz Überforderung. Sie blieb bei Victor und kurz darauf trafen ihre Blicke sich erneut, um einer leisen, brüchigen Frage Raum zu machen. Aryana schüttelte leicht den Kopf, als sie zur Antwort ansetzte, als möchte sie sich selbst nicht daran erinnern. "Ich habe das... zwei Tage bevor der IS euch entführt hat erfahren... Und ich war so kurz davor, es Ragan zu erzählen, obwohl ich nicht glauben wollte, dass er das tatsächlich getan hatte... Aber als ich den Entschluss gefasst hatte, ihn zu verraten... da ist die Meldung reingekommen, dass ihr... dass ihr weg seid... und ich konnte an nichts anderes mehr denken... Ich wäre selber zu den Hügeln gefahren und hätte mich ziemlich sicher mit euch begraben, aber Mitch wollte unbedingt dabei helfen, euch zu retten... Obwohl er wusste, dass es vorprogrammiertem Selbstmord gleich kam... Und nach allem, was dann kam... Wie hätte ich ihn noch verraten sollen? Nachdem er euch und damit auch mich selbst dem sicheren Tod entzogen hatte? Nachdem er mir so deutlich gezeigt hatte, dass der Verräter von früher nicht mehr existierte...", es waren viele Worte, die sie stockend über die wundgekauten Lippen brachte, mit denen sie verzweifelt versuchte, ihren Standpunkt zu erklären und die anderen auf die gleiche Seite zu ziehen. "Ich habe gehofft, dass es nie jemand erfährt... Damit wir nie wieder darüber nachdenken müssen... Damit wir den Dienst in der Army so bald wie möglich beenden und dann alles alles alles was in diesem grausamen Land passiert ist, hinter uns lassen können... Aber jetzt sind wir hier... und alles zerbricht... wie jedes Mal, wenn einmal etwas gut zu gehen scheint... wenn ich glücklich werden könnte... Weil ich alle, die ich zu lieb gewinne, entweder wieder von mir weg stosse oder sie mir entrissen werden", und sie war es so leid. Hatte nie vorgehabt, sich hier bei allen Dreien zusammen auszuheulen über ihr Elend, über das sie eigentlich weder reden noch nachdenken wollte. Aber es war einfach so frustrierend, weil es wirklich immer so war. Es machte sie fertig und schwach und emotional. Und kalt und resigniert. Jetzt, wo sie sich mit Mitch endlich wieder ein Bisschen lebendig gefühlt hatte.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Ich konnte es nachvollziehen. Konnte verstehen, warum die beiden mich jetzt so ansahen und trotzdem tat mir das weh. Es hatte schon seine Gründe gehabt, weshalb es Niemand hatte erfahren sollen. Auch Aryana nicht, wenn es nach mir gegangen wäre und nicht nach den dreckigen Syrern, die das Video eingeschleust hatten, in dem sie mich sehr eindeutig beschuldigt hatten. Sie akzeptierte auch diesen ekligen Teil von mir und verstieß mich deshalb nicht, aber wie war das bei den anderen beiden? Ich konnte die Fassungslosigkeit in Victors Worten sehr deutlich heraushören und was er damit an mich herantrug führte nicht gerade dazu, dass ich mich wohler fühlte. Viel mehr im Gegenteil, obwohl das womöglich gar nicht seine Absicht gewesen war. Er einfach nur nicht wusste, was er sonst sagen sollte, genauso wie Faye... die inzwischen weinte, was auch auf meine Kappe ging. Ich wusste schon, warum ich den Besuch für keine besonders gute Idee gehalten hatte. Er rüttelte all die tot geglaubten Emotionen in mir noch einmal ordentlich wach, die ich all die Jahre in Einsamkeit immer weiter erstickt und beerdigt hatte - lebendig offensichtlich, denn sonst würde mir das schlechte Gewissen und die leise Angst darum den Rückhalt der beiden für immer gänzlich zu verlieren nicht inzwischen bis in den Hals kriechen. Ich hasste dieses Gefühl. Vermutlich mehr als jedes andere. Hasste es, wenn ich mehr oder weniger nur hilflos dabei zusehen konnte, wie etwas einen absolut unschönen Verlauf nahm, weil ich nur sehr bedingt Einfluss darauf hatte und die damit verbundene Möglichkeit etwas zu verlieren, das ich nicht verlieren wollte. Ich würde nicht sagen, dass ich zu Faye oder Victor eine wirklich enge Freundschaft hatte, aber wir hatten uns die Wochen im Krankenhaus über gut verstanden und ich wollte das nicht ruinieren, nicht kaputt machen. Mir blieb nur gerade gar nicht wirklich etwas anderes übrig, konnte ich den beiden doch nicht einfach sagen, was sie meiner Meinung nach von mir halten sollten. Dass sie mich nicht abstempeln sollten, weil ich in der Zwischenzeit eine durchweg positive, andere Richtung eingeschlagen hatte. Erst Fayes Bewegungen ließen mich wieder zu den beiden aufsehen und sie flüchtete sich zu Victor, bevor sie Aryana eine kaum hörbare Frage zukommen ließ. Daraufhin fanden meine Augen sofort wieder zum Gesicht direkt neben mir, als sie zu einer Antwort ansetzte, die ich mir selbst nicht gern anhörte. Es mich an den Streit erinnerte, der sich damals wie nichts anderes in meinen Kopf gebrannt hatte. Die nach einer kurzen Pause noch folgenden Worte machten es auch nicht gerade besser, schilderte die Brünette mir damit doch eindeutig viel zu ausführlich, wie sehr sie das ganze mitnahm und was ich ihr mit Alledem antat. Machte unmissverständlich klar, warum sie sonst für gewöhnlich anderen und auch mir gegenüber so lange immer so verschlossen war, warum sie sich im Grunde überhaupt so lang davor geziert hatte mich nicht näher als rein freundschaftlich an sich heran zu lassen. Wären wir nach wie vor nur Freunde, dann würde das Alles hier zwar immer noch weh tun, aber zumindest etwas weniger. Würde den bald bevorstehenden Abschied nicht ganz so schmerzhaft machen, auch wenn er trotzdem schwer wäre. Es hätte es uns beiden erspart die Nähe des jeweils anderen derart schrecklich vermissen zu müssen. Ich löste meine Hand aus der ihren und legte sie ihr stattdessen um den Rücken, während ich mich ihr mit dem Oberkörper allgemein mehr zuwendete. Mich vorsichtig an sie lehnte und mit den Lippen einen Kuss oben auf ihre Schulter zu hauchen. Dabei meine eigenen Augen für eine ganze Weile schloss, weil da schon wieder der drückende Kloß im Hals war, den ich runterzuschlucken versuchte. Natürlich vergeblich, weil das schlechte Gewissen und all die Schuldgefühle - nicht nur den Verstorbenen, sondern auch Aryana gegenüber - sich einfach in meinem gesamten Brustbereich, meinen Gedanken, meinem Magen und auch meinem Hals ausbreiteten. Es tat mir einfach so unsagbar leid, dass ich die Brünette jetzt in all das mit hineinzog und wünschte es ihr irgendwie ersparen zu können. Ihr zumindest einen Teil der Last nehmen zu können und sie mir selbst aufzuschultern, damit sie weniger unter der Trennung leiden müssen würde. Bei mir machte es vermutlich sowieso keinen großen Unterschied, würde der Knast mir ziemlich sicher ohnehin auf eine andere, neue Art und Weise den Kopf waschen.
Im ersten Moment hätte ich beinahe nach Fayes Arm gegriffen, weil ich sofort annahm, dass sie den Raum verlassen wollte. Es wäre nur wirklich nicht gut gewesen, wenn sie der Therapeutin vor der Zimmertür und dem Officer so entgegen gefallen - wirklich aufrechtes, energisches Gehen konnte man die zwei Schritte nämlich absolut nicht nennen - wäre und damit womöglich unsere sofortige Abreise veranlasst hätte. Dann müssten wir nicht nur Aryana und Mitch hier im Unklaren darüber lassen, wie wir nun zu der Geschichte standen, sondern würden vermutlich auch selbst vollkommen verwirrt von alle den überwältigenden Dingen zurück in die Psychiatrie wandern. Zwar war es ohnehin fraglich, inwieweit wir hier zu irgendeiner Form von Ergebnis kommen würden, aber hier und jetzt abzubrechen wäre trotzdem nicht ideal. Ganz gleich, wie schwer das alles gerade zu verarbeiten war. Wider Erwarten schien Faye nur gar nicht die Flucht antreten zu wollen, sondern verkroch sich nur hastig auf meinen Schoß und das hatte zur Folge, das ich wohl einen kurzen Moment fast schon ungläubig zu ihr runtersah. Allerdings für höchstens zwei Sekunden, weil ich keinesfalls den Anschein in ihr erwecken wollte, dass mir das in irgendeiner Hinsicht unrecht war. Eher verschaffte mir genau das kurzzeitig wieder einen klaren Kopf, weil ich für einige Sekunden lang nicht mehr an Mitch oder Aryana dachte, sondern nur noch an das kleine Häufchen Elend auf meinen Oberschenkeln, das sich wie früher schon so oft an meiner Brust verkroch, was inzwischen unfassbar selten geworden war. In diesem Ausmaß wohl seit unserer Gefangenschaft nicht mehr vorgekommen war. Es ließ mich ein wenig aufatmen und die vollkommen überfordernden, wirren Gedanken in meinem Schädel für kurze Zeit gänzlich ausblenden, als ich meine Arme um sie legte. Anfangs gewohnt vorsichtig, bevor ich meine Finger ineinander verschränkte und meine Hände an ihrer Taille zum Liegen kamen. Ich ihr dort sachte ein bisschen über die Seite strich und gleichzeitig meinen Kopf zu ihrem nach unten neigte, um sie hauchzart aufs Haar zu küssen. Ja, sie fühlte sich anders an als sonst. Stand keineswegs in ihrer Blütezeit, war blass, war mager. Aber erstens tat das meinen Gefühlen für sie nicht den kleinsten Abbruch und zweitens war es bei mir ja nicht anders. Ich verlor immer mehr Muskeln und hatte selber ein paar Kilo abgenommen, was bei dem mangelnden Appetit kein Wunder war. Nichts davon würde mich daran hindern zumindest zu versuchen die zierliche Brünette ein wenig zu beruhigen, weil ich sie ohnehin schon viel zu oft weinen sehen musste. Es war mit Fayes Nähe dann auch ein bisschen leichter Aryana zuzuhören, nachdem ihre jüngere Schwester ihr eine leise Frage zugeschoben hatte. Während ich den Geruch meiner besseren Hälfte in der Nase hatte ließen sich die Worte zumindest minimal einfacher in meinem Kopf sortieren, als das vorher bei Mitchs Geständnis der Fall gewesen war. Seine Geliebte schien auch schon eine ganze Weile lang von seinen Taten zu wissen und jetzt zwangsweise darunter zu leiden. Hatte wohl ebenso wie der Verräter selbst einfach inständig darauf gehofft, dass nichts davon jemals ans Licht kommen würde und sie in ein paar Monaten in Frieden zurück zu ins in die Staaten flüchten konnten, um alles hinter sich zu lassen. Mitchs Vergehen und auch die Army an sich, die ohnehin Jedem ihr Päckchen mitgab. Ich wünschte wirklich, dass es so gekommen wäre. Dass ich den Mann auf dem Bett jetzt nicht mit anderen Augen sehen musste, dass seine Freundin nicht unter dem harten Abschied leiden müssen würde und wir einfach so hätten tun können, als wäre nichts davon passiert. Nur war das leider nicht so einfach und die Army nahm bekanntlich eher keine Wünsche entgegen, bei Verbrechen erst recht nicht. Nachdem Aryana mit ihrer Schilderung der Dinge fertig war schwieg ich sicher an die zwei Minuten. Wusste wieder nicht, ob und wenn ja, wie ich mich dazu äußern sollte. Also atmete ich ein weiteres Mal tief durch, sah dann erst einmal zu Faye hinunter und im Anschluss wieder zu ihrer Schwester, die ich wohl noch nie so emotional gesehen hatte. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie sich sehr offensichtlich nicht von Mitch trennen wollte und dass ihr viel an ihm lag - genauso wie umgekehrt, war es angesichts des vorherigen Geständnisses doch nur umso grotesker, dass er sie augenscheinlich ebenso etwas zu beruhigen versuchte wie ich Faye, obwohl ich ihn als einen so kaltherzigen Menschen kennen gelernt hatte. "Das ist echt... viel auf einmal.", äußerte ich erstmal eine ziemlich offensichtliche Tatsache, hielt dann noch ein paar mehr Sekunden inne. "Ich meine, ich hab ja selber gemerkt, dass du deine Einstellung auch mir gegenüber überdacht hast...", immerhin hatte er sich zu Beginn meines erneuten Armee-Einzugs immer wieder über mich lustig gemacht, weil ich bei anfangs solche Probleme im Gefecht gehabt hatte. Hatte mich nie ernst genommen, was inzwischen ganz anders war. "...also glaub ich dir schon, dass du das bereust... und auch, dass du dich geändert hast, aber... das ist echt verdammt heftig und kann man nicht mal eben so...", äußerte ich mich insgesamt etwas ruhiger als noch zuvor, sah Mitch dabei auch wieder an, obwohl er sein Gesicht nach wie vor an Aryanas Schulter vergrub. Ich beendete den Satz nicht vollständig, aber das war vermutlich auch nicht notwendig. Ich konnte nicht sagen, dass ich dem Tätowierten seine Taten nicht übel nahm, denn das tat ich. Um sowas zu tun musste man einfach unfassbar innerlich tot und ignorant sein. Konnte keinerlei Empathie oder Mitgefühl mehr besitzen - aber genau das zeigte er hier ja gerade. Es war ihm anzusehen, wie nahe ihm das Alles ging, was es irgendwie nur bedingt leichter machte, all die Dinge richtig einzuordnen.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Sie war schon ewig nicht mehr hier gewesen. Eigentlich viel zu lange, wenn man bedachte, dass Victors Arme früher ihr Lieblingsplatz gewesen waren. Und sie waren es ja immer noch. Nur war das alles in ihrem Kopf so viel komplizierter geworden. Sie hatte schon früher hässliche Dinge getan – Stichwort Warren und ihr Weg zu Aryana – aber trotzdem hatte sie ihren Körper nie so sehr gehasst wie heute. Die anderen Sachen hatte sie verstecken können, auch wenn sie an diesem Dreck vielleicht mehr Schuld getragen hatte. Aber die Narben an ihrem Rücken die prangten da ganz offensichtlich und für immer. Und Faye hasste sie mit all den Erinnerungen, die an ihnen klebten. Sie hasste die Schmerzen, die sie dafür gespürt hatte, die Hilflosigkeit, die ein Teil von ihr geworden war, die Angst und Panik und all die Gedanken, die sie damals gespürt und gehört hatte. Und weil sie das alles so sehr hasste, fürchtete sie sich davor, dass Victor genauso empfand. Er war dabei gewesen, wie sollte er also an etwas anderes denken, wenn er die Spuren dieses schrecklichen Tages unter seinen Fingern fühlte? Es war schwierig. Und trotzdem liess sich Victor nichts anmerken, schob sie nicht ihren schlimmsten Befürchtungen entsprechend direkt wieder von seinem Schoss, sondern legte die Arme um sie. Wie damals. Damals, als sie geglaubt hatten, bald gemeinsam frei zu sein… Und obwohl sie sich anfangs verkrampfte und nicht recht wusste, wie sie richtig atmen sollte, wich die Anspannung sehr bald wieder von ihr. Er legte seine Lippen auf ihr Haar, küsste sie sanft und es kam ihr vor, als würde auch er sich durch diese widergefundene Nähe ein Bisschen beruhigen. Denn natürlich hatten sie sich beide vermisst durch die Distanz, welche Faye so vehement aufgebaut hatte. Ausgerechnet zwischen ihnen, die in ihrer Beziehung stets so viel Nähe gebraucht hatten, wie sie irgendwie hatten kriegen können. Wahrscheinlich hatte sie mit ihrer Angst vor Abweisung mehr kaputt gemacht als die Narben allein es jemals geschafft hätten… Die Brünette nistete sich noch etwas näher an seine Brust, streckte vorsichtig die Finger aus, um auch jetzt wieder seine Hand zu halten, während Aryana stockend erzählte, wann sie diesem ganzen Desaster auf die Schliche gekommen war. Aber wie erwartet vermochte diese Erklärung nicht wirklich etwas an den Fakten zu ändern und Faye hatte noch immer kein einziges Wort, das sie Mitch entgegenbringen konnte. Sie blinzelte unter den zähflüssigen Tränen hindurch zu den beiden Menschen auf dem Bett, die wohl am allermeisten unter den Folgen von Mitchs Fehler leiden würden. Es versetzte ihrem Herzen einen weiteren Stich, die Worte ihrer Schwester zu hören, weil sie genau das auch schon gedacht hatte. Weil sie auch geglaubt hatte, Aryana und sie würden endlich einmal im Leben gemeinsam Glück haben, sich verlieben und ein Bisschen mehr Freude und Perspektive sehen. Jetzt wusste sie nicht einmal mehr, ob der Kuss im Krankenhaus eine gute Idee gewesen war oder ob sie ihre Schwester damit nur ins nächste Verderben gestürzt hatte. Wahrscheinlich hätten die beiden es auch ohne sie in naher Zukunft getan. Aber vielleicht wären sie auch klüger bei dem Wissen geblieben, dass Liebe und die Army einfach nicht gemeinsam funktionierten… «Du musst mir versprechen… dass du dich im… im Gefängnis… wirklich bemühst, Mitch… Versprich mir, dass du… alles dafür tust, so bald wie möglich raus zu kommen… dass du immer… an Aryana denkst und… dass du nicht… dass du niemals, unter keinen Umständen, zurückfällst… Und das vergisst… was du gelernt hast», hauchte sie in seine Richtung, schaute ihn unter ihrem tränenverhangenen Blick an. «Und wenn ich etwas… helfen kann… dann bitte sagt es mir…», fügte sie noch an, wobei sie versuchte, mit einer flüchtigen Handbewegung wenigstens ein paar Tränen aus ihrem Gesicht zu wischen. «Ich weiss es sieht nicht so aus… aber vielleicht kann ich… irgendwas helfen… jedenfalls hab ich Zeit…», schob sie ein zweites Mal nach, weil sie wusste, dass sie einen dezent angeschlagenen Eindruck machte. Es war nicht so, als hätte sie vergessen, was Mitch gerade alles gebeichtet hatte. Sie war keinesfalls darüber hinweg oder kurz davor, ihm zu verzeihen. Aber sie wusste, dass Aryana ihn brauchte, dass sein Verlust ihre Schwester ins nächste unendlich tiefe Loch stossen würde, aus dem sie möglicherweise nie wieder herauskriechen konnte, weil ihr dazu irgendwann die Kraft fehlen würde. Und das wollte sie um jeden Preis verhindern. Und Mitch sicherlich auch, falls irgendwas von all seiner Reue der Wahrheit entsprach, was er hier tunlichst beteuerte.
Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, hier die Nächste zu sein, die einen emotionalen Zusammenbruch demonstrierte. Aber sie war es wirklich satt, in ihrem eigenen Leben ständig den Verlierer zu spielen. Ständig vom Regen in die Traufe zu stürzen, immer und immer wieder. Und jedes Mal, wenn es wieder bergauf ging, wartete hinter der Hügelkuppe eine Steilhangklippe ins Nirgendwo. Sie wollte ihr Leben nicht hassen, aber manchmal war es echt verdammt schwer, das nicht zu tun und noch irgendwas Gutes darin zu sehen. Aryana liess Mitch nur zu gerne seinen Arm um sie legen und kam ihm so unmittelbar noch etwas näher. Sie atmete seinen geliebten Duft ein und hatte selber die Augen geschlossen, während sie mühsam darum kämpfte, die Fassung zu bewahren und hier nicht auch noch loszuheulen. Denn das wäre denkbar ungünstig. Es reichte wirklich, wenn Faye ihr das vormachte und sie anderen einfach ohne Tränen aussahen, als möchten sie gerne heulen. Die Brünette lauschte der Stille, aus der nur angestrengtes Atmen und die ganz leisen Bewegungen von Fingern auf Stoff zu hören waren. Sie hörte die Worte, die Victor nach einer Weile betroffenen Schweigens formte, noch immer hörbar überfordert mit allem, was er hier gerade mitbekommen hatte. Und sie schlug die Augen wieder auf, als erneut Faye das Wort ergriff, mit brüchiger Stimme ein paar bedeutungsschwere Sätze über die Lippen brachte. Aryana verzog leicht das Gesicht, klammerte sich mit einem Arm enger um Mitch. «Faye…», murmelte sie heiser, verspürte das dringende Bedürfnis, auch ihre Schwester in den anderen Arm zu nehmen. Sie wusste, dass Faye sich Sorgen machte, weil Aryana einen Moment zu hoffnungslos geworden war, was die jüngere Cooper noch nie besonders gut vertragen hatte. Und darum behielt sie ihre Emotionen für gewöhnlich auch für sich, um dem kleinen Reh nicht noch mehr Kummer zu bereiten. Aber jetzt war es dazu eh zu spät, es war unmöglich gewesen, diese Neuigkeiten in einen Mantel der Freude und des Optimismus zu hüllen. Denn es war ganz einfach scheisse. Alles, was kam. Sie würde das beste daraus machen, aber das Beste wäre zweifellos trotzdem noch lange nicht gut… Weil selbst die optimistischste Prognose voraussah, dass Mitch ihr genommen wurde und sie eine lange Zeit alleine bleiben würde. Noch dazu alleine in diesem fremdgewordenen Land. Sie würde sich nicht mit ihm eine Wohnung suchen können, sich nicht mit ihm über lachhafte Stelleninserate unterhalten und auch nicht gemeinsam das Schlafzimmer einrichten. Sie würden nicht beide mit verrückten Jobs anfangen und sich täglich darüber beschweren, was mit diesen Beschäftigungen denn alles falsch war. Nein, sie würde irgendwo alleine leben und mühsam versuchen, sich zurecht zu finden. Irgendwo möglichst nahe von dem Ort, an dem er sein würde. Und dann würde sie so oft sie konnte vorbeischauen, um mit ihm Gespräche durch Glasscheiben zu führen, ohne ihn berühren zu können. Wunderbare Aussichten.
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Vielleicht trübten die beiden außerhalb des Betts gerade gegenseitig ein bisschen ihre Sinne, ließen sich einfach von der Gegenwart des jeweils anderen einnehmen. Entweder das oder sie waren einfach zwei ganz besonders gnädige, gutmütige Menschen, denen jegliche Art von vorschneller Verurteilung widerstrebte. Mindestens eines von beidem musste der Fall sein, weil ich es mir nicht wirklich anders erklären konnte, dass sie mich nicht von sich stießen. Victor war immer ziemlich vernünftig und ob das wirklich mit seinen Worten konform ging war gerade sicher für den einen oder anderen fraglich, aber für mich war es ein Segen, dass er mich nicht endgültig abschrieb. Dass er mir nicht an den Kopf knallte, dass sich ein Mensch nicht derart stark verändern konnte oder er mir das nicht abnahm. Ich erwartete auch gar nicht, dass er mir das verzieh... oder das Faye das tat, weil es schlichtweg unverzeihlich war. Trotzdem nahmen mir die mehr oder minder eingeknickten Worte des Dunkelhaarigen eine gewisse Last von den Schultern und die darauf noch folgenden Worte seiner Freundin machten es noch besser. Denn auch sie machte mir keine Vorwürfen, forderte stattdessen nur ein paar Versprechen von mir, an die ich mich nur allzu gerne halten wollte. Zwar konnte ich kaum Brief und Siegel darauf geben, dass Gefangenschaft sich nicht auf mich auswirken würde - denn das tat sie wohl bei jedem -, aber ich würde mein Bestes geben. Würde versuchen so wenig wie nur irgendwie möglich an mich heranzulassen, um nicht irgendwann erneut als Wrack aus der Zelle zurück in die Freiheit zu kriechen. Solange Aryana mich besuchen kam würde ich das schon schaffen. Auf Biegen und Brechen wenn es sein musste, Hauptsache ich fand nie wieder zurück zu dieser abstoßend egoistischen Version von mir selbst, die mir jetzt kaum noch fremder hätte vorkommen können. Ich hob den Kopf langsam wieder an und drehte ihn in Richtung von Victor und Faye, um wieder zu den beiden hin zu sehen ohne mich dabei jedoch weiter als notwendig von der Brünetten neben mir zu lösen. Erst nickte ich Victor sichtbar zur, weil ich nicht wusste, was ich sonst dazu sagen sollte. Ich wusste ja, dass all das schwer zu begreifen und auf Anhieb vollends zu beurteilen war, verlangte das auch gar nicht. Dennoch war ich ihm wirklich dankbar für seine Worte, die mir ganz eindeutig vermittelten, dass ich nicht nur Aryana gegenüber wesentlich umgänglicher geworden war. Mein Blick wanderte dann abwärts zu Faye, die sich nach wie vor an seiner Brust verkroch und der Anblick tat selbst mir weh. Ich hatte sie nicht zum weinen bringen wollen. "Ich geb' mein Bestes... versprochen.", ließ ich die jüngere Cooper wissen, dass ich wirklich versuchen würde mich in bestmöglicher Führung zu zeigen, um die Umstände nicht noch weiter zu verschlimmern. Auch, dass ich nicht erneut wahnsinnig werden wollte und mich darum bemühen würde die altbekannten Dämonen schön außerhalb der Gitterstäbe zu halten, damit sie gar nicht erst bis zu mir durchkamen. "...und Aryana könnte ich gar nicht vergessen. Nie.", machte ich unmissverständlich klar, dass die junge Frau einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen und auch in meinem Kopf hatte, den sie nicht verlieren konnte. Selbst dann nicht, wenn sie mich verließ und ich sie nie wiedersehen würde. Dass man die erste richtige Liebe niemals vergaß stand für mich inzwischen ganz außer Frage und es würde nie jemand anderen geben, der so hinter mir stand wie sie das hier tat. Ich hob auch den zweiten Arm noch, um ihr sanft über die leicht erhitzte Wange zu streichen und ein schwaches Lächeln in ihre Richtung zu werfen. Das zwickte zwar sehr unangenehm an der inzwischen geschlossenen, wenn auch nach wie vor hässlichen Schusswunde, aber das war kaum so schlimm wie dieser unbändige Druck auf meiner Brust, der sich nur langsam ein klein wenig zu schmälern vermochte. Aber ob Faye mir - oder uns - irgendwie helfen konnte? Vermutlich nicht. Das einzige, was mir dabei spontan einfallen würde wäre eine Aussage vor Gericht zu unseren Gunsten, aber ich glaubte kaum, dass die Richter sich von ihr oder Victor momentan irgendwas sagen oder sich beeinflussen lassen würden. Schließlich waren beide sichtlich kaputt und hatten ihren festen Platz in der Psychiatrie, da würde auf ihre Meinung oder ihre Erfahrungen mit mir wahrscheinlich kaum etwas gegeben werden.
Es war vermutlich eigentlich nicht in Ordnung, dass Mitch und seine Taten für mich gerade gänzlich in den Hintergrund rückten. Dass ich damit aufhörte ihn entsetzt anzusehen, weil das eigentlich weiterhin mehr als angebracht wäre. Er mit seinem Geständnis womöglich einfach der ausnahmslose Mittelpunkt im Raum sein sollte, weil das einfach ein Thema war, das mehr als ein bisschen Aufmerksamkeit verdiente und reichlich Stoff für Diskussionen lieferte. Nur war Faye gerade einfach sehr viel wichtiger für mich. Je näher sie zu mir hinkam und je länger sie bei mir saß, desto mehr rückte der Tätowierte in den Hintergrund und die Brünette nahm wie schon so oft zuvor einfach meine Aufmerksamkeit auf sich. Stück für Stück ein bisschen mehr, bis auch ihre Hand wieder zu meiner fand. Ich hörte ihr aufmerksam beim Reden zu, hörte dabei aber nie mit den sachten Streicheleinheiten auf und ließ meinen Kopf weiterhin leicht gegen ihren gelehnt. Blieb wohl einfach zu hoffen, dass Mitch seine Worte ernst meinte und sich wirklich so gut es ging davor hüten würde wieder mit den gleichen Fehlern anzufangen. Also nicht in Form von Informationen der Army verscherbeln, weil er dahingehend keine Mittel mehr hatte, aber eben was seine Grundeinstellung anging. Dass er nicht vergaß, dass andere Leute - allen voran selbstverständlich Aryana - mit an seinen Taten hingen und es negativ auf uns alle zurückfallen würde, wenn er wieder anfing irgendeinen Mist zu bauen. Es würde dem ehemaligen Sergeant womöglich den Rest geben, sah sie doch jetzt schon wirklich ziemlich am Ende aus, was absolut untypisch für die junge Frau war. Das wiederum würde dann zweifelsfrei auch auf ihre jüngere Schwester zurückfallen und Faye riss dann mich mit all ihrem Kummer auch mit runter, weil ich mir noch mehr Sorgen machen würde als das ohnehin schon der Fall war. Wir hingen alle am Sicherungsseil und Mitch stand oben an der Klippe, hielt uns fest. Wenn er zu schwach wurde und anfing das Seil wild umherschwingen zu lassen, dann würde Aryana zuerst fallen, weil sie das letzte bisschen Halt verlor. Faye würde hinterher springen und ich folglich dann auch. Der ehemalige Soldat täte also wirklich gut daran zu versuchen nicht schon wieder Mist zu bauen und uns alle mit in die Konsequenzen hinein zu ziehen. Sein Bestes musste in jedem Fall gut genug sein, vor allem um Aryanas Willen. Es war schon schlimm genug, dass sie ohnehin so sehr unter seinem Gefängnis-Einzug leiden müssen würde, da sollte er sich um Himmels Willen nicht von ihr abwenden und ihr damit den Rest geben. Sagen tat ich dazu aber nichts mehr, weil ich nicht gewusst hätte was. Auch deshalb, weil meine Gedanken viel mehr um das weinende, kleine Ding in meinen Armen kreisten. Ich hatte die ganze Zeit über nicht wirklich von ihr weggesehen, nur flüchtig zwischendurch einen Blick auf Mitch und Aryana geworfen. Das tat ich jetzt dann auch wieder, allerdings mit einer vollkommen vom Thema abweichenden Frage. "Ihr habt nicht zufällig ein Taschentuch..?", hakte ich gemurmelt und vermutlich etwas undeutlich nach, weil Faye das nur unwahrscheinlich tun würde und ich es mir ungern noch länger tatenlos ansehen würde, wie sie Bäche vor sich hin weinte. Zwar würde das Tuch kaum ihre Emotionen dämmen, aber es würde sie zumindest davor bewahren unser beider Shirts irgendwann komplett nass geweint zu haben.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Sie wartete geduldig darauf, dass Mitch ihr die Bestätigung lieferte, die sie erbeten hatte. Und tatsächlich folgten die gewünschten Worte auch wenig später, liessen sie selbst nochmal schwach nicken. Und damit war die Sache für sie wohl gegessen und sie würde nie wieder von sich aus darüber sprechen wollen. Was nicht heissen sollte, dass sie es vergessen würde oder sich keine Gedanken mehr dazu machte, aber wahrscheinlich würde sie einfach den gleichen Weg wählen wie Aryana vor ihr. Sie wollte nicht mehr wissen als nötig und dann so tun, als wäre es nie passiert. Würde all das Schreckliche, was Mitch getan hatte, weit in die Vergangenheit verbannen, darauf vertrauen, dass der junge Mann, der ihre Schwester gerade so tröstend im Arm hielt, nichts mehr mit dem Menschen zu tun hatte, der damals seine Brüder und Schwester so grausam verraten hatte. Denn das war der einzige Weg, ihn nicht für das zu verurteilen, was er in einem anderen Teil seines Lebens so falsch gemacht hatte. Genauso gut wie sein Versprechen, tat es auch, die weiteren Worte des jungen Mannes zu hören. Ganz einfach, weil sie sich so wahr anhörten, so rein und ehrlich. Weil er Faye damit einen tiefen Frieden darüber gab, trotz allem nicht der komplett falsche Mann an der Seite ihrer Schwester zu sein. Vielleicht war er verkorkst und hatte Scheisse gebaut. Aber so wie er sich verhielt und wie er sprach, liebte er Aryana wirklich. Sie mussten einfach alle darauf hoffen, dass das genug sein würde, um sie alle über die nächsten Wochen, Monate... und wahrscheinlich auch Jahre zu tragen. "Gut... das ist gut... das solltest du auch nicht - also, sie vergessen...", nuschelte sie an Victors Shirt, liess ihre Augen dabei aber wieder Mitch und Aryana finden. Wahrscheinlich gingen sie alle ein Bisschen komisch mit dieser Situation um. Mit allem, was passiert war. Wahrscheinlich würde keiner mit gesundem Menschenverstand so auf diese Neuigkeiten reagieren. Aber vielleicht hatten sie einfach alle schon viel zu viel Leid gesehen. Es war nicht so, als hätte irgendwer Verständnis für das, was Mitch getan hatte - aber sie wussten alle wie es sich anfühlte, ganz unten zu sein und zu glauben, nie wieder hoch zu kommen. Sie wussten alle, dass solche Momente einen in den Wahnsinn treiben konnten. Und dass irrationale Entscheidungen und Affekthandlungen sehr leicht die Folge von solch überwältigenden Emotionen sein konnten. Aryana hatte in einem solchen Moment entschieden, nicht nach Hause zu kommen, sondern sich noch länger für die Army zu verpflichten und alles dafür zu tun, in der Hierarchietreppe nach oben zu klettern, um endlich einen Einfluss auf die Geschehnisse im Krieg zu haben. Victor hatte in einem solchen Moment entschieden, dass es klug wäre, erneut aufs Schlachtfeld zu ziehen und die Sicherheit des Zuhauses hinter sich zu lassen. Faye hatte in einem solchen Moment entschieden, dass es weniger schlimm war, sich selbst ganze drei - und letztendlich vier - Male zur Hure zu machen, als einen Tag länger von ihrer Schwester getrennt zu leben. Vielleicht hatte nichts davon so stark egoistische Auswirkungen gehabt für ihre Mitmenschen, wie das, was Mitch getan hatte. Aber bis zu einem gewissen Grad kannten eben doch alle von ihnen diese Dunkelheit. Und niemand wünschte sich, dorthin zurück zu gehen oder einen Freund dorthin zu verlieren. Faye zog das Gesicht ein Bisschen aus Victors Shirt zurück, als dieser gerade deutlich genug, um überhaupt verstanden zu werden, nach einem Taschentuch fragte. Oh... Sie blickte auf den Stoff, da, wo ihre Tränen bereits jetzt einen feuchten Fleck gemalt hatten. Hob eine Hand, um sich erneut über die Wangen zu streichen, ehe sie entschuldigend zu Victor nach oben blinzelte und ein leises "Sorry...", von sich gab, dabei mit ihren Fingern über seinen Handrücken strich. Dafür, dass sie so oft weinte, war sie echt verdammt schlecht darin, das Ausmass ihrer Tränen einzuschätzen.
Es gab keine weiteren Fragen. Keine Nervenzusammenbrüche. Kein Geschrei. Kein Wie konntest du nur?! Kein Verschwinde aus meinem Leben. Kein Das hast du verdient. Kein Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Nein. Victor akzeptierte das Ende der Diskussion mit einem Nicken. Und Faye mit einem viel zu typischen Hilfeangebot, das zwar gut gemeint aber wohl relativ nutzlos war. Es gab niemanden, der ihnen helfen konnte - ausser dem Richter, wenn er eine viel zu milde Strafe aussprechen würde. Was absolut unwahrscheinlich war. Aber sie wollte nicht daran denken. Sie wollte nicht daran denken, dass sie im besten Fall mindestens zehn Jahre älter sein würden, wenn sie sich wieder frei küssen konnten. Nein, genau hier setzte sie den nächsten Cut und drückte ihre Nase in sein Shirt, sog seinen Geruch ein -- genau dann, als Mitch versprach, sie niemals vergessen zu können. Gottverdammt. Sie wollte nicht weinen. Und darum musste sie das ohnehin ziemlich mühselige Gespräch nun leider auch unterbrechen, richtete sich zu ihrem Freund auf, legte die Arme in seinen Nacken, um ihn zu sich runter zu ziehen und küsste ihn. Mit der Sehnsucht einer Ertrinkenden, die nicht akzeptieren wollte, dass ihr das, was sie in diesem Moment so sicher besass, so leicht entrissen werden konnte. Am liebsten würde sie mit ihm aus dem Fenster nach draussen klettern. Jetzt, wo er nicht mehr angekettet war, müsste das ja machbar sein. Zumindest, wenn man vollkommen aussen vor liess, dass sie beide unmöglich aus einem Fenster klettern konnten, weil keiner von ihnen überhaupt ohne Stöcke gehen konnte. Sie noch dazu beide Verletzungen an den Armen herumtrugen, die das noch zusätzlich verunmöglichen würden... Aber auch daran dachte sie jetzt nicht, weil sie viel dringender diesen Moment ausnützen mussten, den sie noch zusammen hatten. Jetzt, wo keiner sie beobachtete und keiner ihnen verbot, sich so dicht beieinander aufzuhalten. Sie küsste ihn, um nicht zu weinen, um nicht zu schreien, sie küsste ihn, um sich für immer daran zu erinnern. Dieser Moment war eigentlich nicht besonders schön, waren sie alle doch in einer mental eher unglücklichen Verfassung. Aber wenigstens war er noch bei ihr, wenigstens konnte sie ihn noch spüren. Unter ihren Lippen und unter ihren Fingern, die über seine Wangen strichen. Ganz egal, was ihr durchlöcherter, wenig funktionsfähiger Arm dazu sagte. Sie küsste ihm ihr ganz eigenes Ich liebe dich entgegen, das nur er verstand und das er sich merken sollte für all die Tage, an denen es ihr nicht gewährt sein würde, ihm diese drei Worte zu versichern. Erst die leise Frage von Victor holte sie noch einmal zurück in die Realität und Aryana löste sich nach einem weiteren, sanfteren Kuss von Mitchs Lippen, strich ihm noch einmal über die warme Haut, ehe sie sich stattdessen etwas mühselig zum Nachttisch streckte. Dort fischte sie nach dem gewünschten Taschentuch, welches sie gleich darauf an Victor weiterreichte. Ihr Gesicht wurde dabei von einem angedeuteten Lächeln begleitet, das zwar nicht unbedingt glücklich wirkte, weil das in diesem Moment schlicht unmöglich war, dafür aber umso mehr stille Dankbarkeit ausstrahlte. Nicht nur dafür, dass er ihre letzten Stunden halbe Freiheit zu Viert mit seiner Akzeptanz Mitch gegenüber rettete, sondern vor allem auch dafür, dass er Faye in den Armen hielt, dass er immerzu auf ihre Schwester aufpasste, an all den Tagen, an denen Aryana das selbst nicht tat. Sie wollte gar nicht wissen, wo die junge Frau mittlerweile wäre, wenn sie ihn nicht in ihrem Leben hätte. Und Victor hatte nicht die leiseste Ahnung, wie unendlich dankbar Aryana ihm für all das war, was er dem kleinen Überbleibsel ihrer Familie bedeutete.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Würde ich nicht. Zwar konnte ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob und was der Knast aus mir rauskitzeln würde, aber Aryana würde ich sicher nicht vergessen. Nicht nach Allem, was wir zusammen durch gemacht hatten. Was das anging konnte ich Faye zweifelsfrei beruhigen und es schien, als wären wir damit jetzt am Ende dieser absolut unangenehmen, aufwühlenden Konversation angekommen. Denn ich sagte dazu nichts mehr und Victor schien sich auch weiterhin enthalten zu wollen, was diese Sache anging. Mich musste nun wirklich nicht zwei Mal Jemand darum bitten das Thema wieder zu begraben und so war ich absolut froh das jetzt hinter mir zu haben. Ohne jegliche Form von forscher Anschuldigung oder anderen unschönen Worten, die ich nicht hätte hören wollen. Natürlich wog die Last auf meinen Schultern nach wie vor sehr schwer, aber die beiden hatten zumindest nicht noch mehr draufgepackt. Eher zumindest ein paar kleine Kiesel weggenommen. Statt weiterer Worte empfingen mich dann Aryanas weiche Lippen, ließen mich die unausgesprochenen Worte deutlich spüren und ich erwiderte den Kuss vom ersten Augenblick an mit der gleichen Intensität, der selben Leidenschaft. Ich wollte den Kuss voll auskosten, die Brünette all die Gefühle so deutlich wie nur irgend möglich spüren lassen, damit sie auch ja nicht vergaß, was sie mir bedeutete, wenn wir getrennte Wege gehen mussten. Meine Finger blieben dabei einfach an ihrer Wange liegen, strichen dort weiter über die zarte Haut und bis nach unten über die dünne Haut an ihrem Hals. Wenn es nach mir gehen würde, dann hätte der Kuss vermutlich auch erst irgendwann geendet, wenn der Sauerstoff knapp geworden wäre. Ich wusste, dass wir wenige bis gar keine Chancen mehr haben würden uns so nahe zu sein, wie wir das jetzt gerade waren, bevor es in die Gerichtsverhandlung ging... und danach sehr wahrscheinlich auch eine Ewigkeit nicht mehr. Allein der Gedanke daran war schmerzhaft, wohl genauso wie der Zeitpunkt zu dem Victor uns mit einer Frage unterbrach. Es folgte nur noch ein viel zu kurzer, wesentlich milderer Kuss und der wehmütige Gesichtsausdruck meinerseits, der direkt im Anschluss folgte, während Aryana sich um das erfragte Taschentuch kümmerte, ließ sich kein bisschen verstecken. Ich hatte keinerlei Zweifel mehr daran, dass sowas wie Karma existierte und es mich hier mit jeder weiteren Sekunde nur noch mehr drangsalieren wollte, denn genau so fühlte sich das hier an. Zu wissen für Jahre nicht haben zu können, was ich am meisten wollte, was mir am allermeisten bedeutete, war wohl die schlimmste Strafe, die man mir hätte auferlegen können. Ich schluckte leise, als die Brünette das Taschentuch überreichte und fing an auf die Bettdecke zu starren, als würde sie mir dann irgendwelche Lösungen auftischen. Mein verletzter Arm war inzwischen wieder gesunken, der andere lag durch die vorherigen Bewegungen seitens Aryana nur noch etwas lockerer um ihren Rücken, obwohl so ziemlich alles in mir danach verlangte sie einfach zurück an meine Brust zu ziehen und dort nie wieder wegzulassen. Mich einfach zu weigern sie loszulassen, wenn der nächste Gesandte des Karmas durch die Zimmertür geschlendert kam, um uns erneut voneinander zu trennen. Ich verstand auch einfach nicht, was sie damit bezwecken wollen. Wir hatten uns ohnehin schon ineinander verliebt und der Dienst für die Army war beendet. Was war also eigentlich das Problem dabei uns wenigstens die letzten beiden Tage noch eng beieinander sein zu lassen? Uns dieses winzige bisschen Schmerzlinderung zu gewähren? Auch auf der weißen Bettdecke erschien mir keine sinnvolle Antwort darauf.
Es tat mir ja schon ziemlich leid, dass ich die beiden unterbrach. Es war auch nicht so, als wäre das feuchte Shirt meinerseits eine absolute Tragödie, die sofort beseitigt werden musste, war es doch bei weitem nicht das erste Mal, dass die schmale Brünette sich an meiner Brust ausweinte... aber es war halt nicht schön, sie weiter so weinen zu sehen und sie blieb in diesem Raum schlichtweg meine Priorität. Das würde sich vermutlich höchstens dann ändern, wenn Irgendwer hier drin im Begriff war zu sterben. Hyperventilierte aus Panik den anderen zu verlieren oder einen Herzinfarkt erlitt. Solange alle mehr oder weniger frei atmeten blieb Faye die Nummer Eins und so war ich Aryana doch sehr dankbar dafür, dass sie sich trotz der gemeinen Unterbrechung um das Taschentuch kümmerte. Ich erwiderte das Lächeln wohl ebenso schwach, zuckten doch viel mehr nur meine Mundwinkel kurzzeitig nach oben, aber ich verstand die schwache Mimik von Fayes älterer Schwester. Es war wohl wirklich auch mal Zeit dafür, dass wir uns zusammensetzten und uns unterhielten, uns überhaupt erstmal wirklich kennenlernten wo Faye und ich doch nun schon eine ganze Weile zusammen waren, aber das hatte gerade wohl nicht mal den Hauch von Priorität. Aryana wollte sicher das letzte bisschen Nähe zu Mitch auskosten und ich wollte mich um meine bessere Hälfte kümmern, damit sie sich vielleicht zumindest zeitnah irgendwann ein bisschen beruhigen konnte. Ich verstand natürlich wie unheimlich aufwühlend das alles für sie war. Wie sehr sie darunter litt, dass ihre Schwester jetzt unter dem Verrat des Tätowierten leiden müssen würde. Ich konnte aber zumindest versuchen es einen Hauch weniger schlimm für sie zu machen, ganz gleich ob es mir selbst momentan absolut nicht gut ging. Wir würden das gemeinsam schon noch irgendwann halbwegs in den Griff kriegen und ich weigerte mich vehement, die Hoffnung dahingehend aufzugeben, dass wir es schaffen würden aus diesem unsagbar tiefen Loch wieder zurück nach oben ans Tageslicht zu klettern. Also wandte ich den Blick langsam wieder von Aryana ab und stattdessen der sich aufrichtenden jüngeren Cooper zu, die erst jetzt zu merken schien, dass sie ihre Tränen zum Teil bereits auf den Stoff meines Shirts übertragen hatte. Aber auch für sie hatte ich ein schwaches Lächeln übrig, das mir vielleicht nicht ganz so schwer fiel wie das für ihre Schwester zuvor. Eigentlich müsste Faye längst wissen, dass ich ihr das bisschen feuchten Stoff nicht übel nahm, dass das nicht schlimm war. Trotzdem hielt sie schon wie in unserer Anfangszeit daran fest sich überflüssigerweise dafür zu entschuldigen und ich musste kurzzeitig daran zurückdenken, wie wir gemeinsam in ihrem Feldbett gelegen hatten und uns gegenseitig komplett unnötig für Dinge entschuldigt hatten, die den jeweils anderen gar nicht gestört hatten. Zumindest einen Teil ihrer selbst trug sie noch immer in sich und das war schön zu hören, schön zu wissen, wo wir uns doch beide in der letzten Zeit so stark verändert hatten. Nicht gewollt, aber zwangsweise durch die Erlebnisse. Ich hob die Hand mit dem Taschentuch zu ihrem geröteten Gesicht an, tupfte ihr vorsichtig einige der Tränen von den Wangen und auch von der Nasenspitze, während ich ihr die leisen Worte "Das macht nichts, Faye.", zukommen ließ. Ihr versicherte, dass ein vollgeheultes Shirt hier doch sicher die allerkleinste Sorge im Raum darstellte und das sehr sicher von allein wieder getrocknet war, wenn wir nachher wieder auf dem Heimweg waren. Als ihre Wangen halbwegs trocken zu sein schienen beugte ich mich noch ein weiteres Mal zu ihr nach unten, um sie zart auf die Stirn zu küssen. Meine Aussage damit zu besiegeln, damit sie sich dafür jetzt keine unnötigen Vorwürfe machte.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Irgendwann würde sie sich endlich die Zeit nehmen, den Freund ihrer Schwester richtig kennen zu lernen. Immerhin lebten sie jetzt schon im gleichen Land, was diesbezüglich sicherlich eine gute Voraussetzung war. Im Krankenhaus hatten sie auch schon immer mal wieder miteinander gesprochen, aber bisher standen halt all ihre Gespräche unter den Sternen irgendeiner anstrengenden Verletzung. Leider würde sich daran auch noch eine ganze Weile nichts ändern, denn weder Victor noch Faye – oder Aryana selbst – sahen so aus, als würden sie sich von den psychischen Schäden, die dieser verdammte Krieg bei ihnen allen hinterlassen hatte, so bald wieder erholen. Aber sie hatten ja Zeit. Glaubte sie. So sicher konnte man das natürlich nie voraussagen… Als das Taschentuch seinen Weg in Victors Hand gefunden hatte, lehnte sich Aryana ziemlich bald wieder zurück, kuschelte sich in die Arme des absolut einzigen Mannes, dem sie jemals wieder so nahe sein wollte. Sie blickte in seine Augen, die noch immer wehmütig in ihre Richtung schauten und bettete umgehend wieder sein Gesicht in ihre Hände, um sich langsam vor zu beugen, ihn dabei die ganze Zeit anzuschauen. «Ich liebe dich», formten ihre Lippen fast tonlos an die seinen, nur für ihn, aber dafür für immer. Sanft verschloss sie wieder seinen Mund, legte all die Gefühle in den Kuss, die ihnen niemals irgendwer wegnehmen würde. Es spielte überhaupt keine Rolle, wer es versuchen würde, machte keinen Unterschied, was sie ihnen erzählten und antaten. Sie waren füreinander bestimmt, egal wie kompliziert die Welt ihnen diese Beziehung machte. Egal, wer sie einmal gewesen waren. Egal, was sie getan hatten und was man ihnen gleichzeitig antat. Und sie würden einen Weg finden, sich nicht zu verlieren, würden beide alles daran setzen, die Gefängnisodyssee mit allen Mitteln so bald sie konnten zu beenden. Und all das brauchten sie nicht auszusprechen, weil sie es längst wussten, es sich längst versprochen hatten. Ihre Finger glitten über seine Haut, von seinen Wangen in seinen Nacken und wieder zurück, während sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihn ewig küssen zu können, ohne, dass wieder irgendein Vollidiot und Hüter des Gesetzes sie auseinanderriss. Ihnen nicht einmal diese letzten Stunden, die sie zu zweit bekommen konnten, gönnen wollten. Es war sowieso lächerlich, dass sie sie ständig voneinander trennten, als wäre das hier schon das Gefängnis persönlich und Mitch längst hinter Gitter. Aryana für ihren Teil verstand nicht, warum die Anwälte diesbezüglich nicht mehr hatten tun können – selbst im Knast wurde man gefühlt weniger überwacht als sie hier drin... was absolut scheisse war. Nur hatten sie beide alle Rechte abgegeben, die ihnen erlaubt hätten, ihre Freiheiten mitzubestimmen. Aber nicht in diesem Moment.
Faye sah das Taschentuch, welches von der Hand ihrer Schwester zu Victor wechselte. Ihre Augen blieben aber weiterhin auf dessen Gesicht fokussiert, bis er sie anschaute und dabei sogar hauchzart lächelte. Auch sie versuchte sich an eben diesem so selten gewordenen Gesichtsausdruck, schaffte es sogar trotz den Tränen, ein Bisschen was in die Richtung zu zeigen. Auch wenn es vielleicht eher ein Zucken ihrer Mundwinkel unter einem verlorenen Tränenschleier war. Sie wusste, dass er es verstehen würde. Sie hatten gut gelernt auf so kleine Verzerrungen der Mimik des jeweils anderen zu achten und daraus Dinge zu lesen, die sonst keinem auffielen. Also würde er auch dieses Lächeln, oder wie auch immer man es bezeichnen wollte, deuten können. Faye schloss etwas die Augen, als er das Taschentuch anhob, um ihr damit übers Gesicht zu tupfen, als wäre sie aus hauchdünnem Glas. Eigentlich könnte sie das ja selber. Sollte wohl die Hand heben, ihm das Tuch abnehmen und ihr Geheul so selbstständig beenden. Aber irgendwie… wollte sie das nicht tun, weil sie so viel mehr Trost darin fand, ihn dabei anzublinzeln, während er sich um die feuchten Spuren auf ihrem Gesicht kümmerte. Weil sie sich viel zu selten nahe waren und sie seine Berührungen unendlich vermisste. Sie war selber schuld, dass es so gekommen war, weil sie ihn so oft von sich wegstiess. Nur führte das natürlich trotzdem nicht dazu, dass sie ihn letztendlich weniger brauchte als früher. Faye schloss ein weiteres Mal die Augen, als er sich zu ihr runter beugte, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Und diesmal musste sie sich nicht einmal anstrengen – ihre Mundwinkel zuckten von ganz alleine schwach nach oben. Für einen Moment waren Mitch und Aryana vergessen, das drohende Unheil und die absehbare Katastrophe. Für Faye existierte endlich mal wieder nur Victor. Noch immer bewegte sie sich vorsichtig und unsicher, als sie sich etwas aufrichtete. Aber ihr Blick sprach weniger Angst, Schmerz und Sorge aus, als viel mehr pure Liebe, Zuneigung und eine endlose ungestillte Sehnsucht. Sie hob die Arme hinter seinen Kopf, verschränkte die Finger in seinem Nacken, als sie ihn anschaute. Tief in seine verletzte Seele blickte, die genauso gelitten hatte wie ihre Eigene. «Danke…», flüsterte sie ihm zu und es war offensichtlich, dass dieses leise Wort nicht nur auf seine Hilfe mit dem Taschentuch bezogen war, sondern viel mehr auf seine komplette Existenz und alles, was er immer wieder für sie tat. Denn es war stark zu bezweifeln, dass irgendein anderer Mensch so lange bei ihr geblieben wäre, wie er, der noch immer, trotz allem, nicht von ihrer Seite weichen wollte.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Meine Gedanken wollten schon vermehrt in eine unschöne Richtung umschwenken, als Aryana sich schließlich wieder an mich schmiegte und kurz darauf mein Gesicht in ihre Hände nahm. Zu jenem Zeitpunkt hob ich dann auch den Blick von der schlecht ablenkenden Bettdecke an, um stattdessen ins Gesicht der Brünetten zu sehen. Ihre Augen wieder mit meinen aufzufangen, als ich meinen Arm erneut enger um sie legte und mich zugleich diese drei kurzen, aber unsagbar wichtigen Worte erreichten. Es war nicht so, als würde ich fürchten, dass Aryana ihre Meinung inzwischen geändert hatte was das anging, aber gerade jetzt war es wohl einfach wichtig, dass wir uns gegenseitig versicherten den jeweils anderen nicht aufzugeben. Egal wie schwierig und nervenzerreißend unsere Liebe über die kommende Zeit hinweg sein würde. Ich hoffte weiterhin inständig darauf, dass mich genau jene Gefühle daran hindern würden, im Knast wahnsinnig zu werden... was ziemlich ironisch war, weil es mich doch nur zusätzlich leiden lassen würde, dass der mir wichtigste Mensch nie wirklich bei mir sein konnte. Aber andererseits war es vermutlich auch das einzige auf diesem Planeten, das mich am Leben außerhalb der verschlossenen Zelle festhalten lassen würde. Das einzige, für das es sich durchzuhalten lohnte, hatte ich außer Aryana doch schlichtweg Nichts, das mich außerhalb der Gitterstäbe wieder willkommen heißen würde. Zwar stand nach wie vor in den Sternen, wann ich überhaupt wieder rauskommen würde und ob ich mit dieser Art von Vorstrafe überhaupt jemals einen Job und ein normales Leben finden würde, aber ich hatte ja leider bald unfassbar viel Zeit dafür mir über eine neue Geschäftsidee den Kopf zu zerbrechen. Ich erwiderte den Kuss mit all der bereits angestauten Sehnsucht, die sich über die letzten beiden Wochen hinweg gesammelt hatte. Schloss die Augen wieder und hielt die Brünette eng bei mir, damit sie auch ja nicht auf die dumme Idee kam gleich ein zweites Mal abzuhauen - ganz gleich, ob uns wieder Irgendwer stören wollte. Vielleicht war es gegenüber Faye und Victor nicht so nett den Kuss noch eine Weile hinaus zu zögern, aber ich konnte mich nicht einfach nur mit einem kurzen Kuss zufrieden geben. Nicht jetzt. Also zog ich die liebevolle Lippenberührung in die Länge, um dahingehend wenigstens noch ein paar letzte Erinnerungen und Eindrücke sammeln zu können. In der Hoffnung, dass ich nicht in all der Zeit im Knast vergessen würde, wie sich die weichen Lippen anfühlten. "Ich liebe dich auch.", murmelte ich Aryana letztlich leise entgegen, als ich meine Lippen wieder ein kleines Stück von ihren gelöst hatte, um durchzuatmen. Hob dann die freie Hand an und legte sie ihr in den Nacken unter die braunen Locken, strich seitlich mit dem Daumen über ihre Haut. Erst danach folgte ein flüchtiger Seitenblick auf das zweite Paar im Raum, aber die beiden schienen gerade auch eher mit sich selbst beschäftigt zu sein, was für mich vollkommen in Ordnung war und mir zumindest dahingehend nicht noch mehr schlechtes Gewissen auferlegte.
Ich konnte kaum in Worte fassen wie sehr ich Momente wie diesen hier vermisste. Natürlich könnte Fayes Nähe nicht einfach den Rest der Probleme in meinem Kopf auslöschen, selbst wenn sie mir jene wieder schenken würde. Könnte die Erinnerungen an all den in den Hügeln verursachten Schmerz nicht auslöschen oder ihn mich gänzlich vergessen lassen. Zumindest könnte sie es mir mit ihrer direkten Nähe aber wieder ein kleines bisschen erträglicher machen, tagein und tagaus weiter gegen all die Dunkelheit und die daraus hervorkriechenden Dämonen in meinen Gedanken zu kämpfen. Mich öfter davon ablenken, damit ich wieder etwas mehr Energie für dieses schon jetzt endlos lang wirkende Gefecht zu haben. Mich nicht noch zusätzlich durch die anhaltende Distanz strafen, obwohl das natürlich nicht ihre Absicht war. Aber ihre keineswegs böse gemeinten Absichten dabei änderten eben leider nichts an den Auswirkungen, die für mich des öfteren nur zusätzliche Folter waren. Das kaum sichtliche Lächeln, das Faye mir geschenkt hatte, war hingegen wie Balsam für meine kaputte Seele und ließ mich aufatmen. Einfach nur, weil sie sich endlich mal wieder etwas wohler in meiner Nähe zu fühlen schien und mich nicht sofort wieder mit schwachen Gesten dazu aufforderte, wieder mehr Distanz aufzubauen. Gerade womöglich nicht einmal mehr an die Narben auf ihrem Rücken dachte, sondern sogar noch mehr Nähe zu mir aufzubauen begann, indem sie ihre Hände in meinen Nacken legte. Da lagen sie auch schon ewig nicht mehr und sie tat mir einen unheimlich großen Gefallen damit. Natürlich implizierte nichts von dem hier gerade, dass sie mich zeitnah ihren Rücken sehen lassen würde und dann alles wieder etwas normaler wurde, aber es war ein erster Schritt. Einer auf den ich nicht mal im Traum gehofft hatte, wenn es um das Treffen hier mit Aryana und Mitch gegangen war. Trotz der unschönen Nachricht, welche die beiden uns übermittelt hatten, konnte ich dem Besuch inzwischen doch etwas Positives abgewinnen. Meine Mundwinkel wollten nicht mehr absinken, auch wenn das Lächeln weiterhin ein eher dezentes blieb, als die junge Frau mir ihren Dank aussprach. Wohl kaum nur für das Trocknen ihrer Tränen, so weit konnte ich inzwischen mühelos zwischen ihren Zeilen lesen. Ich wendete meinen Blick nur einmal kurz von ihrem ab, um das Taschentuch etwa zur Hälfte in ihre Hosentasche zu schieben. Nur für den Fall, dass sie es doch noch einmal brauchte und auch, damit ich die zweite Hand frei hatte. Sie noch immer ziemlich vorsichtig mit einer nur hauchzarten Berührung an ihre Wange zu legen und sachte über ihre Haut zu streicheln. Ich hielt ihren Blick noch kurz, dann beugte ich mich zu ihr runter und murmelte die Worte "Nicht dafür.", an ihre Lippen, die durch das Weinen ebenfalls noch ziemlich gerötet waren. Kurz darauf stahl ich mir einen sanften, wenn auch - gemessen an unseren einstigen, oft gefühlt nie endenden Knutschereien vor dem Trauma - nur kurzen Kuss von ihren Lippen. Es war nicht so, als würden wir uns gar nicht mehr küssen, aber auch das war selten geworden. Hier und da vielleicht mal ein flüchtiger Gute-Nacht-Kuss, aber mehr war eigentlich nie drin und umso mehr genoss ich diesen.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Der unheilvolle Umstand, dass sie nicht genau wussten, ob dies möglicherweise schon ihre letzte Möglichkeit zu einem intimen Moment darstellte, machte jede Emotion, die seine Berührungen in Aryana hervorriefen, nur umso intensiver. Seine Hände hinterliessen dasselbe heisse Kribbeln wie damals, als sie sie das allererste Mal mit dem Bewusstsein gespürt hatte, dass sie beide zu mehr als nur Freundschaft bestimmt waren. Dabei hatte sich so vieles verändert seit dem Tag damals im Krankenhaus in Texas, seit ihrem ersten Kuss... Es fühlte sich sogar fast so an, als wäre das tonnenschwere Verbot, das über ihrer Liebe, ihrer Beziehung hing, das Einzige, was die ganze Zeit über gleich geblieben war und sich auch jetzt nicht von ihnen lösen wollte. Es war eine viel zu kurze Zeit gewesen, in der sie zumindest ein Bisschen frei in dieser Liebe gelebt hatten. Weniger als zwei Wochen in Amerika, dann die wochenlange Fernbeziehung und dann hatten sie noch knapp mehr als drei Wochen Schonfrist durchlaufen. Drei Wochen, während denen sie wenigstens Abends, wenn sie alleine gewesen waren, hatten tun und lassen können, was sie wollten. Drei Wochen um ihre Gefühle frei auszuleben - solange sie dabei leise waren und niemand es mitbekam. Drei Wochen, um sich alles zu geben, drei Wochen, an deren Erinnerungen sie nun jahrelang zerren mussten. Das war eine grausam kurze Zeit, wenn sich jetzt schon zwei Wochen auf fünf Meter Distanz so schrecklich anfühlen konnten. Sie genoss jeden Augenblick, in dem er sie noch küssen konnte, hatte die Augen geschlossen und liess ihre Finger über seine nackte Haut wandern. Auch die leisen, etwas atemlosen Worte, die er ihr entgegenbrachte, als er sich kurz von ihr löste um Luft zu holen, würden sich wie ein ewiges Tattoo auf ihr Herz legen. Das war alles, was sie hören wollte. Dass er sie liebte und diese Liebe zumindest ihre Herzen über all das hinweg tragen würde. Und auch diesmal löste er damit ein kleines Lächeln bei ihr aus, das sich fest in ihre Gesichtszüge nistete, während sie ihn nun wieder anblinzelte und die Stirn an seine lehnte. Sie küsste ihn erneut, nur kurz aber dafür immer wieder, so oft sie es mit ihren Lungen vereinbaren konnte. Ihre Hände strichen an seinen Seiten hinab und unter seinem Shirt wieder ein Bisschen nach oben. Sie hatte keine verrückten Pläne hier, mit Victor und Faye im Raum sowieso nicht. Aber sie wollte sich einfach so viel wie möglich von ihm einprägen, all die Details noch viel tiefer in sich aufnehmen und abspeichern, damit sie sich an die Wärme seiner Haut, die Konturen seines Körpers erinnern könnte, wenn er plötzlich so weit weg sein würde. Sie wollte niemals vergessen, wie sich seine Muskeln unter ihren Fingern anfühlten, sein Atem auf ihrer Haut. Sein Blick in ihren Augen, sein Duft in ihrer Nase, sein Gesicht direkt vor ihrem, seine Gegenwart im selben Raum. Am liebsten würde sie sich nackt an ihn schmiegen und die letzten Stunden genau dort verbringen, direkt bei ihm. Aber das mit nackt lag wohl nicht mehr drin... Das hatten sie vor Wochen im Camp das letzte Mal genossen, ohne es zu wissen...
Es war wirklich sehr deutlich ersichtlich - zumindest für sie - wie sehr Victor sich darüber freute, dass sie sich wenigstens heute, wenigstens jetzt wieder gewagt hatte, ihm so nahe zu kommen. Und sie selbst freute sich ja auch darüber. Natürlich war da noch sehr viel Unsicherheit und sie fühlte sich hier längst nicht so frei und unbefangen dabei wie früher. Sie hatte noch immer Angst davor, dass er etwas an ihrem Körper spüren könnte, was ihn abstiess, dass er plötzlich eine der Narben unter seinen Fingerspitzen fühlte. Und dass er dann anstelle von ihr nur wieder die Grausamkeit dessen sah, was ihnen angetan worden war. Aber eben diese Angst war ziemlich weit in den Hintergrund gerückt und in diesem Moment dachte sie viel weniger daran, als stattdessen an Victors Nähe und wie gut sich seine Finger auf ihrer Wange anfühlten. Oder der sanfte Kuss, der gleich darauf folgte. Sie schloss die Augen, erwiderte die sachte Berührung seiner Lippen voller Zärtlichkeit. Denn auch wenn er der Meinung war, dass sie ihm keinen Dank schuldete, so war sie diesbezüglich anderer Meinung. Sie wusste, dass sie schwierig geworden war - schwieriger als früher. An ihren alten Knacks und ihre Tücken hatte er sich mit den Monaten ihrer Beziehung gut gewöhnt. Aber das, was seit der Entführung und der Folter mit ihnen passiert war, war eine ganz neue Art von kompliziert, mit der sie sich herumschlagen mussten. Darum war sie ihm dafür, dass er trotz all dem - und trotz dem teilweise ziemlich eindeutigen Rat der Psychologen - bei ihr blieb, eben sehr wohl unendlich dankbar. Sie wollte ihm etwas dafür zurückgeben, wollte ihn ihren Dank auch spüren lassen und ihm zeigen, dass nicht alles umsonst war und er sie genauso gut einfach aufgeben könnte. Auch wenn sie im Moment nicht viel zu bieten hatte, weil da noch viel zu viele innerliche Barrieren bestanden. Ihre Hände lagen noch immer in seinem Nacken, strichen zart über seine Haut, während sie ihn nun wieder direkt anschaute, die Augen wieder aufgeschlagen hatte. Im Hintergrund hörte sie die vier leisen Worte, welche Mitch ihrer Schwester zuflüsterte. Und Fayes Mundwinkel hoben sich unmittelbar ganz selbstständig noch ein Bisschen weiter nach oben, als sie sich erneut nach Victor ausstreckte, um ihm tatsächlich auch noch einen zweiten vorsichtigen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Vielleicht küssten sie hier gerade, als hätten sie es nie zuvor getan. Aber der Fakt, dass sie sich überhaupt wieder langsam an diese Art von Zärtlichkeiten herantasteten, war definitiv schon ein Gewinn. Aryana und Mitch hatten nur gerade so deutlich aufgezeigt, wie schnell sie einander auch in dieser Welt, ausserhalb des Krieges, entrissen werden konnten. Klar, weder Victor noch Faye selbst hatten etwas getan, das sie so sicher ins Gefängnis befördern könnte, wie das, was Mitch sich hatte zuschulden lassen kommen. Und trotzdem wirkte das Schicksal der anderen wie ein Weckruf für die Brünette. Zeigte ihr auf, dass sie endlich aufhören sollte, sich und auch Victor so mit Zurückhaltung und Angst zu plagen. So die Folter der Gitterstäbe, die sie in den Höhlen voneinander getrennt hatten, auf ewig weiter zuziehen. "Ich... ich habe dich vermisst...", es war mehr ein tonloses Bewegen ihrer Lippen, ein paar erstickte Worte, nur für ihren Freund bestimmt. Denn sonst würde das ja auch keiner verstehen. Wieso sollte sie ihn vermissen, wenn sie sich tagtäglich so oft Gesellschaft leisteten? Wenn sie im gleichen Zimmer wohnten, im gleichen Bett schliefen? Sie sollte ihn nicht vermissen. Und sie wollte es auch nicht mehr tun..
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Tja, war wohl nur eine Frage der Zeit bis es den guten Victor auch nochmal erwischt... im Gegensatz zu Mitch muss er wenigstens sein Gesicht nicht wechseln, haha. x'D ________
Ich wünschte die Küsse würden nicht so bittersüß schmecken. Hätten nicht diesen unschönen Beigeschmack, der permanent durch etwaige Hintergedanken hervorgerufen wurde und sich einfach nicht verziehen wollten. Zwar genoss ich jede einzelne der Lippenberührungen bis ins kleinste Detail, versuchte mir jeden einzelnen davon noch so genau einzuprägen, aber der Gedanke daran, wie sehr ich all die kleinen Zärtlichkeiten vermissen würde, wo ich mich doch gerade erst vollends an sie gewöhnt hatte, war permanent anwesend. Wollte sich nicht verscheuchen lassen, auch nicht durch die sanften Berührungen ihrer Finger, die sich irgendwann auch direkt auf meine Haut stahlen. Wie so oft hier und da ein dezentes, durchweg angenehmes Kribbeln oder gar eine kurzzeitige, leichte Gänsehaut auslösten. Ich betete schon jetzt darum, dass wir Aryanas Besuche nicht ausschließlich nur mit einer Scheibe zwischen uns absolvieren mussten. Es kam wohl auch hierbei ganz darauf an wie gnädig die Richter sein würden und ob sie uns extra eins damit reindrücken wollten, unsere in der Armee unerlaubte Beziehung weiter ins Wanken zu bringen - als wäre das möglich. Dahingehend würde es sicher keinen großen Unterschied machen, ob wir uns lediglich mittels Blickkontakt berühren konnten, oder uns in einem entsprechenden Raum gegenüber an einen Tisch setzen durften. Natürlich bei beiden Varianten niemals unbewacht, aber wenn wir uns normal und nicht nur mittels Telefon unterhalten durften, dann war zumindest zu Beginn und zum Abschied sogar kurzer Körperkontakt erlaubt. Nicht mehr als eine flüchtige Umarmung, aber das allein wäre schon so viel besser als gar keine Berührung. Würde mich ganz kurz ihren Duft einatmen und ihre Wärme spüren lassen, damit ich auch ja nicht vergaß, wie sich das anfühlte. Denn davor hatte ich wohl mit am meisten Angst. Dass die Erinnerungen an das Gefühl über die Jahre hinweg vielleicht irgendwann verblassen würde und mich das wieder abstumpfen ließ, obwohl die Brünette mich weiterhin Monat für Monat besuchte. Ich wollte nicht wieder zurück zu meiner alten Version, die bei ungefähr gar Niemandem Anklang fand. Zwar gehörten meine Teils etwas fiesen Witze wohl einfach zu mir und ein richtig einfacher Zeitgenosse würde ich für die Allgemeinheit sicher nie werden, aber dem alten Denkmuster musste ich tunlichst fernbleiben. Blieb zu hoffen, dass sich das dauerhaft umsetzen ließ, wenn ich den ganzen Tag mit meinem Schädel allein war. Mehr oder weniger zumindest, eine Einzelzelle war laut meinem Anwalt unwahrscheinlich - zumindest für die Zeit nachdem meine Wunden verheilt waren, ich wieder laufen konnte und kein zu leichtes Ziel für die anderen Insassen mehr war. Solange ich mir ansonsten nichts zu Schulden kommen ließ und keine Gefahr für andere Gefangene darstellte. Aber auch an dieser Stelle sollte ich einfach inständig darauf hoffen, dass mich Niemand bis aufs Blut provozierte. Dass mir ab einem gewissen Punkt für gewöhnlich die Sicherungen durchbrannten war leider nichts Neues. Ich löste meinen Arm kurze Zeit ein wenig von Aryana, um ihn stattdessen an ihrem Rücken unter das weit geschnittene Oberteil zu schieben. Dabei über die weiche Haut zu streichen und ihr damit zumindest einen winzigen Bruchteil dessen zukommen zu lassen, das mir hier und jetzt sicher lieber wäre. Nicht des Sex' an sich wegen, sondern viel mehr einfach nur, um noch einmal so eng wie nur irgendwie möglich mit ihr vereint zu sein. Die Brünette noch ein einziges Mal vollkommen frei in meinen Armen zu halten, während ihre nackte Haut auf meiner lag. Aber das war nicht ansatzweise drin, weshalb es reichen musste meinen Arm letztlich eng um ihr Taille geschlungen wieder ruhen zu lassen, nur noch die Finger ab und an flüchtig über ihre Seite streicheln zu lassen, während ich einen um den anderen Kuss erwiderte. Meine Hand löste ich indessen von ihrem Nacken, um ihr zuerst eine Haarsträhne von der Wange zu streichen und mit den Fingern danach an letzterer ebenfalls sanfte Berührungen zu hinterlassen. "Du bist das Beste, das mir passieren konnte... vergiss das nicht.", hauchte ich Aryana ein paar leise Worte in der nächsten Kusspause an die Lippen. Vielleicht war es nichts als blanke Folter die neu gewonnene Liebe über Jahre hinweg nicht ausleben zu können, aber das änderte nichts daran, dass die schlanke junge Frau der eigentliche Grund dafür war, warum ich diesen Sinneswandel überhaupt angetreten hatte. Lange Zeit ohne, dass ich mir darüber überhaupt bewusst war.
Es ließ sich kaum leugnen, dass ich doch ziemlich überrascht davon war, dass Faye sich sogar noch einem zweiten, wenn auch nur kurzen Kuss hingab. Mich zumindest noch diesen kleinen Hauch ihrer Zuneigung mehr spüren ließ, der unweigerlich wieder etwas der inneren Wärme wachzukitzeln versuchte, die sich momentan oft eher einer Eiszeit erfreute. Zwar wirkte sich das nicht auf meine Gefühle für Faye aus, aber es führte einfach dazu, dass ich mich weniger Wohl in ihrer Nähe fühlte, wenn sie doch gleichzeitig immer so weit weg war. Vielleicht neben mir auf dem Bett saß oder lag, mich aber dabei nicht ein einziges Mal so wie früher mit sich kuscheln ließ. Sie jetzt wieder ein kleines bisschen zu küssen und dabei sogar noch die eine oder andere Streicheleinheit im Nacken spüren zu dürfen war also nicht weniger als blanke Erlösung. Womöglich keine endgültige, aber es ließ mich endlich etwas Hoffnung darauf haben, dass es irgendwann zumindest fast so wie früher zwischen uns sein könnte. Dass wir zumindest wieder fortwährend Trost in den Armen des Anderen finden konnten und uns damit die mentale Genesung erleichterten. Natürlich würde keine unserer Narben jemals gänzlich verschwinden, sondern uns auf ewig zeichnen, aber das war für mich nicht wirklich relevant, solange sich stattdessen die Löcher im Kopf langsam zu schließen begannen. Es war sicher eine weitere große Hürde die Brandmarken auf der Haut irgendwann mal ansehen zu können, ohne dabei gedanklich sofort in den dunklen Zellen zu landen, aber die würde ich irgendwann zu überwinden wissen. Das hatte ich mit meinem hässlich vernarbten Rücken auch schon geschafft, das war das kleinere Problem... redete ich mir zumindest gerne ein. Kaum hatten mich auch Fayes Worte erreicht lehnte ich meine Stirn an ihre und atmete einmal ein wenig tiefer durch, wenn auch kaum hörbar und mehr nur an der sich stärker hebenden und wieder absenkenden Brust erkennbar. Ja, ich vermisste sie auch und das inzwischen schon viel zu lange - ohne ihr Vorwürfe deshalb machen zu wollen, weil ich selbst wohl mit am besten wusste, wie sehr ein derartiges Erlebnis die Psyche prägte. Das erste Mal war schon furchtbar gewesen, ich hätte auf die Wiederholung bestens verzichten können. Meine Finger lösten sich von ihrer Wange, um stattdessen sanft über das Haar an ihrem Hinterkopf zu streichen. "Und ich dich erst, Kleines...", flüsterte ich ihr ein paar dünne Worte zu, bevor ich meine Stirn langsam wieder von ihrer löste und im Anschluss daran ihren Wangenknochen mit zwei gehauchten Küssen zierte. Ihr jetzt, wo sie es für einmal zuließ, noch etwas mehr Zärtlichkeit zukommen zu lassen ohne das Risiko eine sofortige Abweisung beachten zu müssen. "Ich liebe dich, Faye. So wie du bist...", wollte ich ihr leise, nahe mit meinen Lippen an ihrem Ohr unterstreichen, dass auch das vermissen müssen und ihr momentan nicht ganz einfaches Verhalten meiner Liebe für sie keinen Abbruch getan hatten. "...und wir kriegen das wieder hin.", fügte ich noch ein paar mehr fast tonlose Worte an, bevor ich ihr einen letzten, flüchtigen Kuss auf die noch schmaler gewordene Schulter gab. Es würde noch seine Zeit brauchen, aber trotz der anhaltenden Distanz zwischen uns weigerte ich mich schon die ganze Zeit sehr vehement dagegen was das anging aufzugeben. Ich konnte und wollte Faye nicht verlieren, unter gar keinen Umständen.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Jaaa ich wollte meine auch schon seit ewig mal wieder überarbeiten.. x‘D ______________
Es war schön, seine Finger wenig später auch unter dem Shirt, direkt auf ihrer Haut zu spüren. Natürlich weiterhin mit dem Bewusstsein, dass das das Maximum an Nähe war, welches ihnen hier gegönnt wurde. Naja, eigentlich wurde es ihnen ja nicht wirklich gegönnt - oder erlaubt. Sie machten es einfach, weil gerade keiner hinschaute und die Wache vor der Tür nett oder dumm genug war, sie nicht vor dem unbewachten Treffen beide an ihre Betten gefesselt zu haben. Aber Aryana war dankbar für alles, was sie bekommen konnten. Selbst wenn sie gleichzeitig nichts als wütend darauf war, dass sie hier dermassen eingeschränkt wurden. Kam eben ganz auf die Perspektive an, aus der man ihre Situation betrachtete und die Brünette selbst sah es im Sekundentakt mal so und mal anders. Wütend, traurig und frustriert war sie ständig. Aber sie bemühte sich mit aller Kraft darum, diese letzten gemeinsamen Stunden mit ihm nicht von negativen Emotionen verseuchen zu lassen. Glücklicherweise gelang ihr das auch ziemlich gut, solange ihre Lippen immer wieder die seinen trafen und Mitch mit seiner Anwesenheit, seinen Berührungen und seiner Nähe ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Sie hob langsam die Lider, als sie seine Finger an ihrer Wange spürte, während die Küsse ein weiteres Mal kurz unterbrochen wurden. Ihr Blick traf das unendliche Blau seiner Augen, als ein paar leise gehauchte Worte ihre Ohren erreichten und ihr Herz sich sehnsüchtig zusammenzog. Sie schloss die Augen wieder, lehnte die Stirn an seine und ihre Arme schlangen sich um seinen nackten Oberkörper, an den sie sich so dicht wie möglich heranzog. Einen Moment schwieg sie, hauchte dann lediglich ein paar zärtliche Küsse voller Liebe in seine Halsbeuge. Einen Moment später küsste sich etwas hoch, bis zu seinem Ohr, wo sie erneut inne hielt. "Du auch, Mitch... Auch wenn du mir das vielleicht nicht glauben willst...", flüsterte sie ihm zu, während wieder Bewegung in ihre Hände kam, die dabei sanft über seinen Rücken strichen. "Ich weiss nicht, ob ich jemals von der Army losgekommen wäre, wenn du nicht gewesen wärst... Ob ich es jemals geschafft hätte, dem Krieg den Rücken zu kehren - egal wie sehr ich ihn hasste... Ich wäre nie nach Australien gegangen... Ich hätte nie Hoffnung auf ein besseres Leben hier in den Staaten gehabt... Ich hätte nie was zu verlieren gehabt... Ausser meiner Schwester, von der ich geglaubt habe, sie sowieso längst vertrieben zu haben... Wofür ich mich weiter ewig gehasst hätte, wenn du nicht gekommen wärst...", hängte sie einige leisen Sätze an, die ihm hoffentlich deutlich aufzeigten, wie sehr er ihr geholfen hatte. Ein flüchtiger Blick nach hinten hatte ihr verraten, dass Faye und Victor längst nicht mehr auf sie achteten und ganz mit sich selbst beschäftigt waren - weshalb sie diese letzten beiden Sätze überhaupt ausgesprochen hatte. Denn sie waren wichtig. Mitch hatte keine Ahnung, in welchem Ausmass er sie gerettet hatte, allen voran vor sich selbst. Denn Aryana hatte sich ständig in Frage gestellt, sich jedes Mal dafür gehasst, wenn sie jemanden verloren hatten. Aber noch bevor sie sich überhaupt nahe gekommen waren, hatte Mitch ihr mehrmals - ziemlich unsanft, aber das spielte keine Rolle - erklärt, dass sie mit solchen Selbstzweifeln keine Truppen führen konnte und endlich damit aufhören sollte. Es wäre wohl ein Bisschen übertrieben, zu sagen, dass sie solche Gefühle nicht mehr hegte, aber sie waren viel, viel weniger geworden, seit sie sich endlich wieder auf andere Dinge als nur den Krieg mit seiner beispiellosen Brutalität konzentrierte.
Es war faszinierend, wie sie den Rhythmus seiner Atmung verfolgen konnte, weil sie so dicht an seiner Brust sass. Eigentlich sollte sie dieses Gefühl längst kennen, so oft wie sie schon hier gewesen war. Es war ihr auch nicht direkt fremd geworden oder so. Aber es war wirklich lange her, dass sie das letzte Mal die Schläge seines Herzens gezählt hatte... Eine Ewigkeit für sie beide, was Victor ihr mit seinen Worten nur noch bestätigte. Sie genoss die zarten Küsse an ihrer Wange, hielt die Augen dabei weiter halb geschlossen, während sie seinen Duft tief einatmete. Und er ihr einfach einmal mehr bewies, wie unendlich liebevoll und geduldig er mit ihr war. So sehr, dass er seine Meinung ihr gegenüber nichtmal dann änderte, wenn sie ihn, gefangen in ihrer eigenen Angst, immer und immer wieder von sich wegstiess. Sein Liebesgeständnis gepaart mit der Sicherheit, mit der er die Worte wir kriegen das wieder hin aussprach, liessen ihre Mundwinkel erneut zögerlich aber beständig nach oben ziehen, während ein weiteres, riesiges Mass an Besorgnis und Unsicherheit von ihr abfiel. Sie legte ihren Kopf wieder an seiner Brust ab, streckte sich nur, um selber ebenfalls ein paar zarte Küsse auf die nackte Haut in seiner Halsgegend zu hauchen. "Danke...", war das erste Wort, das seinen fast tonlosen Weg über ihre Lippen fand. Wenig später gefolgt von: "Ich liebe dich auch, Victor... Mehr als alles andere", ihre Finger strichen weiterhin sanft über seinen Nacken. Und dann etwas tiefer, über seine Schultern zu seinem Rücken. Sie wusste genau, wo die Narben waren. Hatte sie tausend Mal gesehen, tausend Mal massiert, tausend Mal berührt. Nichts davon hatte sie jemals gestört. Aber sie war auch nicht dabei gewesen, als sie entstanden waren. Sie kannte die grausame Geschichte nur aus seinen Erzählungen. Sie hatte Victor nie anders gekannt und für sie gehörten diese Zeichen alter Kriege zu ihm. Vielleicht war es darum so einfach, sich nicht davon irritieren oder beeinflussen zu lassen. Ausserdem könnten seine Narben von allen möglichen Unfällen stammen. Niemand, der nicht im Krieg gewesen war, würde vermuten, dass dahinter Granatsplitter steckten.... Aber sie wollte nicht länger über Narben und Spuren der Army nachdenken. Wollte nicht direkt wieder ins nächste damit verbundene Loch absinken. Darum fanden ihre Hände auch den Weg zurück nach oben, legten sich stattdessen wieder locker um seinen Nacken. "...und für immer", es hatte eine deutliche Pause zwischen ihren letzten Worten und diesem Nachschub gegeben, aber trotzdem wollte sie ihre eigene Gewissheit auch ihm nochmal bestätigen. Sie hatten so vieles schon gemeinsam gesehen, gemeinsam durchgemacht. Oder steckten noch mitten in der Verarbeitung davon. Und wenn bisher nichts die Kraft gehabt hatte, sie auseinander zu reissen, dann würde es auch sonst nichts und niemand schaffen.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Der Klassiker... x'D Aber bis man sich dann mal dazu aufrafft... puh. ^^ ________
Meine Augen schlossen sich schon ganz gewohnt wie von selbst, als die Stirn der Brünetten auf meine traf und ich versuchte einfach den Moment so gut es ging zu genießen. Auch, als erneut ein wenig Leben in Aryana kehrte öffnete ich die Lider nur flüchtig, um zu sehen, was sie vorhatte, bevor mir die Augen ein weiteres Mal zufielen, während ihre Lippen sich auf die dünne Haut an meinem Hals legten. In der stillschweigenden Hoffnung, dass ich mir all die kleinen Zärtlichkeiten vielleicht besser einprägen können würde, wenn ich mich ganz auf die Berührung und nicht aufs Hinschauen konzentrierte. Jeden einzelnen, flüchtigen Kuss in mir aufzusaugen, ehe mir ihre leisen Worte direkt ans Ohr drangen. Ja, sie hatte recht - es fiel mir durchaus ein bisschen schwer das zu glauben. Wir ergänzten uns mit all unseren Ecken und Kanten - wovon wir beide wirklich reichlich hatten - zwar sehr gut und es war nach wie vor erstaunlich für mich, wie sehr und wie schnell ich mich in der Liebe zu ihr hatte verlieren können, aber Nichts davon änderte etwas an meinen Taten. Natürlich hatte ich mich geändert und hatte wohl nur noch deutlich weniger von dem egoistischen, starrsinnigen und kalten Soldaten an mir, als das bis vor einigen Monaten noch der Fall gewesen war, aber ich zog meine Vergangenheit nun mal bis in die Gegenwart mit hinein. Riss die Brünette jetzt gemeinsam mit mir in den Abgrund, über dessen Kante ich absolut unbarmherzig vom amerikanischen Staat geschubst werden würde. Vielleicht übermorgen schon - was ich für relativ wahrscheinlich hielt, weil sie mich kaum noch länger auf freiem Fuß haben wollen würden - und selbst wenn nicht, dann eben mit der nächsten Verhandlung. Der Prozess war nicht zu gewinnen und das hatte ich nicht nur mir selbst, sondern zwangsweise auch Aryana mit eingebrockt. Früher wäre mir das egal gewesen. Hätte ihr wohl maximal gesagt, dass das dann eben ihr Problem war, statt mich selbst mental deswegen noch weiter fertig zu machen. Hätte die eiskalte Fassade aufrecht erhalten, nur um sämtliche Gefühle auszusperren... abgesehen von der Wut natürlich, die wohl mein engster Vertrauter gewesen war. Ich war nach wie vor relativ leicht reizbar, aber sie war längst nicht mehr so penetrant und unkontrollierbar, was ich wohl einzig Aryana zu verdanken hatte. Allerdings trug mich der Gedanke jetzt schon wieder so weit fort, dass ich daran dachte, dass all das womöglich zurückkommen konnte, wenn man sie mir jetzt wegnahm, weshalb ich mich davon loszusagen begann und stattdessen meine Aufmerksamkeit gänzlich zurück auf das Hier und Jetzt legte. Auf die junge Frau in meinen Armen, die mir so unsagbar viel bedeutete. Wir hatten uns wohl wirklich einfach gegenseitig vom Treibsandboden hochgezogen, in den wir vor dem Aufbau unserer Freundschaft und später auch Liebe immer tiefer eingesunken waren. Ohne den Hauch eines Auswegs, den wir uns letztlich aber zusammen gesucht hatten, wenn auch nicht bewusst. Über ein Attentat, Australien und eine Selbstmordaktion hinweg. "Ich werd's mir wohl trotzdem nie verzeihen, dass ich dich jetzt wieder allein lassen muss...", äußerte ich mich mit leicht gedrückter und weiterhin eher leiser Stimme dazu, legte auch den zweiten Arm noch um ihren Körper. Drückte Aryana dann einen kurzen Moment lang noch enger an mich und schlug erst danach langsam erneut die Augen auf, um wieder zu ihr nach unten zu sehen.
Wieder gab es ein paar der selten gewordenen Küsse und damit auch noch mehr Hoffnung auf eine baldige, wenn auch nur langsame Besserung. Ich erwartete aber auch gar nicht, dass Faye jetzt wegen dieser kleinen Annäherung sofort Berge versetzen und alles normal werden würde, was nicht weniger als utopisch war. Es reichte mir auch vollkommen, wenn ich nach und nach wieder ein bisschen mehr in den Genuss ihrer Nähe kommen durfte. Hier mal ein kurzes Streicheln, da mal ein kurzer Kuss und ich war für den Augenblick vollends zufrieden. Das schwache Lächeln meinerseits blieb bestehen, während der nächste leise Dank der zierlichen Brünetten auf meinem Schoß folgte und ich stellte auch die kleine Streicheleinheit an ihrer Seite nicht ein. Ich würde sie wirklich gern enger in meine Arme schließen, den Arm mehr als nur so locker um ihren zierlichen Körper legen, hinderte mich aber ganz bewusst daran. Würde sowohl ihr, als auch mir selbst damit lediglich den Moment kaputt machen und uns damit wahrscheinlich zurück an den Anfang schmeißen, was ich nun wirklich nicht wollte... was wiederum nur leider nicht hieß, dass es das einfacher machte. Leichter erträglich. Irgendwie würden wir diese Durststrecke schon noch hinter uns lassen, auch wenn bis dahin noch weitere, schmerzliche Tage ins Land ziehen würden. Es würde sich lohnen diesen harten, steinigen Weg weiterzugehen und irgendwann zumindest diesen Teil des Traumas hinter uns zu lassen. Auch, wenn uns bis dahin sicher noch weiter einige hochgradig nervige Psychologen begleiten würden, die uns nur bedingt halfen. Ein bisschen vielleicht schon, weil ich in den Einzeltherapien doch die eine oder andere Sache erzählte, die ich Faye enthielt. Einfach um sie zu schützen und nicht mit meinen eigenen Problemen zu belasten, hatte sie doch schon mehr als genug auf ihren schmalen Schultern zu tragen. Zwar konnte sie die eine oder andere Sache sicher trotzdem aus meinem Gesicht oder meiner Körperhaltung lesen, so gut wie sie mich inzwischen kannte, aber ich musste ihr dabei ja nicht noch mehr Details auf die Nase binden. Ich lauschte schweigsam ihrem Liebesgeständnis, zu dem etwas später noch ein paar weitere Worte folgten, die mir das Herz aufgehen ließen. Sie für immer bei mir zu haben war Musik in meinen Ohren. "Für immer klingt perfekt.", lächelte ich gemurmelt zu ihr runter, ließ meine Hand an ihren Kopf und letzteren damit sachte an meine Brust gebettet. Strich ihr nur noch mit dem Daumen ein klein wenig übers Haar. Dann glitt mein Blick über die Brünette hinweg zu den anderen beiden, die sich ebenfalls nur mehr leise Worte zuzuflüstern schienen und von dort aus noch weiter bis zur Uhr an der Wand. Allzu viel Zeit hatten wir wohl schon gar nicht mehr, aber ich wusste auch nicht so recht, wie und ob ich die anderen überhaupt sanft darauf hinweisen konnte. Ich wollte nicht der Spielverderber sein. Weder den Moment zwischen Faye und mir, noch die Zweisamkeit von Aryana und Mitch ruinieren. Also glitt mein Blick stattdessen wieder nach unten zu Faye, weshalb die Aufgabe des unliebsamen Weckrufs wohl an Jemand anderen übertragen werden würde. Entweder würde es einem anderem hier noch auffallen, oder es war vermutlich der Polizist vor der Tür, der die Ruhe früher oder später jäh unterbrechen würde.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +