Je weniger Faye davon wusste, wie schlimm es in den nächsten Monaten zeitweise möglicherweise um mich stehen würde, desto besser wäre es für sie, oder? Das war der erste Gedanke, der mir nach ihrem Hilfsangebot und all den anderen Worten durch den Kopf schoss. Ich erwiderte ihren Blick, aber mir stand quer übers Gesicht geschrieben, dass ich das nicht auf Anhieb für eine gute Idee hielt. Die zierliche Brünette hatte oft genug gesagt, dass sie nicht ständig von Allen geschont werden wollte, aber in diesem Fall war die Frage danach komplizierter als normalerweise. Schwerer zu beantworten als bei jedem anderen Thema. Sie war die einzige Person in meinem Umfeld, mit der ich über diese Dinge sprechen konnte, weil sie die einzige Freundin war, die über das ganze Drama Bescheid wusste. Das würde auch so bleiben. Doch wollte ich auch ihr Neues nicht wieder und wieder mit diesen Altlasten verseuchen. Sie sollte sich nicht um mich sorgen müssen, während sie ihr brandneues Leben unten in Los Angeles auf bestmögliche Wege leitete. Sich endlich all das aufbaute, das sie sich so sehr wünschte. Ich wollte nicht wieder die Person sein, die sie ins Schleudern brachte. Gleichzeitig konnte ich vor Faye am allerwenigsten abstreiten, dass all die Geschehnisse etwas zu viel für mich waren und es wahrscheinlich auch in Zukunft noch sein würden. Allein schon wegen den beiden Traumatisierten in der Privatarmee, die ich irgendwann hoffentlich genauso befreit in den Süden verabschieden konnte. Ohne weitere Straftaten, losgelöst von dieser ganzen Scheiße. “Bist du dir damit sicher?”, wollte ich mich vergewissern, dass Faye das nicht nur wieder gesagt hatte, weil ihr innerer Hilfsmonk nicht anders konnte. “Denn wenns mir wirklich so schlecht ginge und ich dermaßen verzweifelt wäre, dass ich ausgerechnet dich wieder damit belasten wollen würde, dann würde es sich ziemlich sicher um genau dieses Thema drehen.” Ich sprach das für mich Offensichtliche aus, weil ich nicht wollte, dass sie mein Nachfragen falsch interpretierte. Mein Blick ruhte noch auf Fayes Gesicht, inzwischen zog ich die Augenbrauen aber etwas angestrengt nach oben. Schon wieder eines von unzähligen Dingen, die das Verhältnis zwischen uns kompliziert machten. “Nachdem ich neulich betrunken an Dylans Tresen gehangen hab, ist das nämlich wahrscheinlich die einzige Sache, über die ich todsicher niemals mit jemand Anderem als dir sprechen kann... und dein neues Leben ist mir ehrlicherweise heiliger als meins, das ja noch nicht mal in den Startlöchern steht.”, spezifizierte ich mit einem tiefen Atemzug, bevor ich den Blick von Faye abwandte und den Kopf von der Lehne anhob, um erneut kleine Schlucke von dem Tee zu trinken. Wir beide wussten ja bestens, wie desaströs offen ich meine Gedanken unter starkem Alkoholeinfluss nach außen trug. Dylan war, so wie beinahe jeder andere Barkeeper, ein sehr guter Zuhörer und wahrscheinlich konnte ich mit ihm über wirklich Vieles reden, wenn ich bereit dazu war, mir den nötigen Ruck zu geben. Nur über dieses völlig kranke Konstrukt, das allein aus meinen Verzweiflungstaten entstanden war, würde ich allen Nicht-Involvierten gegenüber auf ewig schweigen. Gar nicht mal deswegen, weil ich glaubte, dass Dylan mit den Informationen etwas Verheerendes anrichten würde, sondern weil ich mich unfassbar dafür schämte. Nüchtern betrachtet war mir alles, was passiert war, schon in diesem Moment zu viel. Faye das letzte Mal für eine lange Zeit oder für immer zu sehen, lag mir schwer im Magen und dass ich ihr einen sehr schwierig zu erfüllenden Gefallen tun wollte, zermarterte mir das Hirn, seit sie es erwähnt hatte. Aber wer wäre ich, mich darüber jetzt auch noch zu beschweren, wenn bisher gefühlt alle außer mir selbst meine Fehler ausbaden mussten?
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Das war eine sehr berechtigte Frage, insbesondere in Bezug auf alles, was sie heute schon besprochen hatten. Die Antwort war nur wieder etwas weniger einfach, als sie sie gerne haben würde. Sie möchte am liebsten einfach mit einem simplen Ja antworten - aber inwiefern das der Wahrheit entsprach und Ryatt ihr das glauben würde, sei dahingestellt. Auch als er weiterredete und die Gründe für seine Bedenken noch ein bisschen ausdifferenzierte, wurde das nicht unbedingt einfacher. Sie erwiderte seinen Blick einen Moment lang nachdenklich, versuchte damit, entweder Zeit zu schinden oder Gewissheit zu schaffen. Beides funktionierte eher mässig und sie konnte anschliessend nicht wirklich mit mehr Klarheit punkten. So fanden ihre Augen erneut das dunkel eingefärbte Teewasser und sie hob die Tasse an ihre Lippen, um erneut einen vorsichtigen Mini-Schluck zu trinken. Schliesslich stellte sie die Tasse jedoch zurück auf den Nachttisch, um ihre Arme hinter sich auf die Matratze aufzustützen und sich ihrerseits zurückzulehnen, den Kopf in den Nacken fallen zu lassen und die Decke anzustarren. Vielleicht stimulierte das ja ihre Hirnzellen... oder auch nicht. "Sicher wäre gelogen...", seufzte sie ehrlich und beliess es wieder für ein paar Sekunden dabei. Atmete erneut langsam durch und liess sich Zeit, um diese nicht gerade bedeutungsschwache Antwort zu formen, bevor ihr Kopf zurück in seine Richtung kippte. "Ich weiss, dass das belastend sein könnte und darum möglicherweise eine schlechte Idee ist... Aber zumindest was Aryana und Mitch angeht, werde ich mir sowieso weiter Gedanken machen. Mit ihnen breche ich den Kontakt ja auch nicht ab. Sie können übers Telefon natürlich besser lügen, wies um sie steht, als wenn ich persönlich mit ihnen sprechen könnte - und werden das wohl auch tun - aber zumindest meine Schwester kenne ich doch gut genug, um davon nicht komplett geblendet zu werden", stellte sie für einmal relativ rational fest, dass sie ohnehin nicht halb so leicht, wie sie sich das wünschte, aus der Sache rauskam. Die Vergangenheit nicht wirklich abschliessen konnte, solange ihre Familie da drin festhing. Das war Wunschdenken und so verblendet von Optimismus und Träumerei war nach all den letzten Jahren nichtmal mehr Faye. "Dass es eher schlecht wäre, wenn du mich jeden Tag anrufen und mir dein Leid klagen würdest, wissen wir glaub' ich beide. Aber darum gehts bei meinem Angebot ja auch nicht. Viel mehr darum, dass ich weiterhin dein... Notfallkontakt wäre, wenn du wirklich jemanden brauchst. Ich komm nicht klar mit dem Gedanken, dass wir alle unser Elend, unsere Ängste, unsere Sorgen, unsere schlechtesten Tage, unser Trauma und unsere dunkelsten Stunden mit jemandem teilen können und du das alles alleine bewältigen sollst. Das... das ist doch zu viel...", es war nicht erst seit gestern zu viel. So gut kannte sie auch Ryatt mittlerweile. "Ich weiss, dass ich aufhören sollte, mich so sehr einzumischen und zu kümmern. Ich weiss, dass ich mich abgrenzen muss und dass du selber für dein Leben verantwortlich bist. Aber wie gesagt - ich werde mir trotzdem Gedanken machen. Wegen Aryana und wegen Mitch, aber auch wegen dir, Ryatt. Weil du mir wichtig bist und dein Leben mir nicht egal ist. Vielleicht geht es mir sogar besser damit, wenn ich weiss, dass du dich meldest, wenns dir wirklich schlecht geht. Dann kann ich die restliche Zeit über wenigstens einigermassen beruhigt sein."
Ich ließ Faye nicht aus den Augen, während sie offensichtlich selbst erst über die Antwort nachdenken musste. Die Position wechselte, so als würde das auch was an den unbequemen Umständen ändern. Tat es nicht, wie ihre erste kurze Antwort untermauerte. Doch es half mir – wie so oft – trotzdem ein wenig, dass sie mir ihre Sicht der Dinge ausführlicher schilderte. Die Brünette redete nichts schön und war sich dem Risiko zu großer Sorgen bewusst, machte mir aber gleichzeitig bewusster, dass sie so oder so weiterhin mit einer Hälfte ihres zu großen Herzens oben in Seattle festhing. Dass es ihr mitunter deshalb wahrscheinlich sogar besser damit gehen würde, wenn sie wusste, dass ich mich bei ihr melden würde, wenn mein Schädel kurz davor stehen sollte, nochmal wie ein verdammtes Kartenhaus in sich zusammenzufallen. So würde es mir leichter fallen, ihre Hilfe im Fall der Fälle eigenständig zu suchen, auch wenn es dazu bestenfalls nicht kommen würde. Ich wollte hoffen, dass es jetzt bergauf ging. Nicht unbedingt steil, aber wenigstens ein bisschen. Fayes letzte Worte lösten trotz des ernsten Themas ein kleines Lächeln aus. Wahrscheinlich würde ich nie ganz verstehen, wieso sie mich so ins Herz geschlossen hatte, aber es war mir unheimlich viel wert. “Ich bin wirklich froh darüber, dass ich dich getroffen habe… auch wenn wir die Umstände beide nicht schätzen. Du wirst mir echt fehlen.”, warf ich erstmal einen Gedankengang von mir ein, der nicht viel mit der Anrufsproblematik zu tun hatte. Da ich selbst am besten wusste, wie wenige Menschen es in meinem Leben gegeben hatte, von denen mir nach deren Verlust langfristig aufgefallen war, dass ich sie gerne wieder an meiner Seite hatte, war mir die Erwähnung dennoch wichtig. “Und ich hoffe wirklich, dass es nicht nochmal dazu kommt… aber wenn du sagst, dass es für dich in Ordnung ist, dann werde ich deine Nummer wählen, im Notfall. Oder halt bestenfalls schon kurz davor, um ausnahmsweise mal das Schlimmste zu vermeiden.”, endete ich etwas ironisch. Ich verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln, weil es in unserer gemeinsamen Zeit wirklich schon zu viele solcher Notfälle gegeben hatte… und weil ich allseits bekannt einfach nicht gerne nach Händen griff, die mir ihre Hilfe anboten. Doch bei Faye fiel mir das inzwischen etwas leichter, aufgrund unserer Vergangenheit. Sie hatte mich dabei nie enttäuscht und es im Nachhinein niemals gegen mich verwendet. Die Brünette hatte gerade erst wieder über sie gesprochen, weshalb meine Gedanken weiterhin parallel nie wirklich von Aryana und Mitch loskamen. Das unberechenbare Paar war leider auch irgendwie ein Notfall für sich. “Könntest du vielleicht…”, setzte ich an und war mir dann doch unschlüssig, ob das wirklich eine gute Idee war, weshalb ich zögerte. Mit nachdenklichem Blick in Fayes Richtung fuhr ich kurz darauf trotzdem fort: “Ich bitte dich wirklich nicht gerne darum, aber ich glaube, dass es helfen könnte, auffällige Konfrontationen auf dem Stützpunkt zu vermeiden, wenn ich den beiden das nächste Mal über den Weg laufe… es könnte präventiv wirken, wenn du Aryana bei einer günstigen, ruhigen Gelegenheit erzählst, dass du schon mit mir darüber gesprochen hast, ob ich dabei helfen kann, die beiden aus ihrem Easterlin-Schlamassel zu befördern. Ich kann absolut verstehen, wie schlecht sie auf mich zu sprechen sind, aber es spielt uns wirklich nicht in die Karten, wenn wir das aller Welt unter die Nase reiben... sie sind ja beide jetzt schon nicht unbedingt für viel Geduld bekannt.”, seufzte ich und tippte dabei mehrfach mit dem Zeigefinger unruhig an die Tasse. Die beiden konnten mir gerne alles mögliche ins Gesicht spucken, wenn das ihrem seelischen Wohlbefinden gut tat – nur bitte nicht in ausgerechnet in unserem Arbeitsumfeld, wo wir uns wahrscheinlich ausschließlich begegnen würden, solange ich noch keinen Plan für sie hatte, den es zu besprechen galt.
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Faye erwiderte das kleine Lächeln in gleichem Ausmass, als Ryatt ein paar bittersüsse Worte von sich gab. "Du mir auch. Auch wenn wir einige Tiefs zusammen erlebt haben, habe ich die Zeit dazwischen mit dir trotzdem genossen", gab sie ihrerseits ehrlich zurück, unterstrich damit erneut, was sie schon mehrfach betont hatte. Die Tiefs waren tief gewesen, aber wenn sie das Einzige wären, was das letzte Jahr ausmachte, dann würde sie sich hier nicht so schwer tun, einen Punkt zu setzen. Einen Punkt mit Notfallklausel, sozusagen. Und scheinbar konnten sie sich beide damit anfreunden, ihre Situation so setzen zu lassen. Sie müssten sowieso Einiges reevaluieren, wenn Ryatt Mitch und Aryana tatsächlich da rausbekam. Wenn er selber woanders neu startete. Aber das hatte noch Zeit. Und wahrscheinlich war es auch sinnvoll, wenn sie sich diese Zeit erstmal noch nahmen, um zu sehen, wie sich alles entwickelte, wenn erstmal über tausend Meilen zwischen ihnen lagen. Und wenn ihre Köpfe und Seelen sich langsam erholten. War nicht so, als wäre auch nur einer von ihnen aktuell in einer Verfassung, die tatsächlich gut genug war, um wichtige Entscheidungen zu treffen..."Das ist gut. Dann hoffe ich natürlich, dass es nicht dazu kommt und du einigermassen klar kommst... Aber wenn nicht, werde ich auf jeden Fall ein offenes Ohr bieten", fasste sie zusammen. Einen Moment dachte sie noch nach, bevor sie den Kopf erneut etwas schief legte und Ryatt nochmal betrachtete. "Ist das so vorübergehend für dich auch in Ordnung oder denkst du, wir sollten noch mehr definieren oder klären..?", fragte sie offen. Von ihr aus war vorerst alles geklärt. Aber es war mit ihrem aktuell stets sehr vollen - und ebenfalls immer müden - Kopf auch gut möglich, dass sie etwas vergessen hatte, das eigentlich wichtig war. Scheinbar hatte Ryatt sonst noch etwas auf dem Herzen und beinahe hätte sie befürchtet, dass das die nächste schwer verdauliche Nachricht wurde, so wie er zögerte. Aber dem war nicht so, denn als er schliesslich mit der Sprache rausrückte, konnte Faye relativ schnell nickend bestätigen, ihm den kleinen Gefallen zu tun. "Klar, werde ich tun. Sie wird es wahrscheinlich zuerst nicht schätzen, wenn ich ihr sage, dass ich dich um Hilfe in diesem Problem gebeten habe... Aber ich bin mir sicher, dass sie und Mitch sehr bald hinter die Vorteile der Unterstützung blicken. Auch wenn sie nicht so gut im Vergessen sind, hat die Flucht aus Easterlins goldenem Käfig gerade sicher Priorität", war ihre Einschätzung, mit der sie sich doch ziemlich sicher war. Aryana und Mitch hatten von Anfang an versucht, dort wieder rauszukommen, bis jetzt aber - soweit Faye bekannt - selber keinen Ausweg gefunden. Wenn Ryatt ihnen tatsächlich seine Hilfe anbot, würden die beiden das Angebot ohne lange zu zögern annehmen. Alles andere wäre ein bisschen dumm oder zumindest gegensätzlich zu früheren Aussagen.
Es streichelte mir trotz unschönem Beigeschmack ein bisschen die Seele, dass ich immerhin ein kleines Loch in Fayes Leben hinterlassen würde. Sicherlich wäre es besser für sie, wenn ihre Bindung zu mir nicht so stark geworden wäre, aber sie würde mich ohnehin nicht so sehr vermissen, wie das umgekehrt der Fall war. Aus dem simplen Grund, dass sie mich nicht liebte und sie nicht alleine war. So zuckten meine Mundwinkel nur nochmal ein bisschen mehr nach oben, bevor ich mich gedanklich mit Fayes darauffolgender Frage beschäftigte. Ich nickte bereits in Zeitlupe, als ich noch gar nicht mit dem Nachdenken fertig war. Doch auf den ersten Blick fiel mir nichts weiter dazu ein. Sie musste ohnehin noch mit Victor über den Erhalt des Kontakts sprechen und allzu bald würden wir uns in keinem Fall wiedersehen. Man konnte nicht wissen, was sich in der Zwischenzeit noch alles veränderte, also galt es erst einmal abzuwarten, wie unser ein bisschen Kontakt für uns beide funktionierte. “Ich denke, das passt erstmal so…”, sagte ich langsam, war jedoch hörbar nach wie vor am Nachdenken. “...also muss ich jetzt nur noch wissen, wann du morgen aufzustehen planst und ob ich mich demnach heute schon von dir verabschieden muss, oder erst morgen früh nach dem Frühstück.”, stellte ich die einzige für mich noch offenstehende Frage. Ich mochte keine Überraschungen und schon gar nicht bei Abschieden, die ich am liebsten einfach komplett umging. Außerdem konnte ich morgen nicht bis 10 Uhr schlafen und bis 12 Uhr brunchen – ich musste arbeiten. Auch wenn Easterlin mir keinen festen Zeitplan auferlegt hatte, sondern sich einfach auf mein offensichtlich vorhandenes Organisationstalent und meine Planung verließ, würde ich mich wohl spätestens um Sieben aus den Laken rollen und mich nach einer Dusche auf zum Frühstücken machen. Es gab einiges Abzuklappern und das erledigte sich nicht innerhalb von zwei Stunden, nach Hause musste ich ja – wahrscheinlich im direkten Anschluss, je nach Ausgang der Dinge – danach auch noch, weil mir kein ganzer oder auch nur ein halber Arbeitstag verloren gehen sollte. So oder so war ich froh darüber, dass Faye ihrer Schwester das kleine Memo stecken würde. “Danke… und ja, das kann ich mir gut vorstellen.”, stimmte ich ein bisschen trocken zu, was Fayes Prognose zur Reaktion ihrer Schwester anging. Mir selbst würde es wohl auch nicht in den Kram passen, wenn meine imaginären Geschwister andere um Hilfe für eins meiner Probleme bitten würden. Trotzdem war mein Hilfsangebot ehrlich und das Paar konnte sich schlichtweg keine Fehltritte auf dem Stützpunkte mehr leisten. Wenn Easterlin einen guten Grund bekam, sie schon bevor wir eine Lösung gefunden hatten von seiner Liste zu streichen, dann war es zu spät. Natürlich hoffte ich, möglichst bald eine gute Option für den Armee-Ausstieg der beiden zu finden, aber das war leider eher unrealistisch, wenn das Glück weiterhin wenig bis gar nicht auf meiner Seite war. Bis dahin mussten wir also versuchen, irgendwie miteinander klarzukommen, ohne dass Mordanschläge auf mich verübt wurden. Ehrlicherweise traute ich den beiden jetzt erst recht absolut alles zu… was leider gleichermaßen gut wie schlecht war, in Hinblick auf unsere Zukunft und das Vorhaben, sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
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Auch nachdem er - und damit sie beide - noch einen Moment nachgedacht hatten, schien keinem mehr etwas Relevantes einzufallen, das hier und heute besprochen werden musste. Das Grundsätzliche war wohl einfach gewesen, zu definieren, ob sie nach heute je wieder voneinander hören würden oder nicht. Das hatten sie getan und alles weitere brauchte, wie gerade besprochen, etwas mehr Zeit und etwas mehr Gedanken. War nichts für eine spontane Entscheidung an einem schwierigen Wendepunkt ihres Lebens. Das Festlegen des Zeitpunktes ihrer vorerst definitiven Verabschiedung war schon schwer genug. Entsprechend angelte sie nach einem Schulterzucken auch erstmal wieder nach ihrer Tasse, um mit einem kleinen Schluck erneut die Temperatur des Wassers zu prüfen und dabei festzustellen, dass der Tee langsam doch gefahrlos zu konsumieren war. "Das ist etwas schwer zu sagen. Grundsätzlich würde ich dich schon gerne noch zum Frühstück begleiten... Aber aktuell bin ich morgens eher keine gute Gesellschaft und je nachdem wann ich heute Abend die Augen zu bekomme, ist es auch nicht die beste Idee, wenn ich mich morgen früher als nötig aus dem Bett quäle. Allzu müde möchte ich beim Autofahren auch nicht sein", erklärte sie sich gefolgt vom nächsten Schulterzucken, das etwas schwerer ausfiel als das erste. "Wahrscheinlich ist es also besser für uns beide und für den Abschied, wenn wir das schon heute machen", fasste sie zusammen und traf ausnahmsweise trotz einer gewissen Unsicherheit die Entscheidung schonmal selbst. Sie glaubte realistischerweise nicht daran, heute Nacht besonders gut zu schlafen. Wenn sie ihm dann morgen früh total gerädert am Frühstück gegenübersass, würde das das Gefühl des Abschieds sicher nicht erträglicher gestalten. Ausserdem wäre es nicht gut, den Tag mit potenziell viel Drama zu starten - für sie beide nicht. Ryatt hatte Geschäfte zu erledigen, die nicht zu wenig Hirnzellen und Konzentration forderten und Faye sollte zumindest ein paar hundert Kilometer in die ungefähr richtige Richtung hinter sich bringen, damit sie die nächste Nacht einigermassen entspannt alleine in einem fremden Hotel an einem fremden Ort verbringen konnte. Sie hatte sich zwar vorgenommen, für die Reise in den Süden ein paar Tage Zeit zu beanspruchen und nicht komplett runter zu stressen und dann erschöpfter denn je bei Victor anzukommen. Aber für ihren Seelenfrieden und das Vorhaben, sich bis dahin auch psychisch noch ein bisschen zu regenerieren, wäre es nur förderlich, wenn sie morgen möglichst viel Land zwischen sich und Seattle brachte. Heute war nicht so viel drin gewesen. Gerade genug, um aus der unmittelbaren Gefahrenzone raus zu sein und alleine in einem Zimmer schlafen zu können. Das war auch in Ordnung für sie, weil sie die Zeit mit Ryatt noch gebraucht hatte. Aber sobald auch dieser Abschluss hinter ihr lag, musste das alles zumindest physisch weiter in die Ferne rücken. Vielleicht würde es ihr ja besser gelingen, alles hinter sich zu lassen - jetzt, wo sie wusste, dass Ryatt sich um eines der grössten zurückbleibenden Probleme kümmerte. Oder es zumindest versuchte. Sie sollte wahrscheinlich aufpassen, dass ihre Erwartungen und Hoffnungen diesbezüglich in einem realistischen Rahmen blieben. Nicht nur jetzt, während sie hier ihren Tee schlürfte, sondern auch später, wenn sie am Telefon hörte, wie es hier oben weiterging. "Musst du früh aufstehen Morgen?", fragte sie Ryatt nun doch noch, weil sie abzuwägen versuchte, ob er gleich aufstehen und verschwinden würde, oder vielleicht noch ein paar Minuten sitzen blieb. Sie hatte zwar akut nicht mehr viel auf dem Herzen, aber den Abschied ein bisschen rauszuzögern klang in ihren Ohren ganz nett.
Ich hatte schon mit einer Antwort in dieser Richtung gerechnet, sah das mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Einerseits würde ich natürlich allzu gerne jede Minute, die ich theoretisch noch mit Faye verbringen könnte, ausnutzen. Doch zusammen zu frühstücken machte leider wenig Sinn, wenn das für sie bedeutete, wahrscheinlich zu wenig Schlaf abzubekommen. Mir war genauso wie ihr daran gelegen, dass sie – früher oder später – heil in Los Angeles ankam. “Hab’ ich mir schon gedacht… ist wohl wirklich das Beste so.”, meinte ich leicht murmelnd mit einem Nicken. Dem hatte ich nicht mehr wirklich viel hinzuzufügen, die Brünette hatte schon genug gute Gründe für den früheren Abschied genannt. “Auch wenn ich trotzdem für dich hoffe, dass du besser als angenommen schläfst.”, und notfalls lieg’ ich ja gleich nebenan. Das auszusprechen wäre wieder schräg bis unpassend gewesen, selbst wenn es nicht auf irgendwie intime Art gemeint war. Natürlich könnte sie zu mir rüberkommen und mir sagen, dass sie nicht schlafen konnte… allerdings nur, um mir dann erneut eine gute Nacht zu wünschen und zurück in ihr eigenes Zimmer zu gehen, weil im selben Bett zu schlafen aus sehr vielen Gründen absolut keine gute Idee war. Ein Sofa gabs in den Zimmern auch nicht, es blieb ihr im Fall der Fälle also nicht viel mehr übrig, als sich allein durch die schlaflose Nacht zu quälen. Fayes Frage zu meiner Tagesordnung beantwortete ich allem voran mit eine leichten Schulterzucken.”Müssen ist nicht ganz das richtige Wort… Easterlin hat mir keinen Zeitplan vorgeschrieben, ich hab ihm quasi nur meine To-Do-Liste zukommen lassen. Es wäre aber gut, wenn ich nicht viel später als um Sieben aufstehe, damit ich auch wirklich alles schaffe. Zurückfahren muss ich ja höchstwahrscheinlich auch noch, wenn sich keine andere wichtige Option entwickelt, die meinen Aufenthalt hier gut begründet verlängert.”, seufzte ich. Ich sah keinen Grund dafür, vor ihr zu verheimlichen, dass ich lieber nicht wieder nach Seattle zurückgehen würde. Es wartete dort schlichtweg nichts wirklich Gutes und mich, auch wenn die akute Gefahr rund um die Hernandez gebannt zu sein schien. Sonst gab es da nichts mehr für mich und das wusste Faye längst, es war dementsprechend keine große Überraschung für sie. Ich schwieg einen kurzen Moment, bevor ich anhängte: “Was jedoch nicht zwingend heißt, dass du mich früher los wirst, als du mich rauswirfst. Erstens komm ich vorübergehend gut mit wenig Schlaf aus und zweitens bin ich ziemlich sicher noch schlechter als du in… dieser Sache mit dem Verabschieden.” Zum Ende hin schwang trockener Sarkasmus mit, auch wenn es nicht weniger als die Wahrheit sein dürfte. Immerhin vermied ich genau solche Szenarien mit größter Vorliebe… normalerweise. Ich blickte Faye noch einen Moment lang mit leicht schief gelegtem Kopf und einem zerknirschten Grinsen an, bevor ich wieder am Tee nippte. Als würde das Abtauchen zur Tasse irgendwas von meiner offensichtlich stellenweise vorhandenen sozialen Inkompetenz verschleiern.
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Sie hatte nicht mit wesentlich mehr Überraschung oder sogar Gegenargumenten gerechnet bezüglich ihres nicht gerade gut ausgearbeiteten Plans des Abschieds. Ein gemeinsames Frühstück mehr oder weniger machte den Braten letztendlich auch einfach nicht mehr fett. Sie mussten sich sowieso für eine längere Zeit - oder für immer, die Option stand noch immer potenziell im Raum - verabschieden und das würde weder heute Abend noch morgen früh irgendwie schön ausfallen. Sie nickte nur noch schwach, als er ihrem Vorschlag zustimmte, fügte dem ein kleines Lächeln hinzu, als er versuchte, ihrer Nacht ein bisschen Positivist einzuhauchen, damit sie die Augen vielleicht doch vernünftig zu bekam. "Mal sehen. Heute haben wir immerhin schonmal erreicht, dass ich nicht mehr in Seattle und unmittelbarer Umgebung bin, ich habe das erste Mal wieder selber mein Auto gefahren ohne massiven Nervenzusammenbruch und wir haben gerade ein potenziell dramatisches Gespräch ziemlich glimpflich über die Bühne gebracht. Und ich weine noch nicht. Ich finde, das sind schonmal ein paar gute Schritte in die richtige Richtung, egal, ob die Nacht jetzt scheisse wird oder super.", fasste sie ein paar kleine und grosse Highlights des Tages zusammen. Das mit dem Weinen war natürlich absehbar, wenn sie den Abschied wie besprochen heute schon hinter sich bringen wollten. Aber vielleicht konnten sie sich bis dahin ja noch ein bisschen tränenfrei unterhalten. Sein Plan für morgen war da eindeutig sichereres Terrain, das wussten sie beide. Ob er um sechs oder zehn Uhr aus den Federn hüpfte, würde sie eher nicht zu Tränen rühren. Wieder nickte Faye und blies davor und danach ein paar Mal kalte Luft über ihr Teewasser. Zwingend nötig war das nicht mehr, mehr einfach ein bisschen Ablenkung, Beschäftigung. "Ja, Sieben könnte zu früh sein für mich. Je nachdem wie lange wir den Abend noch ausdehnen jedenfalls", meinte sie, was bereits schon die indirekte Überleitung zu seiner nächsten Aussage und ihrer Antwort darauf war. "Ich seh' mich dich nämlich eher nicht rauswerfen - dann schlafen wir beide wohl bestenfalls einfach im Sitzen weg.", redete sie genauso sarkastisch über den Abschied, den sie beide nicht wirklich wollten. Das spontane Einschlafen wäre insofern gut, als dass sie beide überhaupt Schlaf abbekommen würden heute Nacht. Diesbezüglich war sie sich ihrerseits nämlich noch nicht so sicher, auch wenn sie nicht schwarzmalen wollte. Wenn sie hier noch eine Weile quatschten, wurde es zu spät für eine Schlaftablette. Und wenn er dann erstmal weg war, wäre sie so aufgewühlt, dass schlafen sowieso komplett an Priorität verloren hätte. Faye blinzelte Ryatt ein paar Sekunden nachdenklich an, hob die Tasse für den nächsten Schluck an ihre Lippen, um sie dann zum wiederholten Mal zur Seite zu stellen. "Ich hab' dir übrigens noch ein kleines... Vergissmeinnicht mitgebracht. Eigentlich wollte ich es dir in Seattle geben, weil das jetzt etwas unpraktisch ist, mit wenig Gepäck und so... aber das war dann hinfällig und darum hab' ichs mitgenommen. Es ist nicht so gross, ich denke, das solle schon gehen mit dem Transport. Möchtest du's sehen?", jetzt, wo sie das grössere Drama vorerst geklärt hatten, konnte sie es wohl wagen, diese kleine Sache zur Sprache zu bringen. Auch wenn sie noch keinen Anschein machte, sich tatsächlich zu ihrem Gepäck zu bequemen, um das kleine Geschenk rauszuholen. Wollte lieber seine Reaktion sehen und die Aufforderung von ihm persönlich hören.
Wenn sie all die kleinen Errungenschaften des Tages so aufzählte, dann waren die letzten Stunden sogar ziemlich erfolgreich gewesen. Deshalb nickte ich fast schon anerkennend mit leicht hochgezogener Augenbraue und geneigtem Kopf. “Da hast du wohl Recht.”, stimmte ich ihr zu. “Ich würde sogar fast so weit gehen, zu sagen, dass meine Bauchschmerzen mehr oder weniger unbegründet waren. Habs mir schlimmer vorgestellt… ich dachte, wir wären uns weniger einig, nachdem jetzt nochmal so viel passiert ist.”, stellte ich schulterzuckend fest. Eigentlich war ersteres eine sehr banale Erkenntnis, für mich aber doch ziemlich wichtig – so als Person, die viele zu tiefgehende Gefühle gerne umschiffte. Es war absolut nicht verkehrt, wenn ich – genauso wie Faye – besser mit meinen Verlustängsten umzugehen lernte. Mir bewusst machte, dass mir nicht alle Menschen um mich herum so grausam entrissen werden würden, wie das bei der Army meistens passiert war. Natürlich hoffte ich gerade trotzdem, dass ich Faye irgendwann wiedersehen würde, obwohl es dafür keine Garantie gab. In meinem Kopf schrillten zwar irgendwo noch leise die Alarmglocken diesbezüglich, aber wenn es um Faye ging, war schon seit einer ganzen Weile das mehr schlecht als recht geflickte Herz am längeren Hebel. Sollte sich der vorübergehende Abschied später irgendwann als doch sehr endgültig herausstellen, machte ich mir zum gegebenen Zeitpunkt noch mehr als genug Gedanken darüber. Mein Körper würde es mir ganz bestimmt nicht danken, wenn ich in diesem Sessel schlief, statt mein gebuchtes Zimmer mit dem Bett darin zu nutzen. Trotzdem ließ Fayes Aussage mich grinsen. “Klingt absolut vernünftig.”, sagte ich, so als wäre das tatsächlich der Fall. So als wären wir nicht beide zwei Erwachsene, die es sehr viel besser wissen sollten. So als würde es nicht echt viel Sinn machen, relativ zeitnah den Schlussstrich unter diesen Tag zu ziehen. “Hoffentlich sitz’ ich morgen dann nicht permanent schief auf sämtlichen Stühlen.”, hängte ich mit einem leisen Schnauben an, dicht gefolgt von einem Kopfschütteln. So als Rentner war ich längst in einem Alter, wo der Körper solche spontanen Schläfchen mit schmerzhaft verspannter Nackenmuskulatur dankte. Als Faye mich anblinzelte, ahnte ich schon, dass noch irgendwas kommen würde, womit ich nicht gerechnet hatte. Oder womit ich nicht hatte rechnen wollen, weil es in meinen Augen das Ungleichgewicht noch weiter verstärkte. “Das… wäre absolut nicht nötig gewesen.”, ließ ich sie nach kurzem Zögern wissen, was sie wahrscheinlich sowieso schon aus meinem Gesichtsausdruck lesen konnte. Ein bisschen Verwunderung, ein bisschen oh, nicht doch. Was nicht hieß, dass ich mich nicht darüber freute. Es war schön, dass sie sich diese Mühe trotz allem Stress offensichtlich trotzdem gemacht hatte. Unter den gegebenen Umständen fiel es mir nur ein bisschen schwer, auch das noch von ihr anzunehmen. Noch ein bisschen mehr, als du verdienst. “Aber ja, selbstverständlich will ichs jetzt sehen… wie du weißt, ist meine Neugier zuweilen sehr grenzenlos.”, sagte ich mit verunsichertem Grinsen und fragend schiefgelegtem Kopf. Ich fühlte mich augenblicklich schlecht damit, nichts zu haben, das ich Faye im Gegenzug zurückgeben konnte. Einmal kurz hatte ich darüber nachgedacht und es dann gleich wieder abgetan, weil Victor es bestimmt auf irgendeiner Ebene scheiße gingen würde, wenn ich seine Freundin beschenkte. Jetzt bereute ich das.
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"Da kann ich dir zustimmen, weil ich die bösen Vorahnungen und einen gewissen Pessimismus mit Blick auf heute ausnahmsweise geteilt habe", pflichtete Faye ihm bei. Rückblickend betrachtet, hätte sie sich das wohl auch selbst ausreden können. Ryatt hatte immerhin vor einigen Monaten versprochen, dass er nicht mehr weglaufen würde. Sie war sich nur noch nicht sicher gewesen, ob sie das diesmal wirklich auch nicht tun würde. Aber auch diese Sorgen hätte sie nicht zu haben brauchen, Faye war ja nicht fürs Weglaufen, beziehungsweise Freundschaften beenden, bekannt. Sie hatte im Vorfeld nur gar nicht in Betracht gezogen, dass es in diesem Fall auch noch etwas zwischen Ganz und Gar nicht geben könnte. Ein wir schauen später oder erstmal erholen zum Beispiel. Klar wollte sie mit Seattle abschliessen. Aber wenn das sowieso nicht in vollem Ausmass möglich war, durfte diese Entscheidung ruhig auch noch ein bisschen vor sich hin dümpeln. War nicht so, as würde ihr in der Zwischenzeit ernsthaft langweilig werden, als hätte sie sonst nichts mehr zu tun und zu denken. Noch wollte sie aber nicht zu viel denken und lieber noch ein paar eher unbeschwerte Minuten mit Ryatt geniessen. Ein paar - vorübergehend? - letzte Erinnerungen schaffen. Und wenn das dazu führte, dass er morgen schief auf einem Stuhl hing und sie nicht besonders weit kam, dann war das halt so. Easterlin wäre zwar kaum erfreut, wenn Ryatt mit wenig oder gar keiner vernünftigen Ausbeute zurückkehrte, umbringen würde ihn dieser eine Leergang aber kaum, wollte sie, nun wieder optimistisch, glauben. "Sonst erzählst du ihnen eben irgendeinen guten Grund, wie du die letzten Nacht intensiv damit verbracht hättest, alles über Portland - oder über sie - herauszufinden, weil dich die Stadt so unendlich fasziniert. Vielleicht gibt das wiederum ein paar Pluspunkte.", diente Faye nahtlos direkt mit der nächsten tollen Idee. Pluspunkte würde sie für ihren Teil auch mit der nächsten Aktion ernten, auch wenn das sicher nicht ihr Motiv gewesen war. Es war nur eine kleine Idee gewesen, die ihr aufgrund einer Erinnerung und einem Zufall gekommen war. Eine kleine, leicht umsetzbare Idee, deren Ergebnis sie nun aus dem Koffer holen würde. Faye stieg mit einer abwinkenden Handbewegung vom Bett, um die paar Meter zum Gepäck zu gehen und dieses zu öffnen. "Ich weiss, ich weiss... War auch nicht ganz geplant, aber als ich erstmal die Idee hatte, wäre es wirklich schade gewesen, sie einfach wieder zu vergessen.", beteuerte sie beschwichtigend, holte den flachen Gegenstand heraus, der in ein dünnes Tuch gehüllt war. „Einpacken hab ich nicht mehr geschafft, aber du darfst gerne das Tuch entfernen“, erlaubte sie ihm grosszügig, als sie vor ihm ankam und ihm das Bündel überreichte. Gespannt und bereits jetzt mit dem Anflug eines Grinsens ziemlich genau dort stehen blieb, wo sie ihm das Geschenk überreicht hatte. Unter dem Tuch versteckte sich ein Bild in einem relativ schlichten Rahmen, etwas mehr als A4-gross. Ein selbstgemaltes Bild, natürlich, wie die unscheinbare Inschrift kleine Ballerina unten rechts in der Ecke verriet. Ein Bild von einem pinken Donut mit farbigen Zuckerstreusel und einer Packung ebenso zuckrigen Churros daneben. Dazu im oberen linken Drittel in geschwungenen, dezenten Buchstaben die schlichten Worte 'Cause every little thing gonna be all right. Sie hatten sich zwar nie über Bob Marley oder dieses Lied unterhalten, aber es gab wenig Menschen, die es nicht mochten und Faye bezweifelte schwer, dass ausgerechnet Ryatt dazugehörte. Und selbst wenn - die Zeile war trotzdem schön. "Wir haben mal davon gesprochen, dass ich deine Wohnung einrichten würde... Dazu wird's wahrscheinlich nie kommen. Aber das Bild für die Küche, das du dir gewünscht hast, wollte ich dir trotzdem schonmal übergeben. Ich weiss, du wolltest eine unkitschige Version davon... Aber alles kann man wohl nicht haben, wie wir beide am besten wissen.", folgte eine kleine Erklärung, nachdem sie ihm ein paar Momente Zeit gegeben hatte, ihr Werk zu betrachten.
Leider konnte ich Faye wieder mit leichtem vor mich hin Nicken zustimmen. Ich hatte ihr ein paar zu viele Gründe dafür gegeben selbst jetzt noch daran zu glauben, dass ich diese Freundschaft ganz einfach nicht konnte oder sie mir nicht wichtig genug war, um daran festhalten zu wollen – trotz all dem Schmerz, den sie uns beiden schon beschert hatte. Doch genug davon: Ich saß jetzt hier, Faye saß hier und wir waren uns einig damit, die Verbindung zwischen uns nicht wegwerfen zu wollen. Sache geklärt, fürs Erste abgehakt. Meine beruflichen Ergebnisse hier in Portland waren hingegen noch ausstehend. Auf Faye Worte hin wog ich den Kopf abschätzend hin und her. “An der Tatsache bemessen, dass ich wahnsinnig überzeugend sein kann, ist das tatsächlich eine Option.”, stellte ich mit einem Schulterzucken fest. “Portland ist Grand Rapids rein optisch gesehen ziemlich ähnlich. Die Architektur und die Vegetation mögen sich unterscheiden… und Portland ist, grob geschätzt, wahrscheinlich mindestens dreimal so groß, aber den breiten Fluss, die Wolkenkratzer am Ufer und die unzähligen Brücken haben sie beide.”, zog ich mein sehr oberflächliches Resümee der Gemeinsamkeiten. “Es wäre also absolut nicht weit hergeholt, würde ich sagen, ich hätte mich ein bisschen zu sehr im Heimatgefühl verloren.”, schloss ich sarkastisch. Konnte ja jedem Mal passieren. Oder zumindest Jedem, der schon lange nicht mehr in Frieden seine Heimatstadt hatte genießen können. Es war schon wieder Jahre her, dass ich zuletzt bei meinen Eltern gewesen war und zusätzlich war ich da eindeutig noch traumatisierter als jetzt gewesen. Also kein schöner Aufenthalt, was sich an Weihnachten hoffentlich ändern würde. Aktuell war Fayes Geschenk aber eindeutig interessanter für mich, als die bald anstehende Reise in heimische Gefilde. Deshalb folgten meine Augen ihr sehr aufmerksam, als sie das Objekt der Begierde aus ihrem Gepäck holte. Fehlendes Geschenkpapier sollte mich dabei gewiss nicht stören, was ich unterbewusst mit einem schwachen Kopfschütteln abtat. Viel lieber wollte ich Fayes Idee begutachten, die sie mir kurzerhand verdeckt überreichte, was mich meinerseits die Tasse auf dem kleinen Beistelltisch nahe des Sessels abstellen ließ. Die Form alleine verriet mir zwar schon, worum es sich hier handeln musste, aber ich nahm das Tuch – nach einem letzten kurzen Blick in Fayes Augen – trotzdem mehr zügig als geduldig vom Rahmen. Die Erinnerung an das Gespräch über meine Wohnung kam mir ganz von selbst in den Sinn, während ich das kleine Kunstwerk musterte. Faye hatte sich genauso daran erinnert, wie auch ich das noch immer tat. Offensichtlich hatte sie die Süßigkeiten selbst aufs Papier gemalt und das machte dieses Geschenk noch um eine ganze Stufe individueller. Auch wegen der zugesetzten Textzeile, die wir uns eventuell beide mal ein bisschen öfter eintrichtern sollten. Ich sah das eingerahmte Bild wohl fast ein bisschen ungläubig an, weil ich mich nicht wirklich daran erinnern konnte, wann ich zuletzt ein so persönliches, nicht einfach irgendwo gekauftes Geschenk bekommen hatte und meine Mundwinkel bogen sich von ganz alleine stückweise weiter nach oben. Deswegen hatte ich auch noch nichts dazu gesagt, als die zierliche Brünette ihrerseits ein paar Worte loswurde. Als sie auf den kitschigen Touch zu sprechen kam, schüttelte ich jedoch sofort den Kopf und stand auf. Umarmte sie nur mit dem linken Arm, weil die rechte Hand noch den Rahmen des Bildes festhielt. Sich vielleicht ein kleines bisschen daran klammerte, als ich antwortete: “Es ist perfekt, so wie es ist. Danke.”, tat ich ihre letzten Worte entschieden ab. Vielleicht war Kitsch nicht unbedingt meine eigene Handschrift, doch es passte zu Faye. Es hauchte dem gemalten Bild so noch mehr von ihrer Persönlichkeit ein und würde mich so noch viel besser daran erinnern, wie sie war. Selbst dann, wenn ich sie wider meiner Hoffnung nie wieder sehen würde. “Aber es könnte sein, dass es statt in meiner Küche in meiner Irgendwann-Vielleicht-Bar hängt und du dann zu einer prominenten Künstlerin wirst.”, musste ich die länger als ursprünglich angedachte Umarmung mit einem kleinen Witz und schiefem Grinsen abrunden, als ich mich von Faye löste, weil ich im Stillen bemerkte, wie stark ich gerade Gefahr lief, mich von meinen etwas zu rührselig werdenden Gefühlen zu einer dummen Entscheidung verleiten zu lassen. Ich hatte schon viele Momente zwischen uns damit zerstört, weshalb ich mich dann ganz bewusst leicht wegdrehte und statt die Brünette anzusehen noch einen weiteren Blick auf das Bild warf.
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Dass er überzeugend sein konnte, wusste sie bestens. Hatte sie für sich in der Vergangenheit oft genug festgestellt und erlebt. Nicht manipulativ zum Glück, aber überzeugend auf jeden Fall. Ryatt war sehr redegewandt und liess sich nicht leicht aus der Ruhe bringen, zeigte selten Anzeichen von Nervosität. Und wenn, dann ganz sicher nicht, weil er sich mit irgendwem über ein Stück Land unterhielt, welches für seinen idiotischen Chef potenziell von Bedeutung sein könnte. "Siehst du... Wenn du das Morgen auspackst, hast du dir je nach Gesprächspartner bereits einen neuen Freund geschaffen", meinte sie zufrieden, wenn auch ebenfalls mit leichtem Sarkasmus gewürzt. Irgendein Heimatliebhaber, dessen ganzes Herz an der Stadt hing, wäre von solchen Worten bestimmt leicht beeinflusst, was wiederum die Weichen für positive Verhandlungen im Sinne des jungen Geschäftsmannes stellte. Aber das waren Spekulationen für den morgigen Tag, den sie beide auf sehr unterschiedliche Weisen verbringen würden. Entsprechend wichtig war es, dass sie sich jetzt, für die vorerst letzten verbleibenden Minuten, die sie noch miteinander teilen konnten, auf anderes konzentrierten. Das kleine Geschenk schien hier gute Dienste zu leisten, wie sie auf Ryatts Gesicht beobachten konnte, nachdem er das Tuch zur Seite geschlagen hatte und sein Blick auf das Bild traf. Auch auf ihrem Gesicht wurde das Grinsen breiter. Eindeutig schneller als bei ihm, da sie sich in diesem Moment nicht noch zusätzlich mit Überraschung beschäftigen musste. Sie konnte sich ausschliesslich auf die Freude konzentrieren, die es ihr bereitete, dass er scheinbar nicht nur glücklich über das Geschenk war, sondern sich auch noch an den Zusammenhang zu erinnern schien, den sie soeben zu Verständniszwecken nochmal geschildert hatte. Sie erwiderte die Umarmung mit beiden Armen - hatte ja sonst nichts mehr festzuhalten - und störte sich kein bisschen daran, dass diese ein bisschen länger anhielt, als das normalerweise der Fall war. "Sehr gerne. Ich bin froh, dass es dir gefällt", antwortete sie ehrlich. Sie hatte nicht unbedingt was anderes erwartet, weil es wahrscheinlich keine normale Person auf dieser Welt gab, die sich nicht über persönliche Geschenke freute. Trotzdem blieb da immer ein kleines Restrisiko und das Problem mit gerahmten Bildern war halt, dass man sie aufhängen musste oder irgendwo verstaute und nie wieder anschaute. Umso besser, wenn er ihrem Werk bereits einen Platz in seiner hypothetischen Bar der Zukunft zusicherte. Die Bemerkung liess sie leise auflachen, bevor auch ihre Augen nochmal zum Bild fanden. "Puh, dann musst du mich aber vorwarnen, damit ich rechtzeitig mein Atelier entstaube und einen Vorrat an Leinwänden und Farben anschaffe... Und meinen noch nicht vorhandenen Job kündige, da ich anschliessend sehr sicher als freischaffende Künstlerin den Durchbruch schaffe und mich vor Aufträgen nicht mehr retten kann", scherzte sie dramatisch weiter. Eher unwahrscheinlich, dass ihr leicht überdurchschnittliches Zeichentalent ihr je irgendwie Geld einbringen oder gar eine zweite Karriere bescheren würde. Abgesehen davon, dass sie das auch gar nicht wollte, weil sie mit ihrer ursprünglichen Berufswahl weiterhin glücklich war und das Zeichnen und Malen lieber als sporadisches Hobby beibehielt.
Möglich wars. Zwar würde ich wohl erst versuchen, mein Gegenüber jeweils zuerst mit ein paar anderen Sätzen besser einschätzen zu lernen, ehe ich mit der Heimatgeschichte um die Ecke kam, aber das war mir ein Leichtes. Zwar tat ich mir mit zwischenmenschlichen Gefühlen zuweilen schwer, aber Geschäftsleute korrekt einzuordnen war mir inzwischen fast blind möglich. Auch bei Easterlin, wobei der in den eigenen, engeren Reihen ohnehin kein großes Geheimnis aus seinen Absichten machte -- wir mussten schließlich nach seinem Leitfaden handeln. Da war es wichtig zu wissen, wie er tickte. So gesehen machte sich der Milliardär dadurch allerdings auch verwundbarer, sollte er mir gegenüber mal das Falsche ausplaudern. Ich hoffte inständig darauf, jetzt wo ich Faye gesagt hatte, ich würde ihre Liebsten aus dieser Misere befreien. Oder es zumindest versuchen, aber ich erlaubte mir selbst kein einziges weiteres Mal in diesem Kreis so katastrophal zu scheitern. Es war ja nicht mehr nur Fayes Schuld, in der ich stand. Als hätte das nicht ausgereicht... Doch das war kein Problem von heute, sondern von Seattle, das gerade sehr angenehm weit weg war. Faye freute sich darüber, dass mir das Geschenk zusagte und ich freute mich schlichtweg darüber, dass sie sich freute. Es war zu selten vorgekommen in letzter Zeit, dass ich sie mal lächelnd, grinsend oder gar lachend gesehen hatte. Das tat unheimlich gut, jetzt nach all dem Schmerz mehr denn je. Nicht nur mir, sondern auch ihr. “Sehr.”, bestätigte ich ein weiteres Mal ehrlich, dass ich an dem Bild absolut nichts auszusetzen hatte. Als sie auf die Sache mit ihrer potenziellen Künstlerkarriere einstieg, musste ich meinerseits grinsen und ließ kurz darauf das Bild wieder sinken, um stattdessen die zierliche Brünette anzusehen. “Aber selbstverständlich, werd' ich machen… soll ich dich dann eigentlich vor aller Welt als Ballerina anpreisen oder deinen richtigen Namen verwenden? Ich fänd’ ja den Künstlernamen origineller… und außerdem hast du damit schon unterschrieben.”, hakte ich amüsiert nach und hängte gleich noch eine Empfehlung an, kurz bevor ich mit anhaltendem Grinsen das Tuch von der Armlehne des Sessels angelte und das Geschenk sorgsam zurück in die Verpackung hüllte. Wenn es auch nur einen Kratzer auf der Heimreise nach Seattle bekam, würde ich mich nämlich sicherlich selbst umkrempeln wollen. Mehrmals. Eigentlich immer dann, wenn ich aufs Neue einen Blick auf die gemalten Süßigkeiten warf und die Blessur ansehen musste. “Wenn es gut ankommt, kann es selbstverständlich auch passieren, dass ich mehr von deinen Kunstwerken brauche.”, nickte ich gut gelaunt weiter vor mich hin, als ich die Tasse gegen das Bild austauschte, das damit auf dem kleinen Tischchen neben dem Sessel zum Liegen kam. Bevor ich es noch fallen ließ oder in Tee ertränkte, machte ich letzteren besser mal zeitnah leer. Sicher war sicher, keine Risikos heute.
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Das war jetzt natürlich eine sehr wichtige Frage, über die sie sich eigentlich ordentlich Gedanken machen müsste. Wollte sie, dass die Welt ihren richtigen Namen kannte - oder blieb sie lieber einfach als die kleine Ballerina bekannt, deren Identität nur Ryatt wirklich kannte? Faye kniff kurz die Augen zusammen, als müsste sie gerade ernsthaft die Vor- und Nachteile der beiden Optionen abgleichen. "Ich glaube, wir bleiben besser bei der Ballerina. Du weisst ja, wie sehr ich meine Privatsphäre schätze - ich halte die Chance auf unerwarteten Besuch lieber klein. Auch wenn ich glaube, dass Picassos nicht ganz so crazy Fans haben wie Beyoncés oder Di Caprios...", bildete sie ihr Urteil mit einem überzeugten Nicken. Bei Malern standen meist eher die Werke im Zentrum und nicht die Persönlichkeiten dahinter, anders als bei Sängerinnen und Schauspieler, wo die Celebrities an sich komplett idolisiert wurden. Über Van Gogh wurde vielleicht noch spekuliert, dass er sich ein Ohr abgeschnitten hatte - das war dann aber eher das höchste der Gefühle, während von Weltstars in der Musik- und Filmbranche am liebsten schon geteilt wurde, ob sie zuerst die linke oder die rechte Socke anzogen. Da sie weder vor hunderten von Jahren geboren war, noch ihr irgendwelche Körperteile fehlten, standen die Chancen gut, dass die Menschen mit ihrem Namen lediglich pinke Donuts und Kitsch verbanden. Falls es denn jemals dazu kam, dass Ryatt eine Bar aufmachte und ihr Bild dort sein Zuhause fand. Falls das jedoch tatsächlich passierte und er feststellte, dass ein pinker Donut allein nicht ausreichte, wäre sie selbstverständlich sofort bereit, Nachschub zu liefern. "Naja, wenns schon mit der Wohnungseinrichtung nicht geklappt hat, dann kann ich vielleicht wenigstens bei der Bargestaltung ein bisschen behilflich sein", willigte sie ohne Umschweife ein. "Sag mir einfach früh genug, welche Süssigkeiten es das nächste Mal sein dürften und ich mach' mich an die Arbeit", verpackte sie das Angebot so, als wären Süssspeisen das Einzige, was sie aufs Papier brachte. Was vielleicht nicht ganz so war - aber die Bilder sollten ja ein bisschen zusammenpassen, wenn sie den gleichen Raum schmückten. So zumindest ihre Auffassung, vom Konzept der zukünftigen Bar wusste aktuell wohl noch keiner zu berichten. Faye machte nun wieder ein paar Schritte rückwärts, um sich am Rand der Matratze erneut aufs Bett zu setzen. Auch sie holte sich den zwischenzeitlich abgestellten Tee zurück, um das Getränk langsam aber sicher zu trinken. War nicht so, als möchte sie ernsthaft provozieren, dass der Abend ein Ende fand - aber kalter Tee würde das alles auch nicht besser machen. Die Erinnerung an Ryatts Gesicht, als er das Geschenk ausgepackt hatte, hingegen schon. Es würde zwar kein Bild in ihrer Galerie davon geben, weil ihr Handy unberührt auf dem Nachttisch lag, aber ihr Kopf und ihr Herz hatten den Moment gefangen, weshalb ihre Mundwinkel weiterhin leicht nach oben gebogen blieben. Irgendwann würden nur noch diese Erinnerungen übrig bleiben. Die schönen Momente, von denen sie auch so einige Fotos zu betrachten hatte. Irgendwann würde sie vergessen, dass Ryatt nicht nur Freude, sondern auch eine Menge Chaos in ihr Leben gebracht hatte. Weil er offensichtlich etwas an sich hatte, dass sie immer und immer wieder zu den guten Momenten zurückbrachte und den Rest verdrängte. Es war ihr lieber so. Sie ging nicht zuletzt nach Los Angeles, um endlich zu vergessen.
Es war ohnehin ein bisschen krankhaft, wie sehr die Menschheit sich auf ein paar einzelne Individuen fokussierte, nur weil sie in fast jedermanns Augen besonders attraktiv und talentiert waren. Man begegnete tagein, tagaus so vielen verschiedenen Leuten und doch wusste man gar nichts über sie. Vielleicht war ja einer davon irgendwann der nächste außergewöhnlich begabte Sänger oder Schauspieler. Nur für immer unentdeckt, weil das Gesicht nicht genauso vorzeigbar war, keinem neuzeitlichen Beauty-Standard entsprach. “Das will ich sehr für dich hoffen, sonst bleibt die kleine Ballerina nur unwahrscheinlich auf ewig verschleiert.”, meinte ich mit trockenem Sarkasmus. Faye hatte zwar einige Narben, die für manchen Menschen nicht in irgendwelche Schönheitsideale passten, aber das änderte kaum was an ihrem etwas zu perfekten Gesicht. Oder den Modelmaßen, wenn sie nicht gerade wieder in einer unfreiwilligen Kur sehr ausgiebigen Fastens feststeckte. Womöglich war das Bild in meiner zukünftigen Wohnung doch besser aufgehoben. Denn wenn ich zu viele Bilder von Speisen in die Spelunke hängte, dachten die Leute vielleicht, dass ich das alles tatsächlich servieren konnte. Ob das ankam? Alkohol mit Kuchen? Vielleicht bei Cocktails mit Kaffeearoma. Oder umgekehrt - klassischer Kaffee mit Schuss. Oder alkoholhaltiges Gebäck, das ich ganz bestimmt nicht selbst aß. Viel zu viele Möglichkeiten. Außerdem gab es viele Menschen, die diesen Süßkram sehr viel weniger mochten, als es bei Faye und mir der Fall war. Wackeliges Konzept. “Andererseits muss ich möglicherweise wirklich Donuts und sowas servieren, wenn ich zu viel davon aufhänge. Da kriegt man ja Heißhunger…”, grinste ich. Als wäre es für mich tatsächlich schlimm, immer Gebäck im Haus zu haben. “...und ich würde drastisch zunehmen, wenn es in meiner eigenen Bar Churros gäbe. Du würdest mich bald nicht mehr wiedererkennen.”, meinte ich halb lachend und schwenkte zur Untermauerung die weniger als halbvolle Tasse, bevor ich einen Schluck nahm. Vielleicht war das ein bisschen übertrieben. Ich konnte sehr diszipliniert sein, auch bei Ernährung, aber ich müsste mich ohne jeden Zweifel sehr oft ermahnen, nicht zuzugreifen. Faye widmete sich in der Zwischenzeit wieder ihrem eigenen Tee und ließ mich damit zurück in meine eigene Tasse blicken. Da war nicht mehr allzu viel drin und es wäre absolut vernünftig, nur noch das Getränk leer zu machen und dann zu gehen. Es wäre, wie schon vorher festgestellt, wirklich gut, wenn wir im Anschluss beide etwas mehr Zeit zum Einschlafen bekamen. Aber dazu konnte ich mich nicht überreden und nachdem Faye und ihre warmen Augen mich offensichtlich tatsächlich nicht vor die Tür schieben konnten, gab es im Anschluss noch eine weitere Tasse Tee. Inklusive anhaltend lockerer Gesprächsthemen, die mehr Nonsens als was anderes enthielten. Es brachte uns zum Lachen und das war alles, was ich wollte – Faye mit gutem Gefühl gehen zu lassen, wenn es an dieser Stelle schon keinen anderen Ausweg gab. Mir wurde trotzdem aufs Neue unwohl, als ich den letzten, längst kalten Schluck der zweiten Tasse einmal kreisen ließ, bevor ich ihn im Anschluss den Rachen runterkippte. Es würde nicht einfacher werden, egal wie weit ich es hinaus schob. Deshalb stand ich seufzend mit der leeren Tasse aus dem Sessel auf, um sie zurück an ihren ursprünglichen Platz zu bringen. Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr und es war schon beinahe eine Stunde nach Mitternacht, also höchste Zeit in mein eigenes Zimmer zu gehen und bestenfalls sogar zu schlafen. “Tja, dann… muss ich mich jetzt wohl oder übel wirklich langsam verabschieden. Ist schon spät.”, seufzte ich, als ich mich von der Tasse weg und damit Faye wieder zu drehte. Außerdem hatten wir alle an Teebeuteln genutzt, was der Zimmerservice für eine einzige Übernachtung da gelassen hatte. Ein etwas verkrampftes, verunsichertes Lächeln zierte meine Lippen. Mit ebenso zaghaften Schritten ging ich in ihre Richtung und der Tee lag sofort wieder schwerer im Magen, als es bei reiner Flüssigkeit der Fall sein sollte. Dagegen hatte selbst alles Lachen davor nichts geholfen.
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Das wäre schade, sie fand es nämlich ganz gut, ihrem Namen eine gewisse Anonymität zu wahren. Glücklicherweise waren ja weder ihr Vor- noch ihr Nachname besonders auffällig. Der Vorname vielleicht etwas seltener als der Nachname, aber um herauszustechen, reichte das kaum aus. Da würden auch fünfzig Bilder mit Süssigkeiten in seiner Bar nichts ändern. "Also ich könnte eventuell auch einen Bierkrug oder einen Cocktail zeichnen, wenn du nett fragst...", bot sie grosszügig mit unterschwelliger Ironie an, ihre Ergebnisse seinen Zwecken anzupassen. "Aber Churros in einer Bar wären natürlich auch was... Möglicherweise eine neue Geschäftsidee - würd ich mir mal besser gut notieren an deiner Stelle", schob sie hinterher. Für den Fall, dass er sowas einrichten würde, würden die Bilder auf jeden Fall appetitanregend wirken. Und soweit sie wusste, tendierten viele Menschen dazu, nach dem Feiern noch unbedingt irgendwas Ungesundes essen zu wollen. Normalerweise gings dabei zwar um salzige Speisen - McDonalds und Burger King - aber in seiner Bar ging man ja auch nicht feiern, sondern nur trinken. Sie würde den letzten Schluck Tee drauf verwetten, dass noch niemand untersucht hatte, ob das zu mehr Lust auf Churros führen könnte. Sein eigenes Verlangen nach den zuckrigen Teigstangen war dann wohl ein Nebeneffekt, der schlecht verhindert werden konnte. Es sei denn, er stopfte sich anfangs wirklich so sehr mit Churros voll, dass ihm die Lust daran komplett verging. Dann wäre aber die Anwesenheit der Churro-Maschine in seiner Bar wohl auch nicht mehr so willkommen. Die Gespräche schwenkten irgendwann von Süssigkeiten weg zu vergleichbar unsinnigen, irrelevanten Themen, die sie jedoch ebenfalls bestens unterhielten. So gut, dass nach der ersten, bereits sehr gemächlich getrunkenen Tasse Tee natürlich nicht Schluss war und auch die verbliebenen beiden Beutel ihren Weg ins heisse Wasser fanden. Faye hätte das Wasser eigentlich nicht wirklich kochen müssen. Sie tranken den Tee im Anschluss nämlich so langsam, dass längst alles abgekühlt war, als sie auch diese Tassen leerten. Aber der kalte Tee war zu diesem Zeitpunkt - wenn auch nicht besonders lecker - sicherlich das kleinste Problem von ihnen beiden. Denn mit jedem Schluck schien der Abschied näher zu rücken, bis Ryatt schliesslich tatsächlich mit einem Seufzen die unliebsame Verabschiedung einleitete. Das Gespräch war davor ein bisschen im Sand verlaufen und es war von daher sicher ein guter Zeitpunkt, zu gehen. Auch in Anbetracht der Uhrzeit. Aber sicher nicht im Sinne ihrer Emotionen. Das Nervenflattern kündigte sich sehr unmittelbar, aber zeitgleich mit dem Ziehen in ihrem Herzen wieder an. Da half auch der letzte, kümmerliche Schluck kalten Tees nichts. Faye gab ein tiefes Seufzen von sich, bevor sie ihre Tasse vorübergehend wieder auf dem Nachttisch deponierte und wehleidig zu Ryatt blickte. Sie schob die Füsse vor, um sich träge vom Bett zu erheben und so ziemlich direkt vor ihm zu stehen zu kommen. "Ja... ist wohl Zeit...", bestätigte sie, als würde die Rechtfertigung durch diese lahmen Worte den Abschied irgendwie leichter machen. "Ich... ich hab keine tollen Worte mehr anzufügen, ausser allem, was ich dir schon gesagt habe... Pass auf dich auf, Ryatt. Wirklich.", gab sie etwas stockend von sich. Eine Abschiedsrede konnte man von ihr schlecht erwarten. Sowieso würde sie diese ja doch nicht ohne Heulkrampf präsentieren können, was es für sie beide nur unangenehmer machen würde, als es eh schon war. Somit streckte sie lieber die Arme aus, um ihn in eine Umarmung zu schliessen, die an sich eigentlich auch schon alles in sich trug, was sie aktuell nicht in Worte fassen konnte. Sie schloss die Arme eng um seinen Körper und kaum hatte sie das getan, spürte sie sofort, wie der Kloss in ihrem Hals grösser wurde und ihre Augenwinkel sich mit verräterischer Flüssigkeit füllten. Ganz ohne Tränen war kaum möglich, aber sie sollte wenigstens versuchen, nicht in unkontrolliertes Schluchzen auszubrechen, bis er das Zimmer verlassen hatte. "Danke für... für alles. Ich weiss, dass du das vielleicht nicht verstehst... aber du hast mir wirklich viel geholfen. Und... und ich hab dich lieb.", nur, falls die Umarmung und die Tränen allein das nicht deutlich genug ausdrückten. Ryatt musste es sicher mindestens noch einmal gehört haben - selbst dann war fraglich, ob er ihr irgendwas davon wirklich glauben würde. Aber sie hoffte es.
Ich wünschte wirklich, die Umarmung, die ich ohne Umschweife und diesmal auch mit beiden Händen erwiderte, würde ausreichen, um den Abschied ansatzweise erträglich zu machen. Stattdessen schloss ich meinerseits die Augen, um die Worte, die Faye direkt davor gesagt hatte, mit einem tiefen Atemzug sacken zu lassen. Die Tatsache, wie wichtig es tatsächlich war, dass sie mir die Wertschätzung meiner eigenen Sicherheit nochmal eintrichterte, war an und für sich schon schmerzlich. “Das werde ich… dank dir hab ich dafür inzwischen wieder mehr als genug Gründe.”, murmelte ich, während sich allmählich ein leichtes Brennen in meiner Kehle breit machte. Ich hätte mich einfach in die Tonne geworfen, wäre Faye nicht da gewesen, um mich davon abzuhalten. Sie hatte mich wieder hochgezogen, obwohl sie selbst dafür eigentlich gar keine Kraft gehabt hatte. Das war das mit Abstand größte Geschenk, das sie mir gemacht hatte… neben so vielen anderen. “Und pass’ du auch auf dich auf, Faye. Geh' mir nicht in der Großstadt verloren.”, fügte ich noch etwas undeutlicher an. Eigentlich war ich mir sicher, dass ich ihr das gar nicht zu sagen brauchte, nach allem, was sie in den letzten paar Jahren durchgemacht hatte. Ich sagte es trotzdem… Schweigen war unangenehmer als ein paar Worte, die eher der Vollständigkeit dienten. Doch selbst Stille wäre nicht ganz so furchtbar gewesen wie die Worte, die kurz darauf noch von ihr kamen. Sie hatte Recht damit, dass ich noch immer nicht dahinter blicken konnte, wie zur Hölle ich ihr Leben bereichert hatte. Das allein würde mich noch lange genug beschäftigen, weil ich bis jetzt nicht verstehen konnte, warum sie die Bekanntschaft zu mir nicht einfach lieber endlich beerdigen wollte. Aber das, was darauf folgte, sorgte für einen noch viel schmerzhafteren Stich in der Brust. Die Umarmung wurde meinerseits noch verkrampfter und ich kniff die Augen zusammen. Wollte mich gleichzeitig am liebsten schräg halbieren – meinen Kopf auf einem Bein hier bei Faye stehen lassen, während das andere Bein mit dem Herz aus dem Fenster sprang. Denn der Muskel in meiner Brust schrie mit allen Mitteln danach, dass ich mehr als ein simples 'Ich dich auch' erwidern sollte, während ich es gleichzeitig so viel besser wusste. Oder auch nicht. Ich hatte das Gefühl, mir würde jeden Moment der Brustkorb implodieren und eigentlich überhaupt keine Ahnung mehr davon, was ich denken sollte und was das Beste war. Genau deswegen sagte ich erstmal gar nichts. Ich unterdrückte die Tränen vehement, weil ich ums Verrecken nicht weinen wollte, aber meine Muskeln zuckten verräterisch, bevor ich mein Gesicht für einige lange Sekunden an Fayes Schulter vergrub. Mir pochten die Schläfen. Obwohl ich wusste, dass dieser Schmerz für den Fortbestand unserer Freundschaft nötig war, wollte ich nichts anderes als einfach zu gehen, diese Folter-Gefühle auszusperren und Ablenkung zu suchen. In neuen Menschen, die ich nie so nah an mich ranlassen würde wie Faye. Einfach so tun, als wäre das alles hier nie passiert. Als gäbe es nicht noch ein Herzensproblem mehr, das ich aufzuarbeiten hatte und eigentlich am liebsten nie wieder überhaupt nur anfassen würde. “Ich weiß nicht mal, wann das zuletzt Jemand… zu mir gesagt hat…”, nuschelte ich stockend nach einem Schlucken, das meinen Hals natürlich absolut nicht vom Druck befreien konnte. Ansehen konnte ich Faye noch nicht, weil ich wusste, dass ich dann auch noch mit dem Heulen anfangen würde. Sie loszulassen war also nicht wirklich drin, aber wenigstens schaffte ich es schon mal, die Arme wieder etwas zu lockern, damit hier niemand ersticken musste. “Ich… hab dich auch lieb…”, hauchte ich und hob den Kopf wieder an, um geradewegs in den Raum zu sehen. Tragödie nochmal abgewendet – ich war kurz davor gewesen was ganz anderes zu sagen. Selbst diese eigentlich sehr platonischen Worte kamen mir aber nur sehr schwer über die Lippen, die niemals leichtfertig emotionale Zugeständnisse machten. Nicht mal dann, wenn sie absolut offensichtlich waren. “...und ich hoffe wirklich, dass du… dich schnell in Los Angeles einlebst. Dass das alles so wird, wie du’s dir wünscht… und natürlich, dass du heil ankommst. Kannst du mir… zumindest bis du dort bist, noch jeden Tag schreiben?”, versuchte ich irgendwie zur Normalität zurückzukommen, obwohl mir längst übel war und ich, würde ich es provozieren, sicherlich in jede Ecke dieses Hotelzimmers kotzen könnte. Meine Stimme klang bei Weitem nicht so fest, wie ich es mir gewünscht hatte, sondern rau und ausgedünnt. Um die Tränen zurückzudrängen, blinzelte ich einige Male mit leerem Blick. Ich würde mich mit Ungewissheit über ihre Ankunft miserabel fühlen, nachdem ich Faye durch den Abschied so aufgewühlt hatte. Das Letzte, was ich jetzt wollte war, mich auch noch für einen Autounfall von ihr verantwortlich machen zu müssen. Wieder ein Grund mehr, sie gar nicht erst loslassen zu wollen. Als bräuchte ich wirklich noch mehr davon...
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Dank dir, sagte er. Faye war schon bewusst, dass sie in den letzten Monaten einen grundsätzlich positiven Einfluss auf Ryatts Leben gehabt hatte. Aber so wie er den Satz formulierte, stellte er die Spuren, die sie hinterliess, wesentlich tiefer und ausgeprägter dar, als sie sie selbst eingeschätzt hätte. Es brachte nichts, darüber nachzudenken, wo sie beide jetzt wären, wenn sie sich nie getroffen hätten. Aber Faye hatte längst keine Zweifel mehr daran, dass alles genau so hatte kommen müssen. Und jetzt auch genau so weitergehen musste, mit diesem Abschied, mit ihrer Reise nach Kalifornien. Mit Ryatt als Teil von diesem grossen Ganzen, das sie in Seattle zurückliess. "Mach ich... versprochen.", gab sie ihm ihr Wort darauf, in Los Angeles auf sich aufzupassen. Das hatte sie schon sich selbst geschworen und Victor versprochen, entsprechend entschlossen war sie auch, sich daran zu halten. Ihre stabile Zukunft aufzubauen und nicht schon wieder irgendwelche groben Fehler ins Fundament zu setzen. Sie spürte, wie Ryatts Arme sich enger um ihren Körper schlossen, nachdem sie ihre Wertschätzung nochmal in Worte gefasst hatte. Aber es war nicht schlimm. Sie erwiderte die Umarmung genauso und hatte die nassen Augen nicht weniger fest zugedrückt, während sie ihn festhielt. Sie war sich nicht sicher, ob er auch weinte - aber es spielte auch keine Rolle. Er brauchte nicht zu weinen, um sie hier nochmal ordentlich aus dem nicht vorhandenen Konzept zu kicken. Seine undeutlichen, stockenden Worte reichten dafür vollkommen aus. Sie hatte sich nicht überlegt, was ein simples ich hab dich lieb für ihn bedeuten könnte. Dass das hier das erste Mal seit langer Zeit sein könnte, dass er sowas zu hören bekam. Es war naheliegend, keine Frage, aber Faye hatte einfach nicht darüber nachgedacht. Und das führte postwendend zu noch mehr Tränen. Sie wollte nicht, dass er alleine in Seattle zurückblieb und niemand mehr da war, der ihm ehrliche Wertschätzung zeigte. Freundschaft, Liebe, irgendwas. Ihr war vollkommen klar, dass das wieder in das ungesunde, unwahre Gedankenmuster passte, dass Ryatt ihre Verantwortung war. Schön war die Vorstellung aber trotzdem nicht. "Dann... dann hoffe ich... dass es dir bald wieder jemand sagt...", gab sie leise von sich, ehe sie sich bemühte, auch ihre Arme wieder ein Stück weit zurück zu ziehen. Sie wollte nicht klammern. Nicht wenn sie es war, die ging. "Danke... und ja, klar. Werd' ich machen... Dauert bestimmt noch ein paar Tage, bis ich dort bin... je nachdem wie... ich vorankomme und... mich fühle", stammelte sie ein paar Worte zusammen im Versuch, das Gespräch zurück auf eine normale Schiene zu leiten, damit der Abschied vielleicht nicht ganz so chaotisch endete, wie ihr Kopf sich aktuell anfühlte. Und auch wenn sie es nicht wirklich wollte, liess sie nach ein paar weiteren Sekunden langsam, zögerlich die Arme sinken. Hob nochmal die Hand an, um sich mit dem Ärmel des Pullis die Augenwinkel zu trocknen, als würde das bereits irgendwas bewirken.
Nach diesem Abschied würde ich wahrscheinlich instinktiv erstmal absolut alles dafür tun, zu vermeiden, dass das bald wieder Jemand zu mir sagte. Jemand anderes als meine Eltern jedenfalls, weil sie dabei kaum eine Wahl hatten. Das eigene Kind zu hassen, war für die meisten Eltern unmöglich, ganz gleich was es angestellt hatte. Ich wusste, dass ich nicht ewig weiter alleine durch diese Welt stolpern sollte, aber dieser Moment machte mir alles andere gerade nur wenig schmackhaft. Gefühlt tat alles auf irgendeiner Ebene weh. Deshalb erwiderte ich nichts auf Fayes Worte, sondern schluckte nur ein weiteres Mal im Versuch, den dicken Kloß loszuwerden. Immerhin würde die Brünette mich während ihrer Reise noch in kurzen Abständen auf dem Laufenden halten. Dann konnte ich zumindest ansatzweise so weitermachen wie gewohnt, sobald die Nachbeben dieser Verabschiedung verklungen waren. Vorausgesetzt, das passierte überhaupt zeitnah. “Lieber langsam fahren und auch ankommen, als sämtliche andere Alternativen…”, murmelte ich. Faye hatte am allerwenigsten davon, wenn sie sich bei der Fahrt in den Süden hetzte. Möglicherweise wäre es Victor lieber, wenn sie früher als später bei ihm ankam, aber er hielt das Lenkrad nicht in der Hand. Ich spürte, wie Faye sich aus der Umarmung zurückzog und hätte sie gerne einfach festgehalten, damit sie das sein ließ. Nur war das nicht Sinn und Zweck dieser Reise und außerdem schrecklich kindisch. Also lösten sich meine Hände langsam von ihr und ich musste ihr tränenverhangenes Gesicht erstmals sehen. War nicht so, als hätte ich was anderes zu sehen erwartet, und dennoch war das der nächste Stich. Während sie die salzigen Tropfen zu beseitigen versuchte, ging ich einen Schritt rückwärts und räusperte mich leise. Drehte mich dann mit am Boden klebendem, spürbar nassem Blick um und ging zurück zu dem Geschenk, das noch beim Sessel lag. Ich bewegte mich nicht schneller als sehr langsam, weil mein Herz nicht wirklich zu gehen bereit war. Trotzdem nahm ich den eingepackten Rahmen und schob mich träge und überdurchschnittlich viel blinzelnd zu meinen Schuhen in unmittelbarer Nähe der Zimmertür. Ungelenk schlüpfte ich hinein und griff dann griff danach meine Jacke, die ich mir lediglich über den linken Arm warf. Vermeintlich unauffällig neigte ich außerdem den Kopf meiner rechten Schulter zu, um so eine Träne auf meiner rechten Wange abzuwischen, die sich nicht hatte aufhalten lassen. Als ich theoretisch bereit zu gehen war, legte ich die linke Hand auf die Klinke, drehte den Kopf dann aber doch nochmal in Fayes Richtung. “Du… du kannst dich auch immer melden, wenn was ist, Faye. Egal wann… und egal worum’s geht, ja?”, musste ich sie noch wissen lassen, weil ich das vorhin gar nicht erwidert hatte, obwohl das für mich glasklar war. Ich war oft kein idealer Zuhörer und sicher nicht der sensibelste Mensch, dem sie ein Problem oder Sorgen anvertrauen könnte. Trotzdem sollte Faye wissen, dass ich für sie da sein würde, wenn sie das brauchte. Ich wartete nur noch ihre Reaktion darauf ab, bevor ich mich mit einem instabilen Lächeln, einer weiteren einsamen Träne und den weiterhin undeutlich klingenden Worten “Mach’s gut.” von ihr verabschiedete. Um die Tür zu öffnen und ihr Leben mindestens für eine ganze Weile lang zu verlassen.
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Ja das war ganz klar auch ihre Devise. Und dabei gings nichtmal nur ums Fahren, sie brauchte die Zeit für sich auch einfach sonst. Obwohl sie üblicherweise absolut nicht der Typ dafür war und sich alleine schnell unwohl und einsam fühlte, schien ihre aktuelle Situation diesbezüglich eine Ausnahme zu bilden. Sie würde natürlich nicht wie Victor monatelang verschwinden, das hätte sie ein bisschen offizieller ankündigen und planen müssen. Aber dass sie nicht wie ursprünglich geplant in zwei oder drei Tagen bereits in Los Angeles ankam, schien längst festzustehen. Also ja, bezüglich des langsamen Fahrens, brauchte Ryatt sich keine Sorgen zu machen. Ihre Konzentration würde hier das grössere Problem darstellen, aber da ihr das bewusst war, würde sie schon gut darauf achten, nicht während des Fahrens in ihrer Gedankenwelt zu buddeln. Dafür konnte sie anhalten. Sie hätte sich fast gewünscht, dass Ryatt ein bisschen länger brauchte, um die Umarmung aufzulösen. Auch wenn das dumm war, da sie es immerhin selbst gewesen war, die die Arme zuerst zurückgezogen hatte. Aus Gründen. Weil sie beide noch etwas Ruhe brauchten heute Nacht und weil der Abschied auch in ein paar Minuten nicht leichter werden würde. Trotzdem fühlte es sich falsch an, ihm melancholisch und halb abwesend dabei zuzuschauen, wie er seine Sachen einsammelte und in die Schuhe stieg. Wie er sich eine Träne wegwischte im Versuch, vor ihr zu verbergen, dass seine Augen ebenfalls wässrig wurden. Und dann wandte er sich der Zimmertür zu und Faye zog angestrengt die Nase hoch, um noch für ein paar letzte Sekunden die Fassung zu wahren. Halbwegs eben, so gut das jetzt noch drin lag. Er machte es nicht leichter, indem er sie doch nochmal anschaute und ein paar Worte von sich gab. Sie nickte hastig, versuchte eine mehr oder weniger intelligente Antwort zusammen zu kratzen. "Klar, mach ich... Danke", mehr schaffte sie nicht mehr. Und dann machte er die Tür auf, verabschiedete sich und ging, liess sie alleine in dem plötzlich sehr einsamen Hotelzimmer zurück. "Du auch, Ryatt...", ihre Antwort kam verspätet, die Tür war schon zu. Sie hatte aber sowieso schon sowas ähnliches gesagt. Und er wusste, dass sie ihm das Gleiche wünschte.
Es überraschte sicher niemanden, dass diese erste Nacht ihrer Reise sehr kurz ausgefallen war. Dass das dazu geführt hatte, dass sie auch am nächsten Tag nur eine kurze Etappe plante. Dass es am Ende ganze sieben Tage dauerte, bis sie das Ortsschild von Los Angeles passierte. Aber es war besser so. Sie hatte nach der zweiten Nacht entschieden, ihr Temazepam während der Reise weiter einzunehmen, weil sie den Schlaf dringend brauchte, um tagsüber Fahren und auch Denken zu können. Entsprechend stand das Absetzen noch vor ihr, aber sie hatte die Hoffnung, dass das einfacher sein würde, wenn sie das Bett erstmal wieder mit Victor teilte. Ausserdem hatte sie ja noch etwas Zeit. Sie hatte sich fest vorgenommen, die ersten Tage oder Wochen in Los Angeles ruhig anzugehen und sich nicht sofort in die Jobsuche und die Gestaltung ihres neuen Lebens zu stürzen, da würde ein Schlafmittelentzug schon noch reinpassen. Ihr Ziel war es, nach einer Packung wieder aufzuhören. Sie nahm auch nur die 10mg Tabletten und immer nur eine Einzige am Tag... Aber eine Packung beinhaltete 20 Stück und sie wusste bestens, dass man Benzos idealerweise nicht mehr als ein bis zwei Wochen am Stück einnahm, um eine Abhängigkeit zu verhindern. Konnte davon ja längst ein Liedchen singen - das war nicht ihre erste Erfahrung mit Temazepam, sonst hätte sie auch nicht so bestimmt bei ihrem Arzt aufkreuzen und um genau diese Verschreibung bitten können. Es hatte schon das letzte Mal sehr gut funktioniert. Mit einer höheren Dosis... und inklusive unschönem Absetzen. Aber eins ums andere. Die positive Seite von ausreichend Schlaf war nämlich, dass sie tagsüber recht gut wach bleiben konnte, das noch immer sehr anstrengende Autofahren unfallfrei hinkriegte und sich jetzt endlich auch wagte, sich mit ihren Gedanken und Gefühlen auseinanderzusetzen. Mit dem Abschied von Ryatt, mit dem Abschied von Aryana und Mitch, mit dem Abschied von Seattle, mit allem, was so kurz davor noch passiert war, mit der Entführung, den Folgen davon, mit dem Umzug und mit sich selbst. Und das war dringend nötig, nachdem sie es tagelang mit ganzer Kraft vermieden hatte, sich damit zu befassen. Sie war sich sicher, dass es besser so war für sie und auch für Victor, der zweifellos sofort dahinter geblickt hätte, wenn sie weiterhin versucht hätte, heile Welt zu spielen, sobald sie bei ihm wäre. Denn auch mit ihm hatte sie über all das bisher kaum gesprochen. Vielleicht mussten sie das auch gar nicht. Aber vielleicht schon. Es war später Nachmittag, etwa 16:30 Uhr, als Faye am 8. Dezember in die Strasse einbog, die Victor ihr beschrieben hatte. Sie fuhr langsam. Weil sie die Adresse noch nicht automatisch anfahren konnte und entsprechend Hausnummern und Navi studierte. Aber auch, weil sie beim Fahren die Nachbarhäuser und die Umgebung betrachtete. Sofort versuchte, Unterschiede und Ähnlichkeiten zu Seattle zu definieren, auch wenn das aus dem Auto und beim ersten Betrachten der Gegend kaum möglich sein dürfte. Schliesslich fand sie sich vor der Einfahrt wieder, die zu dem Haus gehörte, in dem sie ab heute wohnte. Sie war sich sicher, dass sie richtig war, weil sie genau hinter dem Auto parkte, das Victor zwischenzeitlich gekauft hatte. Er hatte ihr ein Foto geschickt - mehrere Fotos, von allem, natürlich - und sie hatte sich das kalifornische Kennzeichen bereis anhand des Fotos eingeprägt. Nun war es in Echt direkt vor ihr, als sie den Motor ausschaltete. Noch einmal tief durchatmete und für ein paar Sekunden die Augen schloss. Sie liess vorerst alles im Auto liegen bis auf ihre Handtasche und den Strauss frischer Blumen, der seit einer Dreiviertelstunde neben ihr auf dem Beifahrersitz wartete. Das war normalerweise nicht unbedingt das Erste, was man einem Mann mitbrachte. Aber Victor mochte Blumen und sie mochte Blumen und sie war sich sicher, dass ihr neues Zuhause Blumen ebenfalls mochte. Also hatte sie sie für sie beide gekauft und trug sie nun mit sich zum Eingang, während sie sich auch hier wieder laufend interessiert umschaute. Vielleicht auch ein bisschen nervös, denn die Aufregung in ihren Knochen liess sich schlecht leugnen. Aus allen erdenklichen Gründen, mal wieder.