Sie nahm seine Tattoo-Tipps mit einem Nicken zur Kenntnis. Zuerst einen Tätowierer zu suchen, bevor sich eine endgültige Idee in ihrem Kopf festgesetzt hatte, klang jedenfalls schon mal nicht falsch, damit konnte sie sich anfreunden. Und mal sehen, vielleicht würde sie auch dieses Projekt nächstens angehen... Erst nach dem Kürbis, natürlich. Dass sich als Folge der Schlange direkt ihr ganzer Rücken mit Tinte überzog, hielt sie für eher unwahrscheinlich - aber ja, würde sie ihn definitiv vorgängig wissen lassen. Nur - wenn das hier tatsächlich entgegen all ihrer Hoffnungen und Überzeugungen 25 Jahre andauerte... dann würde er sie wohl sowieso kaum mehr wiedererkennen, wenn er sie das erste Mal nach all dieser Zeit nackt sah. Ein Tattoo auf ihrer bis dahin zweifellos ziemlich fältchenlastigen Haut, wäre vielleicht sogar noch die angenehmste Überraschung. Aber gut, darüber sollte sie wiederum nicht nachdenken, weil sie ja daran festhielt, ihn sehr viel früher wieder in die Freiheit zu führen und ganz bestimmt nicht fünfundzwanzig Jahre auf ein Wiedersehen ohne solch dämliche Auflagen zu warten. "Ich werde es dich wissen lassen. Wobei der Gedanke an eine solche Überraschung eigentlich auch ganz interessant klingt...", bestätigte sie ihm seine Bitte mit einem spitzbübischen Grinsen, bei dem sich ihr rechter Mundwinkel ziemlich weit nach oben verzog. "Sind die anderen eigentlich neidisch auf deine Tattoos? Die mit den verschwommenen, verblassten Knasttränen, meine ich", fragte sie, wobei selbstverständlich wieder eine Spur Sarkasmus in ihrer Stimme mitschwang. Sie nahm eigentlich nicht an, dass irgendwer hier drin ihm offiziell Neid zusprach - auch wenn zweifellos viele seiner Mitbewohner ihm gegenüber etwas in die Richtung verspüren dürften. Mitch sah sicherlich nicht nur in ihren Augen sehr viel besser aus als so ziemlich jeder andere hier drin. "Vielleicht hasst dich der Idiot von vorhin ja auch deswegen. Weil er tief in seinem verknacksten Herzen einfach unglaublich gerne so umwerfend wäre wie du", führte sie ihre ironiegeladene Rede fort, liess ihm zum Abschluss ein zuckersüsses Lächeln und einen Luftkuss - die gefühlt einzige bewilligte Form von Zärtlichkeit hier drin - zukommen. Eigentlich hatte der Veteran ja schon einen relativ triftigen Grund, Mitch zu hassen. Das änderte aber eben nichts an der Fantasie der Brünetten, die das Ganze lieber vor einen anderen Hintergrund setzte. Dass er der Meinung war, sie würde die Fütterung vernachlässigen, liess Aryana leicht eine Augenbraue nach oben ziehen und einen Blick auf die Süssigkeiten zwischen ihren Fingern werfen. "Hmm. Nein, ich denke nicht. Vielleicht kann ich einfach besser beurteilen, wie viel und wie schnell du die Schokolade essen solltest, weil ich nicht so unendlich ausgehungert bin wie du", gab sie ihm zu bedenken, war dann aber so gütig, ihm einen weiteren Cup zwischen die Lippen zu schieben, die sie sehr viel lieber mit ihrem Mund als mit ihren Fingern berühren würde. So viel war in der Packung sowieso nicht mehr übrig, genau wie sie auch ohne Blick zur Uhr wusste, dass von der Zeit auch nicht mehr viel übrig sein dürfte.
Diesmal dauerte es kaum ein paar Sekunden bis sie sich ganz in dem Gefühl verlieren konnte, das immer mehr Kontrolle über ihren Körper erlangte. Vielleicht lag es daran, dass sie selber entschied, was passierte und wie intensiv sie ihre Bewegungen gestaltete, dass sie keine Überraschungen erwarten musste und zumindest ein Stück weit das Gefühl von Kontrolle behielt. Vielleicht waren es die leisen Geräusche, die nicht nur ihr sondern auch Victor immer wieder über die Lippen rutschten. Vielleicht war es die plötzliche Zuversicht, dass sie, wenn sie jetzt entgegen aller zwischenzeitlichen Zweifel soweit gekommen waren, möglicherweise wirklich auf dem Weg zur Besserung, auf dem Weg zu dem, was sie früher gehabt hatten, waren. Vielleicht war es seine Nähe, als er sich nach ein paar Minuten aufsetzte, ihr Oberkörper somit direkt auf seinem lag. Seine Hand an ihrer Taille, seine Lippen, die ihr ein weiteres Mal den Atem raubten. Vielleicht war es auch einfach alles davon zusammen, das ihr die Sicherheit gab, mit dieser Entscheidung heute Abend keinen Fehler gemacht zu haben. Sie hatte die Augen selbst die ganze Zeit über geschlossen, weil sie nicht wollte, dass irgendein Bild ihr das zerstören würde, was sich in ihrem Kopf abspielte. Das, was sie früher gesehen hatte, so, wie sie es sich ausmalte. Wie es immer gewesen war, wie es nun wieder sein sollte. Faye neigte den Kopf automatisch zur Seite, als sie seine Lippen an ihrer Halsbeuge spürte. Eine leichte Gänsehaut bildete sich in ihrem Nacken unter dem sanften Streicheln seiner Atmung. Auch sie selbst hauchte, ohne ihn in seinen Küssen zu behindern, den einen oder anderen lüsternen Kuss auf die warme Haut zwischen seinem Hals und seiner Schulter. Ihre Hüftbewegungen wurden dabei nicht unbedingt viel schneller, dafür aber doch zunehmend intensiver, was zumindest ihre eigene gezielte Verteilung von Küssen auf seiner Haut etwas unkoordinierter gestaltete, während die lustvollen Laute, die über ihre Lippen hinweg seinen Körper streiften, sich häuften. Selbst wenn sie es versucht hätte, wäre sie mittlerweile wohl nicht mehr im Stande, ihre überkochenden Empfindungen und Emotionen vor Victor zu verbergen. Aber das wollte sie auch gar nicht. Sie wollte alles mit ihm teilen, wie sie das früher auch getan hatte. So, wie es sich immer richtig angefühlt hatte und genau das auch jetzt tat. Ihre Arme lagen um seinen Körper, strichen zuerst noch über seinen Rücken, ehe sie sich immer dichter um ihn schlangen. Die rechte Hand rutschte an seinen Hinterkopf, vergrub sich in seinen Haaren. Und die Linke legte sich immer enger um seine Schultern, klammerte sich dort an ihn, als sie spürte, wie ihre Lust sich langsam aber beständig in Richtung Höhepunkt wiegte. Faye hatte ihr Gesicht in der Zwischenzeit an seiner Schulter, neben ihrer Hand vergraben, um so die Geräusche etwas zu dämpfen, die nach und nach immer hemmungsloser wurden. Schliesslich war es sein Name, der über ihre feuchten Lippen an seine Haut prallte, als sich die überwältigenden Gefühlte zu einem Orgasmus formten, die Brünette sich so dicht wie möglich an ihn presste, während sie all das empfand, was sie langsam schon tot geglaubt hatte. Und niemand sonst hätte es je wieder wecken können, niemand ausser Victor. Niemand ausser dem Mann, dem sie mittlerweile so ziemlich alles verdankte. Und sie hoffte so sehr, dass er das wusste. Dass er wusste, wie froh sie war. Dass er es spürte und in diesem Moment das gleiche spüren durfte wie sie. Pure Erlösung. Pure Liebe. Und Hoffnung.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Bloß nicht. Ich war wohl ohnehin nicht besonders für Überraschungen zu begeistern, so ganz allgemein gesprochen. Ich konnte zwar durchaus aus freien Stücken spontan sein - in Australien hatten Aryana und ich ja auch weniger geplant und mehr kurzfristig einfach nur das getan, wofür uns der Wind gerade in die richtige Richtung wehte -, aber ich mochte es eher nur in seltenen Fällen mit irgendwas überrascht zu werden. War wohl einer der Mitgründe, warum mir der immer strikt geregelte Alltag in der Army gut getan hatte. Weniger wiederum natürlich die unkalkulierbaren Angriffe der Sandratten, aber dabei hatte so oder so grundsätzlich Niemand einen Grund zu lachen. Die gingen einem schließlich immer gegen den Strich und hatten nicht selten ungute Folgen, egal ob der Angriff zu erwarten gewesen war oder eben nicht. "Da bin ich mir nicht so sicher.", ließ ich die Brünette also wissen, dass ich was eine solche Überraschung anging eher weniger zu begeistern war. Andererseits konnte sich daran bis ich hier rauskam natürlich auch einiges ändern. Womöglich nahm ich nach meinem Knast-Austritt alles an spontanen Veränderungen im Leben her, was ich finden konnte, nur um den tristen, eintönigen Gefängnisalltag schnellstmöglich zu vergessen. Das konnte aber nur die Zeit zeigen. Aryanas Frage danach, ob meine Mithäftlinge denn irgendeine Art von Neid verspürten, was meine qualitativ hochwertigen Tätowierungen anbelangte, ließ mich nur leise in mich hineinlachen. "Schön wär's.", sagte ich anschließend durchweg ironisch, schüttelte ganz leicht den Kopf. Zwar hatte ich durchaus das Gefühl, dass so mancher Inhaftierte hier mich mit mehr Respekt betrachtete, weil großflächige Tätowierung wohl selbst in der heutigen Zeit noch für einige Leute abschreckend wirkte. In Kombination mit meiner Körperstatur und meiner vorherigen Karrierelaufbahn war das wohl auch ein Grund dafür, warum ich im Gegensatz zu sehr vielen anderen Neulingen im Block einer Begrüßungs-Vergewaltigung in der Dusche hatte entgehen können. Das Glück hatten wohl die wenigsten und ich wünschte, ich könnte dagegen Irgendwas tun. Wenn es etwas gab, das ich nicht leiden konnte, dann war das strikte Unterdrückung von Isolierten oder Schwächeren, hatte ich früher doch selbst zu genau dieser Kategorie gehört. Ich befand mich nur leider nicht ansatzweise weit genug oben in der Nahrungskette, um überhaupt auch nur irgendwo ein winziges Mitspracherecht bei den inoffiziellen Knastregeln zu haben. "Er hasst die ganze Welt, Aryana. Der Kerl braucht keinen triftigen Grund, um alles und jeden zum Teufel jagen zu wollen.", behielt ich den recht ironischen Tonfall bei, seufzte dann aber leise. Er war damit halt leider nicht gerade ein Einzelfall, weil so ziemlich jeder Mensch irgendwann stark verbittern würde, wenn er etliche Jahre lang eingesperrt war. Was die Süßigkeiten anging würden wir beide uns wohl eher nicht einig werden. "Entschuldige, aber ich glaube ich könnte gerade so alt genug sein, um das selber zu beurteilen, Mom.", zog ich sie sarkastisch auf, als ich gerade noch dabei war die Süßigkeit zu zerkauen. So viel älter als ich war die hübsche Brünette natürlich gar nicht - sonst wäre ich kaum mit ihr zusammen -, aber dass ich diese milde Form von Anschuldigung zwecks mütterlichem Getue als blanken Witz sah, dürfte der Tonfall wie so oft recht eindeutig erklärt haben. Allerdings sollte es mit den Witzen und dem Sarkasmus auch zeitnah vorüber sein, als der Wärter sich kurz nach der letzten Fütterung zum ersten Mal seit einer ganzen Weile von der Wand lossagte, um stattdessen ein paar Schritte auf unseren Tisch zuzukommen. Mein Blick lag unweigerlich sofort auf ihm, weil ich schon vor seinem kühlen "Die Besuchszeit ist um." ahnte, worauf das hinauslief. Er stand noch immer in etwa zwei Metern Abstand zu uns, aber sein undurchdringlicher Blick ließ keinen Spielraum für Widerrede, weshalb ich ihm mit einem schwachen Nicken signalisierte, dass ich verstanden hatte und er keinen Druck zu machen brauchte. Also löste ich meine Finger schließlich mit einem wehmütigen Blick in Aryanas Richtung von ihren Händen, um stattdessen langsam aufzustehen.
Wie schon so oft zuvor verloren sich meine Sinne nur allzu gerne zunehmend mehr an die junge Frau. Die rhythmische Bewegung ihres Beckens, all die flüchtigen Berührungen ihrer weichen Lippen, ihre Finger auf meiner Haut, an meinem Haaransatz. Es wurde mit der Zeit doch deutlich leichter, den Kopf endlich mal auszumachen und nichts anderes als den Moment mehr auf mich wirken zu lassen. Je länger Faye weitermachte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass sie das einzige war, das um mich herum gerade existierte. Ich nahm es immer intensiver wahr und das wohl nicht nur aus dem Grund, dass die zierliche Brünette sich mehr und mehr gehen ließ oder dass unser letztes Mal eine Ewigkeit her war. Es hatte sich schrecklich viel Sehnsucht in mir angestaut, die jetzt endlich einen Weg nach draußen fand und mich in purer Lust badend zurückließ. Denn vielleicht war das hier noch nicht ganz so perfekt wie früher, aber es war echt. Ich musste nicht mehr allein unter der Dusche stehen und mir vorstellen wie es früher gewesen war, oder wie es jetzt sein könnte. Nein, ich hatte die Brünette stattdessen endlich wieder wirklich so nah bei mir, wie möglich war und konnte mich mit ihr gemeinsam in der Erregung wiegen. Sex war in einer Beziehung natürlich nicht alles, aber eben doch ein wichtiger Bestandteil davon und es konnte im Grunde nur positiv sein, dass wir die intime Zweisamkeit für uns wiederentdeckten. Womöglich würde das noch ein paar Mal unschöne Stolpersteine für uns bereithalten, aber auch dafür würden wir einen Weg finden. Das taten wir immer. Solange wir weiter aneinander festhielten und keiner beschloss den anderen loszulassen, würden wir ganz bestimmt irgendwann an frühere Erlebnisse anknüpfen können. Ich hielt die sachten Küsse an Fayes Hals wohl etwas länger durch als sie selbst, was eher nur daran lag, dass ich ansonsten nicht wirklich viel tun musste, um dem erlösenden Höhepunkt mir ihr immer näher zu kommen. Irgendwann fiel es dann aber selbst mir schwer mich neben der steigenden Erregung noch auf die Küsse zu konzentrieren, wo doch auch der Atem zwischen den angetanen Lauten etwas unregelmäßiger wurde. Meine Lippen ihre Haut nur noch hier und da eher unkontrolliert streiften, bis sich ihre Beckenmuskulatur schließlich verengte und auch mich damit unweigerlich dem Orgasmus erliegen ließ. In Kombination mit dem leicht bebenden Klang meines Namens und ihrer leicht verschwitzten Haut, die förmlich an meiner klebte, schien der Moment nicht weniger als perfekt zu sein. So perfekt, dass ich aufhörte darüber nachzudenken, wo ich die junge Frau nun anfassen durfte und wo nicht. Meine Hand hatte sich von ganz allein von ihrer Taille gelöst, als der Höhepunkt mit einem ungehalteneren Stöhnen eingesetzt hatte und lag stattdessen an der anderen Seite ihres Körpers, weil sich mein Arm um ihren Rücken schlang, um sie eng bei mir zu halten - was gar nicht nötig gewesen wäre, aber ich tat das wohl einfach rein instinktiv. Ich dämpfte mein eigenes Stöhnen weiterhin an Fayes Hals, hatte ich mich von jenem doch nie weit mit den Lippen entfernt. Ich hielt auch dann noch eine kleine Weile lang so inne, als das berauschende Gefühl abebbte und sich in etwa genauso schnell wieder verzog, wie es gekommen war. Mein Kopf war noch immer ziemlich leergefegt, aber ich begann dennoch zu realisieren, dass ich den Körper der Brünetten ziemlich fest umklammerte. Ich würde ihr damit zwar kaum wehtun, aber ich milderte den Griff zur Sicherheit dann eben doch wieder etwas, sodass mein Arm mehr nur noch sehr locker um ihren schmalen Körper lag. Nach einigen Sekunden, in denen ich nicht viel mehr tat als durchzuatmen, fing ich dann unterbewusst an ihr langsam am Oberschenkel auf und ab zu streichen. Hob schließlich auch den Kopf wieder an und zog mich dadurch weit genug zurück, um sie wieder ansehen zu können. Ein schwaches, aber durchweg zufriedenes, glückliches Lächeln schlich sich auf meine noch immer leicht feuchten Lippen und ich beugte mich nach ein paar Sekunden zu ihr runter, um sie noch einmal zu küssen. Liebevoll, sanft. Hob dabei schließlich die Hand von ihrem Bein an und strich ihr mit dem Daumen über die leicht erhitzte Wange. Als der Kuss aus noch vorhandenem Sauerstoffmangel sein Ende fand, hauchte ich Faye nach dem nächsten Atemzug noch ein leises "Ich liebe dich." an die Lippen. Zum Teil natürlich deshalb, weil ich ihr meine Gefühle kaum oft genug gestehen konnte und zum anderen, um ihr damit indirekt, aber eher unmissverständlich klarzumachen, dass sie sich keine Gedanken darüber machen brauchte, ob irgendwas hiervon vielleicht nicht gut genug für mich war.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Gut, dass er diesbezüglich aber eigentlich überhaupt kein Mitspracherecht besass. Wenn sie spontan beschloss, sich komplett zustechen zu lassen und ihm nichts davon zu erzählen, würde das eben zwangsläufig in einer Überraschung für ihn enden. Sein Glück, dass die Chancen dafür ungefähr eins zu hunderttausend waren. Zum einen, weil sie wirklich nicht vorhatte, sich ebenfalls so grossflächig wie er tätowieren zu lassen - nicht weil sie es nicht schön fand, sondern einfach, weil sie für sich bisher keinen Grund dafür sah. Und zum anderen, weil sie sowas kaum für sich behalten würde, wenn sie schon wusste, dass er die Überraschung nicht schätzen würde. Ausserdem wäre jedes Tattoo, das sie unter ihrer Haut verewigte, ein gutes Gesprächsthema für ihre Besuche und Telefonate. Dass seine Mithäftlinge noch keinen Neid kundgetan hatten, war jetzt auch nicht sonderlich überraschend. Aber die wenigsten würden sowas überhaupt erst zugeben, also hiess das allein noch lange nicht, dass sie nicht vielleicht doch etwas in die Richtung verspürten. Die Nachricht, dass der Army-Veteran grundsätzlich nunmehr wenig Liebe in sich trug, kam auch eher erwartet - er sah immerhin auch nicht so aus, als würde er Freunde suchen. Das mochte eine relativ oberflächliche Einschätzung ihrerseits sein, da sie ihn nur sehr kurz gesehen hatte, aber es passte jedenfalls zu Mitch's Worten. "Tja... Dann wird man das wohl so akzeptieren müssen... sorg' bitte einfach dafür, dass du nicht so endest", waren ihre finalen Worte zu diesem Thema, wobei die Bitte doch sehr ernst gemeint war. Es gab wohl wenig, was sie mehr fürchtete, als dass Mitch über die Jahre alles von dem Mann verlor, den sie so sehr zu lieben gelernt hatte. Dass er irgendwann langsam in alte Muster zurückfiel und am Ende genau zu dem wurde, was auch den Kriegsveteranen von vorhin ausmachte. Einen grimmigen, hasserfüllten Knaster, der alles und jeden verabscheute und niemandem irgendwas gönnen wollte. Dass er sie im Anschluss mal wieder als seine fürsorgliche Mutti bezeichnete, entlockte der Brünetten nichts weniger als ein Grinsen, während ihre rehbraunen Augen einen vollen Kreis drehten. "Nein, da fehlen definitiv noch zwei-drei Jahre, mein Sohn", gab sie sarkastisch zurück, kurz bevor die mehr als unerwünschte Unterbrechung in Form eines jähen Stimmungskillers seitens des Wärters folgte. Die Zeit ist um. Allein, dass er es wagte, sie hier so kalt in ihrem Frieden zu unterbrechen, als würde es eine ernsthafte Rolle spielen, ob Mitch jetzt oder in zehn Stunden wieder in seiner Zelle sass, fand sie beschissen. Aber sein kalter, mehr oder weniger emotionsloser Blick machte das alles einfach auch nicht besser. Genau wie die Finger ihres Freundes, die sich ziemlich zügig nach der Ansage von ihrer Hand lösten. Sie hätte am liebsten ein richtiges Drama gemacht, wie es normalerweise die dreijährigen Kinder demonstrierten. Mit auf den Boden stampfen und trotzen und quengeln, um am Ende doch nichts davon zu haben. Aber ihr Bisschen Würde und der noch etwas grössere Stolz liessen das glücklicherweise nicht zu und so war es lediglich ein eiskalter Blick zum Tisch und das Ballen ihrer einsamen Fäuste, was ihren wenig überraschenden Unmut kundtaten. Sie erhob sich ebenfalls vom Stuhl, um sich stattdessen den Kuss zu holen, der ihnen hier und jetzt für einen viel zu kurzen Moment gegönnt war. Bemühte sich auch darum, noch bevor sie vor Mitch stand ein paar Mal tief durchzuatmen, da sie ihn eigentlich mit Liebe und nicht mit Wut küssen wollte. Der kurzum aufgekommene Hass auf alles, was diesen Ort ausmachte, war auch schon wieder aus ihrem Blick verschwunden, sobald dieser auf ihn traf. Hatte stattdessen all den Gefühlen Platz gemacht, die sie empfand, wenn sie Mitch vor sich sah. Die Sehnsucht, die Trauer darüber, dass er ihr schon wieder genommen wurde und natürlich die Liebe. Entsprechend konnte sie auch dem Drang, ihm noch einmal in die Arme zu fallen, nur ein paar wenige Sekunden widerstehen, bevor sich ihre Arme um seinen Körper schlangen und sie seine Lippen zugleich mit ihren verschloss. Für den einen Kuss, den sie nach drei Monaten verdient hatte. Das war doch unfair. Und lächerlich.
Es war wohl gut, dass sie ihr Gesicht an seiner Schulter vergraben hatte. Gut, weil sie bezweifelte, dass ihre Zimmernachbarn gerne mehr von ihren abendlichen Aktivitäten mitbekommen wollten, als sie das eben zwangsläufig taten. Sie wollte hier immerhin auch keinen belästigen, auch wenn diese Gedanken gerade nicht wirklich präsent waren in ihrem leergefegten Kopf. Alles, was sie wollte, war Victor - immer und immer wieder. Umso schöner war es auch, zu spüren, dass er genau wie sie den Höhepunkt erreicht hatte, dass sie es trotz dem mehr als holprigen Start geschafft hatten, dieses Maximum an Emotionen zu erreichen, das für so lange Zeit in so weiter Ferne gelegen hatte. Dass er dabei den Arm um sie schlang, in einer Berührung, die im Normalfall ziemlich sicher ein gewisses Mass an Unbehagen bei ihr ausgelöst hätte, registrierte sie auf ihrem Hoch gerade nicht mal wirklich. Sie spürte es schon, aber es fühlte sich trotzdem richtig an. Sie dachte nicht an die Narben oder an die Knochen, die damit direkt unter seiner Haut lagen. Sie dachte nur an seine Nähe und wie gut es sich anfühlte, endlich wieder ganz und gar Eins mit ihm zu sein. Während ihre Atmung sich langsam wieder etwas beruhigte, ihr Herzschlag sich zurück in Richtung Normalbetrieb bewegte, entspannte sich auch der Klammergriff ihrer Arme synchron zu der Lockerung seiner eigenen Umarmung wieder. Auch wenn ihre Hände weiterhin in seinem Rücken blieben, verschränkten sie sich nun wieder in seinem Nacken, blieben dort liegen, während ihre Finger immer wieder sanft über seine weiche Haut strichen. Als er den Kopf wieder etwas hob, tat sie es ihm gleich und auch auf ihrem Gesicht lag ein zartes, glückliches und leicht erschöpftes Lächeln, das sich vollkommen ehrlich in ihren für einmal sternenklaren Augen spiegelte. Auch Faye hob eine Hand an seine Wange, als er sie küsste, erwiderte den gefühlvollen Beweis ihrer Liebe mit der gleichen Sinnlichkeit, bis der Kuss sein Ende fand. Ihre Stirn lag an seiner, ihre Haut berührte auch dort seinen Körper und sie nahm alles davon in ihrem Herzen auf, lebte nur für diesen Moment, in dem ihr Kopf für einmal so wundervoll still blieb. Nicht einmal versuchte, ihr ein weiteres Mal alles kaputt zu machen mit Bedenken, die trotz ihrer offensichtlichen Irrationalität ihr ganzes Wesen zu unterdrücken vermochten. "Ich liebe dich auch, Victor...", hauchte sie leise zurück, blieb noch einen Moment so sitzen und atmete die gleiche Luft wie er, berührte seine feuchten Lippen zwischendurch wieder mit ihren. "Danke... Danke, dass du mich niemals aufgibst", denn das war bei einer Persönlichkeit wie ihrer so ziemlich alles ausser selbstverständlich. Und das wussten sie beide. Faye liess sich noch ein paar Sekunden, vielleicht waren es auch Minuten, länger Zeit, genoss seine Nähe und diesen einen, sorglosen Moment, bevor sie sich schliesslich sachte von seinem Schoss löste. Sie hauchte ihm einen letzten, flüchtigen Kuss auf die Lippen und rutschte zum Bettrand und erst in diesem Moment, als sie sich erhob, um dem Badezimmer noch einen kurzen Besuch abzustatten, setzten die Gedanken langsam wieder ein. Natürlich, wenn sie nackt durchs Zimmer ging. Ihm noch dazu ihren Rücken zuwandte. Aber Faye war nicht bereit, jetzt zuzuhören, sich direkt wieder von dem beflügelnden Gefühl von wiedergefundener Freiheit zu verabschieden. Entsprechend beeilte sie sich auch im Bad, um weniger als vier Minuten später ihre Abendroutine hinter sich gebracht zu haben, ohne die Ruhe einkehren zu lassen, die die Stimmen in ihrem Kopf jedes Mal laut werden liess. Sie ging zurück ins Zimmer und flüchtete sich sehr direkt wieder zu Victor ins Bett, kuschelte sich zu ihm unter die Decke, dicht an seine Brust. Weil sie liebend gerne in der Illusion lebte, dass alles gut sein konnte, solange sie bei ihm blieb.
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Mit der Hoffnung, dass ich nicht irgendwann genauso den Bach runter gehen würde wie mein herzallerliebster, bester Freund, war Aryana nicht allein. Mir war schon klar, dass im Grunde nur ich selbst darüber entscheiden konnte und eigentlich war ich mental auch stark, aber ich war eben schon einmal mehr als tief im Frust versunken. Deswegen saß ich ja in diesem Drecksloch überhaupt erst fest und das sollte mir Lehre genug sein. Es war nur leider so gar nicht unwahrscheinlich, dass mir das eingesperrt sein irgendwann auf den Kopf umschlagen würde. Von der hier drin herrschenden Gewalt und der permanente Anspannung mal ganz zu schweigen. Aber ja, ich würde mir Mühe damit geben möglichst erfolgreiche Schadensbegrenzung zu betreiben, was meine Psyche anbelangte und bestätigte das Aryana auch noch einmal mit einem deutlich sichtbaren Nicken. Vielleicht hielt ich es mit ihrer Unterstützung ja wirklich irgendwie auf Teufel komm raus fünfundzwanzig beschissene Jahre hier drin aus. Was sicher nicht weniger schwer werden würde, als meinen Kopf halbwegs rein von unliebsamen Gedanken zu halten, war, mich gleich schnell wieder von Aryana zu lösen. Dem Wärter hingegen würde es kaum schnell genug damit gehen können, dass er mich zurück in die Zelle stecken und mich loswerden konnte. Meine Augen fingen zeitnah die der Brünetten auf, nachdem sie sich ebenfalls vom Tisch erhoben hatte und dann auch die kurze Distanz zu mir überbrückte. Mein Blick musste etwas wehmütig sein, als sie schließlich an mich herantrat, weil mir unweigerlich noch im selben Moment bewusst wurde, dass ich sie jetzt schon wieder einen ganzen, viel zu langen Monat nicht sehen können würde. Dass ich ein weiteres Mal vier Wochen viel zu viel Zeit mit mir allein und ohne den einzigen Menschen haben würde, der im Stande dazu war, meine Laune anzuheben. Natürlich würden da Telefonate sein, aber das war nun mal einfach nicht das gleiche. Ich konnte sie nicht sehen, nicht ihre Hand halten und mir auch nicht wenigstens zur Begrüßung und zum Abschied einen kleinen Kuss holen, um die aufkommende Frustration für eine kurze Zeit lang zum Schweigen zu bringen. So wie jetzt, als Aryanas Lippen sich schließlich auf meine legten. Macht alter Gewohnheit legte sich meine Hand an ihren schlanken Hals und ich strich mit dem Finger an ihrem Kiefer entlang, während meine andere Hand an ihrer Taille lag und sie bei mir hielt. Während all die sehnsüchtigen Gefühle, die sich in den letzten drei Monaten angestaut hatten, in den Kuss einflossen, war es für mich nur allzu leicht die dämliche Sekundenregel zu ignorieren, die solch innige Berührung eigentlich nach spätestens zwei Sekunden beenden sollte. Die mir sicher auch schon an die zehn Mal hier drin zu Ohren gekommen war. Aber die Zeit flog schneller als sie sollte und so war es nach etwa doppelt so hoher Zeitspanne an dem Wärter, mich mit einem drohenden "Das reicht!" verbal von der Brünetten wegzuholen, wobei er auch einen Schritt auf uns zumachte, als wäre das zur Untermauerung seiner Worte noch irgendwie notwendig gewesen. Ich hielt inne, löste widerwillig meine Lippen von Aryanas und auch die Hand an ihrer Taille sank im selben Atemzug ab. Die Finger der anderen Hand strichen ihr noch ein letztes Mal über die Wange, während ich mich mit einem Schritt rückwärts zwangsweise von ihr distanzierte und dann sank auch die zweite Hand in ihre Ausgangsposition zurück. "Pass auf dich auf, Aryana... ich liebe dich.", gab ich der jungen Frau noch ein paar wenige, eher leise Worte mit auf den Heimweg, kurz bevor der Wärter an mich herantrat und mir das rechte Handgelenk auf den Rücken zog, um die erste der Schellen anzulegen. Er hätte wenigstens damit noch warten können, bis sie weg gewesen wäre. Hätte mir zumindest diese Form der Demütigung ersparen können, während mein Blick deutlich weicher als sonst noch in den Augen meiner Freundin lag. Ich würde mich wenigstens in ihrer Anwesenheit gerne mal nicht wie ein von allen Seiten getretener Straßenköter fühlen, der weniger als gar keine Rechte mehr hatte. "Gehen Sie jetzt. Mein Kollege empfängt Sie an der Tür.", machte das Arschloch über meine Schulter hinweg noch ein weiteres Mal klar, dass wir uns in seinen Augen jetzt auch schon zu lange ansahen und dass er Aryana schnellstmöglich wieder außerhalb dieser Wände sehen wollte, als er die zweite Hälfte der Handschellen anbrachte. Würde ich nicht wissen, dass es mir weitere Besuche verwehren würde, hätte ich ihm mit Sicherheit meinen Hinterkopf ins Gesicht geknallt.
Es war wirklich Balsam für meine Seele, dass die Brünette für ein einziges Mal nicht sofort das Weite suchte, während sie mir viel zu nah war. Selbst dann, wenn es nur daran liegen sollte, dass in ihrem Kopf noch nicht wieder viel mehr als Glückshormone zu Gange war, weil sie sich noch eine Weile lang sammeln musste. Die sanfte Streicheleinheit im Nacken und ihr Blick setzten dem im positiven Sinne noch die Krone auf und zumindest im Hier und Jetzt schien alles in bester Ordnung zu sein. Nachdem Faye ein paar leise Worte erwidert hatte streiften ihre Lippen erneut die meinen und ich lächelte in den kurzen Kuss hinein, ehe sie mir auch noch ihren Dank aussprach. Den wollte ich so wie eigentlich immer nicht wirklich haben, weil ich es eben nach wie vor als mehr oder weniger vollkommen normal ansah, dass ich bei ihr blieb und sie nicht aufgab. Ja, sie war manchmal wirklich sehr anstrengend und ich lud damit wohl auch automatisch einen Teil ihres seelischen Schutts mit auf meinen eigenen Schultern ab. Ja, eine Weile lang hatte ich dabei auch nicht wirklich einen Lichtstreif am Horizont sehen können, weil es eher nur eine Einbahnstraße gewesen war und kaum etwas Positives zu mir zurückgefunden hatte. Dass wir hier jetzt aber wieder auf derart innige Art einander umschlangen und uns nahe waren, bestätigte mich vollumfänglich darin, dass sich das Durchhalten auch lohnte. Dass es sich auch dieses Mal bezahlt machen würde, dass ich nicht die Art Mensch war, die etwas Gutes einfach wegwarf, nur weil es einen Schaden davongetragen hatte, sondern lieber anfing es zu reparieren. Teilweise eben auch auf meine eigenen Kosten, aber die Liebe zu Faye war das wert. Es gab außer der zierlichen Brünetten nichts, das auch nur ansatzweise die gleichen Hochgefühle in mir wecken konnte. Ich wollte es nicht leicht, sondern auf lange Sicht perfekt. Niemand verstand mich so wie sie es tat. Niemand hatte all das miterlebt, konnte es auch nur ansatzweise gut genug nachempfinden. Niemand würde sie je ersetzen können und deshalb ging ich wohl schlichtweg lieber mit ihr zusammen unter, als mich auf Biegen und Brechen allein über Wasser zu halten. Trotzdem tat es gut von Faye zu hören, dass sie nach wie vor glücklich darüber war mich als ihre Stütze zu haben und ich lächelte noch etwas breiter, bevor ich den Kopf etwas mehr anhob, um sie sanft auf die Stirn zu küssen. Hielt danach dann tiefenentspannt inne und strich ihr lediglich weiter über die Wange, bis sie sich letztendlich mit einem letzten Kuss von mir löste. Es passierte von ganz allein, dass meine Augen der jungen Frau folgten, als sie sich vom Bett erhob und zum Bad ging. Die Narben waren wohl noch immer gewöhnungsbedürftig anzusehen, aber es war nicht so, als würden sie mich stören oder Erinnerungen wecken. Zumindest jetzt gerade in diesem Moment nicht. Ich dachte an Vieles, aber bestimmt nicht an den Syrer, der uns beide gefoltert hatte. Dazu befand ich mich wohl noch zu sehr auf Wolke 7. Fayes Narben waren eben einfach genauso wie meine eigenen nur da, als ich sie mit den Augen streifte. Als die Badezimmertür zufiel saß ich wohl noch gut weitere zehn Sekunden ziemlich reglos da, bevor ich mich mit einem leisen, zufriedenen Seufzen ein klein wenig streckte und nach Fayes Wasserflasche griff, um ein paar Schlucke zu nehmen. Aber selbst nach dem Trinken lächelte ich immer noch ein kleines bisschen vor mich hin, während ich es mir ähnlich wie vorhin schon wieder im Bett bequem machte. Mich auf den Rücken legte, einen Arm als Stütze unter meinen Kopf schob und die Augen für die kleine Weile, in der ich allein war, ganz entspannt zumachte. Sie auch erst dann wieder aufmachte, als die Schritte nackter Füße auf dem Fußboden versiegten und sich ein zweites Gewicht auf der Matratze einfand. Wie so oft hieß ich Faye mit offenen Armen willkommen, begleitete das mit den Worten "Na komm her, Kleines." und stellte erst noch einmal wirklich bewusst fest, dass sie sich weiterhin vollkommen nackt an mich kuschelte, als da nicht wie sonst am Abend Stoff zwischen uns war. Ich legte den Arm erneut um sie und drehte auch den Kopf ein wenig zu ihr rüber, um die Nase in ihrem Haar zu vergraben. Strich ihr dabei gedankenverloren über die Haut am Oberarm und hauchte ein leises "Schlaf gut." zu ihr runter, bevor ich mit einem zärtlichen Kuss auf ihren Haaransatz mit dem heutigen, wirklich turbulenten Tag abschloss. Jetzt, wo alles schier perfekt war und mir nichts vor dem Einschlafen mehr das Gefühl nehmen sollte, dass sämtliche Probleme in ganz weite Ferne verschwunden waren.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Sie fand es echt beschissen, dass der Wärter nicht die Klappe halten konnte. Dass er nicht einfach irgendeine andere Person in diesem Raum fixierte und sie beide in Frieden liess. Nur für ein paar Minuten... oder Sekunden... Sie war ja nichtmal besonders anspruchsvoll. Aber dieser Kuss wurde eindeutig zu bald unterbrochen und es fühlte sich ziemlich grausam an, als Mitch sich schliesslich nach der Mahnung von ihr zurückzog. Sie wusste ja, dass das unumgänglich gewesen war, aber es tat eben trotzdem weh. Sie wollte ihn nicht loslassen und wollte auch seine Hände nicht einfach wieder freigeben. Als hätte sie eine Wahl... Und Mitch sowieso nicht, der gleich im Anschluss auch schon wieder in Handschellen gepackt wurde. Wozu?? Wo wollte er denn hin?? War nicht so, als könnte er einfach mit ihr nach draussen spazieren, ohne, dass irgendeiner das mitkriegte. Aber ja, die Wache hatte Recht. Sie sollte gehen. Bevor sie hier drin alle mit ihren Blicken tötete oder anfing zu randalieren. Wutausbrüche waren zwar nicht unbedingt Teil ihrer Persönlichkeit, aber wer weiss - man musste es ja auch nicht herausfordern. "Pass du besser auf... Und bis bald. Ich liebe dich auch", murmelte sie Mitch noch zu, ohne die Wache überhaupt zu beachten. Aryana hob die Hand, um ihm absolut unglücklich zuzuwinken, ehe sie sich dann aber doch abwandte und in Richtung Tür verschwand, ohne sich erneut umzudrehen. Sie wollte nicht sehen, wie der Idiot ihren Freund abführte als wäre er ein unfolgsamer Hund. Ging stattdessen stur geradeaus zum Ausgang, wo sie wie angedroht ein weiterer Aufpasser erwartete. Er redete nicht viel, beobachtete sie aber konstant dabei, wie sie durch die Sicherheitsvorrichtung den Weg nach draussen fand. Und er verabschiedete sich mit einem beinahe zu höflichen "Schönen Tag noch und bis in einem Monat, Miss Cooper", das sie umgehend eine Augenbraue nach oben ziehen liess. Aber sie hatte gerade keinen Nerv dafür, ihn zu fragen, ob er die Zeit, die er alleine hinter seiner undurchdringlichen aber einigermassen anständigen Fassade verbrachte, wirklich mit dem Auswendiglernen der Namen der Besucher seiner Häftlinge verschwendete. Also war alles, was er von ihr bekam, ein weiterer, eiskalter Blick, bevor sie das Gefängnis schliesslich zum ersten Mal hinter sich liess. Die folgenden Monate waren - genau wie die vergangenen auch schon - einfach hauptsächlich anstrengend. Psychisch zumindest. Körperlich hielt sie sich beschäftigt mit Arbeiten - okay, das war körperlich keine allzu grosse Anstrengung - und einer Menge Sport, der sie ablenken sollte. Sie hatte angefangen zu Klettern und Joggen und besuchte ausserdem mehrmals wöchentlich ein Fitnessstudio (obwohl sie sich vor den vielen Menschen darin echt ekelte). Nein, der Plan mit dem Fussballspielen war bisher noch nicht ausgeführt, aber Aryana war sich ziemlich sicher, dass sie noch immer viel zu viel Hass und Wut in sich trug, als dass Teamsport momentan eine gute Idee sein konnte. Ebensogut - oder beschissen - lief es auch mit ihrer allgemeinen Integration. Abgesehen von ihren Verwandten, die sie endlich wieder getroffen hatte, sowie Faye und Victor, die sie ebenfalls so alle ein bis zwei Wochen besuchte, hatte sie keine einzige Bezugsperson und auch genau null Freunde. Es störte sie nicht wirklich, aber sie wusste, dass es auf Dauer ziemlich schlecht war, wenn sie ihr einsames Leben am Rande der Gesellschaft führte. Es würde sie nicht glücklich machen und nicht weiterbringen. Aber sie war so wütend auf alle, die hier ihr ahnungsloses Leben lebten, so wütend dafür, dass dieses Land Tag für Tag so abgrundtief versagte und keiner das mitbekam. Weil Syrien und all die anderen Krisenländer so weit entfernt waren und sich niemand hier für die Hölle interessierte, welche ihre Landsleute dort drüben durchschritten. Ja, sie hasste wirklich vieles und viele... Und fühlte sich noch immer genauso wenig bereit, hier Fuss zu fassen, wie vor sechs Monaten. So lange war es nämlich her, dass sie hier angekommen waren. Sogar etwas mehr als sechs Monate. Und sie tuckerte noch immer mit ihrem LKW durch die Strassen, lieferte Ware aus, für die sie sich nicht interessierte. Obwohl es sie nicht glücklich machte und sie sonst ein sehr zielstrebiger Mensch war, der immer in Richtung Perfektion und Verbesserung steuerte. Nur jetzt nicht, zumindest nicht in diesem Bereich. Weil es irgendwie keine Rolle spielte, solange Mitch nicht bei ihr war. Und sie hatte den rettenden Einfall noch nicht gehabt, hatte den Sponsoren noch nicht gefunden, der ihn aus der Kacke kaufen wollte. Obwohl sie schon Tage und Wochen damit verschwendet hatte, nach genau solchen Lösungen zu suchen. Immerhin konnte sie ihn einmal monatlich besuchen. Und dazwischen mit ihm Telefonieren. Es war nicht viel, aber es gab ihr einen Grund, sich mehr anzustrengen, besser zu kämpfen, weiter zu suchen. Allein sein Gesichtsausdruck, als er das Bild von ihr in dem dämlichen Kürbiskostüm - das sie tatsächlich nur für ihn gekauft und angezogen, und in einem absolut lächerlichen Fotoshooting mit sich selbst festgehalten hatte - gesehen hatte, machte jede Anstrengung wert. Sie hatten sich wohl fast zehn Minuten bestens über die orangefarbene Kugel auf dem Bild amüsiert, umgeben von Leuten, die sie böse angeschaut hatten, weil im Besuchsraum eines Gefängnisses normalerweise lieber nicht zu viel gelacht wurde. Gut, dass sie sich selten um normal geschert hatten... Heute hatte Aryana aber nicht vor, Mitch zu besuchen. Auch keine Einzelsportstunde - oder einen Millionär in der Umgebung. Nein, heute hatte sie viel mehr spontan das Bedürfnis, mal wieder ihre einzigen zwei Freunde zu treffen. Die Einzigen, die auch nur ansatzweise verstanden, was in ihrem Kopf und ihrem Leben passierte. Sie hatte sich nicht angemeldet, als sie vor der Haustür stand und die Klingel betätigte. Darauf wartete, dass entweder Faye oder Victor sich melden würde. Wenn sie Pech hatte, war gar keiner da und sie war umsonst hergefahren. Faye hatte vor zwei Wochen wieder angefangen zu arbeiten und Aryana hatte keine Ahnung, vom Schichtplan ihrer Schwester. Und ob Victor da war, konnte sie genauso schlecht einschätzen. Also hiess es wohl einfach hoffen und mal schauen.
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Seit Faye und ich uns einander wieder angenähert hatten war viel Zeit vergangen - eine ganz besonders turbulente noch dazu. Seit dem etwas plötzlichen Sinneswandel meiner besseren Hälfte waren wir uns stetig etwas näher gekommen und hatten allein dadurch auch schon einige nennenswerte Fortschritte in der Therapie machen können. Es schien nicht nur für mich ein Lichtstreif am Horizont gewesen zu sein, denn während ich mit dem Training immer mehr Fortschritte machte und insgesamt auch durch die Gespräche mit dem Psychologen noch ein ganzes Stück ausgeglichener wurde, ging es Faye ebenfalls wieder sichtlich besser. Natürlich eckten wir auf intimer Ebene noch eine ganze Weile lang hier und da an, aber es wurde besser und es spornte mich zusätzlich an, dass die zierliche Brünette mir wieder mehr von ihrem Vertrauen schenken konnte. Die Verbindung zu ihr fühlte sich nicht mehr so brüchig und verletzlich an, während wir uns beide gegenseitig ein weiteres Mal aus einem unschönen Loch herauszogen. Dabei versuchten wir stückchenweise die angefangene Liste in dem Notizbuch abzuarbeiten und erweiterten sie parallel dazu noch um ein paar mehr Punkte, wenn uns gerade danach war. Eine stark angeknackste Beziehung zu reparieren war harte Arbeit, aber es schien sich doch eindeutig bezahlt zu machen - es ging nach einigen Wochen so steil mit uns bergauf, dass die Therapeuten sich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich damit einig waren, dass einer Entlassung nicht mehr allzu viel im Wege stand. Selbstverständlich unter der dringenden Bitte, dass wir uns nach unserer Entlassung auch weiterhin in ambulanter Therapie betreuen lassen sollten, um bei den nächsten größeren Problem nicht gleich wieder einen Abgang hinzulegen. Zwar hatte ich ganz ehrlich gesagt langsam die Schnauze voll davon mir von einem Psychologen Tipps geben zu lassen, wollte im selben Atemzug aber auch nicht riskieren, dass ich wieder in meiner Psyche versank und dabei eine gewisse andere Person in Mitleidenschaft zog. Deshalb ließ ich mich bereits auf einige Wartelisten ambulant betreuender Therapeuten setzen - dass es grundsätzlich viel zu wenige Seelenklempner in diesem und auch in vielen anderen Ländern gab, war kein allzu großes Geheimnis, weil die Gesellschaft schlichtweg mental immer kranker wurde -, als die letzten drei Wochen in stationärer Therapie bevorstanden. Es war vermutlich auch ganz gut, dass die Therapeuten uns ein wenig Zeit und auch Unterstützung bei der Suche nach einer neuen Bleibe anboten, das erleichterte doch einiges. Viel zur Auswahl gab es hier in der Nähe nicht, aber allzu weit weg wollten wir wiederum auch erst einmal noch nicht. Hier kannten wir uns immerhin ein bisschen aus, hatten wir uns doch im letzten Therapieabschnitt auch vermehrt an den Ausflügen beteiligt. Außerdem war Aryana hier in der Nähe und das war wohl vor allem für Faye ganz gut. Ich hatte mich zudem auch schon nach einer Möglichkeit zwecks meiner zukünftigen Aus-, beziehungsweise Weiterbildung erkundigt und konnte das auch von unserer neuen Wohnung aus mit etwa einer halben Stunde Fahrtweg in die nächstgrößere Stadt erledigen. Das war zwar schon ein gewisser Zeitaufwand, aber daran sollte es nicht scheitern. Einen Gebrauchtwagen mit nicht zu hohem Spritverbrauch zu finden war kein großes Problem - da war es unser neues Eigenheim schon eher. Es standen dahingehend zuerst ursprünglich klein gedachte Renovierungsarbeiten an und weil beim Abreißen alter Tapeten und alter Fliesen im Badezimmer klar wurde, dass doch etwas mehr Aufwand dafür betrieben werden musste, um danach wirklich alles ordentlich renoviert zu haben, nervte das ziemlich. Vor allem deswegen, weil das hieß noch ein paar Tage länger übergangsweise in einem Hotel bleiben und dafür Geld ausgeben zu müssen, das wirklich hätte sinnvoller investiert werden können. Ich war nach mehreren Jahren bei der Army nicht schlecht bei Kasse, aber das war einfach eine vollkommen unnötige Ausgabe, die nicht hätte sein sollen. Solange ich noch keinen neuen Job hatte, sondern lediglich die neue Schulung anging, kam meinerseits schließlich noch kein bisschen Geld rein. Aber als hätte das noch nicht gereicht zog sich auch die Fertigstellung des Einzugs selbst in die Länge. Der Einbau der Küche vom Fachmann lief fast problemlos, aber die Spedition, die uns den Großteil der Möbel lieferte, schien ihren Job auch irgendwie nur so halb ernst zu nehmen. Erstmal verzögerte sich die Lieferung des Esstisches und als er dann mitsamt Stühlen zwei Wochen zu spät endlich ankam, war auch noch die Tischplatte beschädigt. Wir entschieden uns also letztendlich dazu uns nicht mehr damit herumzuärgern, das Teil zurückgehen zu lassen und nach einem Ähnlichen in den ortsansässigen Möbelhäusern Ausschau zu halten, um nicht noch länger darauf warten zu müssen. Insgesamt ließ ich Faye aber mit der Einrichtung relativ freie Hand - meistens bat ich sie einfach darum ein paar Sachen auszusuchen, die ihr gefielen. Sah mir im Anschluss die Auswahl an und sagte, was mir davon am besten passte. Das Aussuchen der Einrichtung war also nicht wirklich ein Problem gewesen, weil ich dabei einfach sehr unkompliziert war. Solange die Brünette mich nicht mit zu vielen aufdringlichen Farben - lila, pink und ganz allgemein grelle oder kitschige Farbtöne - bombardierte oder mir ein Plüscheinhorn ins Schlafzimmer stellte, war ich mit fast allem zufrieden. Wir hatten uns aber auch ohne Streit über die Möblierung genug herumärgern müssen, was doch zeitweise dazu führte, dass ich einfach grundlegend ein bisschen genervt war, obwohl das total untypisch für mich war. Hing wohl ganz einfach damit zusammen, dass meine Psyche nach wie vor ein wenig angreifbar war. Wenigstens lief die Schulung zwecks Personenschutz aber zu Beginn wirklich gut, was wohl auch mit daran lag, dass man bei der Army einen Grundkurs in Nahverteidigung ablegte. Ich kannte Vieles schon und musste mich im Gegensatz zu anderen Kursteilnehmern kaum an komplett neue Bewegungsabläufe gewöhnen. Auch mit der begleitenden Theorie kam ich ganz gut zurecht, nachdem ich mich an die Lernerei wieder gewöhnt hatte. Zumindest für eine Weile hatte ich also durchaus das Gefühl, dass mich was das anging nichts stoppen konnte. Jedoch nur so lange, bis dann die Verteidigung gegenüber Stich- und Schusswaffen folgte. Was diesen Aufgabenbereich anging legte ich nämlich schon am ersten Tag einen für alle Anwesenden absolut unvergesslichen Abgang hin, an den ich noch immer nicht gern zurückdachte. Als ich die anderen beim Absolvieren der Übungen beobachtete hatte ich lediglich ein leicht mulmiges Gefühl, aber obwohl es sich bei dem vom Ausbilder genutzten Messer lediglich um eine echt aussehende Attrappe handelte, die mir mit ihrer biegsamen Klinge nicht mal theoretisch hätte wirklich gefährlich werden können, triggerte allein der Anblick als er damit auf mich zukam meinen Kopf so sehr, dass mich eine Panikattacke gefühlt komplett dahinraffte. Meine Brust schnürte sich zu und ich bekam keine Luft mehr, während die Flashbacks auf dem Stuhl in den Hügeln mich förmlich unter sich begruben. Es folgte also ein regelrechtes Drama mit Notarzt und allem drum und dran, für das ich mich im Unterricht noch immer am liebsten verstecken würde. Ich konnte wohl von Glück reden, dass der Ausbilder selbst auch zwei Jahre bei der Armee verbracht hatte, weil er das Ganze so ein Stück weit besser nachvollziehen konnte und mich andernfalls sehr sicher unverzüglich aus dem Kurs geschmissen hätte. Denn er rang nach diesem Zwischenfall sichtlich mit sich und wäre ich nicht so wahnsinnig überzeugend mit Worten, wenn ich es wollte, wäre es das wohl schon gewesen. Einfach weil es fahrlässig wäre mich nur mit Ach und Krach durch diese Prüfung zu ziehen, wo ich doch irgendwann auf genau dieser Grundlage andere Menschen beschützen sollte. Weil er mich aber unmöglich weiterhin mit den Anderen betreuen konnte, einigten wir uns auf gesonderten Unterricht, der mich fast das Doppelte kosten würde. Allein schon deshalb, weil sich seine Arbeitszeit dadurch verlängerte und sich alles unfassbar in die Länge zog, weil ich mir mit der Angstbewältigung schwer tat. Das Alles aber einfach hinzuschmeißen kam für mich nicht in Frage, also sollte es mir das wert sein. Wie ich Faye das Alles erklärte? Ungefähr gar nicht. Ich hatte bisher noch nicht einmal die Panikattacke mit einem einzigen Wort erwähnt. Hatte mein späteres nach Hause kommen an diesem Tag - bis der Notarzt mich freiwillig hatte Autofahren lassen, war eine Weile vergangen - einfach damit begründet, dass es mir kreislauftechnisch nicht gut ging und ich mir wohl den Magen verstimmt hatte. Ich deshalb nach dem Training mit dem Losfahren lieber ein paar Minuten gewartet hatte, bis es mir ein bisschen besser gegangen war. Ich blieb nach dem erneuten, kleinen Trauma mit jenem Alibi auch ein paar Tage lang der Schulung fern, um innerlich wieder etwas zur Ruhe kommen zu können. Das gewissermaßen zu faken war nicht besonders schwer, weil ich wirklich schlecht schlief und tatsächlich entsprechend kaputt war, wenig Appetit hatte - nur der Grund war halt eigentlich ein anderer. Seit dem unschönen Flashback waren inzwischen schon drei Wochen vergangen und trotzdem hatte ich meiner Freundin noch immer nichts davon gesagt. Gerade jetzt, wo sie selbst wieder zu arbeiten angefangen hatte, wollte ich sie dabei nicht ins Straucheln bringen, weil sie sich doch sicher gleich wieder Sorgen um mich machen würde. Zu schweigen war nur eigentlich auch keine Lösung, weil es ihr früher oder später auffallen würde, dass ich länger als nur das angepeilte halbe Jahr für die Weiterbildung brauchen würde. Ich wusste nur einfach nicht, wie ich ihr das schonend genug beibringen sollte und so war es wie so oft in den letzten Tagen auch schon wieder genau das, worüber ich mir gerade beim Lernen des Theoriestoffs den Kopf zerbrach, als es plötzlich an der Tür klingelte. Ich hob den Kopf von dem Papierkram auf dem Schreibtisch im kleinen Arbeitszimmer mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck an und hielt kurz inne, stand dann aber doch auf und ging zur Tür. Als ich mich an der Sprechanlage nahe der Wohnungstür bediente stellte sich schnell heraus, dass es sich um Aryana handelte und da zögerte ich natürlich nicht damit, ihr mittels Knopfdruck die untere Haustür aufzumachen. Ich wartete an der Wohnungstür im ersten Stock geduldig auf Fayes ältere Schwester und begrüßte sie dort mit einem "Hey.", einem schwachen Lächeln und einer kurzen Umarmung. "Was führt dich her? Faye ist noch arbeiten.", setzte ich die junge Frau darüber in Kenntnis, dass ihre Schwestern gerade nicht Zuhause war. Mir war kein für heute angekündigter Besuch mehr präsent, demnach schien Aryana sich eher recht spontan dazu entschlossen zu haben vorbeizuschauen.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Und es schien tatsächlich jemand zuhause zu sein - das nannte man wohl mal wieder Glück ihrerseits..! Victor klang zwar etwas überrascht oder verwirrt, als sie seine Stimme über die Sprechanlage vernahm, wobei sie da aber ziemlich schnell wieder in Ordnung brachte, als sie sich selbst zu Wort meldete. Gleich darauf ging auch die Tür auf und sie stieg zügig die Treppen hoch in den ersten Stock, wo sie den jungen Mann auch schon in der Tür erblickte und begrüsste. "Hey, Victor", grüsste sie, als wäre es das Normalste der Welt, dass sie sich mit ihm traf, ohne, dass dabei ihre kleine Schwester irgendwo daneben stand. Dass diese offensichtlich nicht anwesend war, lag auf der Hand, weil sonst eher nicht ihr Freund in der Tür stehen würde. Es sei denn, sie stand unter der Dusche oder so, natürlich. Was aber nicht der Fall war, wie Victor Aryana im Anschluss aufklärte. Die Brünette zuckte leicht mit den Schultern. "Ich hatte für einmal nicht vor, den Abend alleine zu Hause zu verbringen, schätze ich... Aber wenn du keine Zeit hast oder dir nicht danach ist, kannst du's natürlich sagen - dann such ich mir ein anderes Opfer", meinte sie mit leicht sarkastischem Unterton, auch wenn sie zumindest die ersten zwei Drittel ihrer Worte wirklich ernst meinte. Sie wollte ihn auch nicht belästigen und es war immerhin gut möglich, dass er seinen Abend alleine geniessen oder sogar noch weggehen wollte. Sie wusste noch ziemlich schlecht Bescheid über die Schichten ihrer Schwester, hatte also keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis diese wieder hier eintrudelte - sprich, wie lange Victor mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre. Aryana hatte den Kopf leicht schief gelegt und blickte Victor abwartend an. Wenn sie so darüber nachdachte, hatte sie echt noch so gut wie gar nie nur mit ihm allein, also unter vier Augen, gesprochen. Da war eigentlich immer Faye dabei gewesen. Und das war auch nicht schlimm, führte aber eben dazu, dass sie den jungen Mann vor sich noch immer mehr schlecht als recht kannte. Sie kannte mittlerweile zumindest grob seine Geschichte, wusste Bescheid über das, was ihn zum ersten Mal von der Army zurück nach Hause befördert hatte. Sie wusste ungefähr, warum er dann doch wieder eingetreten war und beim Rest war sie mehr oder weniger als Zuschauerin dabei gewesen. Aber so richtig unterhalten hatten sie beide sich noch fast nie. Also warum nicht jetzt? Sie hatte den ganzen Tag allein im Auto gesessen, ein Bisschen zwischenmenschliche Interaktion würde sie also sicherlich ertragen heute Abend. Blieb nur die Frage, ob es ihm gleich ging oder eben nicht. Aryana hob ihre rechte Hand mit der Tüte eines asiatischen Takeaways. "Ich hab auch Abendessen gebracht, falls du Hunger und noch nichts gekocht hast. Und glaub mir, im Takeaway-Shoppen bin ich mittlerweile zum Profi geworden. Da sind Nudeln drin und die sind echt echt gut", erklärte sie fast ein Bisschen stolz darüber, sich zumindest in einem Teil dieses neuen Lebens gut zurecht zu finden. Dass sie nicht kochen konnte, dürfte auch für Victor nichts Neues sein - das wusste jeder. Und hatte bisher auch noch nie jemanden überrascht, der's erfahren hatte. Sie hatte eben andere Qualitäten - wie Einkaufen.
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Auf Aryanas folgende Wort hin schüttelte ich ziemlich bald den Kopf. Wahrscheinlich kam mir gerade jede Form von Ablenkung recht gelegen, weil ich mich ohnehin kaum aufs Lernen konzentrieren konnte und insgesamt nur wenig Lust dazu hatte. Wenn es nach mir ging konnte ich das für heute also auch einfach ganz bleiben lassen, weil sowieso nicht besonders viel dabei rumkommen würde. Solange ich nicht allein war verfiel ich sicher auch weniger leicht in den immer selben Strudel aus Gedanken, also machte ich der Brünetten schon bald mit einer eindeutigen Armbewegung Platz, damit sie reinkommen konnte. "Nein, bleib ruhig hier. Kann mich sowieso nicht wirklich konzentrieren.", ließ ich die ältere Cooper-Schwester auch wörtlich noch wissen, dass sie gerne hier bleiben konnte. Sie hatte ja sogar noch was zu essen in petto und das sprach gleich noch mal mehr dafür, ihr den Eintritt nicht zu verwehren. Es lag mir zwar so oder so ziemlich fern ein Familienmitglied - zu dem war sie durch Faye längst geworden - auf der Türschwelle abzuweisen, aber wäre sie mit dem Asia-Food jetzt nicht hier aufgekreuzt, hätte ich wohl zwangsweise doch noch an den Herd kriechen müssen. Ich hatte nicht wirklich zwei linke Hände was das anging, aber es war eben doch eine ziemlich Umstellung gewesen plötzlich wieder selbst kochen zu müssen. Das letzte Mal, dass ich mich aktiv selbst ein bisschen um meine warmen Mahlzeiten hatte kümmern müssen, war in den schmalen Zeitspannen, in denen ich während meiner letzten Beziehung im Urlaub und damit Zuhause in unserer Wohnung gewesen war. Selbst da hatte ich nicht oft selber am Herd stehen müssen und nach dem ersten Trauma dann auch nicht mehr. Da war die Beziehung kaputt, ich zeitweise in der Klapse und danach wieder überwiegend bei meinen Eltern gewesen, weil ich allein einfach nicht wirklich lebensfähig gewesen war. Na ja. So oder so führte jetzt kaum ein Weg dran vorbei wieder selber zu kochen, wenn ich mich von mehr als Brot oder Salat ernähren wollte und nachdem Faye noch nicht lange wieder zur Arbeit ging, nahm ich ihr das aktuell hier und da auch einfach freiwillig ab, um sie ein bisschen zu entlasten. "Außerdem bin ich auch ganz froh, wenn ich heute nicht mehr kochen muss.", fügte ich mit einem schiefen Grinsen noch ein paar Worte an, nachdem ich die Wohnungstür hinter Aryana geschlossen hatte. "Willst du was trinken?", fragte ich sie beiläufig kurz bevor ich schon zur Hälfte im Küchentürrahmen verschwand, so gerade noch den Blickkontakt weiter halten konnte. Fayes Schwester war öfter hier und kannte die imaginäre Getränkekarte dieses Haushalts inzwischen sicher in- und auswendig. Ich würde mir selbst wohl ein einziges Bier zum genießen genehmigen und danach wie gewohnt wieder auf Wasser umsteigen. Ich trank nur selten mal mehr als eins und das auch nur, wenn ich nicht allein war. Ich verstand mich ziemlich gut mit einem unserer Nachbarn und manchmal kam er zum Football schauen vorbei. Dabei hatte ich dann nicht wirklich einen Grund zu grübeln und dann waren auch mal zwei oder gar drei Bier ziemlich unbedenklich. Wenn ich allein war oder keine richtig aktive Quelle zum gut gelaunt sein vorhanden war, war das hingegen eher etwas riskant. Meine Stimmung kippte schnell wenn es auch nur zwei Schlucke zu viel waren, also hielt ich das Nervengift gerne sehr strikt in Grenzen und trank lediglich ab und an mal ein einziges Bier, weil ich den Geschmack gerne mochte. Mir reichte der letzte Nervenzusammenbruch schon, ich würde also ganz bestimmt nicht mehr als nötig Anreize für einen weiteren setzen.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Victor war ziemlich zügig damit, ihre Befürchtungen aus dem Weg zu räumen und ihr stattdessen Einlass in sein hübsches kleines Zuhause zu gewähren. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Wohnung sah das hier doch deutlich mehr wirklich nach einem Zuhause aus. Was wohl, wie sie in der Zwischenzeit doch gut herausgespürt hatte, hauptsächlich am starken Drang ihrer Schwester lag, endlich wieder einen Ort zu schaffen, der sich nach Geborgenheit und Entspannung anfühlte. Aber bei Faye erfüllte sich eben auch die Grundvoraussetzung, sich jemals überhaupt wieder irgendwo so zu fühlen, als würde sie dort hin gehören. Sie hatte mit Victor ihr ganzes Herz in diesem Zuhause. Sie war gerne hier. Aryana war sich nicht ganz sicher, ob das auf sie auch so zutraf. Natürlich wollte sie wirklich nicht zurück nach Syrien, hatte den Krieg schon viel zu lange erlebt. Aber ob sich Amerika jemals wieder wie Heimat anfühlen würde - das wagte sie doch stark zu bezweifeln. Erst recht, solange sie alleine in ihrer Wohnung sass. Das Apartment war nicht hässlich eingerichtet, erfüllte ihre wählerischen Ansprüche durchaus. Doch letztendlich würde es sich wohl nie wie Zuhause anfühlen, bis eine gewisse Person sich endlich neben sie aufs Sofa kuschelte, neben ihr im Bett lag, neben ihr am Esstisch sass - oder schlimmstenfalls sogar neben ihr am Herd stand, falls es je dazu kommen sollte. Aber gut, das war nun wirklich nicht Victors Schuld, weshalb sie beschloss, den immer wiederkehrenden Trübsal über ihre beschissene Beziehungslage besser auf später zu verschieben. "Warst du am Lernen?", fragte sie aus reiner Neugier, weil sie den Worten des Dunkelhaarigen genau diese Information entnommen hatte. Aryana schlüpfte aus ihren Schuhen und liess diese am Eingang stehen, bevor sie ihm in die Küche folgte und sich dort umgehend auf einen der Stühle sinken liess. "Wasser ist gut, danke", war ihre einfache Antwort auf die Frage nach dem Trinken. Sie konsumierte sehr selten irgendwelche Süssgetränke und Bier mochte sie nicht. Mit Kaffee und Tee musste sie sich auch erst anfreunden, wobei Kaffee mittlerweile doch zu einem Bestandteil ihrer Morgenroutine geworden war. Aber eben - morgens, nicht jetzt. Die junge Frau tischte derweil das Essen aus der Tüte auf den Tisch. Waren natürlich drei Portionen, da sie davon ausgegangen war, dass Faye auch anwesend wäre. Aber die Nudeln liessen sich auch prima später oder auch Morgen nochmal aufwärmen, je nach Schicht und Hunger ihrer Schwester. "Und wie gehts dir sonst so? Schon ein Bisschen eingelebt?", fragte sie beiläufig weiter, warf Victor einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder auf das Essen konzentrierte. Sie erhob sich im Anschluss aber doch nochmal, um sich Besteck aus der entsprechenden Schublade zu fischen, mit dem sie wohl erfolgreicher gegen die Nudeln kämpfen konnte, als mit blossen Händen. Oder zumindest gesitteter. Sie war ja kein ausgehungertes syrisches Kriegskind, das sich auf alles stürzen musste, was halbwegs essbar aussah, weil durchaus die Gefahr bestand, dass es danach wieder drei Tage überhaupt nichts zwischen die Zähne kriegte. Zum Glück nicht. Sonst würde sie kaum ziemlich entspannt in dieser modernen Küche sitzen und sich neben dem Essen auch noch bestens auf den jungen Mann konzentrieren können, dem sie hier gerade Gesellschaft leistete.
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Ich war vermutlich mehr nur am nachdenken, als am lernen, wenn ich das Ganze nüchtern betrachtete. Trotzdem nickte ich auf Aryanas Frage hin gut sichtbar. "Ich hab's versucht, ja. Ist aber irgendwie nicht so mein Tag heute.", meinte ich und grinste schief. Im Grunde war schon seit knapp drei Wochen nicht so mein Tag und vor allem Faye müsste wohl auch blind sein, um nicht zu merken, dass irgendwas im Argen war. Mehr als nachfragen konnte die zierliche Brünette aber eher nicht und wenn ich den Mund halt nicht aufmachte, dann kam sie damit absolut nicht weit. Meine eigene Doppelmoral bei der ganzen Geschichte war wirklich erste Sahne - ich hatte mich gedanklich so oft schon darüber beschwert, dass meine bessere Hälfte mir hier und da einfach nicht sagte, was ihr eigentlich genau auf dem Herzen lag oder wie ich ihr helfen konnte, machte jetzt aber genau das Gleiche. Total bescheuert, aber ich war selbst wohl schlichtweg auch nicht perfekt. Jedenfalls nahm ich meinem Gast eine der kleineren Wasserflaschen mit aus dem Kühlschrank, ehe ich für mich selbst nach einer der beiden Bierflaschen griff und die Tür im Anschluss wieder zumachte. Ich stellte die beiden Flaschen schon mal auf den Tisch, bevor ich mich noch einmal abwendete um Aryana ein Glas aus einem der Hängeschränke und mir Besteck aus der Schublade, sowie einen Flaschenöffner mitzunehmen. Danach nahm ich gegenüber der jungen Frau Platz und schob ihr das Glas zu, öffnete dann die Bierflasche und legte den Deckel umgedreht bei Seite, während ich noch überlegte, was ich jetzt am besten auf ihre zweite Frage antworten sollte. Es ging mir nicht wirklich schlecht - zumindest nicht, solange der Ausbilder mich nicht gerade mit potenzielle Traumata hervorrufenden Gegenständen unter Druck setzte -, aber gut halt auch nicht. Deshalb folgte ein schwaches Schulterzucken, als ich die Nudelbox öffnete, die Aryana schon zu meinem Platz rübergeschoben hatte. "Ganz okay, denke ich. Ich bin einfach nur froh, dass der ganze Umzug jetzt vorbei ist...", murmelte ich so ein bisschen vor mich her, fügte dann ein paar Sekunden später aber noch ein paar mehr Worte an. "Hin und wieder taucht zwar nochmal irgendwo ein Deko-Gegenstand auf, der vorher nicht da war, aber ich weiß auch nicht, ob sich Fayes Motivation was das angeht überhaupt irgendwann legt.", sagte ich etwas sarkastisch, wobei ich aber doch unwillkürlich zu lächeln anfing. Ich selbst machte mir aus Deko wohl einfach nicht so viel, merkte aber durchaus, dass ich es an manchen Stellen in der Wohnung sehr wohl begrüßte, weil es der Einrichtung irgendwie... keine Ahnung, den finalen Touch verlieh oder sowas. Es ein bisschen wohnlicher und weniger kühl machte, weshalb ich meine Freundin was das anging auch einfach machen ließ. Solange ich mich noch frei hier drin bewegen konnte und mir nicht aus allen Richtungen Dekozeug entgegenflog, hatte ich absolut nichts dagegen. "Und wie ist es bei dir? Mit dem Job und der Wohnung noch zufrieden?", stellte ich ihr kurz darauf eine entsprechende Gegenfrage, um erst einmal noch nicht allzu viel über mich reden zu müssen. Auch, wenn ich bei der älteren Cooper-Schwester eher keinen Nervenzusammenbruch fürchten muss, nur weil ich ihr gestand, dass es ja doch eher weniger rund lief und das Faible ihrer jüngeren Schwester für ein bisschen Deko hier und ein bisschen Deko da eher nicht mein einziges Problem war. Ich wollte ihr womöglich einfach nur nicht sofort die Laune verderben, wenn sie schon herkam um ihrem eigenen Trübsal zu entfliehen, indem ich mal eben so nebenbei meinen seelischen Schutt bei ihr ablud. Ich nippte also erst einmal lieber ein bisschen an dem Bier und wünschte Aryana danach noch beiläufig einen guten Appetit, bevor ich schließlich nach meiner Gabel griff und ein paar der Nudeln aufrollte, die in jedem Fall schon gut rochen. Vermutlich schmeckte und duftete aber grundsätzlich sowieso alles besser, was man nicht vorher selbst hatte kochen müssen. Kam mir zumindest nicht selten so vor und die Brünette schien wirklich Meisterin im Futter shoppen geworden zu sein - was das asiatische Angebot im Umkreis anbelangte in jedem Fall, weil ich an den Nudeln nichts zu bemängeln hatte. Deswegen kam auch nach dem Runterschlucken des ersten Bissens noch ein "Die sind wirklich gut." als Lob meinerseits, wobei ich mit der Gabel noch leicht auf die Schachtel deutete, bevor ich sie erneut in die Nudeln senkte.
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Die Brünette interpretierte vorerst nicht zu viel in Victors Worte. Lernen war grundsätzlich eine anstrengende Angelegenheit, für die man schon in Stimmung sein sollte. Also war es ihrer Meinung nach gut möglich, dass er heute einfach Mühe hatte, sich zu konzentrieren oder sich gerade lieber über andere Dinge Gedanken machte. Oder dass er seine optimale Lernstrategie noch nicht hatte evaluieren können, da es dazu manchmal auch etwas Zeit brauchte. Die letzte Ausbildung dürfte bei Victor immerhin auch schon eine ganze Weile her sein, also war das ein Umfeld, an das sich der junge Mann sicherlich erst einmal wieder gewöhnen musste. So zuckte sie lediglich lächelnd mit den Schultern, schob ein nicht zu schweres: "Gibts mal... Vielleicht gehts ja morgen wieder", nach, während sie sich im Anschluss ans Öffnen der Wasserflasche machte und mit deren Inhalt ihr Glas füllte. Die Sache mit dem Umzug hingegen konnte sie bestens nachvollziehen, weshalb sie sofort verständnisvoll nickte. Bei ihm und Faye war das ja noch anstrengender gewesen als bei Aryana selbst, weil hier ja zwei, drei Sachen nicht so reibungslos geklappt hatten, wie man es sich eben wünschte. Das brauchte immer viel zu viele Nerven, die in solchen Momenten einfach keiner hatte. "Das glaub ich dir sofort. Ich hoffe, dass ihr euch jetzt wenigstens richtig gut einlebt und zuhause fühlt, sodass sich der ganze Stress auch wirklich gelohnt hat", meinte sie zu diesem Thema, blickte sich dabei beiläufig in der geräumigen Küche um. Die war nämlich wirklich schön geworden, jetzt wo sie endlich fertig war. Nicht so schön, dass sie hier drin kochen könnte, aber das hatte leider auch wenig mit der Qualität und dem Aussehen der Küche zu tun. Sie lächelte in sich hinein, als Victor das Deko-Flair ihrer Schwester erwähnte. "Ich bezweifle, dass Faye jemals genug Deko-Sachen besitzen wird, Victor... Du hättest sie sehen sollen, als sie ihre erste WG eingerichtet hat", erzählte sie mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme. Aber vielleicht war das ja auch gut, dann hatte zumindest ihre kleine Schwester etwas, das sie ablenkte, wenn sie mal nicht ganz auf der Höhe war. Und das kam bestimmt noch immer oft genug vor, egal wie gut jegliche Psychotherapie mittlerweile gefruchtet hatte. Tja und dann kam da auch die Gegenfrage, bei der Aryana vorerst noch etwas gedankenverloren in ihrem Essen herumstocherte, hin und wieder ein paar Nudeln zwischen die Zähne schob. "Naja... Es läuft alles wies sollte, schätze ich. Ich sollte wohl langsam damit anfangen, mich nach einem ernsthafteren, etwas zukunftsorientierterem Job umzusehen. Das Fahren geht zwar ganz gut, aber es war ja von Beginn weg eher als Zwischenlösung gedacht... Aber um ehrlich zu sein bin ich noch nicht viel weiter mit der Neuorientierung. Es scheint fast so, als würde ich einfach - je länger ich mich umsehe - umso mehr Dinge entdecken, auf die ich ganz bestimmt keine Lust habe", fasste sie ihr kleines Dilemma zusammen, das noch immer ziemlich bodenlos wirkte. Sie hatte noch nicht jegliche Hoffnung verloren, so war es nicht. Aber es fehlte auf jeden Fall deutlich an Elan und Antrieb bei der Jobsuche. Sie schaffte es einfach nicht, sich wirklich darauf zu konzentrieren, wenn ihre Gedanken und ihr Leben sich immer wieder an einem unerreichbaren Menschen in einer viel zu gut gesicherten Anstalt orientierten. Aber das würde sie nicht zugeben, denn sie wollte nicht, dass überhaupt irgendwer den Verdacht aufstellte, dass die Beziehung zu Mitch sie kaputt machte. Niemand sollte das denken und noch weniger sollte irgendwer versuchen, ihr diesbezüglich einen Rat geben zu wollen. Da war sie wohl immun gegen jegliche Hilfsangebote und gut gemeinten Tipps. Victors Lob an ihre selbstgekauften Nudeln liess ihre zwischenzeitlich etwas abgesunkenen Mundwinkel wieder leicht nach oben zucken. "Ja, nicht? Darfst dich gerne bei mir melden, wenn du Fragen zum lokalen Fertig-Food-Angebot hast", grinste sie ihm zu, während auch sie das Essen genoss.
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Ich nickte auf Aryanas Antwort bezüglich der Lernerei nur ein klein wenig und zuckte parallel dazu mit den Schultern, ließ die Augen auf die Nudeln gerichtet. Mir selbst war es eben kein Geheimnis, dass es voraussichtlich eher nicht morgen wieder gehen würde, aber ich zierte mich noch ein wenig davor das Gespräch dahingehend zu vertiefen. Da konzentrierte ich mich lieber auf den Gedanken daran, dass Faye vor ein paar Jahren ihre in diesem Fall womöglich bemitleidenswerten WG-Mitbewohner förmlich mit Dekorationen erschlagen hatte. Die Vorstellung vor meinem inneren Auge ließ mich auch tatsächlich einen kurzen Moment lang grinsen. "Doch, wir fühlen uns hier jetzt schon ganz wohl... ist auch nicht schlecht, dass unsere Nachbarschaft nicht nur aus alten Grannys und verbitterten Ehepaaren besteht. Sind auch ein paar junge Leute dabei, ist ganz angenehm. Wobei die Nachbarn bisher sowieso allgemein sehr unkompliziert sind.", ließ ich die junge Frau gegenüber noch um eine Randinformation wissen, die sie vielleicht nicht so brennend interessieren würde, aber einfach das Gespräche ein bisschen am Laufen hielt. Ich würde zwar nicht behaupten, dass ich zu irgendeinem der Nachbarn schon sowas wie eine innige Freundschaft pflegte, aber es gab ein paar mit denen ich mich wirklich gut verstand und es ließ sich mit der Zeit sicherlich ein brauchbares soziales Netzwerk daraus aufbauen, das man für eine gesunde Psyche mehr oder weniger brauchte. Natürlich hatte ich Faye jeden Tag um mich, aber eine einzige Bezugsperson reichte eben nicht wirklich. Ich merkte das ja schon allein anhand der Tatsache, dass ich irgendwie Niemanden hatte, mit dem ich meine Probleme ganz offen hätte teilen können, ohne dass er mich danach für wahnsinnig abstempelte, nur weil er oder sie mich noch nicht gut genug kannte. "Ich hoffe dann wohl einfach mal, dass ich nicht irgendwann in Deko ersticke. Oder dass unser Abstellraum im Keller nicht irgendwann nur noch dafür herhalten muss das Zeug unterzubringen.", hängte ich mit einem belustigten Kopfschütteln eine weitere sarkastische Bemerkung an, bevor ich mir die nächste Gabel voll Nudeln in den Mund schob. Beim Kauen schenkte ich Aryana dann wieder vollends mein Gehör, während sie mir recht eindeutig schilderte, dass sie im Grunde gar nicht wirklich wusste wohin mit sich - zumindest was die ganze Jobsache und die Berufswahl eben anging. In diesem Bereich konnte ich sie allerdings ganz gut verstehen. Nicht nur, weil ich selbst eben auch bei der Army gewesen war und wusste, wie schwer ein Zurück-Einstieg ins normale Leben war, sondern auch, weil ich ehrlich nicht sagen konnte ob ich mir jetzt schon so sicher damit wäre, womit ich mein restliches Leben lang Geld verdienen wollte, wenn Faye mich nicht mehr nur zufällig damals in diese Richtung geschubst, mich auf diese Idee gebracht hatte. Zwar war ich mir inzwischen leider nicht mehr sicher damit, ob ich das tatsächlich auch so hinbekam, wie ich es mir vorstellte, aber wollen tat ich das noch immer. Erstens weil ich halt nicht gerne aufgab, zweitens weil ich Faye nicht enttäuschen wollte und drittens, weil ich bisher noch keine neuen Optionen gefunden - aber auch gar nicht danach gesucht - hatte. Ich wollte gerne weiterhin für den Schutz anderer Leute stehen, nur eben in weniger gefährlichen Ausmaß als auf einem Schlachtfeld. Es wurde wohl wirklich Zeit, dass einer der Plätze auf der Warteliste bei einem neuen Seelenklempner für mich frei wurde. Nicht, weil ich wirklich Lust darauf hatte, sondern weil ich nicht wusste, wer mir sonst Tipps dafür geben sollte mein Trauma erfolgreich in die Flucht zu jagen. "Ja, kann ich verstehen... die Umstellung ist auch wirklich hart." Nur war es ein bisschen leichter, wenn man dabei wenigstens nicht ganz allein war, weil die bessere Hälfte mit beiden Beinen im Knast stand. Jedenfalls war es so oder so deutlich leichter sich einfach in der Armee Befehle geben zu lassen, als sich selbst einen neuen Weg fürs Leben zu suchen. "Steiger dich da nicht zu sehr rein. In der Luft zu hängen ist zwar blöd, aber wenn du dir selbst Druck machst wird's glaub ich nicht unbedingt leichter.", redete ich so vor mich her, zuckte erneut ein bisschen die Schultern. Vielleicht sollte sie im Idealfall nicht erst mit 40 anfangen sich einen richtigen Job zu suchen, aber sie war erst 25 und brauchte sich da eigentlich noch nicht aktiv Druck zu machen, wenn sie anderweitig finanziell klar kam und keine Schwierigkeiten hatte. Man sagte ja immer unverhofft kommt oft und womöglich flog Aryana irgendwann zufällig ein zündender Gedanken dazu ein, wo sie beruflich hinwollte, weil die Umwelt ihr dafür irgendwelche Reizte gab. "Gott, ich klinge schon wie meine Therapeuten.", stellte ich ironisch mit einem Seufzen fest und aß dann lieber noch ein bisschen mehr von den Nudeln, bevor ich gedanklich noch weitere Parallelen zwischen mir und den Seelenklempnern aufstellte. Als die Schachtel dann kaum mehr essbaren Inhalt aufwies fiel mein Blick auf einen der geöffneten Briefe, die vorgestern schon mit der Post gekommen waren und bisher einfach noch nicht ihren Weg zum Schreibtisch gefunden hatten. Deswegen kam mir ein anderer Gedanke, den ich veräußerlichen wollte. "Wie... geht's Mitch eigentlich?", hakte ich nach noch bevor mir klar wurde, dass das eine unter Umständen sehr unsensible Frage war. Deswegen folgten auch zeitnah noch ein paar ergänzende Worte. "Du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst. Es ist nur... aus den Briefen, die er zurückschickt, lässt sich nicht wirklich was lesen.", murmelte ich, senkte den Blick dann zurück auf die restlichen paar Nudeln. Ich versuchte ihm relativ regelmäßig einen Brief zu schicken, seitdem Aryana Faye und mich damals nach ihrem ersten Besuch im Gefängnis darum gebeten hatte. Manchmal ergänzte Faye auch den einen oder anderen Satz, aber das meiste blieb dahingehend wohl an mir hängen - was nicht schlimm war. Natürlich machte auch der Inhalt der Briefe, die von Mitch zurückkamen, durchweg Sinn und es war kein wild zusammengewürfelter Kram, aber es ließ sich aus den Zeilen heraus schlecht identifizieren, wie es ihm wirklich ging. Es war nicht so als wäre ich eng mit Mitch befreundet, aber ich kannte den Tätowierten inzwischen wohl doch gut genug um zu wissen, dass er es mit seinem zeitweise tonnenschweren Ego sicherlich in jedem Fall herunterspielen wollen würde, wenn es ihm nicht gut ging. Außerdem war die Brünette hier am Tisch sicher ohnehin die einzige Person, der er sich freiwillig wirklich öffnete.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Da folgte schon wieder ein grundlegender Unterschied zwischen Victor und Aryana. Sie hatte keine Ahnung, aus was für Menschen ihre Nachbarschaft bestand. Hatte sich auch nie gross vorgestellt, als sie eingezogen war. Klar, das waren fast alles Amerikaner, die sehr wohl dafür bekannt waren, sich dauernd irgendwelche viel zu fröhlichen Smalltalk-Gespräche aus den Fingern zu saugen - aber Aryana hatte bei den ersten paar davon wohl nicht unbedingt den Eindruck erweckt, besonders viel Lust auf weitere Unterhaltungen zu haben. Und darum hatte sie jetzt auch gut ihre Ruhe, womit sie sehr zufrieden war. Von ihr aus könnte ihre Nachbarschaft folglich gerne nur aus Omis und Opis bestehen, die bis auf die übertriebene Lautstärke ihres Fernsehers, von dem sie trotzdem nicht mehr viel mitbekamen, kaum Ärger machten. Und ab und zu hinter ihren Vorgängen nach draussen linsten, um sie beim Einparken zu beobachten oder so. Da sie so ein tödlich langweiliges Leben führte, war ihr das eigentlich auch egal. Aber gut. Sie nickte trotzdem auf Victors Worte, als würde sie seine Zufriedenheit zu diesem Aspekt seiner Wohnsituation bestens nachvollziehen können. "Das freut mich zu hören", fügte sie noch lächelnd an, wobei das auch tatsächlich der Wahrheit entsprach. Bloss weil es ihr persönlich am Arsch vorbei ging, wer hinter den anderen Wohnungstüren ihrer Nachbarschaft steckte, hiess das ja nicht, dass sie sich nicht freuen konnte, wenn das Ganze bei Victor etwas anders aussah. Faye's kleine Deko-Sucht liess auch Aryanas Lächeln noch etwas breiter werden und sie zuckte mit den Schultern. Würde wohl nur die Zeit zeigen, wie viel Geld und Raum ihre kleine Schwester noch in das Aussehen ihrer Wohnung und die damit verbundenen Gegenstände investieren würde. Genau wie es auch erst die Zukunft offenlegen würde, ob sie selbst jemals einen Job finden würde, der ihr wirklich passte. So nahm sie die Worte ihres Gesprächspartner diesbezüglich auch eher schweigend entgegen, lächelte erst dann wieder, als er die Ähnlichkeit seiner Phrasen mit denen seiner Therapeuten verglich. "Ach, kein Problem - dann brauch ich wenigstens niemals Geld für einen Seelenklempner auszugeben solange ich euch beide habe", meinte sie sarkastisch, legte damit das Thema ihrer Jobwahl auch ganz dezent wieder beiseite. Dass Victor und Faye ihre Erfahrungen der Psychotherapie gerne mit Aryana teilen durften, wäre an sich vielleicht ja auch keine schlechte Idee. Immerhin wurde bei so ziemlich allen, die den Krieg mit eigenen Augen gesehen hatten, im Anschluss daran irgendwann ein leichter bis schwerer psychischer Schaden festgestellt. Es wäre auch gelogen, wenn die Brünette das nicht längst selbst festgestellt hätte. Ihr war durchaus bewusst, dass ihre Schreckhaftigkeit und die dauerhafte Vorsicht eher nicht ganz normal waren und möglicherweise Folgen der zu hohen Belastung und ständiger Wachsamkeit sein konnten. Und da war auch noch mehr - wie klassischerweise eine Tonne Alpträume. Oder die eine lustige und ganz spontane Panikattacke im Supermarkt von vor zwei Wochen - ausgelöst durch einen Mann, dem zwei Dosen Erbsen zu Boden gefallen waren. Aber gut, solange sie glaubte, alleine klar zu kommen, würde sie ganz bestimmt nicht professionelle Hilfe suchen. Lief also eigentlich wie mit allem anderen in ihrem Leben, seit ihre Eltern gestorben waren. Oder ihr Bruder, der ihr immerhin zwischendurch noch ein Bisschen Vernunft hatte einreden können. Der war aber mittlerweile auch tot. Ein grosses Danke an dieser Stelle an ganz Syrien. Auch Aryana widmete sich die nächsten Minuten über vorerst ganz ihren Nudeln, die warm auch einfach besser schmeckten als später, wenn sie schon komplett abgekühlt sein würden. Bis Victor sie kurz vor dem Ausessen ihrer Schale mit einer Frage wieder aufschauen liess. Ihr Blick wanderte allerdings doch noch einmal zu ihren Nudeln und sie zuckte nur mit den Schultern, während sie die Reste aus der Takeaway-Box kratzte. Sie legte die Gabel in die Box und schob alles zur Seite, bevor sie schliesslich zu einer Antwort ansetzte. "Die Briefe werden alle gelesen, bevor sie abgeschickt werden... Möglicherweise fällt es ihm darum etwas schwer, darin zu viel zu erzählen", erklärte sie, wobei Victor das vielleicht auch schon selber hatte erahnen können. Grundsätzlich wurde alles angeschaut, gefiltert, belauscht, gelesen, durchleuchtet, was diese Mauern passierte. Und zwar auf allen Wegen, rein und raus. Privatsphäre war eben einfach kein Thema. Nicht einmal im Besucherraum, wenn man ehrlich war. Da am allerwenigsten, während man die ganze Zeit beobachtet wurde und jedes Fehlverhalten mit sofortigem Einschreiten und Mahnungen bestraft wurde. "Es geht ihm... nicht ganz beschissen, denk ich..? Schwierig zu sagen. Halt eben so, wie es einem wohl geht, wenn man die ganze Zeit überwacht und doch ignoriert wird...", setzte sie zu einer eher schwammigen Erklärung an. Sie kannte keine korrekte Antwort auf eine solche Frage und bei Mitch war das sowieso noch viel komplizierter. "Er freut sich über jeden Kontakt zur Aussenwelt, auch über eure Briefe. Er erzählt mir jedes Mal - oder ich denke jedenfalls, dass es jedes Mal ist - wenn er etwas erhalten hat. Aber ich glaube einfach, da wo er ist, ist er überhaupt nicht gut aufgehoben...", fuhr sie etwas zögernd fort. War ja irgendwie klar, dass sie diese Meinung vertrat. Egal in welchem Gefängnis er sass, es war schlecht für ihn. Aber dieses war trotzdem sogar mindestens extraschlecht... "Ich bin mir nur noch nicht sicher, wie ich ihn schneller wieder rauskriege. Aber ich arbeite daran", wahrscheinlich reichten diese Bemühungen zwar höchstens dafür aus, um in Victor ein kleines Bisschen Mitleid für das naive Mädchen zu wecken, welches noch immer daran festhielt, dass es seinen Prinzen befreien konnte, aber gut. Sie wollte nur mal wieder gesagt haben, dass sie noch nicht aufgegeben hatte. Auch wenn sie weiterhin Welten von einer Lösung entfernt war.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
So konnte man das natürlich auch sehen. Allerdings hoffte ich eher nicht, dass Aryana sich wirklich in einem Zustand befand, in dem eine Therapie aktiv notwendig war. Natürlich hatte jeder Soldat - oder Sergeant - so seinen eigenen Knacks weg, davon wurde ziemlich sicher Niemand verschont. Es gab schlicht keinen gesunden Menschenverstand, den es nicht aus der Bahn werfen würde, wenn er häufiger mal unschön Leute sterben sah oder dabei helfen musste die Leichen zu bergen. Es gab sicher auch kaum Jemanden, der nach mehreren Jahren bei der Armee noch nie von einer Kugel erwischt wurde. Aber jetzt, wo ich so darüber nachdachte, dass Fayes ältere Schwester sich wahrscheinlich die meisten Tage über ausschließlich mit sich selbst oder hin und wieder eben mal mit Mitch beschäftigte - als könnte man die Besuche wirklich so umschreiben -, war das doch fast ein bisschen besorgniserregend. Natürlich war die Brünette hier am Tisch nicht so ein extrem sozial veranlagter Mensch wie ich selbst, aber ob so viel allein zu sein wirklich gesund sein konnte? Für mich nur schwer vorstellbar. Was die Sache mit der Seelenklempnerei anging zuckte ich also ein bisschen mit den Schultern und nickte aber gleichzeitig schwach, weil die eher wenig erfreulichen Gedanken in meinem Kopf sich so schnell nicht zu verflüchtigen vermochten. Dann wanderte auch die letzte Gabel voll Nudeln in meinen Mund und ich ließ das Besteck in der Box zurück, als ich sie ein klein wenig bei Seite schob und dann nach einer der mitgelieferten Servietten griff, um mir flüchtig den Mund damit abzuwischen. Noch dabei begann Aryana mir meine Frage nach unserem Lieblingshäftling zu beantworten und natürlich war die auch eher wenig von Hoffnung getränkt. Ich erwiderte ein kurzes "Ja, ich weiß, das macht's natürlich allgemein schwierig..." auf die Sache mit dem Filzen sämtlicher Briefe und seufzte leise. Ich wusste schon, dass in den Knast wohl nichts rein und auch nichts dort raus kam, das nicht vorher gründlich unter die Lupe genommen wurde. Auch, wenn er mir keine Drogen oder andere Geschenke aus dem Gefängnis zukommen lassen würde, würde es ihn sicherlich eher in Schwierigkeiten bringen, wenn er sich mittels Schrift über Irgendetwas beschwerte. Oder sich irgendwie psychisch verwundbar zeigte, was sicherlich auch ein Gespräch nach sich ziehen würde. Es war nur einfach schade. Ich wüsste wirklich gerne wie es dem Kerl ging, der mich auf Biegen und Brechen aus den Hügeln geschleppt hatte. Ich verdankte ihm noch immer mein Leben und es mochte schon sein, dass er trotzdem schlimme Dinge getan hatte, aber im Gefängnis zu verrotten war als Strafe - aus der man für gewöhnlich lernen und etwas mitnehmen sollte - für ihn meiner Meinung nach einfach ziemlich kontraproduktiv. Damit schmiss man ihn doch in ein Umfeld, dass ihn erst recht dazu animierte sich wieder gegen alles und jeden zu wenden. Falls er also in den elendig langen 25 Jahren nicht ohnehin schon wieder straffällig innerhalb der Mauern wurde und gar nie mehr rauskam, dann verließ er die Zelle sicher kaputter als vorher. Auch Aryana konnte mir auf seinen Gefühlszustand leider nicht wirklich eine Antwort geben und nicht ganz beschissen war wohl genauso wenig erleichternd für mich wie die von Gefühlen befreiten Zeilen in den Briefen. Also nickte ich auch an dieser Stelle etwas nachdenklich vor mich hin und sah dabei überwiegend auf die inzwischen bis auf das Bier leere Tischplatte vor mir. Ich griff nach der Flasche und nahm zwei Schlucke, bevor ich sie wieder abstellte ohne sie loszulassen. Just in dem Moment hängte die junge Frau gegenüber auch noch ein paar mehr Worte an, die mich dazu veranlassten sie nun doch wieder direkt anzusehen und ihr Gesicht kurzzeitig zu mustern. Sie wollte ihn da rauskriegen? Mit einer Aussage in dieser Richtung wirkte sie in meinen Augen gleich noch ein Stück weit einsamer und irgendwie auch etwas verzweifelter. Ich würde ihr wohl niemals dazu raten Mitch aufzugeben, weil ich das bei Faye schlichtweg auch nicht tun würde, aber ihn frühzeitig aus den hohen Mauern rausholen zu wollen war schon... naja, sehr ambitioniert. Ihn auf legalem Weg aus seiner Zelle zu befreien schien mir - gerade bei seiner Strafakte - absolut utopisch, aber ich wollte ihr dahingehend trotzdem nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Das wäre wie ein Schlag ins Gesicht, den sie in ihrer Lage ganz bestimmt nicht gebrauchen konnte. "Ich hoffe wirklich du findest einen Weg... für euch beide.", wandte ich mich mit ein paar ganz anderen, aber ebenso wahren und aufrichtigen Worten an Aryana. Denn ich würde es sowohl Mitch als auch ihr selbst aufrichtig wünschen, wo es ihnen doch zu zweit ohne jeden Zweifel in jedem Fall besser ging als allein. Es reichte schon, dass Faye und ich so kaputt waren, da mussten die beiden nicht auch noch nachziehen. Danach schwieg ich eine kleine Weile, weil ich nicht wirklich wusste, was ich sagen sollte. Es schien mir einfach nicht wirklich sinnvoll zu sein dieses Thema weiter zu vertiefen, weil das kaum für gute Laune seitens Aryana sorgen würde. Sie war wahrscheinlich eher nicht hergekommen, um sich die Laune verderben zu lassen. Aber in eine wirklich unterhaltsame Richtung wollte mein Gehirn jetzt wohl einfach nicht mehr schwenken. Zu großen Teilen hatte ich mir das vermutlich auch selbst zuzuschreiben, hatte ich das Gespräch doch selbst in diese Richtung geschubst. Ich beschloss Aryana nun aber doch mal eine Frage zu stellen, die sie zumindest eher nicht in ihr eigenes Trübsal stürzen würde. Höchstens mich selbst weiter in meins. "Sag mal... gibt es irgendeine gute Methode, um Faye etwas... ganz besonders schonend beizubringen? Ich will nicht, dass sie sich wieder zu viele Gedanken macht, jetzt wo sie grade wieder mit der Arbeit angefangen hat.", schnitt ich das Thema eher gemurmelt an, sah danach auch wieder auf die Flasche runter und drehte sie etwas in meiner Hand. Sie kannte das kleine Nervenbündel einfach schon wesentlich länger als ich und vielleicht hatte sie über die Jahre ja irgendeine ganz besonders effektive Taktik für solche Momente entwickelt. Wäre für mich zumindest von Vorteil, weil ich nach wie vor keinen Schimmer davon hatte, wie ich meiner besseren Hälfte mein Problem anvertrauen sollte, ohne damit die nächste Lawine loszutreten.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Sie konnte sich ziemlich gut vorstellen, was Victor zum Thema ihrer Psyche und ihrem allgemein mangelhaften Sozialverhalten dachte. Und es war gut, dass er diese Gedanken nicht aussprach, denn sie wollte weder darüber reden, noch überhaupt darüber nachdenken. Es gab Dinge, die liessen sich einfacher aushalten oder ignorieren, wenn man sie einfach als gegeben ansah und nicht ständig versuchte, etwas daran zu verbessern oder zu verändern. Aryana war im Moment einfach nicht bereit dazu, sich Freunde zu suchen, sich ein gesundes Umfeld zu schaffen, ihr Leben mit fremden Menschen zu teilen. Sie wollte keine weiteren Stücke ihres Herzens verschenken an Leute, die ihr wieder entzogen wurden. Das hatte sie schon in Syrien nicht tun wollen, nach Julis Tod. Und irgendwann, Jahre später, hatte sie es mit Mitch doch wieder getan. Und jetzt? Richtig, jetzt sass sie hier. War Strenggenommen wieder alleine, weil man ihr die eine Person, die zu lieben sie sich ausgesucht hatte, wieder entrissen hatte. Halt eben alles wie immer, nur dass Mitch wenigstens - dem Himmel oder wem auch immer sei Dank - noch lebte... Also nein, das mit dem Freunde suchen dürfte bei Aryana noch eine ganze lange Zeit in Anspruch nehmen. Falls es überhaupt je kam. Sie war ganz froh, als Victor stattdessen ihre knappe Ausführung bezüglich dem Geisteszustand ihres Freundes kommentierte, sie sich somit sofort wieder auf ein anderes Übel konzentrierte. Dass er sie - milde ausgedrückt - noch nicht ganz überzeugt musterte, als sie ihren noch nicht vorhandenen Plan zur Befreiung ihres Herzblattes erwähnte, war gleich noch ein Grund mehr, sich in dieser Sache endlich zu beeilen. Es war der gleiche Blick, den Mitch ihr schenkte, wenn sie das Thema jeweils flüchtig ansprachen. Sie wusste, dass ihr das wohl keiner wirklich zutraute, es sie eher nur wie eine verzweifelte Witwe wirken liess. Aber das war nicht schlimm, denn sie für ihren Teil hatte den Glauben daran, das zu schaffen, noch überhaupt nicht verloren. Irgendein dämlicher Teil ihres Gehirns war fest davon überzeugt, es zu schaffen und somit jedem, der an ihr gezweifelt hatte, zu beweisen, dass sie ihr Wort halten konnte. War ja nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass keiner ihr wirklich zutrauen wollte, eine Aufgabe, die sie sich selbst auferlegt hatte, zu erfüllen. "Das hoffen wir alle", erwiderte sie also bloss noch, zuckte schwach mit den Schultern, wobei doch wieder ein zartes Lächeln ihre Lippen umspielte. Nur kurz. Sie war noch immer nicht die Art Frau, die den ganzen Tag vor sich einstrahlte. Aber Victor wäre wohl der Letzte, der ihr diesbezüglich etwas vorwerfen würde. Eine Weile schwiegen sie beide und Aryana blickte genau wie der junge Mann auch, auf die Gegenstände auf der Tischplatte runter. Sie hatte sich bisher wirklich selten bis nie mit Victor allein unterhalten - in Syrien hatten Zeit und Gelegenheit dazu gefehlt, in den Krankenhäusern war Faye immer dabeigewesen und in der Psychiatrie selbstredend ebenfalls. War also vielleicht gar nicht schlecht, wenn sie das mal noch nachholten - auch wenn sie für ihren Teil kein besonderes Flair zur Gesprächsführung hatte. Immerhin fielen Victor einen Moment später wieder ein paar Worte zu reden ein. Besser gesagt eine offensichtlich eher unangenehme Frage, die Aryanas Augenbraue langsam nach oben wandern liess. Ihr Blick blieb auch auf dem jungen Mann liegen, während er schon lange wieder auf die Flasche runter schaute. Das war eine dezent schwierige Frage, die er ihr da gestellt hatte... "Naja... ich...", begann sie, setzte aber nochmal eine kurze Pause ein, weil sie gar nicht wirklich wusste, was sie darauf sagen sollte. "Ich bin mir nicht sicher, dass ich die richtige Person für diese Frage bin... Wo ich doch stark dazu tendiere, unangenehme Dinge überhaupt nicht anzusprechen. Ich denke, du kennst sie diesbezüglich sogar besser als ich...", das war wohl nicht die Art von Hilfestellung, die Victor sich gewünscht hatte. Aber viel mehr konnte sie wirklich nicht bieten. Wobei sie gleich darauf doch noch eine ziemlich dringende Anmerkung hatte. "Falls du allerdings denkst, dass das, was du ihr sagen willst, sie wieder zurückwirft... in dem ganzen psychischen Zeug, das die letzten Wochen endlich langsam heilen konnte... dann wäre es vielleicht besser, wenn du noch etwas damit warten könntest", murmelte sie vor sich hin. Natürlich fühlte sie sich schlecht, wenn sie Victor quasi dazu anhielt, etwas vor ihrer Schwester zu verheimlichen. Sie für ihren Teil würde es auch hassen, plötzlich zu erfahren, dass Mitch ihr - aus welchen Gründen auch immer - nicht alles anvertraute. Aber noch weniger als das wollte sie eben, dass Fayes Fortschritte gleich wieder den Bach runter gingen, weil er sie unabsichtlich ins nächste Loch riss. Ihr Blick war zeitweise ebenfalls auf den Tisch abgerutscht, fand nun aber den Weg zurück zu ihm. "Was ist es, worüber sie sich keine Gedanken machen sollte?", fragte sie dann, so direkt, wie sie eben immer war. Sie ging auch heute einfach davon aus, dass Victor ihr sicherlich selber den Riegel vorschieben würde, wenn er keine Lust hatte, irgendein Geheimnis mit ihr zu teilen. Und sie konnte schlecht beurteilen, ob Faye eine Nachricht verkraften würde oder nicht, wenn sie nicht wusste, worum es sich bei dem Problem handelte.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Mitch und das Problem seiner aktuellen Lebensumstände war damit wohl ebenso schnell beigelegt und auch Aryana schien sich mehr oder weniger lieber auf meine Frage zu konzentrieren. Allerdings schien sie eher nicht so recht zu wissen, was sie mir darauf denn nun überhaupt antworten sollte und es dauerte erstmal einen Moment lang, bis sie die passenden Worte gefunden hatte. Ich sah langsam wieder zu der Brünetten auf, aber ihre Worte waren mir nur wenig bis gar keine Hilfe. Sie schien viel mehr die Meinung zu vertreten, dass ich ohnehin wesentlich besser darin war Faye etwas vorsichtig beizubringen, als sie selbst. Ob das so nun der Wahrheit entsprach ließ sich von mir nur schwer beurteilen, mir blieb nur so oder so nicht viel mehr übrig als das mit einem leisen Seufzen so hinzunehmen. "Kann sein.", erwiderte ich auch noch ein paar Worte diesbezüglich, zuckte dabei ein klein wenig mit den durch das regelmäßige Training wieder etwas breiter gewordenen Schultern. Es war eben leider so gar nicht die Art von Antwort, die ich im Idealfall hätte haben wollen. Denn das, was Aryana mir im Anschluss daran noch sagte, war ja genau mein Problem - ich wusste es schlichtweg nicht. An sich wirkte Faye zwar für ihre Verhältnisse aktuell recht stabil, aber nur weil sie nach außen hin momentan ganz gut mit ihrem Alltag klarkam, hieß das eben noch lange nicht, dass sie psychisch gesehen nicht durchaus ein bisschen müde sein konnte. Ich selbst wusste schließlich mit am besten, dass man manchmal ganz gerne Dinge vor der Außenwelt verschwieg, um entweder Niemandem auf die Nerven zu gehen oder eben unangenehme Fragen zu vermeiden, von denen man dachte, dass sie einen nur zusätzlich belasten würden. Das war an sich zwar keine besonders schlaue Taktik, aber es fiel einem im ersten Moment oft deutlich leichter den eigenen Ballast auch für sich zu behalten. "Ja, ich weiß... deswegen schlepp' ich das ja jetzt schon drei Wochen lang mit mir rum. Das letzte, was ich will, ist, dass es Faye wieder schlecht geht.", versicherte ich der älteren Cooper murmelnd, indirekt mit einer knappen Erklärung, dass ich es bisher explizit zu vermeiden versuchte mehr an Faye heranzutragen, als sie vertragen konnte. Es reichte vollkommen aus, wenn es mir damit jetzt wieder deutlich mieser als zum Zeitpunkt der Entlassung ging, da brauchte ich sie nicht auch noch mit runterzuziehen. Es fühlte sich nur einfach so falsch an Geheimnisse vor meiner besseren Hälfte zu haben. Erst recht dann, wenn es Dinge waren, die schwer auf meinen eigenen Schultern wogen. Mein eigener, innerer Zwiespalt machte es leider nicht gerade erträglicher. Mein Blick klebte schon längst wieder auf der Flasche in meiner Hand und musterte etwas zu akribisch das Etikett, als Aryana mir die Frage danach stellte, worum es denn überhaupt ging. Daraufhin schwieg ich erst noch einige Sekundenlang, weil ich mir nicht so sicher damit war, inwieweit ich darüber wirklich reden wollte. Es würde ihr eben durchaus einen Einblick in meinen Schädel geben und von derartig persönlichen Gesprächen waren wir beide normalerweise meilenweit entfernt. Das lag aber wohl auch hauptsächlich darin begründet, dass wir uns normalerweise tendenziell eben gar nicht erst allein miteinander unterhielten, weil Faye immer da war und nicht daran, dass ich den ehemaligen Sergeant für eine grundlegend schlechte Gesprächspartnerin hielt. Deshalb blendete ich für den Moment wohl meine gesamte Umgebung vollkommen aus, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, ob es denn wirklich eine gute Idee war diese Sache Aryana statt meiner eigentlichen Bezugsperson anzuvertrauen. Es war schon irgendwie ein bisschen komisch es mehr oder weniger ersatzweise Fayes Schwester anzuvertrauen, aber andererseits war das aktuell wohl meine einzige Möglichkeit überhaupt mal mit auch nur Irgendjemandem darüber zu reden. Einen neuen Therapeuten hatte ich schließlich noch nicht und von einem aufrichtigen Vertrauensverhältnis mit den Nachbarn war ich noch weit entfernt. Außerdem verstand die junge Frau gegenüber mich vielleicht sogar noch mit am besten. Sie mochte all die Folter in den Hügeln nicht miterlebt haben, aber sie kannte den Krieg, konnte es quasi aus erster Hand nachvollziehen. Vielleicht hatte sie nicht ganz so ein starkes Trauma davongetragen wie ich selbst oder Faye, aber spurenlos dürfte der Krieg auch an Aryana nicht vorbeigegangen sein. Mein inzwischen sichtlich gedankenversunkener, leerer Blick haftete weiterhin an dem Bier, als ich schließlich doch noch zum Reden ansetzte. "Naja, ich... hab ein Problem mit der Schulung. Es lief vorher echt gut, aber seit der Abschnitt mit der Verteidigung gegen Waffen angefangen hat..." Es folgte ein weiteres Seufzen und noch ein Schulterzucken. Ich fühlte mich eben doch nicht so einhundertprozentig wohl damit auszupacken. "Als ich mich das erste Mal gegen ein Messer verteidigen sollte, hat mein Hirn einfach komplett ausgesetzt. So mit richtiger Panikattacke, Notarzt und allem drum und dran.", murmelte ich. Ich ging nicht weiter ins Detail, weil es mir wohl einfach ein kleines bisschen peinlich war - obwohl ich eigentlich wusste, dass es das nicht sein musste. "Dabei war das nicht mal ein richtiges Messer, sondern nur eine Attrappe aus Gummi fürs Training... der Ausbilder wollte mich natürlich aus dem Kurs schmeißen, aber ich konnte ihn dazu überreden mir separat von den anderen die Praxisstunden zu geben. Unabhängig davon, dass das natürlich jetzt viel teurer wird als ursprünglich gedacht, geht's eben trotzdem auch nur... sehr langsam voran. Ich hyperventiliere zwar nicht mehr, sobald er damit auf mich zukommt, aber... ich krieg' die Angst nur schwer in den Griff. Mir tut danach jedes Mal wieder der Rücken weh, obwohl der damit gar nichts zu tun hat... von den Flashbacks mal ganz zu schweigen und ich schlafe auch wieder ziemlich beschissen. Ich versuch' wirklich mir Zuhause nichts anmerken zu lassen, aber Faye ist nicht dumm... wahrscheinlich hat sie längst gemerkt, das irgendwas nicht stimmt. Es betrifft sie selber ja eigentlich auch nur eher wenig, aber... es ist eben Faye und sie macht sich schnell zu viele Sorgen.", redete ich letztendlich dann doch ziemlich viel über das einstige Geheimnis, weil ich scheinbar schlichtweg das Bedürfnis dazu hatte. Ob und was Aryana dazu jetzt sagte war vermutlich auch gar nicht so relevant, es tat nur einfach gut diesen ganzen Mist mal losgeworden zu sein. Dass meine Freundin hingegen schon gemerkt haben dürfte, dass irgendwas zumindest nicht ganz rund bei mir lief, war nicht abwegig. Immerhin stand ich nachts manchmal nochmal auf, wenn ich so gar nicht schlafen konnte - auch, wenn ich versuchte darauf zu achten, dass sie dann immer schon schlief - und ich war sicher auch öfter gedanklich etwas abwesender als normalerweise. So wie jetzt gerade eben auch, weshalb ich das gewohnt eher leise ins Schloss fallen der Wohnungstür im Flur während meinem Redeschwall nicht wahrgenommen hatte.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Es tat ihr ja schon leid, dass sie Victor nicht den erhofften Rat bieten konnte. Aber sie war einfach keine Expertin in Sachen Beziehungen oder das Reden über persönliche Probleme. Faye war zwar ihre Schwester, aber wenn es Aryana verschissen ging oder es eine Sache gab, die sie stark belastete, würde sie wohl erst dann auch nur auf den Gedanken kommen, die Problematik mit ihrer Schwester zu teilen, wenn Faye sie direkt danach fragen würde. Und dann würde sie die Vor- und Nachteile eines solchen Gespräches abwägen, zwei, drei harmlosere Details erzählen - aber nicht das, was sie wirklich belastete - und hoffen, dass Faye nicht merkte, welches Spiel Aryana mal wieder spielte. Dass sie nicht über Probleme reden konnte zum einen und zum anderen auch einfach, dass sie Faye nicht mehr auf die schmalen Schultern laden wollte, als eben minimal nötig. Und Victor schien es in letzterem Belangen ähnlich zu gehen. Auch er hatte Angst, den Geisteszustand der jungen Frau nur wieder zu verschlechtern, wenn er zu viele Informationen auspackte, ohne die es Faye sicherlich ebenso gut oder besser gehen würde. Somit nickte Aryana bedächtig aber absolut verständnisvoll, als er genau das auch aussprach. "Ja ich weiss... das sollte jetzt auch nicht falsch rüberkommen. Ich weiss, dass du gut auf sie Acht gibst, wann immer das möglich ist... und da bin ich auch sehr dankbar für, weil du das eindeutig besser machst, als ich", stellte sie klar, dass ihre vorgehenden Worte alles, nur kein Vorwurf hatten sein sollen. Auf ihre Frage hin dauerte es eine ganze Weile, bis der Beginn einer Erklärung über Victors Lippen kroch. War aber auch verständlich, dass er sich das erstmal gut hatte überlegen wollen. Wenn er die Sache, die ihn belastete, nicht einmal Faye anvertrauen wollte, war es eigentlich doch eher erstaunlich, dass er nun überhaupt auspackte. Aber sie hatte selbstverständlich wenig dagegen, hatte immerhin auch gefragt. So lag ihr Blick nun ziemlich konzentriert auf ihm, während sie ihm zuhörte und sich langsam aber beständig die ganze Problematik aufzeichnete, die ihn belastete. Vielleicht hätte sie besser ein Bisschen was von ihrer Aufmerksamkeit aufgespart, sodass ihr die Geräusche im Hintergrund nicht ebenfalls entgangen wären. Aber das hatte sie nicht getan, weshalb sie noch immer davon ausging, alleine mit ihrem Gastgeber in der Wohnung zu sitzen und sich mit ihm über seine Zwickmühle zu unterhalten. Ihre Stirn lag mittlerweile in tiefen Falten und auch sie blickte durchwegs nachdenklich auf ihr Wasser runter. "Hmm... Das ist tatsächlich scheisse...", deponierte sie ein paar äusserst taktvolle Worte, bevor sie versuchte, sich an eine Lösung heranzutasten, was zumindest das Problem mit ihrer Schwester betraf. "Vielleicht kannst du ihr ja auch einfach... Nur einen Teil erzählen, oder so... Damit sie sich nicht zu viele Gedanken macht. Dass die Ausbildung eben ziemlich viel fordert und die Konfrontation nicht immer einfach ist, zum Beispiel... Das wird sie sicherlich sowohl verstehen als auch verkraften können. Wobei es dezent unglücklich wäre, wenn sie irgendwann später die ganze Wahrheit erfahren würde. Also ist es vielleicht doch besser, wenn du ihr jetzt alles sagst oder es für immer für dich behältst...", murmelte sie in sich hinein, wobei das Ganze eher lautem Denken als wirklichem Ratschlag entsprach.
Die letzten drei Monate hatten nochmal alles von ihr gefordert. Besonders der Erste davon. Damals, als sie den Entschluss gefasst hatte, dass sie so nicht mehr länger leben wollte, hatte ihr das zwar eine Menge Druck von den Schultern und dem müden, schmerzenden Herzen genommen. Aber das hiess nicht, dass der eine Monat, während dem sie noch kämpfen wollte, daraufhin in irgendeiner Form leichter geworden wäre. Sie hatte sich jeden Tag zwingen müssen, alles zu geben, sich den tiefen Ängsten zu stellen, sich aufzuraffen und dabei immer wieder zu lächeln, als wäre sie schon glücklich. Weil das laut irgendeinem Seelenklempner helfen konnte und sie ja beschlossen hatte alles zu versuchen. Und es hatte unzählige Rückschläge gegeben - anfangs mindestens einmal bis meistens mehrfach täglich - in denen sie gedacht hatte, wie froh sie sein würde, wenn sie endlich sterben konnte. Aber drei Tage bevor die vier schicksalhaften Wochen abgelaufen waren, war Aryana zu Besuch gekommen. Sie hatten zu dritt einen Ausflug gemacht, waren gemeinsam weggefahren. Und dieser Ausflug hatte der Brünetten so klar aufgezeigt, was sie in diesen zwei Menschen hatte und wie schön das Leben werden könnte, wenn sie sich endlich wieder nach draussen gekämpft hatten. Folglich hatte sie am eigentlichen Tag der Entscheidung nicht eine Sekunde daran hatte denken können, Victor und Aryana diese für sie so einfache, schmerzlose Lösung anzutun. Es war schlicht ausgeschlossen und das Thema für sie beendet. Und es war auch wirklich immer besser geworden. So gut, dass sie nur ein paar Wochen später dann auch endlich wieder an ein Leben ausserhalb von unpersönlichen Klinikwänden hatten denken können. Als es endlich soweit gewesen war und sie ihre eigene Wohnung beziehen konnten, war die Freude und Euphorie auch entsprechend überschwänglich gewesen. Ihre neue Bleibe war nicht riesig, aber für sie war das die perfekte Grösse. Man fühlte sich nicht verloren aber hatte doch genug Platz für alles, was es brauchte - und noch ein Bisschen mehr dazu. Der Einzug und die darauffolgenden Arbeiten war dann etwas unglücklicher verlaufen, als sie sich das erhofft hatten und Faye musste rege Gebrauch von jeglichen mentalen Spielchen machen, die ihr halfen, sich in dem ganzen Stress nicht schon wieder selbst zu verlieren. Entsprechen war sie auch unendlich froh, als alles soweit bereit und eingetroffen war. Es sich langsam immer mehr nach der Wohnung für sie beide anfühlte, die ihnen auch wirklich ein Zuhause bieten konnte. Daran arbeitete sie auch mit viel Eifer, während sie sich zeitgleich nach einem Job in der Nähe umsah. Ein Bisschen Bammel hatte sie ja schon beim Gedanken, zurück in ihre alte Arbeit zu gehen. Nach allem, was gewesen war. Nach der langen Pause. Es gab viele Gründe, sich Sorgen zu machen. Daher war es auch sehr gut, dass sie gar nicht zu viel Zeit dafür hatte, weil sich wenigstens die Jobsuche als Ausnahme mal erstaunlich leicht gestaltete. Offenbar gab es noch immer kein Überangebot an Rettungssanitäter auf Jobsuche und sie hatte nach nur zwei Bewerbungen eine Stelle gefunden, die sie mehr oder weniger per sofort antreten konnte. So fuhr ihr Leben nun also seit zwei Wochen wieder ziemlich geordnete Bahnen, folgte denselben Regeln, nach denen sie irgendwann vor langer Zeit schon einmal gelebt hatte. Die Arbeit war noch etwas überfordernd, das würde sie nicht leugnen. Aber sie war doch erstaunlich zuversichtlich, dass sich das noch legen würde. Immerhin blieben die befürchteten Panikausbrüche und Schockstarren beim Anblick bestimmter Wunden oder Situationen bisher aus, was ein durchwegs erfreuliches Zeichen war. Alles andere hätte wohl zu einem erzwungenen Jobwechsel geführt und das war wirklich das Letzte, womit sie sich jetzt auch noch auseinandersetzen wollte. Glücklicherweise war das aber kein Thema und sie kam ihren Schichten sehr gewissenhaft nach. So auch heute - wobei sie sogar etwas früher hatte gehen können als geplant. Sie schob die Wohnungstür gewohnt vorsichtig auf - an der Art ihrer Bewegungen, die noch immer betont unscheinbar und vorsichtig waren, um kein Aufsehen zu erregen und keinen Lärm zu erzeugen, hatte sich nämlich seit sie Syrien hinter sich gelassen hatten wenig bis nichts geändert. Sofort fielen ihr auch die fremden Schuhe im Eingang auf, was sie sofort den Blick heben und den Flur runter schauen liess. Und eigentlich war Faye nicht der Typ Mensch, der fremde Gespräche bewusst belauschte. Normalerweise hätte sie schon lange ein Hallo oder etwas ähnliches erklingen lassen. Aber die leisen Worte, die durch die geöffnete Küchentür zu ihr drangen, zwangen sie fast dazu, inne zu halten und leise, ohne die Schuhe oder die Jacke auszuziehen, näher zu treten, während jegliche Freude und Entspannung sich langsam aus ihren Adern verflüchtigte. Sie zunehmend bestürzter den Holzboden betrachten liessen. Bitte was war passiert..?? Sie war nicht annähernd fertig damit, Victors Worte auch nur vorübergehend eingeordnet zu haben, als sie eine andere Stimme vernahm. Eine Frau. Ihre Schwester, der ihr Freund hier gerade aus dem Nähkästchen plauderte, weil er glaubte, dass sie selber nicht... stabil und stark genug war, um mit der Wahrheit zurecht zu kommen. Dabei war ihr natürlich, wie er offenbar schon gemerkt hatte, nicht entgangen, dass etwas nicht stimmte. Nur war es schwer, daraus schlau zu werden, wenn er sie bei Fragen in diese Richtung so vehement abwimmelte. Im Gegensatz zu Aryana. Machte aber auch Sinn, denn so wie ihre Schwester klang, war sie sich ziemlich sicher darin, dass Victor mit der Verheimlichung sogar richtig gehandelt hatte. Und Faye wusste gar nicht, was mehr weh tat. Dass sie sich hier drin über Dinge unterhielten, die sie selber eigentlich nicht wissen durfte, dass Victor ihr nicht alles erzählte, während er sie immer wieder dazu angehalten hatte, genau das eben doch zu tun oder dass Aryana der Meinung war, dass sie noch immer das schwache, zerbrechliche Mädchen von früher war, das mit Kriegstrauma an anderen Personen so gar nicht klar kam. Oder dass sie selber nicht wusste, ob die beiden tatsächlich Recht hatten. Wenn sie, die sie am besten kannten, glaubten, sie wäre so schwach, vielleicht war sie das ja wirklich? Vielleicht war sie dumm, immer alles von sich zu erzählen, während andere sie vor der Wahrheit verschonten? Sie wusste es nicht. Aber eigentlich wollte sie auch gar nichts mehr hören. Es reichte, dass ihr ganzer Körper schon jetzt zitterte und ihre Augen verdächtig brannten. Und sie doch nicht wirklich von der Wand direkt neben dem Eingang zur Küche wegkam. Weil sie sich wünschte, dass Victor den Worten ihrer Schwester widersprach. Dass er sagte, dass er ihr schon lange alles hätte erzählen sollen. Dass es eine unendlich dumme Idee gewesen war, sich mit Aryana zu unterhalten, bevor er Faye gegenüber ehrlich gewesen war.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
In etwa so konnte man das wohl betiteln, ja. Wobei ich fand, dass das sogar noch verhältnismäßig mild ausgedrückt war. Trotzdem ging es mir jetzt, wo ich das ganze Problem mal in Worten an Jemanden losgeworden war, doch ein wenig besser. Es war natürlich nicht so, als wäre allein dadurch jetzt die gesamte Last von meinen Schultern gefallen - schließlich war das hochgradig lästige Problem ja immer noch da -, aber zumindest konnte ich mal für fünf Minuten aufatmen. Vielleicht auch mit Aryanas Hilfe eine adäquate Lösung für all das finden, wobei letzteres wohl doch eher unwahrscheinlich war. Schließlich konnte sie mir die Entscheidung nicht abnehmen, ob ich ihrer jüngerer Schwester dieses Problem nun anvertrauen sollte oder nicht. Sie äußerte ihre Meinung dazu recht nachdenklich und ich wusste nicht so richtig, was ich nun davon halten sollte. Eine Teilwahrheit schien mir doch sehr heikel. Man lief mit solchen spärlich herausgegebenen Informationen, die einen großen - in diesem Fall essentiellen - Teil des eigentlichen Problems aussparten, immer Gefahr sich irgendwann in Lügen zu verstricken, während man sich um das Kernproblem herumredete. Erstens wollte ich nicht lügen und zweitens konnte ich das auch einfach nicht gut, gerade Faye gegenüber. Außerdem konnte mit Pech dann irgendwann eben doch die ganze Wahrheit rauskommen und ich glaubte nicht, dass das dann viel besser gewesen wäre als ihr einfach gar nichts zu sagen - was wiederum aber nicht hieß, dass ich das tatsächlich in Betracht zog. Es kam für mich eigentlich wirklich nicht in Frage das Problem einfach für immer totzuschweigen und es in mich hineinzufressen. Ich wusste ganz genau, dass mir selbst das nicht gut tat und meiner besseren Hälfte wohl erst recht nicht. Sie war wie gesagt nicht auf den Kopf gefallen und Geheimnisse, sowie auch Lügen waren in einer Beziehung echt nie etwas Gutes. Es sei denn es handelte sich um sowas wie eine winzige kleine Notlüge, wenn man mal fünf Minuten mehr für sich brauchte oder Ähnliches. Eben die Art von Lüge, die jeder Mensch hier und da mal benutzte, um einfach seine Ruhe zu haben. Notlügen, durch die nicht sämtliche Grundwerte eines gesunden Vertrauensverhältnisses zu Bruch gingen. Es wäre also eine ganz andere Stufe von nicht in Ordnung, wenn ich Faye hinsichtlich meines Traumas einfach anlog, ihr nur die Hälfte oder gar nichts erzählte - nichts davon stand für mich wirklich zur Debatte und trotzdem wusste ich einfach nicht, wie ich ihr das Alles denn schonend beibringen sollte. Vielleicht ging das auch schlichtweg nicht. Es war ja normal, dass man sich um den Partner sorgte, wenn es ihm nicht gut ging oder er ein Problem mit sich herumschleppte. Nur konnte die zierliche Brünette das gerade wirklich nicht zusätzlich zu ihrem eigenen Ballast brauchen. Ich seufzte hörbar und ließ die Flasche los, um stattdessen die Arme mit den Ellenbogen vor mir auf dem Tisch abzustützen und daraufhin den Kopf für eine Zeit lang in die Hände zu legen. Die vorübergehende Dunkelheit wollte mir leider nicht wirklich beim Denken helfen und ähnlich verhielt es sich damit, dass ich mir im Anschluss daran ein wenig übers Gesicht rieb. "Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich bin ein schlechter Lügner und ich will sie auch gar nicht anlügen..." Eine Halbwahrheit war in meinen Augen von einer Lügen eben einfach nicht sehr weit entfernt. Ihr einfach einen immensen Teil zu verschweigen kam also schonmal nicht in Frage. "Und ihr gar nichts zu sagen fühlt sich jetzt schon so wahnsinnig falsch an.", schloss ich es nur wenige Sekunden später auch noch aus, ihr einfach gar nichts zu sagen. Ich fühlte mich ja jetzt schon unfassbar schlecht deswegen, weil schon ganze drei Wochen ins Land gezogen waren, in denen ich ihr hatte weiß machen wollen, dass schon irgendwie alles okay bei mir war. Das allein war ja im Grunde auch schon eine dreiste Lüge, die von der Wahrheit kaum weiter entfernt sein konnte. Ich ließ die Hände erst jetzt wieder sinken, hatte die ganze Zeit über mehr oder weniger gegen meine Handinnenflächen geredet - so, dass es schon irgendwie noch halbwegs verständlich war. Ich sah Aryana einen Augenblick lang sichtlich aufgeschmissen an, wusste im gleichen Atemzug aber auch, dass sie mir mit dieser Entscheidung eigentlich nicht wirklich helfen konnte und deswegen legte sich meine Hand wohl auch wieder um das Bier, um es endgültig leerzumachen. Allerdings war es wohl überflüssig zu erwähnen, dass auch der Alkohol mir die Entscheidung kaum abnehmen können würde. Zumindest nicht, wenn ich mich nicht dermaßen restlos betrank, dass ich nicht mehr darüber nachdenken würde, was ich sagte und das stand eher nicht zur Debatte. Das würden alle Beteiligten ausschließlich bereuen. Eigentlich war nur die Option Faye Alles zu erzählen eine gute, die einzige wirklich richtige Entscheidung. "Also werd' ich mir wohl einfach weiter den Kopf darüber zerbrechen, wie ich's ihr am besten sage... in der Hoffnung, dass ich dabei möglichst zeitnah mal auf einen grünen Zweig komme.", seufzte ich abschließend und nicht wirklich zufrieden, aber dafür konnte Aryana natürlich absolut gar nichts. Es war schließlich nicht ihr Problem, sondern meines und ich stand jetzt erst einmal auf, um die beiden leeren Nudelverpackungen in den Abfall wandern zu lassen, sowie das Besteck in der Spülmaschine zu versenken. Einfach nur, um eine sehr kurzzeitige Ablenkung zu haben. Gab es vielleicht irgendeine positive Nachricht, die ich nach dem Geständnis an sie noch hinten ranhängen konnte, um den Umstand etwas abzumildern? Vielleicht war das eine Möglichkeit es ein klein wenig schonender zu gestalten - nur fiel mir so spontan was das anging leider nichts sein, weshalb ich eine solche Neuigkeit wohl erst schaffen müsste.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Ja, war von Vorteil, wenn er sie nicht belügen wollte. Das würde definitiv nicht zur Verbesserung der Situation führen. Wobei er das wohl zwangsläufig eh schon getan hatte, indem er ihr verschwiegen war, was der Grund für seine Verstimmung war. Schwierige Sache... Da konnte sie wirklich froh sein, zumindest solche Probleme mit Mitch nicht zu haben. Natürlich gab es Dinge, die sie ihm im ersten Moment lieber nicht erzählen wollte. Das waren all die Sachen, die mit ihrer anhaltenden Orientierungslosigkeit und dem Fakt, dass sie einfach nicht recht Fuss fassen konnte, zu tun hatten. Aber wenigstens lag es dabei eher an der Tatsache, dass sie sich dafür möglicherweise ein Bisschen schämte und ungern zugab, wie schwer sie sich mit all dem tat, als daran, dass Mitch damit nicht klar kommen könnte. Darum brauchte sie sich auch nicht gross Gedanken darüber zu machen, was sie ihm antworten wollte, wenn er explizit danach fragte. Was er abgesehen davon echt selten tat, weil er mittlerweile ganz genau wusste, dass sie ungern darüber sprach und schon von sich aus reden würde, wenn es irgendwelche tollen Neuigkeiten geben würde. Aber zurück zu dem eigentlichen Problem hier, das für einmal wenig mit Mitch oder ihrem eigenen Leben an sich zu tun hatte. "Du solltest Faye ja auch nicht anlügen... und ja, so wies klingt, ist es sowieso die einzige Möglichkeit, ihr einfach alles zu erzählen...", meinte sie nüchtern, fühlte sich ja selber dezent dumm, wie sie hier solch absolut unnötigen Tipps verteilte. Aber sie war eben nicht fürs Gut Zureden gemacht. War relativ hilflos, wenns um solche Gespräche ging. Nicht, weil es ihr total an Empathie und Mitgefühl fehlte... Sie verstand Victors Problem wirklich. Aber einfach, weil sie selber nicht besser Bescheid wusste, wie er da wieder rauskam, als er es selbst tat. Aryana folgte dem jungen Mann mit ihren Augen, als er aufstand und sich zum Abfalleimer begab. Dann fiel ihr Blick zurück auf das Wasser vor ihr, von dem sie nun wieder ein paar Schlucke zu sich nahm, gefolgt von einem kaum hörbaren Seufzen. "Weisst du... ich habe den Fehler oft genug gemacht... ihr Dinge nicht erzählt, weil ich versucht habe, sie zu schützen... Und sie hat mir jedes Mal deutlich genug zu verstehen gegeben, dass das der falsche Weg war und sie lieber die Wahrheit wusste. Nicht, dass ich ihr dann alles gesagt hätte - es gibt viel zu viele Dinge in meinem Leben, die besser keiner weiss. Aber du bist nicht ich. Zum Glück. Und eure Beziehung ist anders aufgebaut... Nicht für Geheimnisse gemacht. Vielleicht solltest du ihr wirklich einfach alles sagen. Und dann halt aufpassen, das sie sich nicht zu viele Sorgen macht... zum Beispiel, indem du möglichst... nicht so tust, als würdest du dich zu sehr darum sorgen, dass deine ganzen Zukunftspläne zerfallen und du genau am gleichen Punkt endest wie ich", beendete die Brünette ihre Ausführungen mit einem leicht sarkastischen Schlusswort. Faye würde sich ja wohl kaum mehr Sorgen machen als Victor selber, wenn dieser sich wenigstens ihr gegenüber wieder möglichst normal verhielt. Die Frage war hier dann wohl eher, inwiefern er das konnte. Aryana fiel es für gewöhnlich ziemlich leicht, ein Pokerface aufzusetzen und keinen wirklich wissen zu lassen, was sich in ihrem Kopf wirklich abspielte. Aber ob das bei Victor auch so war, wusste sie nicht. Insbesondere nicht gegenüber der jungen Frau, mit der er durch die Hölle und zurück gegangen war, mit der er über Monate seine dunkelsten Momente geteilt hatte. Es war schwer vorstellbar, dass die beiden einander überhaupt noch irgendwas vorspielen konnten...
Tja und er sagte es nicht. Verteidigte ihren Geisteszustand nicht. Sagte bloss, dass er sie eigentlich gar nicht belügen wollte. Wie nett. Dann konnten sie ja alle wieder beruhigt schlafen. Zumindest dann, wenn er erklärt hatte, warum er es dann doch tat. Warum er ihr bis jetzt nicht die Wahrheit gesagt hatte und stattdessen lieber alleine mit seinen Problemen wachgelegen hatte. Warum er sich offensichtlich so sicher war, dass sie ihm nicht helfen konnte. Sie hörte, wie jemand sich erhob, nahm sofort einen vorsichtigen Schritt nach Links, um möglichst nicht in Victors Sichtfeld zu gelangen. Dass er es war, der aufgestanden war, stellte sie nicht erst dann fest, als er die Spülmaschine öffnete und damit seiner Aufgabe als Gastgeber nachging. Sie kannte seine Schritte, seine Art, sich zu bewegen - auch dann, wenn es nur die paar wenigen Schritte gewesen waren, die sie gehört hatte. Und genau weil sie ihn eben bestens kannte, war ihr auch schon lange bewusst, dass etwas nicht in Ordnung war. Vielleicht hätte sie hartnäckiger nachfragen müssen.. Nicht akzeptieren sollen, wenn er beteuert hatte, dass alles in Ordnung und er einfach müde war. Vielleicht war sie zu fokussiert auf ihren eigenen Wiedereinstieg gewesen, auf die Arbeit, das neue Umfeld, die Angst, dass etwas nicht funktionierte. Vielleicht hatte sie zu viel davon geredet und er hatte ihr nicht zusätzliche Sorgen machen wollen. Das war alles sehr gut möglich. Gleichzeitig aber irgendwie doch keine Entschuldigung für sein Verhalten. Jedenfalls keine vollständige. Sie wollte nicht glauben, dass es schon wieder zu hundert Prozent ihre eigene Schuld war, wenn ihre Beziehung nicht so funktionierte wie sie sollte, das Vertrauen nicht ausreichte, damit sie sich alles erzählen konnten. Alle Angestellten der psychiatrischen Klinik und alle Therapeuten hatten ihr dieses Denken verboten, weil es bei ihr zwangsläufig zu Rückfällen führte. Und in diesem Moment fiel es ihr auch noch nicht so schwer, die Gedanken wieder zu verdrängen, da gerade eine andere Emotion eindeutig überwiegte - und das war die pure Enttäuschung gegenüber den beiden Personen in der Küche, die eigentlich ihr halbes bis ganzes Leben ausmachten. Faye versuchte tief durchzuatmen, was allein schon eine ziemliche Herausforderung darstellte. Aber sie wollte nicht weinen. Nicht jetzt, wo sie sich nach ein paar Atemzügen etwas wackelig von der Wand löste. Sie hatte genug gehört. Aber sie würde auch nicht einfach davonlaufen und so tun, als wäre nichts gewesen. Trat somit mehr oder weniger lautlos in den Rahmen der Küchentür, von wo aus ihr wohl ziemlich alles sagende Blick die beiden nacheinander musterte. "Ihr könnt aufhören, euch den Kopf darüber zu zerbrechen. Oder euch Sorgen um den Zustand meiner Nerven zu machen", gab sie - bisher noch verhältnismässig klar, wenn auch mit ziemlich schwerem Unterton - von sich. Eigentlich hatte sie schon nach diesen Worten ein sehr starkes Bedürfnis, hier sofort wieder zu verschwinden. Aber für den Moment verharrte sie in der Tür. Als würde sie auf irgendeine zufriedenstellende Erklärung warten, die sowieso nicht folgen würde - weil es sie nicht gab.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Als Aryana noch ein paar weitere Worte zu der ganzen Angelegenheit loswurde, lehnte ich mich etwas tiefer durchatmend mit der Hüfte an die Küchentheke, kaum war die Spülmaschine wieder zu. Im Grunde bestätigte die junge Frau mir mit all ihren Worten nur noch ein weiteres Mal, dass ich mein Problem längst ihrer jüngeren Schwester hätte anvertrauen sollen. Zwar schien sie Faye dennoch immer wieder mit gewissen Dingen verschont zu haben, um es nicht schlimmer zu machen als unbedingt nötig, aber das änderte nicht wirklich viel daran, dass das für mich kaum der richtige Weg sein dürfte. Eben auch deswegen, weil meine Beziehung zu der jüngeren Cooper eine ganz andere als zwischen den Schwestern war. Ich mochte zwar durchaus der Typ Mensch dafür sein Probleme vermehrt in mich reinzufressen, weil es früher kaum Jemanden in meinem Umfeld gegeben hatte, der mich und mein Kriegstrauma überhaupt richtig verstehen konnte, aber das war jetzt natürlich ganz anders. Womöglich war es auch eigentlich recht vorhersehbar gewesen, dass ich irgendwo während der Umschulung ein paar Probleme kam. Gerade hier in Amerika war das Waffengesetz ja so eine Sache für sich und gefühlt jeder zweite Bürger hatte eine Schusswaffe - demnach war es eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich mich mit solchen und auch anderen wieder auseinandersetzen musste. Wirklich darüber nachgedacht, dass ich dabei auf Schwierigkeiten stoßen würde, hatte ich vorher nur gar nicht. Vielleicht einfach deswegen, weil ich es nicht hatte sehen wollen, dass die ganze Sache mit der beruflichen Neuorientierung gar nicht so einfach werden würde. Weil es sich ohne die Vorstellung von eventuell aufkommenden Panikattacken leichter hatte angehen lassen. Motivierter, weniger voreingenommen. Die Quittung für das unterbewusste Wegschieben solcher Gedanken hatte ich schon bekommen - erst in Form des spontanen Krankenwagen-Besuchs, danach noch mittels tagelangem Unwohlsein und mit dem anhaltenden, furchtbar schlechten Gewissen gegenüber meiner besseren Hälfte. An letzterem war ich natürlich selbst Schuld, aber ich hatte zum aktuellen Zeitpunkt einfach wirklich Angst darum Faye wieder abfangen zu müssen, falls sie eine erneute Bruchlandung hinlegte. Ich wusste nicht, inwiefern ich das mit meinem eigenen, tonnenschweren Problem gerade gestemmt kriegen würde und ich wollte nur ungern riskieren uns beide zurück in die Klapse zu befördern. Wir hatten unsere Freiheit noch nicht lange zurück und ich wollte nicht wieder jeden Tag in einem der wenig persönlichen Zimmer einer Nervenklinik aufwachen müssen, die mehr einem Krankenhaus als einem Zuhause glich. Aryana hingegen täten zumindest ein paar Therapiestunden jetzt schon gut - sie sagte das so mehr oder weniger als Witz, aber selbst für mich war da rauszuhören, dass sie ein Stück weit verzweifelt war und ich hatte noch nicht mal eine enge Bindung zu der Brünetten am Esstisch. Es lag mir aber fern ihr was das anging irgendwelche gut gemeinten Ratschläge zu geben, die sie sehr wahrscheinlich sowieso nicht annehmen würde und auch gar nicht hören wollte. Das wollte nämlich Niemand, der selbst längst nicht sehen wollte, dass er Hilfe brauchte und gerade sie wirkte immer so extrem unabhängig und selbstständig. Ich nickte auf ihre Worte hin also erst einmal nur etwas zögerlich, sah dann einen Augenblick lang auf den gefliesten Boden vor meinen Füßen. Auch, weil ich mir relativ sicher damit war, dass ich es vergeigen würde vor Faye nicht so zu wirken, als würde sich nicht gerade der nächste, viel zu tiefe Abgrund vor mir auftun, den ich nicht zu bewältigen wusste. Zumindest noch nicht. Ich war wohl ein ebenso schlechter Schauspieler wie Lügner. Ich hob gerade den leicht gesenkten Kopf in Aryanas Richtung wieder an und öffnete den Mund, um etwas auf ihre Worte zu erwidern, als eine andere Stimme den Raum durchschnitt. Meine Augen schwenkten sofort in Richtung Türrahmen und die Lippen blieben einen Spalt breit offen stehen, als ich meine Freundin da stehen sah. Mit jedem Wort mehr von ihr rutschte mir das Herz tiefer in die Hose und mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Fayes Anblick und ihre Worte fegten mir den Kopf vollkommen leer und einige Sekunden lang starrte ich sie einfach nur vollkommen perplex an. Sie hatte es gehört. Wie viel genau wusste ich nicht, aber es war in jedem Fall eindeutig zu viel. Sie wusste, dass ich ihr schon viel zu lange etwas verschwieg und jetzt auch ganz eindeutig aus welchem Grund. Damit war die ganze Situation noch unendlich viel schlimmer als vorher und ich täte gerade nichts lieber, als die Zeit um ungefähr drei Wochen zurückzudrehen. Einfach gleich von Anfang an mit der Sprache herauszurücken und diese Situation hier zu vermeiden - nur war es dafür jetzt eindeutig zu spät und zeitreisen war noch nicht erfunden. Deshalb fingen meine Augen unruhig zu funkeln an, während leichte Panik darin zu flackern begann und ich mich beinahe in Zeitlupe mit den Händen von der Theke abstieß. "Faye, ich..." Ja, was? Wahrscheinlich gab es nichts, was ich jetzt hätte sagen können, das die Situation nennenswert entschärft hätte. Nichts, dass das Messer wieder aus ihrer Brust ziehen würde. Nichts, das die letzten paar Minuten und deren Worte einfach so ungeschehen machen würde. "Es tut mir leid, ich.. ich wollte es dir sagen, wirklich. Nur..", stammelte ich etwas wirr und mit etwas dünnerer Stimme vor mich hin, machte dabei zwei oder drei Schritte in ihre Richtung und schloss aber nicht bis zu ihr auf. Hatte Angst, sie damit endgültig in die Flucht zu treiben. Es war gerade absolut überflüssig zu sagen, warum ich es ihr nicht anvertraut hatte - denn ganz offenbar hatte sie das Alles längst gehört. Ich wusste nur auch nicht, was ich sonst noch sagen sollte - eine Entschuldigung würde nicht reichen, um diese Sache wieder grade zu biegen, aber es gab außer den Worten, die Faye ohnehin schon belauscht hatte, nicht mehr wirklich was zu sagen. Ich hatte durch das konsequente Schweigen ganz einfach Mist gebaut und das rächte sich jetzt.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +