Mich nicht weiter beelenden… sie sollte lieber weiter meine Nerven strapazieren, als ihre eigenen endgültig über Bord zu werfen und uns alle dem nächsten Racheakt der Hernandez zu weihen. Möglicherweise würde ich es nie in Aryanas Schädel reinkriegen, dass sie und auch ihr Freund mir nicht völlig am Arsch vorbei gingen. Natürlich waren sie mir nicht so ans Herz gewachsen wie Faye, aber ich schätzte sie auf einer anderen Ebene. Beide hatten schon so einige kaputte Tassen im Schrank, bevor sie die Brüder gefoltert hatten, aber sie trugen dennoch ein paar Eigenschaften mit sich herum, die heutzutage selten und umso wertvoller waren. Eine davon war, dass sie im Normalfall nicht bloß heiße Luft von sich gaben, sondern man ihre Worte für bare Münze nehmen konnte. Genau das war jetzt wiederum aber etwas, das mir Angst machen sollte. Ich war absolut nicht darauf eingestellt, dass die ältere Cooper sich mittels Handgreiflichkeit weiter in meinem Zimmer einnisten und sich dann auch noch vor die Tür schieben würde. Dafür allein erntete sie schon einen überrumpelten Blick und ich ging einen Schritt rückwärts, bevor sie mich lange einfach nur ansah – normalerweise sahen wir uns nicht länger als nötig in die Augen. Die Worte, die sie danach noch von sich gab, forderten jedoch meine primäre Aufmerksamkeit und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als besser aus der älteren Cooper lesen zu können. Sie hatte so gar nichts mit Faye gemeinsam. Ich wusste nicht, ob sie das tatsächlich durchziehen würde, wenn ich ihr keine andere Wahl ließ. Sie machte sich nicht länger die Mühe, ihre Emotionen zu verbergen – absichtlich, um mich in die nächste Bredouille schlittern zu lassen. Ich konnte sie genauso wenig planlos nach den Hernandez suchen lassen, wie ich ihr die Nummer geben konnte. Aryana und Mitch lebend aus Easterlins Armee zu boxen war die einzige kleine Chance auf Wiedergutmachung, die ich je bekommen würde. Sie durfte jetzt nicht blind in ihr Verderben laufen, sie würde Mitch mitnehmen und ich könnte nie wieder in den Spiegel sehen. Nicht nach allem, was die beiden durchgemacht und letzten Endes auch für mich getan hatten, sei es auch nur ein Nebeneffekt von Fayes Rettung. Ich spürte leichte Panik in meinem Genick nach oben kriechen und ich verengte mit einem tiefen Atemzug die Augen. “Es wäre mir lieber, du würdest mir von jetzt an 24/7 auf die schon kaputten Nerven gehen, als völlig sinnlos in den Tod zu marschieren.”, grummelte ich. Dabei wusste ich nicht, was mich letztendlich mehr reizte: Das respektlose aus dem Weg schaffen meiner Hand oder doch ihr verzweifelter, egoistischer Wahnsinn? “Da, wo diese mexikanischen Ratten herkommen, gibt’s noch mehr. Wenn du eine umbringst, kriechen garantiert noch zwei mehr aus demselben Loch. Warum glaubst du denn, dass ich nie ernsthaft gegen sie in den Kampf gezogen bin? Du hast keine Ahnung, womit du dich da anlegst. Das ist auch mit der bescheuerten Telefonnummer nichts als Selbstmord und damit tust du Niemandem außer dir einen Gefallen.”, versuchte ich weiter, ihr ein bisschen Verstand einzutrichtern, weil davon offenbar nichts mehr übrig war. Vielleicht war das vergeudete Liebesmüh. Ich wollte nicht so denken, aber vielleicht gab es wirklich nichts, das Aryana davon abhalten könnte, ihre eigene Hinrichtung zu provozieren. Es war auch nicht so, als würde ich es nicht verstehen – sie machte mit ihrem ganzen Auftreten sehr deutlich, wie non-existent ihre Kraftreserven waren. Dass sie nicht mehr wollte, so nicht mehr weitermachen konnte und ich wünschte mir wirklich, ich hätte eine sofortige Lösung für sie. Ihr Anblick tat weh und schubste mich nur noch tiefer in die Grube aus Schuldgefühlen, in der ich irgendwas absaufen würde, wenn es so weiterging. “Egal was du vorhast, du wirst dich damit umbringen. Du wirst Faye ihre Schwester nehmen. Du wirst Mitch töten… und du wirst mir die einzige verdammte Chance nehmen, mit mir selber weiterleben zu können.” Die Worte kamen mit Nachdruck über meine Lippen und ich entließ Aryana nicht aus meinem Blick. Ich würde sie besser doch nicht wieder durch diese Tür gehen lassen, bevor sie nicht ansatzweise zurück auf dem Boden der Tatsachen saß. Nicht nachdem sie mir hier gerade so deutlich vor Augen führte, dass ihr Verstand irgendwo wie ein entgleister Zug zerschellt war. Ich wusste nur auch nicht, wie ich an etwas appellieren sollte, das aktuell scheinbar akut nicht vorhanden war. “Ich weiß, dass einfach abzuwarten und still zu hoffen ungefähr die schlimmste Tortur für euch beide sein muss und dass ihr mir wahrscheinlich noch immer keinen Meter über den Weg traut.” Schließlich kannte ich das Gefühl bestens und es machte einen nur zusätzlich kaputt… und weiter kaputtzugehen, wenn man schon in Scherben am Boden lag, überstieg irgendwann die Grenze des Erträglichen. “Aber ich zerbreche mir jeden einzelnen Tag den Schädel darüber, wie ich euch beide hier rausholen kann und ich werde nicht zulassen, dass du das kaputt machst.” Es klang so formuliert viel egoistischer, als ich es eigentlich meinte. Die beiden verdienten ihre Entlassung und damit die einzige Form eines Lebens, das sie hoffentlich noch aus dieser Misere rausholen konnte. Ein Leben ohne Mord, ohne Flucht und ohne weitere moralische Zerwürfnisse. Faye verdiente es, irgendwann wieder eine Aryana neben sich sitzen zu haben, die sich tatsächlich auch wie ihre Schwester verhielt. Die lachen konnte, statt mich so anzusehen, wie sie es gerade tat… und auch Victor verdiente es, dass diese kaputte Familie aus Veteranen irgendwann gesund und glücklich, nur noch mit absolut banalen Problemen gesegnet war. Ihn nahm das sicher auch mit und am Ende verdiente auch ich es, endlich aus der endlosen Spirale aus dummen Entscheidungen und Pech rauszukommen. Ich würde gerne von mir behaupten mental stabil zu sein, aber aus dieser sehr kurzen Phase war ich schon wieder raus. Aryana würde mit dieser dummen Idee auch mich an die nächstbeste Wand fahren und das durfte ich nicht zulassen. Zwar hatte ich Faye nur gesagt, dass ich sehen würde, ob ich etwas tun konnte, weil die Angelegenheit eine ziemlich aussichtslose war und so würde ich ihr gegenüber kein Versprechen brechen, wenn ich es nicht hinbekam, das Paar auszulösen... aber mir selbst hatte ich es versprochen. Dieses einzige verdammte Mal würde ich nicht wieder scheitern.
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Aryana zog schwach die Augenbrauen hoch, als sie sein Geständnis zu hören bekam, das irgendwie schwer nachzuvollziehen war. Aber sie brauchte nicht nach den Gründen zu fragen, er führte sie wenig später nämlich schon ohne Aufforderung genauer aus. Zuerst erklärte er jedoch noch einmal, warum das ein Selbstmordkommando war... wobei seine Begründung jetzt nicht unbedingt dazu führte, dass sie weniger den Wunsch verspürte, die Hernandez nochmal aufzusuchen. "Wenn sie so gefährlich sind und so sehr auf Rache aus sind, dann sind wir auch jetzt nicht sicher. Dann spielt es kaum eine Rolle, ob ich sie nochmal besuche oder nicht.", deutete sie trocken mit dem Finger auf einen vermeintlichen Widerspruch in seinen Worten, ohne Anzeichen dafür, den Rest wirklich wahrgenommen oder gar verstanden zu haben. Wie gesagt, sie wusste ja eigentlich, dass die Aktion bescheuert und brandgefährlich war. Es interessierte sie nur nicht mehr so sehr, wie es sie interessieren sollte. Die Alarmglocken waren gestorben. Aryanas Blick lag zwar noch in seinen Augen, schien sich jedoch längst irgendwo weit hinter ihm verloren zu haben, als er nun seinerseits damit anfing, die Schuld-Karte gegen sie auszuspielen. Im Gegensatz zu ihm hatte sie den Fehler nur noch nicht begangen, der dann dazu führen würde, dass sie die dargestellte Schuld am Verderben von Faye, Mitch und Ryatt trug. Und Victor natürlich auch, der Vollständigkeit halber sollte man den netten Mann besser nicht vergessen. Wer hätte das gedacht? Dass es am Ende ausgerechnet sie sein würde, die diese Karre an die Wand fuhr? Die Karten hatten immer ziemlich eindeutig für Mitch oder Faye gesprochen... Mitch war auch in keinem guten Zustand zum aktuellen Zeitpunkt... Aber vielleicht würde er es nochmal schaffen. Faye würde hoffentlich diesmal die Finger von irgendwelchen Kleinkriminellen lassen können, dann sprach nichts mehr gegen eine glückliche Zukunft für sie und Victor. Victor baute sich sein nettes Business auf, der war sowieso nicht das Problem, wenn er nicht gerade etwas zu lange sehr viel Abstand brauchte. Und sie? Stand hier in Ryatts Zimmer und verlor die Nerven, bettelte ihn an, dass er ihr den Schlüssel zu ihrem Sarg liefert, damit sie endlich. ihre. Ruhe. hatte. Ihr Herz endlich verstummte. Ihr Gewissen endlich starb. Sie endlich nicht mehr töten und verletzen und stehlen und lügen und betrügen musste. Sie endlich damit aufhören konnte, diesen menschlichen Abschaum zu verkörpern, zu dem sie im Laufe der Jahre schleichend geworden war. Erst ein paar Sekunden nachdem Ryatt das Thema gewechselt hatte und verkündete, an ihrem Fluchtplan zu arbeiten, klarte ihr Blick nochmal auf und sie schien ihn tatsächlich wieder anzuschauen, statt nur durch ihn hindurch zu starren. Aus ihrem linken Augenwinkel löste sich eine einzelne Träne, die ohne Vorwarnung über ihre Wange kullerte und zu Boden tropfte. Aryana schien sie gar nicht zu bemerken. "Achja? Hast du denn schon einen Plan? Einen zeitlichen Horizont? Oder bist du genauso weit wie ich und Mitch nach bald zwei Jahren? Weil dann mach ich mir nicht so Sorgen um das, was ich dir kaputtmachen könnte.", fragte sie, wobei ihre Tonlage kaum Hoffnung beinhaltete. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ryatt weitergekommen war mit einem Plan als sie und Mitch, die die ganze Sache eine lange Zeit sehr verzweifelt vor- und rückwärts durchgekaut hatten, um einen Ausweg zu finden. Hatten sie nie geschafft. Aktuell dachte sie nicht mehr oft darüber nach, aber sie würde sowieso auf nichts besseres kommen als damals. Irgendwie schienen ihre Lösungen ständig nur noch Mord zu beinhalten. Irgendwelche schwerkriminellen Taten, die eben nicht wirklich Lösungen waren. Weil, so war sie je länger je mehr der Überzeugung, für ihre Probleme keine Lösungen mehr zu finden waren. Sie hatte sich zu tief in die Scheisse geritten, angefangen mit dem Fehler, sich von Julian für die Army überreden zu lassen, statt umgekehrt mit mehr Überzeugungskraft an die Sache ran zu gehen. Vielleicht hätte er sich umstimmen lassen, wenn sie es wirklich versucht hätte. Es war schwer vorstellbar, dass er sich ohne sie je eingetragen hätte. Er war nicht weniger an ihr gehangen und hatte nicht weniger auf ihre Meinung gegeben, als das umgekehrt der Fall gewesen war. Indirekt war sie auch an seinem Tod mitschuldig. An Fayes zahllosen Traumata. Sie musste die Liste an dieser Stelle nicht weiter ausführen, der Film spielte jede Nacht vor ihrem inneren Auge wie der Abspann ihres Lebens. All die Namen... all die Namen der Menschen, die nie hätten sterben sollen. Sie wollte schreien. Stattdessen starrte sie nur wieder durch Ryatt hindurch, während eine zweite, einsame Träne der Schwerkraft folgte.
Natürlich waren wir nicht sicher. Das war einer von mehreren Gründen dafür, warum ich mich so konsequent innerhalb der Grundstücksgrenze des Stützpunkts verschanzte. „An dieser Stelle erinnere ich dich liebend gerne daran, dass ihr beide euch genauso hinter diesen Mauern“, ich machte eine allumfassende Handgeste in der Luft zwischen uns, „verstecken könntet, wie ich das tue und absolut Niemand irgendwen besuchen sollte.“, entgegnete ich nicht weniger trocken. Ich war mir inzwischen bewusst darüber, dass ich wahrscheinlich ebenso gegen eine Wand redete, wie Aryana das mit ihren guten Gründen bei mir tat. Trotzdem durfte ich die Versuche, zu ihr durchzudringen, auf keinen Fall einstellen. Allerspätestens die Träne, mit der ich schon wieder überhaupt nicht gerechnet hatte, machte das überdeutlich. Ich hatte Mühe, die junge Frau nicht völlig perplex anzusehen. Sie hatte sich mir gegenüber noch nie verletzlicher gezeigt, als sie das musste. Nur ihre Angst um Faye hatte diese Fassade mal minimal bröckeln lassen… und jetzt stand sie hier und war gefühlt nicht mal mehr richtig anwesend. Starrte mich aus ihren leeren Augen an, die scheinbar schon damit aufgehört hatten, ein winziges Licht am Ende des pechschwarzen Tunnels zu suchen. Als wäre längst jeder Funken Hoffnung in ihr vergiftet worden… was nachvollziehbar war gemessen an der Tatsache, dass sie und Mitch selber schon elend lange nach einer Ausflucht suchten. Erfolglos. Dennoch war es schlicht keine Option, in dem aussichtslosen Tunnel einfach tatenlos oder gar ganz bewusst zu verrecken. Es rollte noch eine zweite unscheinbare Träne über Aryanas Wange und ich spürte Druck auf der Kehle, als ich schluckte und kaum sichtbar den Kopf hin und her wog. „Ich kann dir keine Zeitspanne geben.“, musste ich die Brünette enttäuschen, aber das hatte sie ihrem Tonfall nach zu urteilen ohnehin schon erwartet. Sie ging wahrscheinlich fest davon aus, dass ich ein weiteres Mal an einer unlösbaren Aufgabe zerbrechen würde und ich musste mich selbst täglich ermahnen, nicht in genau dasselbe Denkmuster zu rutschen. Es war ja leider nicht so, als hätte ich schon eine genaue Vorstellung davon, wie genau ich das Paar befreien würde. „Und auch keinen Plan… aber ich hab Ansätze, die keine weiteren Straftaten von euch beinhalten.“, sprach ich sehr oberflächlich in Rätseln. Schon allein deswegen, weil große Teile etwaiger Pläne auch für mich noch in den Sternen standen. Ich nicht wusste, ob auch nur einer der besagten Ansätze jemals in Erfüllung enden würde. Dass Mord oder Bestechung auf amerikanischem Boden keine Option war, brauchte ich Aryana nicht zu erzählen. Egal was der Grund für ihr Ausscheiden aus der Armee sein würde, es musste woanders als in den Staaten passieren. Irgendwo, wo der Milliardär nicht genug Augen und Macht hatte. Wo er das Geschehen nur bedingt manipulieren konnte. „Es ist unmöglich, ihn hier auf US-amerikanischem Boden auszutricksen… zumindest für normal sterbliche Menschen wie uns.“ Eben solche, die nicht alle möglichen Leute mit einem riesen Haufen Kohle umpolen konnten. „Deswegen muss es auswärts passieren… und bis ich einen entscheidenden Vorteil gefunden habe, den er nicht wieder irgendwie zu seinen Gunsten umdrehen und euch einen Strick daraus drehen kann, musst du noch ein bisschen durchhalten. Ihr beide.“ Zum Ende hin wurde ich etwas leiser und obwohl ich wirklich kein sentimentaler Mensch war, machte sich das Bedürfnis in mir breit, die Brünette trösten zu wollen. Leider hatte ich im selben Moment schreckliche Gewissheit darüber, dass sie das nicht wollte. Ich erwartete nicht mehr von den beiden, als sich noch ein bisschen ans Leben zu klammern. Von mir aus nur mit dem kleinen Finger, solange sie bloß nicht endgültig losließen. Offensichtlich war das allein aber schon eine riesige Hürden für Aryana und das machte mir nicht nur heftigen Zeitdruck, sondern auch Angst.
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Jaaa was für eine wundervolle Idee. Würde sie doch nur mit Mitch hierher ziehen. Sie würden sich bestimmt super fühlen. Sehr sicher und geborgen und vor allem zuhause. "Super Idee. Ich bin mir sicher, dass wir uns hier drin viel besser fühlen würden als draussen. Der Schutz dieser heimatlichen Mauern, die Nähe zur geliebten Arbeit, das Wissen, dass das Arschloch uns noch ein bisschen besser überwachen kann... Ich kanns Mitch gerne mal vorschlagen, er wird begeistert sein.", kam die matte Antwort auf seinen tollen Vorschlag. Wenn sie den Nutzen der dazugewonnenen Sicherheit gegen die Kosten des fehlenden Abstandes abwägte, war die Rechnung leider eindeutig: Die Zimmer hier waren keine Option, auch nicht für kurze Zeit. Vielleicht fürchtete sie sich dafür doch zu wenig vor einer Rache durch die Hernandez. Vielleicht war diese Angst auch einfach nicht der Hauptgrund dafür, dass sie diese Idioten so gerne nochmal besuchen wollte. Vielleicht wollte sie primär auch einfach sterben und suchte einen etwas weniger offensichtlichen Weg zum Suizid als einen Schuss in den Kopf. Nur machte Ryatt gerade sehr offen klar, dass er nicht wollte, dass sie ihr herbeigesehntes Ende beschleunigte. Wahrscheinlich wegen Faye. Weil er - genau wie sie eigentlich - wusste, dass es ihrer kleinen Schwester das Herz in tausend Stücke brechen würde. Jedenfalls sah sie nicht viele andere Gründ für Ryatt, sie hier umstimmen zu wollen. Bis auf sein eigenes Gewissen, ironischerweise. Das, was sie dazu trieb, endlich den ewigen Frieden für ihre Seele zu forcieren, bewegte ihn dazu, sie davon abhalten zu wollen. Aber sie war ihm das nicht schuldig. Ihm nicht... Seine Antwort überraschte sie nicht. Sie hätte wohl müde gelächelt und so ein unausgesprochenes War ja klar zum Ausdruck gebracht, wenn sie den Nerv, die Energie und die Konzentration dazu gefunden hätte. Keine Zeitspanne, kein Plan. Aber Ansätze..? Wieder schien sich ihr Blick kurz zurück aus der Unendlichkeit auf ihn zu fokussieren. Sie musterte sein Gesicht, als würde sie darin Aufschluss finden, ob er die Wahrheit sagte oder nur ihre Nerven beruhigen wollte. Aber sie wusste es nicht. Er legte sich ja auch kaum fest. Somit waren es letztendlich nur zwei Worte, die über ihre Lippen kamen und nachdrücklich eine konkrete Antwort verlangten: "Wie lange?" Das hatte sie schon vorhin gefragt, als sie sich nach dem zeitlichen Horizont erkundigt hatte. Und er hatte ihr gerade schon beantwortet, dass er ihr diese Zeitspanne nicht nennen konnte. Aber wenn er wollte, dass sie und Mitch noch ein bisschen durchhielten, brauchte sie ein - irgendwie in Reichweite liegendes - Ziel. Eine Deadline, bei deren Überschreiten sie von der Brücke springen konnte. Das baute übel viel Druck für Ryatt auf - wenn sie denken könnte, würde ihr das auffallen. Tat es aber nicht. Darum brauchte sie eine Antwort. Weil das hier nicht die schlimmste Tortur war, sondern die Hölle. Weil sie das nicht mehr konnte. Weil sie nicht nur die Nerven, sondern auch den Willen verloren hatte und sich an irgendwas klammern musste, wenn sie wirklich nochmal durchhalten sollte. Und wenn es nur ein zeitliches Versprechen war, dass er ihr geben konnte und von dem niemand wirklich wusste, ob er es einhalten würde, dann war das halt so.
Ich zuckte mit den müden Schultern. „Naja, draußen fühlt ihr euch offenbar auch scheiße und in der Hand hat er euch trotzdem. Pest oder Cholera.“, seufzte ich angestrengt. Ich fand es auch nicht unbedingt super, direkt auf der Arbeit zu wohnen. Zwar war ich das von den langen Jahren bei der Army so gewohnt, aber gerade mit einem Partner an der Seite wurde das schwierig. Hier waren Beziehungen erlaubt, aber alle Soldaten wussten, dass das nicht immer gut ging und es allgemein mit großer Vorsicht zu genießen war. Es gab hier ohnehin nicht viele Paare, was mitunter sicherlich an der niedrigen Frauenquote lag. Es war jedenfalls nicht so, dass ich nicht verstand, warum sie nicht hier unterkommen wollten. Wahrscheinlich war es am Ende auch trotzdem besser, wenn Aryana und Mitch ihren Kollegen nicht noch deutlicher unter die Nase rieben, dass etwas nicht stimmte. Nur der Aspekt der Sicherheit vor den Hernandez sprach akut für einen Einzug in einen von Easterlins Wohnkomplexen. Kurz atmete ich auf, als ich für einen Moment noch einmal Aryanas Aufmerksamkeit zu haben schien. Bis jetzt war ihr ein Ausweg aus Easterlins Armee-Zug, zusammen mit ihrem Liebsten, also wirklich noch lieber als einfach stumpf ins Gras zu beißen. Das war gut. Sehr viel weniger gut war aber die Frage, die sie mir daraufhin stellte. Einen Augenblick lang sah ich sie so an, als würde sie mich jetzt komplett verarschen wollen. „Ich kann doch nicht…“, setzte ich schnaubend an, vollendete den Satz jedoch nicht, sondern musterte ihr Gesicht. Jemandem, dem man auf irgendeiner Ebene offensichtlich nicht egal war, eine Frist für den eigenen Suizid aus der Nase ziehen zu wollen, pflichtete ein weiteres Mal ihrem Wahnsinn bei. Denn es war kein schlechter Scherz, Aryana meinte das ernst. Ihre erschöpften Augen schrien förmlich nach einem festen Datum, an dem sie nicht mehr blinzeln mussten. Ich lachte aus purer Verzweiflung leise in mich hinein, als ich mich von dem Mensch gewordenen Elend abwendete und beide Hände hob, um mir erst übers Gesicht zu reiben und dann die Haare zu raufen. Dabei machte ich ein paar wenige Schritte durch den Raum, als würde das tatsächlich den Druck von meinem Schädel und meiner Brust nehmen. Oder von meinem Magen, mir wurde übel. Nicht nur, weil ich nicht versagen und damit Aryana und Mitch von der Klippe stoßen wollte, sondern auch, weil Faye mir das Aussprechen einer solchen Frist nie verzeihen würde. Nicht, wenn dermaßen offensichtlich war, wofür es stand. Aber war dann eigentlich egal, oder? Ich würde glatt hinterher springen wollen, wenn das Paar endgültig abstürzte und Aryana würde dieses Zimmer sowieso nicht ohne eine Antwort verlassen. Oder vielleicht schon, aber dann nur um daraufhin den direkten Weg in die hässlichsten Viertel der Stadt zu suchen, um irgendwo hoffentlich auf das Rattenpack zu treffen. Es war eine halbe Minute still im Raum gewesen, abgesehen von meinen Schritten. „Du hast echt Nerven.“, grummelte ich leise, mehr in mich selbst hinein, als ich mir gerade noch das Nasenbein massierte. Daraufhin drehte ich mich schwer durchatmend zu ihr um. „Schafft ihr sechs Monate?“, fragte ich stumpf, so als würde ich damit nicht gerade den Stand der suizidalen Dinge abfragen. Ich sah ihr allerdings nur einen kurzen Moment ins Gesicht und holte mir damit selbst eine Antwort, ohne eine von der jungen Frau abzuwarten. „Gib mir drei.“ Ich klang kühler als vorher, was daran lag, dass sich langsam aber sicher kalter Schweiß auf meinem Rücken bildete und ich es nicht anders ertrug, eine tatsächliche Frist auszusprechen. Weil ich all die Schuldgefühle, den Selbsthass und die Sorge um mein erneutes Versagen für den Moment komplett runterschlucken und in den Survival-Mode schalten musste, wenn ich nicht jetzt schon einen Nervenzusammenbruch haben wollte. Noch ein bisschen durchhalten, hatte ich gesagt. Ich hätte mir selbst lieber noch ein ganzes Jahr zum Nachdenken gegeben, aber das war nicht ein bisschen. Nicht mal ein halbes Jahr war ein bisschen, wenn man schon an einem Punkt stand, an dem jeder einzelne Tag längst viel zu viel war. Drei Monate könnten zu wenig sein. Es klang nicht machbar und ich würde irgendwo ganz sicher gewaltig nachhelfen müssen, auf eigene Gefahr. “Bis dahin hab ich einen Plan, okay?” Wenn ich ihnen nach dieser Zeit zumindest eine gute Idee präsentieren konnte, dann hielten sie unter Umständen vielleicht auch noch ein paar Tage länger bis zur Umsetzung durch, weil die Freiheit dann doch wieder greifbar war, oder? Mussten sie. 90 Tage waren schon für eine lückenlose Strategie spärlich bemessen, für die Umsetzung reichte das erst recht nicht. Ich fühlte mich in die Zeit zurückversetzt, als die Mexikaner mir eine wahnsinnige, unlösbare Aufgabe für viel zu wenig Zeit auferlegt hatten. Das hier war genau dasselbe – es standen wieder Leben auf dem Spiel, die ich nicht riskieren wollte, die ein viel zu hoher Preis für mein Versagen waren. Faye indirekt inklusive, natürlich.
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Das konnte sie so unterschreiben, ja. Aber sie war sich trotzdem sicher, dass sie sich hier drin noch ein bisschen beschissener fühlen würde. Wobei... fraglich, ob da noch eine Steigerung - beziehungsweise ein Abfall - drinlag. Nichtsdestotrotz war es sinnlos, sie von einem Umzug überzeugen zu wollen. Offensichtlich wollte sie aktuell lieber sterben als einen Umzug planen. Da war die Mühe nicht mehr sonderlich sinnvoll. Hinzu kam, dass sie ja dann, wenn ihre Karriere hier rein hypothetisch tatsächlich ein zeitnahes Ende fand, unmittelbar obdachlos wären. Ebenfalls ungünstig. Also ganz gut, dass Ryatt keine weiteren Anläufe nahm, sie diesbezüglich umstimmen zu wollen. Sein Bedürfnis, ihre nächste Frage zu beantworten, war allerdings ungefähr in gleichem Ausmass nicht vorhanden, so wie er sie anschaute und einen Satz anfing, der kein Ende verdiente. Ja, doch, irgendwie konnte sie offenbar schon. Auch wenn seine Reaktion sie doch darauf aufmerksam zu machen vermochte, dass das in der Tat eine unmögliche Forderung gewesen war. Die nun aber im Raum stand und sie machte keine Anstalten, zurückzurudern, blickte ihn nur die ganze Zeit weiter an und wartete. Langsam wieder in sich oder hinter ihm oder irgendwo sonst im Universum verschwindend. Ryatt wirkte überfordert, verzweifelt. Zwei Gefühle, die sie mittlerweile ganz schön gut kannte und darum sofort identifizieren konnte. Trotzdem rückte er mit einer Frist raus. Einer langen Frist... Sechs Monate war doppelt so lange, wie sie bisher schon durchgehalten hatten. Sah sie sich so lange noch kämpfen? So lange noch fremde Leute abknallen? So lange noch den Wahnsinn in ihrem Kopf bändigen, bevor er nicht mehr nur in kurzen Momenten wie diesem hier Überhand gewann? Nein. Sie wollte ein minimales Kopfschütteln andeuten, aber scheinbar brauchte er das gar nicht mehr. Drei Monate. Immer noch zu lange. Aber sie war gerade noch genug bei sich selbst, um zu wissen, dass sie ihm mit allem darunter gar keine Chance liess, zu gewinnen. Ihm und damit Faye und Mitch und Victor... und sich selbst. Drei Monate bis zu einem Plan. "Okay.", ihr Einverständnis kam heiser, fast tonlos über ihre Lippen, während sie ihn erneut klarer ins Auge fasste und offensichtlich versuchte, sich nochmal zu konzentrieren. War schwierig. Denn da kam ein neues Gefühl dazu, eines, dass sie lange nicht mehr empfunden hatte und das in dieser Form sehr überwältigend war. Drei Monate waren lang. Waren schwierig. Waren hart. Aber es war ein Plan. Es war Erleichterung. Es waren die letzten drei Monate und dann kam das Ende. Wie dieses aussehen würde, war noch unklar, aber es würde eine Erlösung sein. Ein ersticktes Geräusch zwischen Schluckauf und Schluchzen kroch ihre Kehle hoch. "Danke.", das Wort kam nicht lauter als das Letzte. Und wahrscheinlich wollte Ryatt das auch nicht hören. Es war nicht das, wofür sie hergekommen war, was er ihr gegeben hatte... Aber vielleicht war es sogar besser. Wieder tropfte eine Träne von ihrer Wange, diesmal kam sie aber nicht ganz allein. "Ich...", sie schluckte tonlos, weil ihre Stimme komplett verschwinden wollte. "Ich weiss... dass das unfair ist. Und es ist nicht deine Schuld... Wenn... wenn du das in drei Monaten nicht schaffst oder... wenn ich früher nicht mehr kann... Dann ist das nicht... dein Fehler... das, was in der Lagerhalle passiert ist... das war nur... der Tropfen... oder die Regenschauer... die das Fass zum Überlaufen gebracht hat... Es war schon vorher fast voll. Und all das andere Wasser da drin... war immer meine Schuld. Also bitte... nimm das nicht zu persönlich...", bisschen zu spät, um zurückzurudern, nachdem sie vorhin konsequent alles in seine Schuhe geschoben hatte. Aber vielleicht war durch die Deadline, an die sie sich nun klammern konnte, wieder ein bisschen Gehirnkapazität freigeworden. Vielleicht tat er ihr ein bisschen leid. Vielleicht meldete sich ihr tonnenschweres Gewissen, das scheinbar noch ein bisschen mehr Ballast suchte. Etwas mehr Gewicht, mit dem sie sich in drei Monaten in die Tiefe stürzen konnte. Ein bisschen ironisch war es ja schon, dass sie im Prinzip die gleiche Strategie verfolgte, wie ihre Schwester es vor ziemlich genau zweieinhalb Jahren getan hatte. Faye hatte sich einen Monat gegeben, um wieder auf den grünen Pfad zurück zu finden. Aryana gab Ryatt drei, um sie aus dem grössten kombinierten, mitunter selbstverschuldeten Elend ihres Lebens zu lotsen oder zumindest einen Plan aus dem Labyrinth bereitzulegen. Faye hatte es damals keinem gesagt. Aber Aryana war über dem Punkt hinaus, an dem sie den Weg alleine noch hätte finden können. Also ging's an Ryatts Rettungsleine aus diesem Loch hinaus... Oder eben gar nicht mehr.
Aryanas Stimme verdünnisierte sich stetig weiter, was angesichts der Emotionen, die sich mehr und mehr in ihrem Gesicht breit machten, kein Wunder war. Trotzdem willigte sie ein, mir die drei Monate zu spendieren. Noch drei Monate länger mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen, als wäre der Job für Easterlin mental noch nicht fordernd genug. Ich nickte nur einmal kaum sichtbar vor mich hin und hatte meinen vorherigen Worten eigentlich nichts mehr anzufügen, denn ich hatte auch ohne weitere Konversation schon mit mir selbst zu kämpfen. Aryanas aufgewühltes Hirn verfolgte jedoch einen anderen Plan: Sie dankte mir. Wofür? Für dieses Minimum an Schadensbegrenzung, das ich bieten konnte, nachdem ich den noch lebenden Teil ihrer Familie mit meinen dummen Entscheidungen nachhaltig traumatisiert hatte? Faye und Victor hätten sterben können – Aryana und Mitch hätten sterben können und sie waren noch immer nicht in Sicherheit. Ich hatte noch nichts auf ihren Dank erwidert und wollte mit angestrengter Mimik lediglich ein Kopfschütteln zum Abwimmeln andeuten, als die Brünette endgültig den Tränen verfiel. Sie fing wieder zu Reden an und es folgte ein Schwall an Worten, der meine Gesichtszüge erneut erschütterte. Schon die Tatsache, dass immer wieder eine oder zwei Tränen über ihre Wangen rollten, machte es schwierig, gleichzeitig auch noch inhaltlich ihren Worten zu folgen. Denn die hatten es in sich und sollten mir noch mal mit ordentlich Nachdruck einprügeln, dass ich mir keinen einzigen Tag zu viel Zeit lassen konnte. Egal wie unfair das sein mochte. Egal wie wenig sie das persönlich meinte. Die ganze Sache war viel zu persönlich geworden, als ich Faye da mit reingezogen hatte. Vielleicht war es nicht meine Schuld, dass die ältere der Cooper-Schwestern schon sehr lange sehr viel Schutt mit sich herum schleppte, den sie inzwischen nie mehr loszuwerden glaubte. Trotzdem würde ich mir für immer eine Teilschuld zuschreiben, wenn sie mir hier lang und breit sagte, dass Selbstmord so ziemlich der einzige Ausweg war, den sie überhaupt noch sah und ich nichts unternahm, um sie davon abzuhalten. Sie und Mitch. Aryanas Wut auf mich hatte ich nie persönlich genommen – das hier aber schon. Ich machte einen flattrigen, sehr tiefen Atemzug, ging auf Aryana zu und kramte im selben Moment irgendwo ganz tief in meinem Schädel nach einem Teil von mir, den ich nicht mehr wirklich angefasst hatte, seit ich aus der Army geflogen war. Nicht, weil ich ihn nicht gebraucht hätte, sondern weil die richtige Situation gefehlt hatte, um ihn wachzurütteln. Ich stellte mich selbst ganz hinten an, schluckte sämtliche Emotionen mitsamt Stolz runter und fokussierte mich auf das einzig wichtige im Raum - das von ihr losgelassene, wild umher schlagende Ruder der jungen Frau direkt vor mir. “Okay, hör mir zu…”, setzte ich an und legte meine Hände seitlich an ihre Oberarme, die endlos tief hängenden Schultern. “...und sieh mich an.”, forderte ich sie dazu auf, nicht mehr nur in die Leere zu starren, sondern mich ganz bewusst wahrzunehmen. Das ging auch durch den Tränenschleier, wenn sie sich ein bisschen anstrengte. “Ich nehme nichts von dem, was du mir für gewöhnlich alles an den Schädel knallst, jemals persönlich... aber das hier schon. Nicht wegen irgendeiner Schuld, sondern weil ich nicht zulassen werde, dass die einzigen zwei Soldaten, die mir in diesem Scheißladen was bedeuten, in irgendeinem sinnlosen Kugelhagel oder am nächstbesten Baum draufgehen." Wir waren nicht sowas wie Freunde – dafür fehlte seitens des Paares noch eine ganze Menge Vertrauen, das nicht aus einer Situation heraus erzwungen war. Doch ich vertraute ihnen längst. Vertraute darauf, dass meine Menschenkenntnis mich bei ihnen nicht täuschte. Ich mochte sie. Auf eine sehr schräge Art, die vermutlich darauf zurückging, dass wir allesamt völlig geschädigte, kaputte Veteranen waren. Jeder auf seine eigene und doch alle auf dieselbe Weise. "Und fair gibt’s in dieser Welt sowieso nicht… jedenfalls nicht umsonst, nicht wenn man sich’s nicht selbst nimmt. Genau deswegen müsst ihr einen Weg dafür finden, zumindest ein bisschen Energie zu tanken. Denn ganz egal, worauf der Plan am Ende genau hinausläuft – es wird definitiv kein Spaziergang, für mich nicht und für euch vermutlich noch weniger. Ihr braucht genug Kraft und auch euren Verstand, um noch diesen einen letzten Kampf durchzustehen… um Easterlin in den Arsch zu treten, weil er's nicht anders verdient hat und um euch endlich euer verdammtes Fair zu holen. Vielleicht siehst du das gerade nicht, weil dir alles zu viel geworden ist und du nicht klar denken kannst… aber ihr verdient das, alle beide.” Für einen kurzen Moment sah ich sie schweigend an, dann fuhr ich fort. “Ihr kommt gelegentlich vom Weg ab, aber eure Herzen sind rein. Sie sind so ehrlich wie kaum ein anderes… das hast du mir nie deutlicher gezeigt als jetzt und es ist mir unheimlich viel wert.” Keiner der geldgierigen Söldner in Easterlins Heer würde sich jemals hier vor mich hinstellen und wegen schlechten Gewissens an Suizid denken. Aryana und Mitch gehörten nicht hierher, all die Gewalt und die üble Moral innerhalb dieser Mauern machten sie endgültig kaputt. Zusätzlich zu allem anderen, weiß Gott was sonst noch in ihren Köpfen begraben lag… vielleicht wollte ich das lieber gar nicht wissen, weil es selbst eine unabhängige Frau wie Aryana in die Knie zwang und dazu brachte, ausgerechnet bei mir um Hilfe zu rufen. “Wenn ich also noch irgendwas tun kann, um euch mehr Luft zum Atmen zu geben, damit ihr ansatzweise zurück auf Kurs kommt, dann sag es mir bitte. Ich kann euch eine längere Schonfrist bis zum nächsten Einsatz einräumen, auch wenn ich mir dafür fünf gute Gründe aus dem Ärmel schütteln muss… ihr habt in den mehr als eineinhalb Jahren auch nicht alle erarbeiteten Urlaubstage abgebaut, die kann ich euch geben. Dafür brauch’ ich nicht mehr als eure Unterschriften auf den Urlaubszetteln. Ich greif' euch unter die Arme so gut ich kann, aber dafür muss ich wissen, womit ich euch am ehesten helfen kann, Aryana. Wir müssen auf Biegen und Brechen was von dem Wasser aus euren Fässern kriegen, sonst haben wir keine Chance da heil rauszukommen.” Ich sah die junge Frau ernst an, weil die Situation ganz genau das war – wortwörtlich todernst. Trotzdem schimmerten meine meist kühlen, graubraunen Augen ihr weich entgegen. Weil ich wusste, wie sie sich fühlte. Weil ich ihr keine Vorwürfe dafür machen würde, mit ihrer schier endlosen Kraft doch mal am Ende angekommen zu sein und das aus Verzweiflung nun alles auf mir abzuladen. Ihre Herzen waren stark, aber ganz ohne Verstand kamen sie damit nicht mehr weit. Nicht in einem Gefecht. Angesichts Aryanas Verfassung war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch so gut funktionierten und noch nicht durchlöchert worden waren. Nur reichte blankes Überleben nicht, um sie hier rauszuboxen. Später, wenn sie aus der Armee raus waren, brauchten sie den Urlaub jedenfalls nicht mehr. Es gäbe kaum einen besseren Zeitpunkt als sofort, um ihren geschundenen Körpern und Seelen eine Pause zu gönnen. Jetzt, bevor es zu spät dafür war. Ich konnte zwar aufgrund noch nicht vorhandenen Plans nur schwer abschätzen, ob uns eine tendenziell auffällige Ausfallzeit der beiden letztendlich in die Karten oder gegen uns spielte, aber das würde am Ende keine Rolle spielen, wenn sie ohne ein paar freie Tage mehr als üblich überhaupt nicht mehr bis zu ihrer Befreiung durchhalten konnten. Letzteres hatte oberste Priorität, denn andernfalls gingen wir ohnehin alle zusammen über Bord.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Sie hatte das alles eigentlich nicht gesagt, um von ihm Mitleid in irgendeiner Form einzuholen. Alles, was sie sagte, führte eigentlich deutlich aus, dass sie kein Mitleid wollte. Dass sie zwar fertig mit der Welt war, aber dafür niemand anderes als sich selbst verantwortlich machte. Aber Ryatt schien - einmal mehr - nicht ganz einig mit ihr zu sein. Auch wenn es sich diesmal deutlich anders ausdrückte als bisher. Er kam auf sie zu und blieb stehen. Sie konnte ihn vor sich sehen. Noch bevor sie seine Hände an ihren Schultern spürte und er sie ausdrücklich darum bat, nicht nur zuzuhören, sondern ihn auch anzuschauen. Sie blinzelte nach ein paar Sekunden Verzögerung schwer, um die eigentlich lästigen Tränen, die ihr heute scheinbar ausnahmsweise ziemlich egal waren, aus dem Weg zu bekommen und seinen Blick bewusst zu erwidern. Was plötzlich nicht mehr so leicht war, als er zu sprechen begann. Worte von sich gab, die sie so gar nicht erwartet hätte. Nicht nur weil er ihr damit deutlich vor Augen führte, dass sie ihn scheinbar zu Unrecht in mehreren Bereichen falsch eingeschätzt hatte, obwohl sie im Normalfall über eine relativ verlässliche Menschenkenntnis verfügte. Sie hatte nicht erwartet, dass sie ihm jemals so gegenüberstehen würde. Aber sie hätte auch nicht erwartet, dass er so reagierte würde, wenn der entsprechende Fall nun eben doch eingetroffen war. Er redete ziemlich viel auf sie ein. Das meiste verstand sie auch. Bis sie sich ein bisschen an dem Teil mit dem verdienen von Fair und den reinen, ehrlichen Herzen aufhängte, weil sie ihm hier selbstredend eher nicht zustimmen konnte. Sich sofort fragte, woher er das wissen wollte, wie er sich dieser Sache so sicher sein konnte und was das überhaupt bedeuten sollte. Wenn sie gerade nicht so verloren wäre, würde sie sich sicher daran erinnern, dass sie so ähnlich auch schon mit Mitch gesprochen hatte. Dass sie ihrem Freund auch schon tausend Mal gesagt hatte, dass er ein guter Mensch mit einem guten Herzen war, egal wie weniger er das glauben konnte. Aber diese Parallele wollte ihr in diesem Moment nicht auffallen - vielleicht irgendwann später, denn dass das, was Ryatt ihr hier eintrichterte, ihr noch viel Stoff zum Grübeln lieferte, war schwer zu erwarten. Schon nur weil er so eindringlich auf sie einredete. Trotzdem schwieg sie erstmal, als er geschlossen hatte. Blickte ihn an und zeigte leicht verzögert ein schwerfälliges Nicken, weil ihr auffiel, dass sie noch keine Antwort bereithielt. Dem Nicken folgte irgendwann ein zweites leises "Danke", bevor sie die Nase hochzog und erneut ein paar Mal blinzelte, um die Tränen aus dem direkten Blickfeld zu wischen. "Ich... ich muss Mitch fragen... Vielleicht wären ein paar Tage Pause... ganz gut", bemühte sie sich, eine konstruktive Antwort auf seine indirekte Frage zusammen zusetzen. Zu viel Freizeit konnte natürlich auch nach hinten losgehen. Sie sah sich zum aktuellen Zeitpunkt eher nicht in der Lage, dann wirklich den Arsch hochzukriegen, um Ausflüge zu planen und zu unternehmen. Und zuhause bestand immer das sehr hohe Risiko, dass sie zu tief in ihrem Kopf versank und sich immer weiter selbst zerfetzte, bis nichts mehr von ihrer Vernunft übrig blieb. Trotzdem. In diesem Zustand zu kämpfen und Einsätze zu absolvieren, war natürlich auch brandgefährlich. Sie wusste nicht wie, aber hatte es bisher irgendwie geschafft. Das war jedoch keine Garantie dafür, dass sie weiter so viel Glück hatte und auf ihren Verstand konnte sie offensichtlich nicht mehr jederzeit vertrauen. "Und... und wenns irgendwie geht... Einsätze, die nicht... die nicht so viel Mord fordern... falls das möglich ist...", folgte die zweite zögerliche Bitte, die sie an niemand anderen als ihn richten konnte. "Es wird immer schwieriger, weisst du..? Abzudrücken, wenn ich genau weiss, dass ich treffen werde... Man könnte meinen, es würde keine Rolle mehr spielen, weil ichs schon so oft getan habe... Aber die Schüsse, die ich heute setze, dienen nicht mehr der reinen Verteidigung, wie das damals der Fall gewesen ist... als ich noch ganz naiv geglaubt habe, meinem Land irgendwas... schuldig zu sein... Und das... Ich kann das nicht mehr.", versuchte sie die Gründe etwas auszuführen, damit er verstand, was ihr Anliegen war. Bezahlte das selbstverständlich mit einem Schwall neuer Tränen, der sie nun doch dazu zwang, einen Moment die Augen zu zu drücken, als würde das dem Schmerz entgegenwirken, der durch die Gedanken allein schon viel zu pochend provoziert wurde. Nüchtern betrachtet war es eine Frage der Zeit, bis sie irgendwann in einer entscheidenden Situation plötzlich nicht mehr abdrückte. Oder willentlich daneben zielte. Beides war in ihrem Job mit ihrer Funktion ähnlich lebensgefährlich wie ein Sprung von der Brücke.
Es folgte Schweigen, das ich nicht wirklich zu interpretieren wusste, weil es mindestens drei Ursachen haben konnte. Danach ein sehr träges Nicken als erste aktive Reaktion auf all die Worte, die ich Aryana ungefragt serviert hatte… und daraufhin folgte eine weitere Danksagung, die nicht nötig gewesen wäre. Trotzdem nahm ich es diesmal gerne mit einem gut sichtbaren Nicken an, damit Aryana nicht glaubte, ihr Dank wäre mir nichts wert. Dem war nicht so, ich tat mir nur wegen der elenden Schuldgefühle schwer damit, ihn auch anzunehmen. Ich hatte grundsätzlich das Gefühl, nie mehr als das allermindeste zu tun. “Sicher, mach das… gebt mir einfach Bescheid, wenn ihr euch besprochen habt.”, segnete ich ab und meine Mundwinkel zuckten für den verzweifelten Versuch eines aufbauenden Lächelns kurz nach oben. Spätestens Aryanas noch folgende Bitte hätte das ohnehin nicht richtig vorhandene Lächeln aber wieder erstickt. Ich konnte schon etwa ahnen, woher dieses verzweifelte Anliegen kam, bevor sie mir etwas zu detailliert vor Augen führte, weshalb sie das alles nicht mehr konnte. Es tötete sie, zu töten. Immer wieder noch mehr Leben auszulöschen, als wäre das die Bestimmung ihres Lebens, nach der sie nie wirklich gefragt hatte. Es brach mir heute nicht weniger das Herz als früher, wenn einer der mir unterstellten Soldaten mit den Nerven am Ende zu mir gekommen war. Es war nie schön zu hören, nie schön zu sehen. Meistens machten sie damit aber den einen wichtigen Schritt, der sie davor bewahrte, ihr Leben schon am nächsten Tag auf dem Schlachtfeld zu geben. “Ich weiß, wie du dich fühlst… mir ging’s ähnlich, bevor die Army mich hauptsächlich hinter den Schreibtisch gesetzt hat.”, ließ ich Aryana murmelnd wissen, als sie gerade sehr offensichtlich die Folgen dieses jahrelang gefressenen Schmerzes ausbadete. Ich schluckte leise, streichelte mit der rechten Hand flüchtig über den Stoff an ihrem Oberarm und hätte sie auch jetzt eigentlich gerne umarmt, hielt das aber für eine weiterhin unausgesprochene Grenze… obwohl die Brünette mir gegenüber gerade ziemlich viele davon weggeworfen hatte. Trotzdem betrachtete ich diese weiße Fahne noch als gebrechlich und ließ die Hände lieber von ihren Armen rutschen. “Setz’ dich erstmal.”, riet ich Aryana und deutete mit einem seitlichen Nicken auf den kleinen runden Esstisch nahe der Küche, bevor ich mich von ihr abwendete. Die Meinung der anderen Soldaten interessierte sie zwar für gewöhnlich einen feuchten Dreck, aber es war für Niemanden aus unserem Team und für die noch kommende Mission von Vorteil, wenn sie gleich nach Klärung der wichtigsten Punkte erstmal verheult auf den Flur marschierte – aus meinem Zimmer. Hinkend holte ich Aryana ein Glas Wasser aus dem winzigen Küchenbereich und reichte es ihr. Dann sammelte ich noch eine angebrochene Packung Taschentücher nahe des kleinen Zweisitzer-Sofas ein, bevor ich zu ihr aufschloss. “Leben zu nehmen ist nie umsonst. Beim ersten Mal am wenigsten, aber jedes davon fordert seinen Tribut.”, redete ich ruhig weiter, als ich die Taschentücher vor ihr auf den Tisch legte. Die meisten Menschen wurden von ihrem ersten Mord – egal ob durch das Militär legal ausgeführt oder nicht – viele Tage lang verfolgt. Es wurde irgendwann leichter, immer wieder abdrücken… so lange, bis es dann wieder schwerer wurde. Mit jedem ausgelösten Tod starb ein Teil von einem selber. Zuallererst die Unschuld, dann Stück für Stück die mentale Gesundheit, bis später der eigene Lebenswille folgte. “Außer man ist ein Psychopath, dann wohl nicht.”, schob ich einen trockenen Witz hinterher. Dabei setzte ich mich auf den zweiten Stuhl am Tisch. Der Humor diente an dieser Stelle dazu, mich selbst ein bisschen zu beruhigen und Aryana außerdem zu verdeutlichen, dass sie gar nicht so kaputt war, wie sie gerade zu sein glaubte. Es gab viele längst für immer verlorene Seelen da draußen, ihre war aber noch zu retten. “Wie du dir schon denken kannst, gibt es wenig bis gar keine Aufträge ganz ohne Opfer… aber ich werde versuchen, euch hauptsächlich nur noch fürs Scouten vor der aktiven Ausführung einzuteilen. Easterlin predigt ja so gerne, wie ersetzbar seine kostbarste Ressource ist – das kann ich dann genauso gut als Argument fürs Tauschen von Positionen nutzen, falls er nachfragen sollte. Meistens hat er zum Glück sowieso Besseres zu tun, als sich die Pläne anzusehen.”, kam ich auf Aryanas ursprüngliche Bitte zurück, sah sie dabei ruhig an und zuckte ein wenig mit den Schulterm. Als Soldat einer Privatarmee gar nicht töten zu müssen, war quasi ein Ding der Unmöglichkeit. Ich konnte es aber nach bestem Gewissen auf ein Minimum reduzieren, so weit wie mir die Arten der Aufträge das ermöglichten.
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Da musste sie ausnahmsweise nicht drüber nachdenken als wäre das aktuell irgendwie produktiv, sondern konnte getrost direkt bestätigend nicken. Sie würde mit Mitch reden und Ryatt hätte schätzungsweise spätestens morgen seine Antwort. Auch wenn sie sich gleich sehr gut überlegen musste, wie sie Mitch denn überhaupt erklären sollte, dass sie bei Ryatt gewesen war. Und warum. Sie hatten ehrlich zueinander sein wollen, hatten das oft genug zusammen besprochen... aber in diesem Fall war sie sich wirklich nicht sicher, ob Ehrlichkeit der richtige Weg war. Ein weiteres Problem für später. Dass die Sache mit dem Morden kein exklusives Aryana-Problem, sondern eher ein weit verbreitetes Berufsmörder-Problem war, wusste sie eigentlich. Sie hatte jetzt nicht unbedingt damit gerechnet, dass Ryatt ihr hier zugestehen würde, einmal an einer ähnlichen Stelle gestanden zu haben, aber überraschend war die Information kaum. Sie hatte es so oft gesehen, damals in Syrien. Hier tatsächlich noch nie, was jedoch sicher auch damit zusammenhing, dass sie hier mit so gut wie niemandem befreundet war. Mit maximal einer Handvoll Personen je auch nur einigermassen persönlich gesprochen hatte - Mitch und Ryatt inklusive. Und das wäre Voraussetzung dafür, sowas zu erfahren. Aber von Zusammenhalt und Teamgeist fehlten in Easterlins Army weitgehend jede Spur... oder sie hatte sie noch nicht gefunden, weil sie sich bewusst abkapselte und mit niemandem nichts zu tun haben wollte. Trotzdem verzichtete sie erneut erstmal auf eine Antwort, weil ihr sowieso keine schönen Worte einfallen wollten. Weil es zu diesen ganzen Tragödien, die sich Krieg und ähnliche menschliche Abgründe schimpften, viel zu viel und doch auch einfach nichts zu sagen gab. Besonders nicht für sie, die mit Worten oft nicht genau das ausdrücken konnte, was es wirklich zu sagen gab. Und besonders nicht jetzt, wo diese begrenzte Begabung sowieso komplett den Bach runter gegangen war. Eigentlich hatte sie jetzt, nach diesem ganzen glamourösen Auftritt mit - zumindest gemäss ihrem Bewusstsein - absolut nicht dem geplanten Ausgang, gehen wollen. Aber Ryatt forderte sie auf, sich zu setzen und ihre langsam wieder aufwachenden Hirnzellen konnten sich nach ein paar Sekunden ausrechnen, dass das vielleicht besser war. Vor allem weil sie möglicherweise nicht gut genug aussah und zu stark durch den Wind war, um das Risiko, hier auf dem Flur irgendwem zu begegnen, eingehen zu wollen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit schon vergangen war, aber Mitch war wahrscheinlich auch noch nicht fertig, weshalb die weitere Verzögerung keine Rolle spielte. Somit folgte sie Ryatts Rat, stiess sich nach einem bemüht tiefen Atemzug von der Tür ab und ging zum Esstisch, wo sie sich schwerfällig auf einem der beiden Stühle niederliess. Mit einem leisen "Danke" nahm sie das Wasserglas entgegen, führte es mit einer mechanischen Handbewegung an den Mund, um davon zu trinken, obwohl sie sich nicht durstig fühlte. Jedenfalls nicht durstig nach Wasser. Ryatt schloss mit einer Packung Taschentücher zu ihr auf und auch hier waren es mehr irgendwelche Automatismen, denen sie folgte, als sie das Glas abstellte, um stattdessen ein Taschentuch aus der Packung zu kramen und sich damit die Nase zu putzen und die Augenwinkel zu trocknen. In der wagen Hoffnung, der Gefühlsausbruch fand hier sein Ende... die aber gleich wieder zunichte gemacht wurde, als Ryatt ihr sagte, was sie eigentlich bereits wusste: Dass Aufträge ohne Mord bei diesem Arbeitgeber Wunschdenken waren. Ungeachtet seiner restlichen Worten verlieh diese Information ihren Tränendrüsen gleich wieder ein bisschen Aufschwung. "Ich... ich weiss... Das... das wäre schon gut... danke", nuschelte sie schlecht verständlich ins Taschentuch, auch wenn es natürlich nicht gut war und sie sich hier ziemlich out of character bereits zum dritten Mal in sehr wenigen Sätzen bedankte. Vielleicht hätte sie das gar nicht erst aussprechen sollen. Sie konnte beinahe spüren, wie ihr Widerstreben, zu töten, mit jedem Wort grösser wurde. Jetzt, wo sie es so deklariert hatte. Aber es war zu früh. Sie war hier noch nicht raus. Aryana versuchte erneut, durchzuatmen, ihr Herz, ihre Atmung und den Sturm in ihrer Seele zu beruhigen. Es brauchte auch diesmal einen Moment der Stille, bis sie sich für die nächsten Worte aufraffen konnte. "Geht... geht das wieder weg..? Irgendwann? Wie lernt man, damit zu leben, wenn es Dinge sind, die mit nichts je wieder gut gemacht werden können?", sie stellte ihm heute Fragen, als wäre er ein Hellseher oder ein allwissender Guru. Was sie sonst nie tun würde, aber was hatte das heute schon zu bedeuten? Er hatte gesagt, dass er ähnliche Gefühle kannte, also konnte er ihr vielleicht auch beantworten, worauf sie sich einstellen musste, sollte sie wider Erwarten doch noch mehr als drei Monate diesen Planeten schädigen. Vielleicht war er auch die falsche Anlaufstelle für solche Tipps, wenn sie sich seinen Lebenslauf ins Gedächtnis rufen würde. Vielleicht aber auch genau die Richtige, weil er daraus Dinge gelernt hatte, die sie vor dem ein oder anderen Sturz in den Dreck bewahren könnte.
Gut war nicht gut genug, nicht unter diesen offensichtlich sehr prekären Umständen. Es war aber alles, was ich in dieser Sache für Aryana und Mitchell tun konnte. Ich bearbeitete meine Unterlippe kurz mit den Zähnen, als die Brünette ein weiteres Mal mit den Tränen zu kämpfen begann. Es war mir nach wie vor unangenehm, sie so zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass ich an einem zu großen Teil ihres Ballasts mitschuldig war. Wenn auch nur indirekt, weil ich nicht derjenige war, der Faye und Victor entführt und gefoltert hatte. Ich stellte mir diese Schuldfrage jedoch selbst noch viel zu oft von Neuem, um sofort auf die zögerlichen Fragen der jungen Frau gegenüber antworten zu können. Mit einem tiefen, offensichtlich nachdenklichen Atemzug legte ich die Hände auf dem Tisch ab und durchbohrte meine Finger einige Sekunden lang mit meinem Blick, so als hätten sie die Antwort auf diese schwierige Frage parat. “Ich glaube, dass jeder mit dieser Schuldfrage letztendlich einen anderen, eigenen Weg gehen muss… weil jeder dieses Konstrukt aus Schuld und schlechtem Gewissen anders in seinem Kopf aufbaut.”, wollte ich allem voran loswerden, dass ich ihr keine optimale Problemlösung dafür bieten konnte. Ich hob den Blick wieder an und sah Aryana an. Natürlich konnte ich ihr sagen, wie ich damit lebte – das bedeutete aber nicht, dass das für Aryana dann genauso gut funktionierte. Ich kannte sie nicht besonders gut, aber die junge Frau unterschied sich charakterlich in einigen Punkten definitiv von mir. Nur den Ehrgeiz und die meistens vorhandene Zielstrebigkeit, wenn wir uns was in den Dickschädel gesetzt hatten, schien eine Parallele zu bilden. “Aber wenn ich nicht grade bis zum Hals in Gefühlen stecke, mit denen ich schlecht umzugehen weiß, dann bin ich eigentlich ein sehr… realistisch veranlagter Mensch. Ich versuche, möglichst alles aus einer objektiven Perspektive zu betrachten. Das hilft grundsätzlich ungemein bei Problemlösungen, weil man den persönlichen Aspekt dabei ausblendet… aber das kann meiner Erfahrung nach nicht jeder Mensch.” Aryana war eine sehr viel leidenschaftlichere Person als ich. Das konnte ihr ebenso viel Auftrieb geben, wie es sie zu Fall bringen konnte. Im ersten Moment befreite sie ihre Schwester mit Feuereifer und stellte sicher, dass sie nie wieder dieselben Qualen erleiden müssen würde, doch im nächsten Moment steinigte sie sich selbst dafür. Tag für Tag, mit exakt derselben Leidenschaft. “Ich hab mir…”, setzte ich zögernd an, weil ein Teil von mir nach wie vor damit haderte, Aryana allzu persönliche Dinge über mich zu erzählen. Doch ihre jüngere Schwester hatte mir auch damit geholfen, zumindest ein bisschen unbeklemmter über mich selbst reden zu können. Jedenfalls über Dinge, die ich im Ansatz schon verarbeitet hatte. “Ich hab mir sehr lange die Schuld am Tod meiner damaligen Freundin gegeben und bin aus diesem Loch nie wirklich raus gekommen… bis Faye mir mehr oder weniger gesagt hat, dass das eigentlich völliger Blödsinn ist. Ich hatte mich bloß so sehr in der Trauer und den Schuldgefühlen verrannt, dass ich das gar nicht sehen wollte. Ich wollte Schuld daran sein, weil das für mich einfacher war als zu akzeptieren, dass das Universum einem nicht gerne in die Karten spielt. Dass die Entscheidungen, die man trifft, niemals nur einen einzigen Grund oder Auslöser haben, sondern ein Zusammenspiel aus hunderten Aspekten sind. Dass ich mich ganz sicher nicht bewusst dafür entschieden habe, sie durch ihre Versetzung damals in den Tod zu schicken. Ich hab Dinge gern unter Kontrolle, was wiederum wohl einer von vielen Gründen dafür ist, warum’s mir auch nicht besonders gut geht… gefühlt rinnt mir nur noch konstant alles durch die Finger, seit ich aus der Army geflogen bin.”, seufzte ich. Ich würde am liebsten behaupten, dass Ave mich gar nicht mehr in meinen Träumen heimsuchte, aber es war zumindest weniger geworden. Viel weniger. Dafür spukte Faye da jetzt zusätzlich rum und mir schienen sämtliche Optionen für ein gutes, erfülltes Leben ständig nur so durch die Finger zu rutschen, während ich auch noch die Leben anderer Menschen in Mitleidenschaft zog. Aber hey, immerhin hatte ich keine Suizidgedanken. Ich machte eine kurze Pause, schüttelte leicht den Kopf und sprach weiter: “Was ich damit sagen will ist, dass viele Menschen mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen förmlich danach suchen, sich immer weiter selbst fertig zu machen, weil sie glauben, dass sie es nicht anders verdient hätten. Man sträubt sich mit allen Mitteln dagegen, aber man muss genau dieses Muster unterbrechen. Das macht jeder anders, aber ein mehr oder weniger nüchternen Blick von außen kann dabei oft helfen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dir in neun von zehn Fällen sagen könnte, dass es nicht deine Schuld war… was jetzt keine direkte Aufforderung sein soll, ich meine bloß…” Ich kappte den Satz einfach, ohne ihn noch irgendwie zu beenden, atmete einmal etwas tiefer durch und ließ mich langsam nach hinten an die Stuhllehne kippen, woraufhin meine Hände nur noch an der Tischkante lagen. Ich war wohl eher nicht die richtige Person dafür, mir ihre halbe Lebensgeschichte anzuhören. “Stellt Mitch sich dieselben Fragen wie du?”, hakte ich nach, obwohl ich mir der Antwort schon ziemlich sicher war. Denn wäre dem nicht so, hätten sie sich wahrscheinlich längst gegenseitig zurück auf die Beine geholfen. Oder zumindest dafür gesorgt, nicht ganz so heftig auf die Schnauze zu fallen. “Er war ja schonmal ziemlich tief am Boden in seiner Zeit hier, soweit ich weiß… wie ist er da raus gekommen? Er war ja nie mehr auffällig, bevor…”, er wieder damit angefangen hat, ausschließlich jeden Tag auf dem Stützpunkt alle Menschen, die ihm über den Weg liefen, gedanklich mit Blicken zu töten. Aryanas Freund hatte per se schon keine besonders freundlichen Gesichtszüge, aber wenn er miese Laune hatte – weil es ihm wohl ähnlich beschissen ging – dann machte man erst recht freiwillig einen großen Bogen um ihn.
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Das war ein sehr diplomatischer Start zu einer Antwort, den er hier hinlegte. Sicher auch akkurat, denn alles, was die Psyche betraf, war immer individuell. Es gab nie Lösungen, die auf jede Person passten und darum war ihre Frage vielleicht auch nicht sinnvoll gewesen. Aber vielleicht konnte sie ja etwas aus seiner Antwort mitnehmen, das ihr dann helfen würde, doch nochmal die Kurve zu kriegen... wenn er wider Erwarten in drei Monaten einen Plan präsentierte und sie tatsächlich noch weiterleben musste. Sowohl sein einleitender Disclaimer als auch das, was er nach einem minimalen persönlichen Input sagte, klang, als würde es direkt einer Therapiesitzung entspringen. Zumindest stellte sie sich das so vor, mit Erfahrung konnte sie bekanntlich nicht punkten. Aber das erste war eine Info, die ihr eigentlich selbst schon klar gewesen war und das zweite war ein wenig hilfreicher Tipp, der zwar sinnvoll klang, aber zu dem sie einen sehr detaillierten Plan zur Umsetzung bräuchte, weil how the fuck sollte das bitte gehen? Den persönlichen Aspekt ausblenden? Seine Erfahrung stimmte wohl, das konnte nicht jeder Mensch. Und sie sah sich jetzt nicht unbedingt im Lager der Personen, die das konnten. Aber Ryatt war noch nicht fertig. Sie senkte fast unmittelbar den Blick, als er ihr direkt mehrere sehr persönliche Details und eine schmerzliche Erfahrung, die er scheinbar hatte machen müssen, zu Ohren kommen liess. Sie hatte das nicht gewusst. Faye hatte ihr nie davon erzählt und Ryatt sowieso nicht. Trotzdem war es letztendlich ein anderer Satz als den mit seiner verstorbenen Freundin, der auf das Karussell in ihrem Kopf aufsprang und seine Runden drehte. Er wollte Schuld daran sein, weil das einfacher zu akzeptieren war. Wollte sie - beziehungsweise ihr Unterbewusstsein - das auch? Seinen Wunsch nach Kontrolle konnte sie bestens nachvollziehen, weil sie den genauso hegte. Vielleicht war das eines ihrer Probleme. Aber sie sah sich nicht unbedingt in der Lage, hier irgendwas loszulassen. Zumal die Dinge, die sie zu kontrollieren geglaubt hatte, längst in der Vergangenheit lagen. In ihrem aktuellen Leben konnte sie Ryatts Hand schütteln - alles Bonn ihr durch die Finger und Kontrolle hatte sie schon lange keine mehr. Da war kein Plan mehr gegeben, keine Orientierung, zwar ein schwaches Ziel, aber das war so unerreichbar, dass sie es ebenfalls nicht unter Kontrolle hatte. Sie sich mittlerweile wies schien ein neues, einfacher zu erreichendes Ziel geschaffen hatte: Einfach zu sterben. Ob er Recht hatte mit der Vermutung, dass sie nicht schuld war an den Dingen, für die sie sich die Schuld gab, wusste sie nicht. Sie würden es auch nicht herausfinden, da sie dankend darauf verzichteten würde, hier irgendwelche Geschichten auszupacken. Sie war ja auch ohne entsprechende Erzählungen in dezent chaotischem Zustand. Der sicherlich nicht besser wurde, wenn Ryatt nun den Fokus auf Mitch lenkte und damit wahrscheinlich eher ungewollt den Finger in eine eh schon blutende Wunde drückte. Mitch war auch ein Grund für ihr schlechtes Gewissen. Sie hatten es fast geschafft, zumindest mental. Und dann dieser Totalabsturz... Aryana wollte eigentlich nicht mehr weinen. Ihr Verstand war nach und nach wieder aufgewacht und sie wusste, dass noch mehr Tränen dazu führen würden, dass ihr Gesicht auch in zwei Stunden noch entsprechend verräterisch aussehen würde. Aber leider waren ihr heute wies schien sogar in diesem Bereich jegliche Zügel aus der Hand geglitten. "Das... das mit deiner Freundin tut mir leid", das hatte sie noch sagen wollen, eigentlich schon vor fünf Minuten. Als Person mit zu viel Erfahrung, was den Verlust von Lieblingsmenschen anging, erschien es ihr wichtig, ihm das zu sagen, wenn er schon sowas mit ihr teilte. Es tat ihr immer leid, wenn jemand eine enge Bezugsperson oder Angehörige verlor und ihr Herz fühlte immer ein bisschen zu stark mit. Auch wenn das mit dem ganzen Rest aktuell vielleicht nicht mehr viel ausmachte. Dass sie versuchen würde, sich seinen Rat zu Herzen zu nehmen, erwähnte sie an dieser Stelle nicht explizit, weil ihr Kopf eben schon bei Mitch hing. Wobei sie Ryatts Frage hier nur mit einem traurigen, schwerfälligen Nicken bestätigen konnte. Vor drei Monaten hatten sie noch versucht, viel darüber zu reden, um die Dämonen nochmal loszuwerden. Hatte nicht so nachhaltig funktioniert, weshalb auch diese anstrengenden, schmerzhaften Gespräche weniger geworden waren. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, wenn sie beide doch bereits so genau zu wissen glaubten, womit der andere kämpfte. Aber ja, sie war sich ziemlich sicher, dass Mitch mit sich weiterhin mit den mehr oder weniger gleichen Fragen quälte wie sie. Einzig das Ausmass konnte sie nicht mehr so genau einschätzen, war sich nicht sicher, ob er schon genauso weit war wie sie. Vielleicht, weil sie Angst vor der Wahrheit hatte. Vielleicht, weil sie nicht ertragen konnte, darüber zu reden. Vielleicht, weil sie ihn nicht damit belasten wollte, wie schlecht es diesmal wirklich um sie stand. Der gleiche Weg wie letztes Mal schien damit eher schwer zugänglich... "Das letzte Mal... sind wir fast gestorben... womit ihm bewusst wurde, dass er das eigentlich nicht will... Und dann haben wir sehr viel geredet... er hat... Frieden mit seiner Vergangenheit geschlossen...", mehr brauchte sie nicht zu erklären, die Tränen waren so schon unhaltbar genug. Dass ein Besuch bei Jetman und eine Psychotherapie für den Frieden nötig gewesen waren, sah sie nicht unbedingt als relevant. Das war bereits in den Teil mit der Vergangenheit gepackt. Beides würde diesmal kaum helfen. "Ich... ich seh' uns da leider diesmal nicht so... selber rauskriechen... dafür sind wir gemeinsam zu tief gefallen... und ich glaube nicht, dass... dass einer von uns die Kraft hat... beide zu tragen", weder die Kraft, noch die Möglichkeit, fügte sie gedanklich an. Aussprechen tat sie auch das nicht, weil der Kloss in ihrem Hals zu dick wurde und sie befürchtete, gleich auch noch mit hoffnungslosem Schluchzen anzufangen. Das konnte sie nicht bringen, sie sollte doch aufhören zu weinen und nicht alles nur noch schlimmer machen. Dafür war der Gedanke, Mitch im Stich zu lassen, viel zu schrecklich. Das Gefühl, so kurz vor dem Ziel gewesen zu sein, nur um dann zu merken, dass sie einer Fata Morgana gefolgt waren. Aryana stützte die Ellbogen auf den Tisch, um das verheulte Gesicht in ihre Hände sinken zu lassen. Eigentlich sollte sie gehen. Offensichtlich war alles, was sie hier zustande brachte, noch einen weiteren Menschen tiefer in den Sumpf zu reissen.
Ich nickte nur ein wenig und wich Aryanas Blick gezielt aus, als sie allem voran einmal kurz auf die Sache mit Avery zu sprechen kam. Die Erinnerung an sie war noch immer schmerzhaft, weshalb wir diesen Teil des Gesprächs damit getrost zu den Akten legen konnten. Es war wichtiger, wie es Mitch ging, als in meiner Vergangenheit zu wühlen. Leider bestätigte die junge Frau mir meine unausgesprochene Vermutung. Dabei flossen noch mehr kleine Tropfen ihre Wangen hinab, was ich wissentlich in Kauf genommen hatte. Es mochte Aryana unangenehm sein, hier vor mir auf die Tränendrüse zu drücken und unserer Tarnung kam ein noch besser sichtbar verheultes Gesicht nicht zugute, aber an und für sich war es gut, wenn sie ihren Emotionen trotzdem den nötigen Raum gab. Dass sie mal raus ließ, was sich offensichtlich schon viel zu lange angestaut hatte. Ich versuchte sie nicht förmlich anzustarren, während sie erzählte, aber ich nahm den Blick dennoch nicht wirklich von ihrem Gesicht. Ich wollte sehen können, was sich darin abspielte, während Aryana weiterhin so sprach, als wäre das ganze Spiel ohnehin schon verloren – nicht nur für sie, sondern auch für ihren Freund, der vor einiger Zeit offensichtlich Auftrieb darin gefunden hatte, eben eigentlich nicht sterben zu wollen. Vor allem wahrscheinlich auch darin, dass er seine Geliebte nicht sterben sehen wollte. An dieser Stelle wäre für mich gut zu wissen, mit was für einem Teil seiner Vergangenheit er damals abgeschlossen hatte und ob das durch diesen neuen, knallharten Absturz revidiert worden war. Ob sein Schädel in demselben alten Muster nur von neuem drin hing, oder ob es sich um eine neue Stufe von Schuld und Selbsthass drehte – wie sehr er und seine Freundin tatsächlich am selben Rad drehten und worin sie sich dabei unterschieden. Doch das müsste ich Mitch fragen, nicht Aryana. Erstens war er nicht hier – wieso eigentlich nicht? – und zweitens war ich mir relativ sicher damit, dass er mir nicht antworten würde. Außer er war tatsächlich genauso am Ende wie seine Freundin und sah keinen Sinn mehr darin, mir sein kaputtes Inneres zu verschweigen. Für uns alle hoffte ich jedoch, dass er noch nicht an diesem Punkt angekommen war. Aryana trampelte hier auf ziemlich vielen meiner verbleibenden Hoffnungsfunken herum, aber alle hatte sie nicht platt gemacht. Noch nicht. “So ungerne ich das auch ausspreche…”, setzte ich nach ein paar Sekunden Stille, in denen ich nachgedacht hatte, mit einem tiefen Atemzug an. Wog den Kopf kaum sichtbar hin und her, so als müsste ich mir erst noch überlegen, ob ich das wirklich aussprechen wollte. War aber gar nicht so. Ich scheute mich nur vor noch mehr Tränen auf der Gegenseite, einem richtigen Wasserfall. “...wird euch aber wohl niemand außer euch retten können. Ihr seid selbst eure größten Feinde. Würdest du jemals so mit Mitch reden, wie du mit dir selbst redest? Oder umgekehrt? Ich denke nicht.”, machte ich erstmal eine weitere Feststellung, die selbst für mich als Außenstehenden ziemlich offensichtlich war. Wenn man sich selbst jeden Tag aufs neue mit Vorwürfen zerfleischte, dann konnte einen normalerweise nur eine Person vom Gegenteil überzeugen, die einem wirklich am Herzen lag und umgekehrt. So verschlossen, wie ich Aryana bis zum heutigen Tag erlebt hatte, würde es da nicht viele Menschen zur Auswahl geben. Außerdem war die Thematik auch schlichtweg nicht für jedermanns Ohren geschaffen. Immerhin hatte freiwillig ausgeführte, schlimme Folter zu diesem Geisteszustand geführt. “So wie ich dich einschätze, wirst du mit diesen Dingen nicht zu Faye gehen… aus guten Gründen. Sie ist aber – glaube ich mal – abgesehen von Mitch wahrscheinlich die einzige Person, die dafür infrage kommen würde.” Hätte sie Faye etwas davon erzählt, hätte die sich wiederum sicher verzweifelt bei mir gemeldet. Vermutlich nicht direkt mit der Frage danach, ob ich irgendwas für Aryanas Seelenwohl tun konnte, aber mit der Frage, wie weit ich mit meinem non-existenten Plan war. Nur um dann vielleicht auch in Tränen auszubrechen, weil sie grundsätzlich nah am Wasser gebaut war, und dann anschließend mit der Sprache rauszurücken. “Deswegen sitzt du wohl hier bei mir… weil du es Faye nicht sagen kannst und weil du Mitchs Reaktion weder hören, noch sehen willst.”, schlussfolgerte ich mir selbst, klang dabei aber absolut frei von jeglichen Vorurteilen. Ich hatte Avery damals viele Dinge verschwiegen. Sogar viele sehr banale Dinge, die absolut nichts mit Suizid zu tun hatten. Es gab wohl kaum eine schwierigere Hürde, als einer geliebten Person etwas zu beichten, von dem man ganz genau wusste, dass sie es nicht hören wollte. Dass sie verletzen oder anderweitig erschüttern würde. Trotzdem führte nicht immer ein Weg dran vorbei und so wie ich das sah, hatte Aryana schon sämtliche andere Abkürzungen erkundet – ihr blieb nur noch diese Abzweigung. “So gern ich’s auch tun würde, kann ich dich aber nicht mit irgendwelchen Ratschlägen oder Ideen retten. Vor Easterlin hoffentlich, ja, aber nicht vor dir selbst. Dafür kenne ich dich bei Weitem nicht gut genug, Aryana.” Ich faltete die Hände ineinander und knetete sie leicht, was meiner eigenen inneren Unruhe entsprang. In meinem Gesicht spiegelten sich Mitgefühl und Unbehagen wieder. Wenn Mitch sie nicht wieder hochziehen konnte, dann konnte es wahrscheinlich auch sonst Niemand. Dann konnte ich mir den ganzen Plan sparen und die beiden, wenn es auch für seine Seele tatsächlich schon völlig zu spät war, Hand in Hand von der nächstbesten Brücke springen lassen. "Warum bist du alleine hier?" Eine eigentlich rein rhetorische Frage, die ich mir quasi selbst beantworten konnte, aber ich wollte sie damit noch etwas mehr triggern. Es schmerzte mich selbst, ihr ein ums andere kleine Messer in die ohnehin schon in Sturzbächen blutenden Wunden stechen zu müssen und obwohl sie weinte, fürchtete ich mich noch immer ein winziges bisschen davor, gleich über den Tisch hinweg erwürgt zu werden. Trotzdem musste ich Aryana aber genau da treffen, wo es noch weh tat. An Stellen, die sich für sie noch nicht taub und völlig tot anfühlten. An Stellen, die sie daran erinnerten, dass sie sehr wohl noch lebte und das nicht allein. Da klebte Jemand seit ein paar Jahren sehr vehement an ihrer Seite. Jemand, der Aryana am Ende wahrscheinlich hier abholen musste und mich dann seinerseits erwürgen würde, wenn das hier so weiterging.
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Er wollte nicht über den Verlust seiner damaligen Freundin sprechen. Sie hatte zwar auch keine Frage gestellt - weil sie auch nicht unbedingt über sie sprechen musste, da sie bereits mit genügend eigenen traurigen Gedanken gesegnet war - aber sein knappes Nicken war Botschaft genug. Darin waren sie sich also ähnlich. Ausser, dass Aryana sich gerade nicht wirklich so verhielt, als möchte sie tatsächlich nicht über die Tragödie, die ihr Leben aktuell darstellte, sprechen. Zumindest nicht so vehement wie das im Normalfall üblich war. Ihre Antworten kamen zögerlich und mühsam, aber sie verbot ihm nicht das Fragen und putzte ihn auch nicht giftig ab, was definitiv ungewöhnlich für sie war. Fast so ungewöhnlich wie die Tränen, die nicht wirklich ein Ende fanden. Es auch nicht zeitnah tun würden, wenn er weiter so mit ihr redete. Ihr sehr direkt und deutlich sagte, dass sie so nicht wieder hoch kam, dass sie sich selbst anstrengen musste, wenn sie nicht wollte, das sowohl sie als auch ihr Freund ein für alle Mal dem Untergang geweiht waren. Eigentlich wusste sie das. Sie fand nur die Kraft nicht mehr, um diese Anstrengung zu bewältigen. Und nein, natürlich würde sie Mitch nicht die gleichen Vorwürfe machen, wie sie sie sich selbst machte. Und natürlich würde Mitch ihr all die Dinge, mit denen sie sich selbst fertig machte und für die sie sich so hasste, nicht vorwerfen. Das war auch eine Sache, die sie schon durch hatten. Die sie immer wieder sah, wenn sie mit Mitch sprach oder er sie schon nur anschaute. Auch wenn sie oft genug danach gesucht hatte, war diese blanke Abscheu, die sie für sich selbst mittlerweile empfand, in seinen Augen nicht zu finden. Nicht, wenn er sie anschaute, mit ihr sprach, neben ihr im Bett lag. Aryana versuchte erneut zu schlucken, aber der erste unaufhaltsame Schluchzer war stärker und bahnte sich seinen schmerzhaften Weg ihre Kehle hoch. "Natürlich nicht... ich weiss das... Aber dadurch wird das schlechte Gewissen... doch nur noch schlimmer...", murmelte sie kraftlos, die Stirn noch immer auf ihre Handflächen gestützt. Sie wünschte, dieser Person gerecht werden zu können, die Mitch in ihr sah. Die Faye in ihr sah. Der Person, die sie sein sollte. Auf die ihre Eltern stolz wären. Die Frau, die war wie ihre Mutter, die sie aktuell gefühlt schmerzlicher vermisste als je zuvor. Aber es fühlte sich nicht so an, als könnte sie das noch. Sie war irgendwo ganz falsch abgezweigt und hatte sich seit da ungefähr zweihundert Mal verlaufen. Daran würde auch ein Gespräch mit Faye nichts ändern. Sie war trotzdem jetzt an diesem Punkt, trotzdem falsch abgebogen, trotzdem verirrt, trotzdem scheinbar hier bei Ryatt, weil sie mit Faye und Mitch nicht mehr reden konnte. Eigentlich war sie hier, weil sie etwas von ihm gewollt hatte... nicht fürs Reden. Aber auch das hatte sie nicht bekommen - aus gutem Grunde und wahrscheinlich zu erwarten. Dafür hatte sie dann geredet... Zu viel geredet sogar. So viel, dass sie jetzt heulte und Ryatt sich wohl sonst was dachte. Seine Schlussfolgerung war einleuchtend und zutreffend. Der Grund, warum sie eben doch hier sass, redete und weinte, stimmte. Wenn sie es so von ihm hörte, verstand sie das auch. Scheisse wars trotzdem. Scheisse war ausserdem, dass ihr Kopf so weh tat und ihre Seele noch mehr. Dass sie in all den Jahren nicht herausgefunden hatte, wie sie mit sich selbst fertig wurde. Wie sie das abschaltete, was sie sowohl chronisch als auch akut wahnsinnig machte. Sie hatte längst wieder innerlich den Faden verloren, als Ryatt ihr eine Frage stellte, die im ersten Moment sehr simpel klang. Wahrscheinlich der Grund, warum sie sie überhaupt wieder aus ihrem gedanklichen Wirrwarr herausholte - weil die fünf Worte so klangen, als wären sie leicht zu beantworten. Leicht. Etwas, was sonst gefühlt gar nichts gewesen war heute. "Weil Mitch länger arbeiten muss... seine Übung ist noch nicht fertig... er...", sie stockte. Hob den Blick von der Tischkante und liess ihre Hände sinken, um nun endlich wieder zu ihrem Gegenüber zu blicken. Das war nicht die Antwort, die er hatte hören wollen. Nicht die Frage, die er gestellt hatte. "Ich...", sie was? Warum war sie alleine hier? Er hatte es bereits gesagt. "Weil... weil ich etwas von dir wollte... weil... weil ich Mitch nicht gesagt habe... dass ich das will und... und weil ich es ihm auch nicht sagen wollte oder konnte...", das war der erste Teil der Antwort. Sie hob wieder das Taschentuch an, um sich die Nase zu putzen. Das sollte doch gegen die Tränen helfen... oder so. "Weil ich ihm aktuell sehr vieles nicht sagen kann... Keine Ahnung... weil ich offensichtlich... insgesamt nicht mehr kann", sie war sich nicht sicher, ob das die ganze Antwort war. Aber es war alles, was sie sagen konnte, bevor die Hand mit dem Taschentuch besiegt zurück auf die Tischplatte sank, weil die Tränen mal wieder haltlose Ausmasse annahmen.
Man sollte meinen, dass es nach all den langen harten Jahren beim Militär irgendwann einfach für mich geworden war, Leute am Ende ihrer Kräfte zu sehen. War es auch, denn wenn ich mich recht entsinnte, dann hatte ich solche Gespräche gen Ende eigentlich relativ leicht führen können. Damals war mir jedenfalls nicht schlecht geworden, weil ich mein Gegenüber zu gut nachempfinden konnte. Ich hatte auch noch nicht aufgehört zu schwitzen. Aryanas Schluchzen reizte meine Ohren und führte zu einer leichten Gänsehaut in meinem Nacken. Weil ich das schlechte Gewissen etwas zu gut kannte. Weil es schrecklich zu hören war, wie sie sich ganz gezielt innerlich gegen sich selbst ausspielte. Sie wusste eigentlich ganz genau, wo sie lang gehen müsste, um ihrem Leid ein Ende zu setzen und trotz Allem weiterzuleben. Jedes Wort, das sie noch sagte, als sie die Finger wieder sinken ließ und nicht mehr nur in ihre Hände nuschelte, bestätigte mir das. Denn wenn ich sie gezielt nach den Dingen fragen konnte, die sie sich selbst fragen sollte und sie auch erkannte, was genau ich eigentlich von ihr hören wollte, dann hatte sie all die passenden Fragen und Antworten längst in ihrem eigenen Kopf gefunden. Sie hatte bloß sehr große Angst davor. Angst, die ich ihr leider nicht nehmen konnte, weil ich nicht der hässliche Dämon war, der ihren Kopf in einen klebrigen Schleier aus Rauch, Asche und Blut hüllte. Ich schluckte leise, weil meine Kehle sich rau anfühlte. “Ich bin mir absolut sicher, dass du das kannst und dass du es eigentlich auch willst.”, leitete ich langsam die nächste Messerstecherei ein, die nicht weniger als genau auf Aryanas Herz abzielte. Wenn sie es Mitch nicht sagen wollen würde, würde sie sich ja nicht noch so viel schlechter damit fühlen, es nicht zu tun. “Du hast bloß sehr große Angst davor… und das kann ich verstehen. Ich hab meiner Freundin damals sehr viele Dinge verschwiegen, die ich ihr hätte sagen sollen. Teilweise sogar wirklich simple Dinge. Aus Angst… manches vielleicht auch aus unsinniger Scham.”, musste ich mich ein weiteres Mal dazu überwinden, meinen eigenen Werdegang in Gefühlsdingen einzubringen, weil ich sicher gehen musste, dass sie mir glaubte. Dass Aryana nicht dachte, ich erzählte ihr hier nur das, was sie hören wollte. Außerdem brauchte ich es auch als Überleitung. “Aber über diesen Punkt seid ihr beide schon lange weg. Vielleicht kennt ihr euch nicht in- und auswendig, aber ihr kennt euch ziemlich sicher viel zu gut, als dass du ihm wirklich was vormachen kannst.” Aryana hatte sonst immer ein ziemlich gutes Pokerface gehabt. Wenn sie selbst mich jetzt wie aus einem offenen Buch lesen ließ, dann wusste ihr Freund wahrscheinlich längst, was Sache war. Vielleicht drückte er aber ganz fest die Augen zu, weil er es nicht wahrhaben wollte. Wenn das mit der Bar nichts wurde, sollte ich es vielleicht als Therapeut versuchen. Oder mit Selbsthilfegruppen für Veterane. “Und Mitch ist offensichtlich kein Mensch, der sich selbst eine Kugel verpasst. Zumindest nicht, solange er noch einen zu guten Grund hat, es nicht zu tun.” Ich wusste nicht, was genau in dem Tätowierten vorgegangen war, als er damals den Schuss daneben gesetzt hatte. Mehr als einmal hatte ich mir den Bericht durchgelesen, als ich ihn aus den Akten gekramt hatte. Vielleicht war es Absicht gewesen, vielleicht nicht. Aber die Schulterschmerzen konnte er sich definitiv in die Haare schmieren und obwohl ihn damals – an seinem allgemein auffälligen Verhalten offensichtlich – sehr Vieles verfolgt hatte, war er noch da. Er war schon damals in Syrien für Aryana in den vermeintlichen Tod marschiert und ich glaubte nicht, dass er sie jemals hängen lassen würde, wenn sie ihn wieder danach fragte: Nach einem Kampf, der eigentlich aussichtslos und eine Aussicht auf den Tod war. An dieser Stelle war ich Easterlin dankbar dafür, dass er sich über alle seine Soldaten Berichte von der Army einholte. “Er marschiert für dich geradewegs in den Tod, wenn es wirklich das ist, was du von ihm willst. Aber genauso wird er ziemlich sicher auch immer wieder aufstehen und weitermachen, wenn du es bist, die ihn darum bittet.” Mitch hatte so einige Probleme, das war offensichtlich. Trotzdem schien er immer genau dann, wenn er eigentlich schon breitgetreten am Boden lag und ausgerechnet dann auch noch mehr Druck von oben bekam, wieder loszukriechen. Vielleicht mit zwei gebrochenen Beinen und Blut spuckend, aber er setzte sich wieder in Bewegung. An genau dem Punkt, wo die meisten anderen Menschen erst recht liegen bleiben und einfach vor sich hin sterben würden. Weiß der Himmel wieso, vielleicht brauchte sein kranker Schädel das einfach. Ich konnte Aryana die Angst vor diesem Gespräch mit Mitch nicht nehmen, aber ich konnte Reize setzen, die stark genug waren, sie selbst in ihrem Zustand noch zum Handeln zu zwingen. Obgleich es ein Spiel mit dem Feuer sein mochte, war es die einzige Karte auf dem Tisch, die ich ziehen und auch wirklich auf eine Wirkung hoffen konnte. Ein starkes Räuspern verließ meine Kehle, bevor ich ihr ein Ultimatum auftischte: “Wenn du’s alleine nicht mehr schaffst, ist er vermutlich deine einzige Chance… und wenn du es ihm nicht sagen kannst, dann tu ich es für dich.” Ich klang noch immer völlig ruhig. Sehr viel ruhiger, als ich mich fühlte, während ich mich innerlich auf ihre Reaktion einzustellen versuchte und sich mein Unbehagen nur in meinen schimmernden Augen widerspiegelte. Aryana würde mich dafür hassen, aber das war okay. Es war im Grunde ähnlich wie damals, als ich Faye darum gebeten hatte, ihrer Schwester zu sagen, dass ich mich um eine Lösung für ihren Ausstieg aus Easterlins Armee kümmern würde – sie würde die Umstände zuerst überhaupt nicht schätzen, später aber hinter diese Aktion blicken, weil sie nicht auf den Kopf gefallen war. Mitch würde es wortwörtlich hören, so oder so. Die Brünette hatte jetzt nur noch die Option, es ihm selbst und damit deutlich schonender beizubringen, oder es ihn über mich als Umweg hören zu lassen und ihm damit nicht nur ein Messer in die Brust, sondern auch noch eins in den Rücken zu stechen. Weil sie es lieber mir sagte, einem im Grunde fremden Menschen, als es ihm zu gestehen. Vielleicht war ihr Besuch hier bei mir sogar schon der verzweifelte Ruf ihres Unterbewusstseins, weil das längst wusste, dass ich nach meinen eigenen Regeln spielte und dabei nicht immer Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen nahm, wenn ich es für die beste Option hielt.
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Wollen war eine ganz andere Hausnummer als Können. Ryatt sollte das doch wissen. Bloss weil sie mit Mitch am liebsten über alles reden wollte und die Vorstellung, nie wieder ein Geheimnis vor ihm zu haben, das über ein Geburtstagsgeschenk hinausging, in ihrem Kopf wirklich traumhaft war, hiess das noch lange nicht, dass sie ihm sagen konnte, dass sie am liebsten einfach tot wäre, weil sie die Kombination der ganzen Scheisse hier nicht mehr aushielt. Aber schön, wie immerhin einer hier im Raum diesbezüglich mit so viel Zuversicht ausgestattet war. Woher auch immer das kam... Als hätte er ihr gar nicht zugehört, die letzte jämmerliche halbe Stunde - oder wie lange auch immer sie schon hier vor sich hin jammerte - lang. Mit dem zweiten Satz kam er der Wahrheit schon näher. Sie hatte in der Tat Angst davor. Weil sie Mitch nicht noch mehr enttäuschen wollte, weil sie ihn nicht im Stich lassen wollte, weil sie nicht wissen wollte, was passierte, wenn er hörte, wie beschissen ihr Zustand war. Und am allermeisten aus dem Grund, dass sie riesige Angst davor hatte, dass Mitch dadurch auch aufgab. Sie hatten es in der Vergangenheit immer wieder irgendwie hoch geschafft. Aber in der Vergangenheit war es ihr - im Kopf - immer mindestens minimal besser gegangen als Mitch. Diese umgekehrte Version der Dinge hatten sie noch nicht durch und Aryana hätte sehr gut darauf verzichten können. Sie war sich sicher, dass Mitch wusste, dass es ihr beschissen ging. Das genaue Ausmass ihres nicht vorhandenen Seelenfriedens und Wohlbefindens hatten sie aber nie besprochen und hier konnte sie relativ schlecht einschätzen, inwiefern Mitch die Dimensionen erkannte. Besonders vor dem Hintergrund, dass er mit sich selbst aktuell mehr als genug zu tun hatte - war ja nicht so, als wäre es nur sie, die hier am Abgrund kratzte und mit dem Fuss immer mal wieder ein Steinchen in die Tiefe schubste. Sie waren beide hier. Aryana hatte aber vielleicht schon den Fuss über die Kante geschoben. Und war damit drauf und dran, Mitch den guten Grund, sich selbst die Kugel nicht zu geben mit einem grausamen Ruck zu entreissen. Das waren Fluch und Segen von symbiotischen Beziehungen... Das Schöne war, dass sie füreinander kämpfen, füreinander sterben würden, weil sie sich blind vertrauten und sich auf die Ewigkeit liebten. Das nicht so Schöne war, dass eine unsichtbare Kette sie miteinander verband und diese Kette nicht reissen würde, wenn Aryana sprang. Mitch würde direkt hinter ihr fallen. Darum war sie noch hier. Ryatt zeigte diese Zusammenhänge gerade sehr schön in Worten auf, aber Aryana hatte sie schon vorher gekannt. Sonst hätte sie längst weitaus mehr getan, als in Ryatts Zimmer zu marschieren und ihn um eine dämliche Telefonnummer zu bitten... um dann Rotz und Wasser heulend an seinem Tisch zu enden. Was nebenbei bemerkt auch nicht passiert wäre, wenn sie nicht offensichtlich einen Ausweg suchte, den sie längst kannte aber gekonnt ignoriert hatte. Die Brünette hatte all die Worte auf sich wirken lassen, ohne eine verbale Reaktion darauf zu zeigen. Ihr Gesicht und ihr Körper hatten trotzdem ausreichend berichtet, was sie von all dem hielt. So wie sie zusammengesunken auf dem Stuhl sass und immer weiter weinte, weil nichts hier den schnellen, möglichst schmerzlosen Abschluss versprach, den sie mit ihren nicht vorhandenen Kraftreserven noch gerade so hinkriegen würde. Ein Abschluss war es auch nicht, den Ryatt ihr zur Wahl stellte. Ein Blick, der perplexes Entsetzen und Ungläubigkeit widerspiegelte, schoss ihm entgegen, kaum hatte er das Ultimatum ausgesprochen und sie damit erneut dazu gebracht, die Augen von der Tischplatte zu lösen und direkt in sein Gesicht zu lenken. Sie blinzelte ein paar Mal, versuchte, den Tränenschleier soweit zu beseitigen, dass sie sich sicher sein konnte, dass er das ernst meinte. Aber seine Augen sagten sehr klar genau das. Was ein neues Gefühl in ihrem zerschellten Herzen triggerte - eines, welches sie heute Abend noch gar nicht gefühlt hatte. Betrug. "Nein.", ein einziges Wort tat ihren Unmut zu beiden Optionen deutlich genug kund. Natürlich wollte Ryatt nur das beste für sie, natürlich wäre es richtig, mit Mitch zu sprechen, natürlich verdiente Mitch die Wahrheit. Aber wenn sie es ihm nicht sagen konnte, dann sollte das sicher auch nicht Ryatt tun, was war das für eine Option?? Nach allem, was sie ihm heute schon gesagt hatte, glaubte er wirklich, dass sie noch mehr Druck und ein solches Ultimatum brauchte?? Sie hatte ihm schon die drei Monate gegeben, das war viel. Er sollte sich besser darauf konzentrieren, als ihr in ihre Beziehung reden zu wollen. "Du kannst nicht... Das ist nicht deine Sache, Ryatt", sie wusste gar nicht, was sie dazu sagen sollte, was sicher auch ihr Blick deutlich machte, der noch immer mehr überfordert und perplex als gefasst oder wütend oder sogar einverstanden wirkte. Sie konnte auch mit nichts mehr argumentieren, das ihren eigenen Verstand hervorhob oder Rationalität ihrerseits betonte - nicht nach allem, was sie gerade von sich gegeben hatte. "Und es ist auch nicht fair...", ihre Stimme wurde wieder zu einem weinerlichen Nuscheln, wie ihr bewusst wurde, dass sie ihm eigentlich nichts entgegenzusetzen hatte. Das mit dem unfairen Leben hatten sie schon durch. Also war das eigentlich auch kein Argument, vielleicht war es darum so leise gekommen. Sie musste also mit Mitch reden. Es war nicht so, als hätte sie noch Optionen. Sie musste nicht nur mit ihm reden, sondern all das, was sie hier so ungeplant deponiert hatte, nochmal durchkauen. In einer sehr viel schmerzhafteren Umgebung. Aryana schüttelte den Kopf, blickte Ryatt noch immer an, auch wenn sie sich unter diesem Bewusstsein nicht mehr so sehr auf sein Gesicht konzentrieren konnte. "Was, wenn es ihm genauso geht? Was, wenn ich ihm damit den letzten Strohhalm entreisse? Was, wenn ich damit nur... nur alles noch viel schlimmer mache?", es waren nicht wirklich Argumente. All das würde nämlich sowieso passieren, wenn sie sich endgültig ein Ende setzte. Der Unterschied war bloss, dass sie es selbst miterleben musste, wenn es im Gespräch mit Mitch passierte. Dass es sich aber - gemäss Ryatt - vielleicht noch aufhalten liess. Den Teil der Hoffnung, den sie nicht mehr wirklich hatte.
Oh doch. Viel mehr hatte ich dazu eigentlich gar nicht mehr zu sagen. Aryana machte mir die Situation noch eine Stufe unangenehmer mit ihren völlig aufgeschmissenen, dunklen Augen, die mich gefühlt unschuldiger anblinzelten als jemals zuvor. Von allen Momenten, in denen ich sie je in eine extrem unangenehme Situation hätte schubsen können, war das hier wohl der allerletzte, in dem mir danach zumute war. Doch es führte offenbar kein Weg daran vorbei, es war nötig. Deshalb zuckte ich ansatzweise mit den schweren Schultern, als sie verzweifelt nach irgendwelchen Argumenten zu suchen begann. “Vielleicht nicht… beides nicht.”, nahm ich ihre Worte einfach so hin. Natürlich ging mich die Beziehung der beiden im Grunde überhaupt nichts an. Wenn sie mir hier aber lang und breit erzählte, dass sie sich am liebsten umbringen wollte, wurde zwangsläufig ihr ganzes Leben zu meiner Sache. Schon nur deswegen, weil sie es sonst keinem gesagt zu haben schien und das wiederum mir gegenüber nicht fair war. Ich hatte nämlich kein bisschen damit gerechnet, als sie in mein Zimmer gestolpert war. “Damit ist der Einzige von uns, der noch sowas wie fair aus dieser Sache rauskommen kann, dann wohl Mitch.”, stellte ich überflüssigerweise ein bisschen aus Prinzip fest. Ich hatte das Ticket des Suizidberaters genauso unfreiwillig gezogen, wie Aryana das Ticket für das gestellte Ultimatum. Wenn sie gedacht hatte, dass ich ihr die Hand schüttelte und sie mit besten Wünschen ins Jenseits verabschiedete, oder stattdessen eine supereinfache Lösung für sie parat hatte, dann hatte sie sich geschnitten. Sie konnte sich jetzt nur noch dafür entscheiden, Mitch die fairste Version der Umstände selbst zukommen zu lassen oder weiterhin gar nichts zu unternehmen. Dann läge es an mir, irgendwelche schonenden Worte zu finden und dafür war ich nicht wirklich bekannt. Wenn ihr Partner genauso wie sie schon zu weit über dem Abgrund segelte, um sie von genau diesem wegzuziehen, waren wir ziemlich verloren. Die beiden wirkten seit jeher wie zwei Schatten, die sich ganz gleich unter welchen Witterungsumständen nicht mehr voneinander trennen ließen. Es gab sie nur im Doppelpack. Leider sowohl im Leben, als auch im Tod, wie's schien. “Naja… dann sind wir so oder so am Arsch, oder? Viel schlimmer geht's kaum, so wie ich das sehe. Du hast nichts zu verlieren in dieser Sache. Nichts, was du nicht sowieso schon willentlich durch dein Schweigen riskierst. Es wirkt auf mich nicht so, als würde er dir massiv mehr erzählen, als das umgekehrt der Fall ist.”, weigerte ich mich weiterhin konsequent, das Ultimatum zurückzunehmen. Aryana versuchte hier – verständlicherweise – Gründe zu finden, die mich zum Zurückrudern bewegen sollten. Die sie von dem entstandenen Zwang, sich ihrem Freund anzuvertrauen, doch wieder erlösen würden. Nur würde das nicht passieren. Nicht, wenn sie mir hier nicht wider Erwarten noch eine andere Möglichkeit offenbarte. “Ich… ich mach’ das wirklich nicht gerne, aber du lässt mir keine Wahl… und er wird sowieso Fragen haben.”, sprach ich stockend etwas leiser, seufzte im Abgang und senkte nun meinerseits den Kopf, um mir mit beiden Händen die Haare zu raufen und einen Moment lang die angestrengten Augen zu schließen, die Kopfhaut zu massieren. Ich würde nicht einfach tatenlos zusehen, das hatte ich ihr gesagt. Trotzdem war sie immer mehr mit der Sprache rausgerückt und hier waren wir nun. Mitch würde sehen, dass sie geheult hatte, selbst wenn sie sich jetzt innerhalb von zwei Minuten wieder halbwegs fing. Außerdem rochen Frauen anders, wenn sie geweint hatten. Anders als normalerweise. Er müsste also blind und plötzlich des Riechens unfähig werden, um nichts von diesem massiven Gefühlsausbruch mitzukriegen.
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Immerhin sah er das auch ein. Brachte ihr herzlich wenig und war an sich auch nicht überraschend, Ryatt hatte im Gegensatz zu ihr ja keinen Mangel an Verstand bewiesen im Verlauf dieses Gesprächs. Somit maximal ein schwacher Trost. Auch Mitchs Chance, Fairness zu erfahren, war am Ende eben nur so gross wie ihre Kraft, sich zu einem Gespräch mit ihm zu überwinden. Natürlich stimmte auch der Rest von dem, was Ryatt ihr diesbezüglich sagte. Das hatte sie ja gerade schon selbst festgestellt. Dass das Ergebnis für Mitch nicht schlimmer sein würde, als wenn sie ohne ein entsprechendes Gespräch von der Klippe sprang. Der Unterschied existierte nur für sie. Und das war wiederum kein gutes Futter für ihr schlechtes Gewissen, das längst gemerkt hatte, dass sie ihrem Freund dieses Geständnis schuldig war. Nicht nur das Geständnis, sondern auch eine ausführliche Erklärung und dann vor allem auch den Versuch, sich gemeinsam mit ihm nochmal auf die Füsse oder zumindest auf die Knie zu rappeln. Das hing ja alles damit zusammen... Sie konnte ihm schlecht von suizidalen Absichten erzählen und dann einfach fröhlich so weiterleben, die drei Monate irgendwie rumkriegen und dann wars vorbei. Wenn er nicht am gleichen Punkt war wie sie oder sie ihm damit eine so grosse Last auflud, dass er dann ebenfalls endgültig nicht mehr konnte, dann würde er wenigstens eine einzige Chance wollen, sie vom Weiterleben zu überzeugen. So wie sie Ryatt gerade eine Chance in Form von drei Monaten für einen Plan zugesprochen hatte. Weil sie offenbar doch nicht so sehr sterben wollte, dass sie einfach, ohne ein Wort zu sagen, von einer Klippe hatte springen können. Ihrem scheinbar selbst komplett zerschellt nicht ganz verstummten Kämpferherz sei Dank. Lag wohl daran, dass sie ihr Leben damit verbracht hatte, zu kämpfen und immer wieder hoch zu kommen - das machte endgültiges Aufgeben scheinbar besonders schwierig. Ja, Mitch würde Fragen haben. In diesem Zustand war sie definitiv noch nie aus diesem Komplex gelatscht. Sie hatte sich hier auch noch nie so zerstört und verloren gefühlt. Und geheult hatte sie auf Easterlins Gelände auch noch nie. Konnte sie sich also auf ein möglicherweise dezent irritiertes Gesicht gefasst machen. Sie hatte diesen Nervenzusammenbruch ja selbst nicht geplant oder kommen sehen... Sonst wäre sie wahrscheinlich nicht direkt zu Ryatt gerannt. Jetzt wusste sie nicht mal mehr ob sie froh sein sollte, mit ihm gesprochen zu haben, oder ob sie alles davon sehr fest bereuen sollte... Das würde dann wohl die Zukunft zeigen. Ryatt war ihr jedenfalls eher nicht dankbar dafür, hergekommen zu sein. Sie schaute ihn einen Moment lang müde an, wie er ihr gegenüber sass, die Augen geschlossen hatte und fast genauso aufgeschmissen wirkte wie sie selbst sich fühlte. Das war dann wohl ihre Wirkung auf die Welt... Reizend. "Ok.", war ihre wenig silben- oder einfallsreiche Reaktion auf seine Worte. Vielleicht hatte sie langsam doch genug gesagt. Sie wusste ja, was sie jetzt zu tun hatte. Und Ryatt wusste auch, was er Dank ihr zu tun hatte. Was ausschlaggebend dafür war, dass sie nochmal einen Versuch wagte, die Tränen zu trocknen. Jetzt, wo vielleicht wenigstens vorübergehend alles gesagt war, was die Splitter ihres Herzens immer wieder in kleinere Bruchteile schlagen würde. Sie schwieg einen ziemlich langen Moment vor sich hin, wartete darauf, dass ihre Tränendrüsen die Memo bekamen und die jämmerliche Produktion einstellten. Dabei fiel ihr noch eine letzte Sache ein, die sie hier unbedingt klarstellen musste. "Kein Wort an Faye, okay? Auch nicht wenn sie dich fragt, wies uns geht. Das... das ist keine Info für sie. Schon gar nicht jetzt", bat sie Ryatt mit deutlichem Nachdruck. Falls sie in einigermassen regelmässigem Kontakt standen, fragte Faye bestimmt immer mal wieder bei Ryatt nach. Insbesondere dann, wenn Aryana selbst nicht wirklich überzeugend Auskunft gab. Aber während sie Ryatt schlecht daran hindern konnte, Mitch mit der Wahrheit zu konfrontieren, falls Aryana das nicht zeitnah selbst über die Bühne brachte, wollte sie doch unbedingt verhindern, dadurch Fayes Neustart im Süden zu behindern. Ihre Schwester musste da nicht reingezogen werden. Nicht, solange Aryana noch lebte, jedenfalls. Und danach sahs aktuell noch aus.
Mehr als das überaus knappe Ok der jungen Frau konnte ich wohl nicht erwarten. Ich hab den Kopf dabei auch noch nicht wieder an, sondern nahm es still zur Kenntnis. War froh darüber, dass wir offenbar beide keine Energie mehr darauf verschwenden wollten, diese zu nichts führende Diskussion am Leben zu halten. Nach kurzer Zeit ließ ich die Hände langsam wieder auf den Tisch sinken. Ich trug die Haare inzwischen noch etwas kürzer, was vermutlich ausschlaggebend dafür war, dass sie im Anschluss nicht völlig wild zu Berge standen. Mein Blick streifte Aryana noch zwei oder dreimal kurz, während sie damit beschäftigt war, wieder runterzukommen und ich wiederum versuchte, meine eigenen Gedanken etwas zu beruhigen. Es war noch nicht zu spät, sie würde mit Mitch reden – wenn auch nur zwangsläufig – und dann hoffentlich die Kurve kriegen. Sie beide zusammen, damit wir dann mit meinem supertollen Plan hier raus spazieren konnten. Ich ging bisher zumindest nicht davon aus, dass meine eigene Position in Easterlins Armee unangetastet bleiben würde und vielleicht war das auch gut. Zwar wusste ich nach wie vor nicht so richtig, was ich wirklich vom Leben wollte, aber die Zelte hier abzubrechen war sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Ob es hingegen richtig war, Faye diese Angelegenheit zu verschweigen, stand auf einem ganz anderen Blatt. Automatisch sah ich vom Tisch hoch in Aryanas Gesicht, als sie diese Bitte ganz explizit an mich richtete. Ein Teil von mir wollte sofort dagegen protestieren. Erstens, weil ich die jüngere Cooper schon deutlich zu oft angelogen hatte und zweitens, weil sie mir einmal ganz unmissverständlich erklärt hatte, dass sie nicht gerne geschont wurde. Dass sie es satt hatte, von allen immer behütet zu werden, als könne sie nicht selbst entscheiden, womit sie zurecht kam und womit nicht… aber Aryana hatte schon recht. Es war jetzt endlich mal soweit, dass Faye in ihrem neuen, unbeschwerten Leben angekommen war. Nach schier endlos langer Wanderung im Dunkeln, wovon wir alle hier ein Lied singen konnten. Sie konnte keine suizidgefährdete Schwester am anderen Ende der Westküste gebrauchen. Nicht jetzt, sie sollte sich endlich mal auf ihr eigenes Glück fokussieren können. Es dauerte einen kurzen Moment, dann nickte ich aber gut sichtbar. “Ich sag’ ihr nichts. Ist ja nicht grade unglaubwürdig, nachdem wir uns für gewöhnlich nicht besonders viel miteinander unterhalten…”, willigte ich zusätzlich wörtlich ein. Zumindest sagte ich Faye so lange nichts, wie ich das Gefühl hatte, Aryana und Mitch bekamen das Ruder noch alleine rumgerissen. Wenn es akut plötzlich sehr viel schlechter um ihre geistige Verfassung stand und das auch für mich offensichtlich wurde, überlegte ich mir das vielleicht noch mal. Schlimmer ging immer, wie man so schön sagte. Es war zum Glück aber auch nicht so, als hätten Faye und ich täglichen Kontakt. Ich musste sie also nicht ständig, sondern nur gelegentlich anlügen. Was es nicht wirklich besser, aber doch leichter erträglich machte. Würde sie irgendwann herausfinden müssen, dass ich gewusst hatte, was Sache war, wenn Aryana schon lachend dem Tod in die Arme gerannt war, wäre das definitiv die endgültige Beerdigung unserer Freundschaft. Was das anging wollte ich positiv bleiben, denn es war bereits mehr als ausreichend, wenn zwei von drei Leuten hier ihre Köpfe in den Sand steckten. Keine verdammten Beerdigungen mehr.
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Sie hatte sich schon fast auf die nächste Diskussion eingestellt, so wie er sie nach ihrer Aufforderung anschaute. Als würde er gerne auch das debattieren und ihr unmissverständlich klar machen, dass er am längeren Hebel sass, jetzt, wo sie die ganzen verhängnisvollen Laster erstmal ausgepackt hatte. Dass sie ihn nicht davon abhalten konnte, jegliche Infos brühwarm an Mitch weiterzugeben, wenn sie selbst sich nicht überwinden konnte, war eine Sache. Faye war eine ganz andere. Es würde nochmal ein bisschen mehr Sinn aus der ganzen verfluchten Rettungsaktion nehmen, wenn die Nachwirkungen nun neben Aryanas Suizidgedanken, Mitchs ebenfalls bescheidenem Seelenzustand und diesem ganzen Drama hier auch noch die Panik im Süden beinhalteten. Wahrscheinlich würde Faye sich umgehend in den nächsten Flieger setzen und morgen früh schon auf der Matte stehen, wenn sie davon erfuhr. Aber das würde nichts helfen, wäre nur ein weiterer Selbstvorwurf seitens Aryana. Das Gespräch mit Mitch war wirklich genug gefordert, mehr konnte sie in ihrem aktuellen Zustand nicht verkraften. Schon das war eigentlich zu viel, wenn sie ehrlich war, aber eine Wahl wurde ihr aus offensichtlichen Gründen von Zeitmangel und Dringlichkeit nicht gegeben. "Gut.", kam die nächste leise, einsilbige Antwort der Brünetten, die heute scheinbar nur vom einen ins andere Extrem switchen konnte, was ihren Redefluss betraf. Immerhin sagte der Klang ihrer Stimme etwas mehr aus, zeigte Ryatt deutlich die Erleichterung, die seine Zustimmung bei ihr auslöste. Damit war dann auch dieses Anliegen abgehakt und das Einzige, was ihrerseits noch nötig war, um diesen Raum zu verlassen, war ein irgendwie ansehnliches oder eher unauffälliges Gesicht. "Hast du vielleicht einen Waschlappen oder so..? Dann lass ich dich in Frieden", das für heute konnten sie sich beide still dazudenken. Und der Frieden würde sicherlich auch nicht mehr wirklich geniessbar sein nach diesem Gespräch. Aber immerhin befreite sie ihn zeitnah von ihrer kaum erträglichen Anwesenheit, wenn sie erstmal ihr Gesicht soweit möglich in Ordnung gebracht hatte. Dafür zog sie sich ins Bad zurück, nachdem Ryatt ihr den gewünschten Waschlappen in die Finger gedrückt hatte. Eigentlich wollte sie ihr Spiegelbild lieber gar nicht erst anschauen und als sie es dann zwangsläufig doch tat, wusste sie auch sehr genau warum. Sie sah genauso aus, wie sie sich fühlte. Inklusive roter Augen und Tränenspuren bis auf den Pulli. Glücklicherweise war der immerhin schwarz, sodass die feuchten Flecken nicht unnötig auffielen. Aryana riss sich möglichst rasch von dem Anblick los, weil sie vermeiden musste, zu tief in ihren dunklen Augen zu versinken. Sonst würden nämlich gleich die nächsten Sturzbäche folgen, sie spürte das Kratzen bereits im Hals. Die Brünette wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, versuchte mit dem Lappen noch ein bisschen nachzuhelfen mit der Kühlung der geschwollenen Haut unter ihren Augen. Jegliche Bemühungen wurden maximal halbherzig belohnt und als sie sicher zehn Minuten später das Bad wieder verliess, war der gefühlt einzige Gewinn, dass ihr Gesicht nun wenigstens trocken und die salzigen Spuren verschwunden waren. Sie blickte unsicher zu Ryatt, versuchte, sich nicht direkt - oder zumindest nicht zu offensichtlich - für diesen Gefühlsausbruch der Endstufe zu schämen und auch nicht darüber nachzudenken, ob sie das jetzt schon bereuen sollte. "Ich... ich werde dann wohl mal gehen... Und hoffen, dass ich keinem begegne bis zum Auto...", leitete sie mässig geschickt ihren Abgang ein. Bei der Tür blieb sie nochmal stehen. "Danke fürs Zuhören... und deine Bemühungen...", das mit dem Bedanken wurde langsam zur Gewohnheit. Aber jetzt wusste sie noch weniger als vorher, wie sie den Dank in Worte fassen sollte. Darum klang er letztendlich ein bisschen plump, unvollständig und wenig konkret. Vielleicht verstand Ryatt trotzdem, was sie meinte. Vielleicht nicht.