Da lagen sie nun, nach getaner Arbeit. Nachdem sie zwei Menschen für immer gezeichnet hatten. Unter einer weichen Bettdecke, die ihnen wohligen Schlaf versprach - vorausgesetzt sie bekamen ihre Köpfe ausgeschaltet, wonach es hier aktuell eher nicht aussah. Trotzdem verrückt, sich hier einzukuscheln, mit dem Wissen, was ihre Hände heute Nacht veranstaltet hatten. Mitch formulierte ziemlich treffend, wie ihre aktuelle Gefühlslage aussah. Bescheiden. War es ein Vorteil, dass sie heute beide so viel Blut vergossen hatten und nicht nur einer von ihnen? Vielleicht. So genau liess sich das nicht beurteilen aber immerhin konnten sie sich so im Folgenden jeweils wunderbar in den jeweils anderen hineinversetzen, weil sie das Gleiche durchmachten. Wie es Mateo, Gil und Riley wohl ergangen war, nachdem sie Faye und Victor nachts quasi am Strassenrand von der Ladefläche gekippt hatten? Halbtot und durch rohe Gewalt so übel zugerichtet, dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten beide lieber hatten sterben als mit den Folgen leben wollen. Irgendwie glaubte Aryana nicht, dass diese Arschlöcher besonders viel Schlaf darüber verloren hatten. Vielleicht war das gerade noch der kleine Unterschied, der sie von den in ihren Augen wirklich bösartigen Menschen trennte. Sie fühlten sich danach nicht gut, nicht erfolgreich, nicht zufriedengestellt. Eher einfach nur elendig. Aber vielleicht war das bei denen früher auch mal so gewesen. Vielleicht wurde man einfach mit der Zeit irgendwann so. Aryana hatte nicht vor, sowas zu wiederholen, aber sie wusste auch, dass sie in einer gleichen Situation nicht versprechen konnte, nicht wieder ähnliche Massnahmen zu ergreifen, weil sonst nichts zu funktionieren schien. Sie robbte übers Bett unter der Decke näher zu Mitch, um sich an ihren angestammten Platz zu kuscheln. Da, wo seine Nähe ihr Herz sonst immer ein paar Takte runter schalten liess. "Können wir nur hoffen, dass wir diesmal schneller den Weg nach draussen finden als beim letzten Mal...", murmelte sie reichlich verspätet als Antwort auf seine Gefängnismetapher. Fast ein Jahr war es damals gewesen, das hier musste schneller wieder gelöst sein. Vielleicht wenn sie ganz fest darüber nachdachte, dass Faye und Victor auch wieder glücklich geworden waren, trotz der Folter, die sie durchgemacht hatten. Wäre jetzt nicht dieser Zwischenfall gekommen - ausgelöst durch niemand geringeres als diese Hernandez-Pest, wohlgemerkt - würden die beiden zufrieden ihre neue gemeinsame Zukunft aufbauen. Sie hatten also nichtmal ein ganzes Jahr gebraucht, um mit den Folgen der Folter umzugehen zu lernen. Theoretisch war es also gut möglich, dass auch Mateo und Gil nicht auf Ewigkeit ein elendes, trostloses Dasein fristen mussten als Folge dieser Nacht. Aber das lag allein in deren eigenen Händen. "Ein bisschen ironisch, wie Victor noch betont hat, dass er nicht möchte, dass uns das um den Schlaf bringt... dass es uns zu viel wird... Und wir haben einfach zugesagt, ohne wirklich mit der Wimper zu zucken oder einmal vertieft darüber nachzudenken... Vielleicht hätte das nichts geändert, aber... keine Ahnung, gut war es wohl auch nicht", sinnierte sie vor sich hin, während ihre Finger gedankenverloren über seine Brust strichen. Im stillen Wunsch, diese Berührungen würden ihre Nerven entspannen. Oder seine.
Im ersten Moment war mir trotzdem unwohl dabei, jetzt einfach so hier zu liegen und zu kuscheln. Dieselbe Hand über Aryanas Arm streicheln zu sehen, die vorhin noch ein sehr hässliches Wort in Haut geritzt hatte. Nur um es dann anschließend noch zu versiegeln, damit auch ja nichts davon jemals wieder verschwinden konnte. Das war nicht der Grund für das Verbrennen von Gils Haut gewesen, aber es war ein nicht abzustreitender Nebeneffekt davon. Ich blinzelte kurzzeitig etwas häufiger, als der Gedanke und die noch frische Erinnerung daran zu präsent wurden. Denn ja, ich wollte nichts mehr, als dass ich dem Gefängnis dieses Mal schneller entkam. Wir beide. Da war es nicht hilfreich, sämtliche Details dieser Nacht noch weiter zu manifestieren. Nicht, dass sich irgendwas davon leicht vergessen ließe… “Und das ohne Therapeut… hoffen wir also gleichzeitig mal, dass die Stunden bis hierhin schon gereicht haben." Die letzten Worte atmete ich schwer aus und es klang nicht wirklich so, als hätte ich große Hoffnungen diesbezüglich. Ich konnte schon trotzdem noch hingehen, ein paar Mal. Aber es würde Davis auffallen, dass etwas wieder akut mehr als vorher nicht stimmte. Vielleicht konnte ich es so drehen, dass wir zuerst noch ein paar alte Sachen aufarbeiteten, denn damit war ich natürlich auch längst nicht fertig. Aber spätestens wenn alles andere als erledigt angesehen werden konnte, war die Therapie unvollständig abgehakt und ich musste das Jetman verheimlichen. Den Grund für das Ende der Therapie als Erfolg darstellen, statt die Wahrheit zu sagen. Keine guten Optionen für den Fortbestand einer gesunden Freundschaft, aber gab es eine Alternative dazu? Die Sache mit Jetman verhielt sich demnach ähnlich ironisch wie unser Verhalten in Bezug auf Victors Worte. “Ich hab’ drüber nachgedacht und es trotzdem getan.”, stellte ich leise fest und zog dabei die Augenbrauen etwas tiefer, während mein Blick ihren Fingern folgte. Die jetzt sanft über meine Haut strichen, statt Kugeln abzufeuern und Haut zu verbrennen. Über einen alternativen Lösungsvorschlag hatte ich wahrscheinlich nicht ausreichend nachgedacht. Aber ich wusste schon vorher ganz genau, was mit mir passieren würde, wenn ich mich auf diesen Schritt einließ. Welche meiner tiefsten Wunden diese Aktion neu aufreißen würde. Vermeintlich, weil ich keine andere Wahl hatte, doch die hatte man immer. “Das ist eben das, was wir immer tun: Einfach Augen zu und durch und dann hoffen, dass es uns nicht killt… oder uns zur nächsten Sache zwingt, die wir eigentlich gar nicht tun wollen...”, murmelte ich. Es war ja nicht gerade das erste Mal, dass wir etwas taten, das schlimme Konsequenzen haben würde, weil wir das Endergebnis trotzdem als wichtiger ansahen. Die nicht autorisierte Rettungsmission in Syrien, die Vertragsunterschriften bei Easterlin… beides hatte hässliche Konsequenzen gehabt. Alles in allem war unser Leben scheinbar pure Selbstzerstörung. Sowohl das Leben, das vor unserer Beziehung war, als auch das, das wir jetzt gemeinsam lebten. Allem voran durften wir jetzt hoffen, mental nicht daran zu zerbrechen und dass es uns nicht ins Gefängnis brachte. Beziehungsweise in ein Leben auf der Flucht trieb, weil ich mir sonst auch gleich die Kugel geben konnte. "Hoffentlich erspart Victor sich die Selbstvorwürfe... ich bezweifle, dass das nicht zu ihm durchdringt." Faye – die sich selbst wahrscheinlich auch wieder irgendwas vorwarf – würde zu ihm gehen und bis dahin stand ich zwar wahrscheinlich nicht mehr kurz vor absolutem Wahnsinn, aber Niemandem hier würde es da schon wieder gut gehen.
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Wie lange es wohl dauern würde, bis sich das Leben wieder einigermassen normal anfühlen würde? Bis sie wieder im Bett liegen und unbeschwert an etwas anderes denken konnten? Es war nicht die erste hässliche Tat ihres Lebens, also konnten sie immerhin insofern hoffnungsvoll behaupten, es die letzten Male auch schon irgendwie geschafft zu haben. Aber leichter wurde es leider allein dadurch nicht. Schon gar nicht so schnell. „Vielleicht musst dus ja nicht ganz ohne seine Hilfe schaffen… Vielleicht lässt es sich so verpacken, dass ein aktuelles Ereignis einfach ganz akut deine… bekannten Schuldgefühle triggert, er kann ja nicht von dir fordern, besagtes Ereignis zu erklären. Überhaupt irgendwas zu sagen, über das du nicht sprechen willst. Aber ich weiss es nicht, kenne mich bekanntlich nicht sonderlich gut aus auf dem Gebiet…“, die Chancen, dass irgendwas davon so funktionierte, wie sie sich das vorstellte, standen maximal 50/50. Sie konnte nur aus Erzählungen von Mitch und Faye irgendwelche Ableitungen konstruieren, die mal mehr, mal weniger der Realität entsprachen. Sie wünschte sich einfach, dass diese Nacht nicht auch noch über Mitch's Therapieplan ein fettes Kreuz malte, weil er so nicht mehr mit seinem Therapeuten arbeiten konnte. Dieser Preis wäre zu hoch. Jeder Preis war eigentlich zu hoch. Sie war nicht bereit, zu bezahlen für das, was sie getan hatten. Und auch das hätte sie sich früher überlegen sollen. Auch wenn die blosse Überlegung eben auch nicht ausreichte, wie sie gleich darauf zu hören bekam. Aryana schaute hoch und fing seinen Blick ein, ohne dabei zu wissen, was sie zu dieser Feststellung sagen sollte. Darum war es auch erstmal nichts, bis er weitergeredet hatte. Leider auch hier mit zu viel Wahrheit in so wenigen Worten. Sie gab ein schweres Seufzen von sich, legte ihre Arme um ihn und drückte ihn nur umso fester an sich - oder umgekehrt. Als möchte sie damit verhindern, dass sich das neueste Elend irgendwie dazwischenschieben könnte. "Keine sonderlich lebensbejahende Strategie...", nur für den Fall, dass das hier noch jemand hören musste. Aber mehr wusste sie dazu irgendwie auch nicht mehr zu sagen. Sie wussten beide, dass sie Scheisse gebaut hatten. In ihren Augen nicht vermeidbare Scheisse, aber das machte die Folgen gerade nicht erträglicher. Die Bilder hätten sich nicht anders in ihre Köpfe gebrannt, wenn sie Mateo und Gil unrechtmässig und nur zum Spass so zugerichtet hätten. "Ja, hoffentlich... Ich glaube, dass sich langsam genügend Menschen Vorwürfe machen, da brauchen wir Victor nicht auch noch in diesem exklusiven Kreis der Schande", stimmte sie in Hinblick auf ihren indirekten Auftraggeber zu. Er hatte sie vorgewarnt und sie hatten es trotzdem getan. Aryana sah keine Schuld bei ihm, aber bekanntlich wollte ja niemand zuerst von ihr wissen, ob die eigenen Schuldgefühle gerechtfertigt waren. "Es wäre wirklich schön, wenn wir auch einfach hier weg könnten... Ich will nicht behaupten, dass ein neues Umfeld all unsere Probleme lösen könnte. Aber es würde sicher nicht schaden, wenn wir wenigsten damit aufhören könnten, unser Geld mit stehlen, drohen und morden zu verdienen... Wenn wir endgültig damit abschliessen könnten.", es brachte nichts, über Unmögliches zu diskutieren und sich an all dem aufzuhängen, was sie nicht tun konnten. Das war Problemdenken und das brauchten sie nicht. Aber manchmal sprach sie Dinge eben schneller aus, als dass sie deren Nützlichkeit abgewägt hatte. "Ein Jammer, dass Ryatt sich diesbezüglich nicht als nützlicher entpuppt hat", die Worte kamen eindeutig sarkastisch über ihre Lippen, weil ihr schon klar war, dass ein Neuzugang Easterlin nicht innerhalb von ein paar Monaten dazu bringen konnte, zwei Arbeitsverhältnisse ohne Gegenleistung aufzulösen. Besonders nicht ihre zwei, die er sicher liebend gern so lang wie möglich aufrecht erhielt, damit sie die ganzen Mühen und den Ärger irgendwie wieder wett machten. Hatten sie sicher schon längst getan, aber Easterlin war bekanntlich ein sehr guter Geschäftsmann, wenn es darum ging, Gewinn zu schaufeln.
Vielleicht würde Davis sich eine Weile lang mit so einer Technik hinhalten lassen. Dass ich Dinge nicht immer sofort beim Namen nennen konnte, war ja ein bei mir sehr prominentes Problem, um das er wusste. Das war im selben Atemzug leider auch das Problem an dieser Sache. “Naja… indirekt schon.”, stellte ich in etwas trockenem Tonfall fest und mied Aryanas Blick bestmöglich. Zwar konnte Davis mich nicht wortwörtlich zum Sprechen zwingen, aber Niemand zwang wiederum meinen Therapeuten dazu, mich als Patienten zu behalten, wenn er das Gefühl hatte, dass wir das Ende der Fahnenstange erreicht hatten. “Dass ich viele Dinge nicht aussprechen kann… egal aus welchem Grund… ist ja offensichtlich eins meiner größten Probleme. Wenn wir damit keine Fortschritte mehr machen, dann…”, dachte ich laut weiter nach, wobei sich mehr oder weniger mein ganzes Gesicht verspannte. Den angefangenen Satz ließ ich einfach so stehen. Aryana war dieser Knacks in meinem Schädel bestens bekannt, ihr musste ich das nicht erst erklären. Wir hatten uns schon weit mehr als einmal gestritten, nur weil ich das Maul nicht aufbekam. Das war inzwischen schon besser geworden und ich gab mir merklich häufiger als vor der Therapie den nötigen Ruck zu Sprechen, aber ich fragte mich trotzdem manchmal, ob das eigentlich jemals leicht werden würde. Ob ich mich, wenigstens bei Aryana, irgendwann sicher genug fühlen würde, um diese mentale Blockade endgültig loszulassen. Als die Umarmung der Brünetten plötzlich eher einem Schraubstock glich, legte sich auch mein zweiter Arm um ihren Körper und ich verschränkte die Finger ineinander. Würde sie mir nicht kurzzeitig ein bisschen das Atmen erschweren, hätte ich ihr Seufzen erwidert. Wir hatten hier längst alle gemerkt, dass diese Art zu Leben auf Dauer nicht gesund sein konnte. Das galt auch für die Selbstvorwürfe. Mein Kopf stürzte sich jedoch lieber auf das, was Aryana danach noch von sich gab. “Ja, das wäre viel wert.”, stimmte ich murmelnd zu. Ich merkte ja selbst, wie ungesund und kontraproduktiv die Arbeit für Easterlin für meine psychische Verfassung war. Das konstante Morden – und sei es auch meist nur auf große Distanz, ohne mir die Leiche genauer ansehen zu müssen – war Gift für jedweden Fortschritt. Ich machte mir auch nicht die Illusion, ich könnte irgendwann wieder wie ein 0815-Amerikaner ticken. Irgendwann zur Ruhe zu kommen und einigermaßen konstant glücklich zu werden mit dem, was ich im Leben hatte, würde mir schon reichen. Ein Neuanfang auf sehr vielen Ebenen war dafür aber leider ziemlich essentiell. Das war für mich einer von vielen Gründen dafür, von Zeit zu Zeit noch immer darüber nachzudenken, ob es irgendwie möglich war, dieses reiche Arschloch auszumanövrieren oder sicher aus dem Weg zu schaffen… nicht, als wären Aryana und ich damit jemals auf einen grünen Zweig gekommen. Ryatts Chancen für sowas standen in der Theorie besser als unsere. “Vielleicht nur noch nicht.” Ich sah nachdenklich an Aryana vorbei ins Leere. Es war sehr viel angenehmer über Ryatt und seinen Job bei Easterlin zu sinnieren, als mich weiter in den traumatischen letzten Stunden zu wälzen. Nüchtern betrachtet war ohnehin beides ein großes Problem in unserem Leben. “Ich meine, versteh' mich nicht falsch – bisher war er verflucht nutzlos und ich kann ihn nach wie vor nicht leiden…” Woraus ich im Übrigen nie ein Geheimnis machte, auch nicht dem Betroffenen gegenüber. Er hätte halt nicht hier reinspazieren und Aryana bedrohen dürfen. Damit hatte er ungefähr zehn Grenzen auf einmal überschritten. “...aber er kann ja nicht blöd sein, wenn er bei der Army so schnell so weit oben war.” Er hatte es ja irgendwie auch immer wieder geschafft, hinsichtlich der Hernandez mit einem blauen Auge davonzukommen und sich diesbezüglich aus der Verantwortung zu winden. Zu unserem Leidwesen. Natürlich konnte man einen so skrupellosen Geschäftsmann wie Easterlin nicht direkt mit den Mexikanern vergleichen. Der Milliardär war eine andere Größenordnung mit sehr viel besseren Waffen in petto, ich wollte mir an dieser Stelle also erstmal keine zu großen Hoffnungen machen. Die Möglichkeit war aber trotzdem da und Ryatt schuldete uns jetzt verdammt nochmal mehr, als uns nur weitestgehend aus den blutigsten und gefährlichsten Aufträgen rauszuhalten.
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Er hätte es nicht aussprechen müssen, damit sie das Problem in ihrer zurechtgelegten Therapielogik erkannte. Sie hatte es im Prinzip davor schon gewusst, wünschte nur, es wäre nicht so. Weil sie wie gesagt nicht mit dem Gedanken klar kam, dass Mitch möglicherweise seinen Therapeuten verlor, weil Ryatt versagt hatte. Es war vielleicht etwas überspitzt, hier alle Schuld auf Ryatt zu schieben. Letztendlich war es ihre eigene Entscheidung gewesen, den Hernandez heute einen Denkzettel in diesem Ausmass zu verpassen. Aber ohne ihn wäre das alles eben nie zu ihrem Problem geworden. Und sie war frustriert, wütend, gestresst. Wusste, dass sie Scheisse gebaut hatte. Das waren alles Gründe dafür, weshalb sie vielleicht etwas zu gern nach einem Sündenbock suchte. Und wenn er sonst schon nichts abgekriegt hatte, durfte Ryatt sich ruhig mit dem schlechten Gewissen und den Schuldgefühlen plagen. Also zusätzlich zu allen anderen, die sich eben auch mit diesen Gefühlen rumschlugen, versteht sich. Aryana konnte nichts mehr sagen, um seine nüchternen Worte zu kompensieren, weshalb sie sich mit einem einzigen zärtlichen Kuss auf seine Brust wenigstens darum bemühte, noch einen Funken der verbleibenden Hoffnung zu erhalten. Es brachte ja nichts, wenn sie jetzt bereits alles schwarzmalten. Auch wenn es realistisch betrachtet nicht so gut aussah, war heute Abend mit all den anderen Gedanken und Belastungen in ihren Köpfen einfach zu früh, um zuverlässige Prognosen zu stellen. "Irgendwie kriegen wir das hin... Das ist nämlich die andere Hälfte von einfach Augen zu und durch und dann hoffen, dass es uns nicht killt... ich bin auch nicht der Optimismus in Person und das weisst du, aber wir habens bisher immer geschafft und diesmal wird das nicht anders sein. Und seis nur, weil wir - wie immer - keine andere Wahl haben", sie hatten ausserdem auch keine andere Wahl, als sehr fest dran zu glauben, dass sie das wieder hinkriegten. Alles andere wäre nämlich aufgeben und sie war nicht an einem Punkt in ihrem Leben, an dem das eine Option darstellte. Sie wollte nicht aufgeben, nachdem sie gerade erst einen Vorgeschmack auf das bekommen hatte, was sie beide alles haben könnten. Also hiess es wieder kämpfen, wie so oft. Bis sie eben irgendwann dort ankamen, wo sie so dringend hinwollten. In einer Zukunft ohne Flüche der Vergangenheit und ohne neugeschaffene Katastrophen. Ohne Easterlin und Mord und ständige Lebensgefahr. Und vielleicht würde Ryatt sie (un)freiwillig darin unterstützen dürfen, ihre Ziele zu erreichen. Aryana blieb ein paar Sekunden still, nachdem Mitch fertig gesprochen hatte, dachte über Möglichkeiten nach, die sie bisher vielleicht nicht ausreichend betrachtet hatten. Oder die sich einfach gerade erst bildeten, noch nicht ganz reif waren. Ihr persönlicher Nutzen von Ryatts Beziehung zu Easterlin beispielsweise. "Meiner Einschätzung zufolge wird er sich auf jeden Fall nochmal mit uns unterhalten müssen...", war das vorläufige Fazit ihrer Gedankengänge. Wie genau das dann ausfallen würde, würde sich noch zeigen. Aber es wäre schon sehr wünschenswert, wenn die Präsenz dieses Menschen in ihrem Leben wenigstens einmal positiven Gewinn abwerfen würde.
Das war unweigerlich die andere Seite der Münze, wie's schien. Der Unterschied zwischen Aryana und mir war nur, dass ich im Gegensatz zu ihr schonmal extrem knapp davor gewesen war, tatsächlich ein für alle Mal aufzugeben. Ob man für den Rest des Lebens tendenziell eher selbstmordgefährdet war, wenn man schon einmal an diesem Punkt gestanden hatte? Ich wollte es nicht herausfinden und versuchte mich stattdessen auf das leichte Kribbeln zu fokussieren, das von Aryanas warmem Atem direkt vor dem kleinen Kuss ausgelöst wurde. Eine Kleinigkeit, die ich zusammen mit sehr vielen anderen nicht mehr missen wollte. "Da hast du Recht, schätze ich.", stimmte ich zu und löste gleichzeitig meine Hände voneinander, um eine davon unter die dunklen Locken in ihren Nacken zu schieben und dort mit dem Daumen über ihre Haut zu streicheln. Vielleicht hatten meine Worte wieder nur halb überzeugt geklungen, aber viel mehr war heute auch nicht mehr drin. Meine Stimmung würde vor dem Schlafengehen keinen kometenhaften Aufschwung mehr erleben und so erging es auch meinem Willen zu richtigem Optimismus. Nur der Wunsch, der hübschen Brünetten irgendwann endlich etwas dafür zurückzugeben, dass sie mich selbst in den schlimmsten Augenblicken meiner Existenz nicht fallen ließ, war immer präsent. Mehr als Küsse, Umarmungen und mich dazu zu überreden, im Haushalt mit anzupacken. Das waren alles Dinge, die in einer Beziehung ziemlich selbstverständlich waren. Natürlich war ich die Ausnahme der Regel, wenn ich blind ungesunde Befreiungskommandos mit ihr erledigte, aber davon hatten wir beide schon das erste Mal genug gehabt… “Das volle 12 Jahre durchzuziehen, war ja auch eigentlich von Anfang an keine Option.” Genauso wie es keine Option war, Easterlin für die letzten paar Jahre auszubezahlen, sobald wir das durften. Selbst wenn wir nach vielleicht zehn Jahren dann für die zwei restlichen kläglichen Jahre genug hatten, war der Zug dann schon abgefahren. Ich wollte nicht wissen, was mit uns passierte, wenn wir noch dermaßen lang Aufträge für ihn erledigten. Nicht umsonst hatten wir darüber nachgedacht, das Arschloch zu erledigen. Leider war das schwieriger als mit Warren, der uns vielleicht etwas zu sehr auf den Geschmack gebracht hatte, unsere eigene Gerechtigkeit zu schaffen. Genau da könnte Ryatt mit seiner besseren Position in dem riesigen Glaskasten von einem Bürokomplex ins Spiel kommen. “Faye hätte nichts dagegen, oder?”, nuschelte ich nachdenklich eine Frage in Aryanas Haar. Mehr das große Ganze zu sehen und seltener nur nach meiner Nase zu gehen, war auch Inhalt meiner Therapie. Diese Ignoranz aus alten Zeiten abzulegen widerstrebte mir oft, wurde aber immer dann leichter, wenn die Situation Personen involvierte, die mir am Herzen lagen. Faye hatte schrägerweise eine enge Verbindung zu Ryatt und ich wusste nicht, ob die beiden den Kontakt aufrechterhalten würden, wenn sie nach Los Angeles ging. Wenn sie es taten, dann bekam sie das also wahrscheinlich mit. Ich war mir sicher, dass die jüngere Cooper die Freiheit ihrer Schwester weit über Ryatt stellte – das hieß nur nicht automatisch, dass sie es auch gutheißen würde, falls die Sache irgendwie… naja, hässlich wurde. Zwischen Easterlin und unserem theoretischen Dreiergespann ganz sicher, vielleicht aber auch zwischen unserem potenziellen Komplizen und uns.
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Schätzte sie auch, ja. Wie bereits erwähnt, gab es nicht unbedingt andere Möglichkeiten. Das oder Ende und sie weigerte sich sehr definitiv, den Hernandez so viel Macht über ihr Leben zuzuschreiben, dass sie sich von denen jetzt ein Kreuz über jegliche Zukunftspläne und -Hoffnungen machen liess. Ihr war schon klar, dass die Folgen dieses Abends bittere Ausmasse annehmen würden und sie beide noch schwer für all das leiden würden, was sie in der Lagerhalle angerichtet hatten. Sie konnte sich schon ausmalen, dass das hier erst der Anfang war. Aber Aryana war eindeutig zu rebellisch, zu selbstbestimmt, zu stur und zu kämpferisch veranlagt, um hier irgendwas für bare Münze und schon verloren zu nehmen, das sie sicher noch massiv beeinflussen konnten. Sie wusste noch nicht genau wie, aber es hatte immer funktioniert. Sie hatte im Leben schon so oft beinahe aufgegeben, war schon so oft beinahe gestorben... Wenn ihr Schicksal offenbar immer gewollt hatte, dass sie weiterlebte, dann war bestimmt auch jetzt nicht Schluss. Das wäre eine sehr unpassende Stelle für ein Ende. Aber ihre Gedanken schweiften etwas ab, während sie sich auf seine Finger in ihrem Nacken konzentrierte. Auf das leichte Kribbeln an ihrem Rücken und unter ihren noch immer feuchten Haaren. Irgendwie fühlte sie sich wütend und das konnte gleichermassen ein Ausdruck der Machtlosigkeit sein, die sie verspürte, weil sie die Lösung noch nicht kannte und noch immer etwas an Mitchs Therapieproblem hängen geblieben war - es konnte aber auch daher kommen, dass sie wie so oft nicht bereit war, zu akzeptieren, was das Leben ihnen auftischte. Sie wollte mehr. Etwas besseres. Sie wollte Glück und Frieden und Freiheit. Nicht das nächste Gefängnis für ihre Seelen, von dem sie dann über die nächsten Monate und Jahre den Ausgang suchen durften. Dafür hatten sie ja schon das andere Gefängnis, den Easterlin-Strick um ihren Hals, dem sie noch nicht entkommen waren. Und nicht nur das, sie hatten auch schlicht noch keinen Plan, wie sie überhaupt je entkommen sollten. Auch wenn die zwölf Jahre nicht sein sollten, mussten sie eben erstmal eine Idee haben, wie sie diese Zeitspanne erfolgreich und doch folgen- oder zumindest straflos kürzen konnten. Vielleicht wäre Ryatt tatsächlich ihr Schlüssel zur Lösung. Vielleicht machte er aber auch nicht mit. Und dann wären sie bei der nächsten Hässlichkeit. "Keine Ahnung...", das war kein wirklich hilfreicher Beitrag in Form einer Antwort auf seine Frage. Aryana hätte gerne irgendwas wie scheissegal was Faye sagt erwidert. Es war nur eben leider nicht ganz so scheissegal. "Kommt drauf an, was das dann für Ryatt heisst... Vielleicht können wir ihn ja auch auf die freundliche Art darum bitten, uns da raus zu kicken. Vielleicht nicht. Aber vielleicht hat sie eh keinen Kontakt mehr zu ihm, sobald sie im Süden die Sonne geniesst... Diese Freundschaft ist doch sowieso längst viel zu belastet", sie murmelte die Worte nicht ganz so deutlich vor sich hin, weil sie Faye damit nicht in den Rücken fahren oder Unrecht tun wollte. Aber sie selbst hatte schon nach der ersten Runde Hernandez nicht verstanden, wie Faye sich nochmal vertieft mit Ryatt hatte anfreunden können. Insgeheim - oder nicht so geheim - wünschte sie sich ja fast, dass das jetzt endlich vorbei sein würde. Ryatt würde schon irgendwelche neuen Freunde finden, dafür brauchte er nicht Faye.
Belastet war wirklich schon kein angemessenes Wort mehr dafür. Faye war zweimal wegen diesem Idioten entführt worden. Von denselben ekelhaften Kriminellen. Ich war mir fast sicher, dass das irgendwie vermeidbar gewesen wäre, auch wenn die ganze Problematik rund um die vorübergehende – räumliche – Trennung von Victor mit Sicherheit in diese ganze komplizierte Geschichte mit rein spielte. Zumindest für uns beide Außenstehende, die hier im Bett lagen mit den Auswirkungen von genau dieser Freundschaft, war das Ganze schlicht unverständlich. Wir sprachen ja nicht zum ersten mal darüber. “Wir müssen, was das angeht, wohl einfach ein bisschen darauf hoffen, dass ihn das schlechte Gewissen zermürbt und er von selbst kooperiert.”, stellte ich etwas trocken fest. Ich war mir ehrlich gesagt nicht sicher, inwieweit sein Gewissen überhaupt noch gesund funktionierte. Spätestens jetzt musste er aber eingesehen haben, dass er sich besser von Faye ferngehalten hätte. Sehr offensichtlich war die Sache schon wieder böse ausgegangen und da war Reue angebracht. Auch deswegen, weil er Aryana und mich da auf übelste Weise mit reingezogen hatte. Empfand er also nicht genug davon, hätte ich ehrlicherweise deutlich weniger ein Problem damit, diese Angelegenheit ungemütlich werden zu lassen. “Ich weiß, wie das klingt… und wie es sich anfühlt, das zu sagen…” Nämlich nicht richtig, aber irgendwie eben auch doch, weil ich ein kaputter Mensch war, der anderen gerne das gab, was sie meiner eigenen Meinung nach verdienten. “...aber seine Rechnung wartet sowieso schon viel zu lange auf ihn.” Ich zuckte kaum merklich mit den Schultern. Die Augenbrauen angespannt zusammen gezogen, während ich gedankenverloren irgendwelche Linien in Aryanas Nacken malte. “Außerdem… muss das ja auch nicht zwangsläufig heißen, dass er selber nichts davon hat. Wenn er – in der Theorie – selbst uns beide da rauskriegt, dürfte seine eigene Haut dabei zu retten kaum schwieriger sein.”, sinnierte ich weiter, behielt den leicht grummeligen Tonfall bei und machte die Augen zu. Langsam setzte ein leichter Kopfschmerz ein, der ziemlich sicher vom Stress des letzten Tages kam. Vielleicht auch ein bisschen daher, dass ich mir die nahe Zukunft schlecht malte. Innerlich gleichzeitig allzu bereit dazu war, Ryatt über seinen dummen Bürotisch zu ziehen und ihm eine geladene Pistole an den Schädel zu halten, damit er endlich damit anfing, sich verdammt nochmal nützlich zu machen. Nur einer von vielen Gedanken, die ich besser nicht haben und schon gar nicht manifestieren sollte. Meine wütenden Hirngespinste waren bis dato nicht unbedingt selten auch in die Tat umgesetzt worden, sobald sich nur genug negative Emotionen für eine undurchdachte Aktion in mir aufgestaut hatten. Aber ich war einfach nicht bereit für die nächste Etappe einer mentalen Katastrophe. Gefühlt hatte ich mich gestern erst von der letzten erholt. Mich gestern erst von dem meterhohen Blut all der Opfer in Syrien reingewaschen, nachdem ich fast zwei verdammte Jahre lang darin gebadet hatte. Nur um mir jetzt neues Blut an die Hände zu schmieren, das einfach nicht hätte sein müssen… "Gehst du 'ne Runde mit mir laufen, morgen?" Ja, das war ein harter Themenwechsel, aber wenn ich mich noch weiter in Ryatt und seinen ignoranten Handlungen hineinsteigerte, musste ich mich gleich nochmal ans Fenster stellen. "Ich würde nicht drauf wetten, dass ich nicht irgendwo für Kippen anhalte, wenn ich alleine gehe."
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Oh ja, das hoffte sie sowieso grundsätzlich. In dieser Hinsicht war es ihr sehr egal, wie falsch es war, sich sowas zu wünschen. Sie hatte es heute Morgen schon gesagt und sie fand es immer noch scheisse, dass Ryatt bis auf sein schlechtes Gewissen einfach mit gar nichts büsste für dieses selbstverschuldete Desaster. Faye bezahlte mit einem weiteren Entführungstrauma, das sicher wieder unzählige Therapiestunden zur Verarbeitung nach sich zog und einen weiteren Riss in ihrem Weltbild verursachte. Sie und Mitch hatten die notwendige Drecksarbeit übernommen, um eine dritte Wiederholung des Dramas zu verhindern - und wurden dafür mit einem ganz anderen aber ebenso folgenreichen Trauma bestraft. Und Ryatt? Nichts. Er hatte kein Blut vergossen, er wurde nicht entführt, er wurde nicht ernsthaft verletzt, er hatte nichts Schockierendes gesehen. Da waren keine traumatischen Bilder, die sich in sein Gedächtnis brennen und ihm zukünftig den Schlaf rauben würden. Und das war nicht fair. "Nein nein, ich versteh das schon... und ich stimme dir zu", murmelte Aryana mit einem trockenen Unterton und unterstrich damit seine Aussage betreffend Ryatts offener Rechnung. Sie fühlte sich nichtmal richtig schlecht, wenn sie das dachte oder sagte. Dazu war sie zu wütend auf Ryatt. Gab ihm zu viel Schuld an allem, was heute passiert war. Allem Elend, das ohne seine Präsenz in Fayes Leben hätte vermieden werden können. "Ich fänds auch dann angemessen, dass er uns da raus holt, wenn er nichts davon hätte. Er hat ja heute Morgen selbst gesagt, dass er im Anschluss an die ganze Sache - also jetzt - in unserer Schuld stehen wird. Und das ist wahrscheinlich der einzige Gefallen, den er uns machen kann", vielleicht sollte sie besser keine weiteren Worte mehr zu Ryatt verlieren und sich besser erstmal beruhigen. Aber beruhigen war leichter gesagt als getan und die Gedanken an eine mögliche Freistellung mit Ryatts Hilfe waren schöner als die Erinnerungen an die letzten Stunden. Nicht nur schöner, sondern auch leichter erträglich. Mit dem folgenden Themenwechsel war wahrscheinlich nicht nur Mitch gedient. Aryana brauchte zwar ein paar Sekunden, um ihre Gedankengänge neu zu ordnen, dann aber zuckte auch sie halbherzig mit den Schultern, so gut das im Liegen eben möglich war. "Grundsätzlich werde ich zwar sicherlich genau gar keine Lust drauf haben... Aber ich schätze, es würde meine Psyche eher unterstützen, als wenn ich im Bett liegen bleibe und mich bis Abends unter der Decke verkrieche...", lautete ihr wenig begeistertes, aber trotzdem zustimmendes Fazit. "Also ja, deine persönliche Entzugshilfe wird deinem Spaziergang beiwohnen", versuchte sie mit ein paar sarkastischen Worten primär ihre belasteten Köpfe auf eine etwas leichtere Spur zu steuern, damit sie vielleicht sogar noch in den Genuss von ein paar Stunden Schlaf kamen heute Nacht. Böse Gedanken und hässliche Bilder waren diesbezüglich nämlich alles andere als förderlich, wie sie aus Gründen längst gelernt hatte.
Vielleicht war auch das eines unserer Probleme. Manchmal waren wir uns zu einig mit Dingen, die ein normaler Mensch zumindest nicht laut aussprechen würde. Jeder empfand Hass und Wut, das waren geläufige Emotionen. Es war aber was anderes, diese Gefühle als Antrieb für Rache, Erpressung oder mindestens moralisch fragwürdige Taten zu nutzen. Wir beide taten das fast gleichermaßen gerne, wenn im Emotionshafen erstmal der Notstand ausgerufen war. Sollten wir unseren gemeinsamen Untergang irgendwann selbst herbeiführen, dann wahrscheinlich aufgrund dessen. Trotzdem würde ich nichts daran ändern. Aryana war schließlich der einzige Mensch – in meinem ohnehin sehr überschaubaren Kreis – der mich nicht dafür verurteilte. Ryatt sollte sich also besser darum bemühen, seine Schulden wenigstens bei uns angemessen zu begleichen. Uns beiden im Doppelpack gegenüberzustehen war nochmal eine Stufe schlimmer, als nur einen von uns aufzuhetzen. Nur für Faye wäre es eben angenehmer, diese Sache würde nicht in noch böserem Blut zwischen Ryatt und uns enden. Dass wir alle drei heil aus dieser Sache herauskamen. Sie würde sich einfach besser damit fühlen. Sicherlich auch dann, wenn sie den Kontakt zu diesem Vollpfosten tatsächlich endlich ganz kappte, sobald sie in Los Angeles war. Faye war ein übermäßig friedliebender Mensch. “Schön, dass wir uns damit einig sind.”, schloss ich die Sache mit einem letzten Satz für mich rund ab. Unser potenzieller Komplize hatte selbst weit mehr als einen Kollateralschaden verursacht – sollte ausnahmsweise mal einer auf seinem Konto entstehen, nahm ich das gerne in Kauf. Faye wäre dann schon weit weg und das zusammen mit Victor. Selbst wenn sich ein hässlicher Ausgang der Dinge nicht vermeiden ließ, würde sie bestimmt darüber hinwegsehen können. Früher oder später. Doch genug davon. Gefühlt war mein Suchtproblem aktuell mein kleinstes, deswegen unterhielt ich mich weit lieber darüber. “Wer redet hier von Spazieren? Meine Lunge muss regelmäßig entstaubt werden… und meine Energie muss irgendwo hin.", korrigierte ich Aryana und tätschelte sanft ihren Nacken. Natürlich half regelmäßiges Cardio-Training nur bedingt dabei, die Lunge wieder zu ihrer gesunden Ursprungsform zurückzubringen. Das würde nur eine komplett rauchfreie Zukunft wieder richten können und das über viele Jahre hinweg. Joggen half aber trotzdem gegen Kurzatmigkeit – auch wenn jene seit meiner Abstinenz schon wieder deutlich besser geworden sein mochte – und gegen einen zu vollen Kopf. Meistens war die Verlockung groß, an freien Tagen einfach gar nichts zu machen. Easterlins Arbeit war anstrengend und im Alltag ohne Einsätze stand Sport täglich auf dem Programm. Im Umkehrschluss war ein Energieüberschuss leider gerade für eine überbelastete Psyche sehr ungesund, wenn man sich meinen Fall ansah. "Aber falls du nicht hochkommst, erinner' ich dich morgen gerne nochmal daran, wie sehr es dich stört, wenn ich direkt morgens zum Rauchen aufstehe."
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Ja das war wirklich schön. Allgemein konnten sie sehr froh sein, dass sie beide noch vor diesem Eklat wieder zusammengefunden hatten. Dass sie das letzte halbe Jahr Zeit gehabt hatten, um ihrer Beziehung etwas Schwung zu verleihen, sich auf gesunde Art und Weise neu kennenzulernen und Vertrauen zu fassen. Es war noch lange nicht alles perfekt zwischen ihnen und grundsätzlich war diese Nacht wie alle anderen Erschütterungen ihres Lebens zu früh gekommen und zu folgenreich, um ihren Frieden nicht trotz allem ernsthaft zu gefährden. Aber sie wollte gar nicht wissen, was sowas vor einem Jahr für Auswirkungen auf sie beide gehabt hätte. War also zumindest in dieser Hinsicht besser, dass sie damals erst im Nachhinein von der Entführung erfahren hatten. Wie genau sich ihr morgiger Tag gestalten würde, mussten sie scheinbar noch unter sich ausmachen. War nicht so, als hätte sie ihn davor tatsächlich falsch verstanden, sie fand einfach Joggen am Morgen nicht sehr reizend. Oder vielleicht lag es auch nicht am Morgen, sondern an der Kälte. Die war auch ätzend, wenn sie in die Lungen eindrang oder via Gehörgang das Gehirn einfror. "Dein Joggen ist mein Spazieren", erklärte Aryana mit triefendem Sarkasmus und tätschelte dabei ebenfalls seine Brust, wo ihre Hand mittlerweile wieder zu liegen gekommen war. Mitch war - wie ziemlich viele Männer - relativ leicht aus der Reserve zu locken, sobald er sich herausgefordert und zum Wettkampf animiert fühlte. Dabei war ihr schon klar, dass sie nicht unbedingt schneller war als er. Er war ja auch grösser und hatte etwas längere Beine. Nur die Sache mit der Ausdauer könnte ihr über längere Strecken zum Sieg verhelfen. Aber den brauchte sie ja gar nicht - zumindest nicht morgen früh. Auf den Kommentar mit dem Rauchen konnte sie wiederum nur die Augen rollen, was er sich bestimmt bestens vorstellen konnte, auch wenn er es nicht sah. "Klar. Dann erinner' ich dich ebenfalls gerne daran, dass du nicht mit fünfzig an COPD oder Lungenkrebs erkranken wolltest", versuchte sie ihm mal wieder aufzuzeigen, dass er das Rauchen nicht für sie - oder zumindest nicht in erster Linie und nur für sie - dauerhaft aufgeben sollte. Sie wollte natürlich auch nicht, dass er so jung schon das Zeitliche segnete, aber es sollte eben auch nicht in seinem Interesse stehen. Aryana betete ihren Kopf nochmal ein bisschen auf seiner Brust um und versuchte sich so bequem wie möglich einzunisten. Damit ihr Schlaf zumindest dadurch nicht gestört wurde. "Dann musst du jetzt aber auch dafür sorgen, dass ich schlafen kann... Wenn du nicht planst, mich auf deiner Runde hinterher zu schleifen", erklärte sie die logische Schlussfolgerung, die sie jedoch ebenfalls mit Sarkasmus unterlegte. Einfach weil sie beide wussten, dass es sehr optimistisch war, damit zu rechnen, dass sie jetzt schlafen konnten und diese Nacht irgendwie erholsam werden würde.
Well… ich würde ja etwas Gegenteiliges erwidern, aber Aryana war eine der Personen, die regelmäßig mitbekamen, wie wenig ich Lust auf Ausdauertraining hatte und dass ich gerne der erste war, der stillstand, sobald die Pfeife auf dem Trainingsplatz zu hören war. “Situationsabhängig.”, war letztlich mein einziger, grummeliger Kommentar dazu. Ich brauchte leider nicht darüber zu diskutieren, dass meine Raucherlunge nicht viel von Ausdauersport hielt und sich oft anfühlte, als würde sie nächstens in sich zusammenfallen, ab einer gewissen Grenze. Trotzdem gab ich mich nicht freiwillig geschlagen, solange noch ein Funke Energie und Ehrgeiz da war. “Wär schön, wenn du das meinem 16-jährigen Ich damals schon erzählt hättest… bestenfalls mit einer von diesen saftigen Ohrfeigen.”, erwiderte ich trocken auf die erwähnten Lungenschäden. Dem jungen Mitchell war es ziemlich am Arsch vorbei gegangen, was er mit dem Rauchen im eigenen Körper anrichtete. Er hatte ja nichts gehabt, wofür es sich irgendwie zu leben gelohnt hätte. Außerdem sah man natürlich suuupercool beim Qualmen aus, richtig erwachsen. Wenn das alle machten, konnte es auch kaum so schlimm sein, oder? Leider war ich damals genauso grün hinter den Ohren gewesen wie jeder andere Jugendliche. Mein Problem mit den Glimmstängeln war nicht, dass ich nicht wusste, dass man daran letzten Endes sterben konnte. Mein Problem war, dass ich wirklich lange mental und körperlich davon abhängig gewesen war. Man bekam Rauschmittel in fast jeder Form verhältnismäßig leicht aus dem Körper – abgesehen von den Langzeitfolgen – aber nur schwer für immer aus dem Kopf. Ich hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft ich mit dem Rauchen aufgehört und dann wieder angefangen hatte. Dabei waren die rauchfreien Etappen an Aryanas Seite die erfolgreichsten und ich hoffte wirklich, dass meine allerletzte Zigarette schon hinter mir lag. Wie das morgige Energie-Level fürs Joggen ausfallen würde, hing stark von unserer Schlafqualität ab. Ich beobachtete Aryana dabei, wie sie sich noch ein bisschen anders zurecht legte. “Sag mir wie und ich machs.”, murmelte ich ebenso sarkastisch, wenn auch ziemlich leise. Seufzte ein paar Sekunden später, als ich die noch freie Hand an ihrer Hüfte unters Shirt schob und sanft über ihre Haut streichelte. Die Zärtlichkeiten lenkten mit Glück zwar kurzfristig ab, aber ich konnte die Brünette genauso wenig vor ihren Alpträumen abschirmen, wir das umgekehrt der Fall war. Schon der Gedanke an die Stille, die einkehren würde, sobald wir beschlossen uns ans Einschlafen zu machen, bereitete mir Unbehagen.
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Damit konnte sie sich abfinden. Leistungsfähigkeit war ganz allgemein situationsabhängig, mit dem Joggen verhielt es sich da gleich. Den anderen Gefallen konnte sie ihm hingegen leider nicht tun, da sie genauso wenig in die Vergangenheit reisen konnte, wie er selber. Leider. Sonst hätten sie da bestimmt beide schon so Einiges rumgeschraubt und angepasst... Wobei dann die Frage wäre, ob die Konsequenz daraus gewesen wäre, dass sie sich nie kennengelernt hätten... oder nie über die feindselige Phase hinaus gewachsen wären. Konnte niemand sagen. Und war insofern auch nicht wichtig, da das alles hypothetische Fragen waren. "Ich weiss nicht, ob ich mit 16 oder 17 schon solche Ohrfeigen verteilen konnte... Und leider warst du da ein paar Staaten zu weit entfernt, um mich zu hören. Lief alles sehr unglücklich", bedauerte sie mit einem weiteren leisen Seufzen. Das war lange her. Eine Zeit, in der das Leben noch so anders ausgesehen hatte. Es war auch mit 16 nicht einfach gewesen, aber auf einer ganz anderen Stufe. In einer anderen Sphäre nicht einfach. Auch wenn sich viele Erinnerungen aus dieser Zeit von selbst gelöscht hatten, sah sie ihr sechzehnjähriges Selbst jetzt nicht unbedingt gegen Zigaretten wettern und Menschen zum Rauchstopp animieren. Das war ungefähr die Zeit gewesen, in der sie selbst etwas zu oft etwas zu viel getrunken hatte. Und Alkohol war letztendlich nicht viel weniger schädlich als Nikotin, also nein, der kleine Mitch hätte seine Kippen nicht vor der kleinen Aryana verstecken müssen. Wie alle Teenager hatte sie da sowieso grössere Sorgen als den Suchtmittelkonsum anderer Menschen gehabt. "Ich dachte eigentlich, die Lösungsfindung würde ich dann dir überlassen...", murmelte die Brünette im Bezug auf die Einschlafhilfe. Seine Hände, die über ihre Haut streichelten, waren auf jeden Fall ein guter Anfang. Aber wenn sie ehrlich waren, verloren sie wohl gerade allein deshalb nicht den Verstand, weil sie noch mit mehr oder weniger sinnvollen Gesprächen beschäftigt waren. Sobald sie damit aufhörten, war es still und dunkel und sie beide sich selbst überlassen mit ihren Gedanken und mit den Bildern in ihren Köpfen, die sie ganz allein zu verantworten hatten, weil sie sie ganz allein gezeichnet hatten. "Vielleicht sollten wir einen Einschlaf-Podcast laufen lassen... Damit wir irgendwas haben, das... hilft, damit wir uns nicht zu sehr verlieren...", ihre Worte waren ein bisschen unvollständig, aber sie war sich sicher, dass er ganz genau wusste, was sie meinte. Sie wartete noch ein paar Sekunden, bis sie sich durchringen konnte, sich nochmal umzudrehen und nach ihrem Handy auf dem Nachttisch zu angeln. Sie hatte schon länger keinen dieser Podcasts mehr gehört, aber Faye hatte sie mal auf den Geschmack gebracht. Besonders auf belastenden Einsätzen konnten die schon sehr hilfreich sein. Oder in der Zeit, in der sie kaum mehr mit Mitch im gleichen Bett hatte schlafen können, aber die Ruhe dringend gebraucht hatte. Die Podcasts bestanden meist aus irgendwelchen schönen, beruhigenden, aber super langweiligen Geschichten, die zum Einschlafen animieren sollten. Es gab auch noch andere, die dann eher der Meditation dienten. Aber eine Meditation, die lang genug dauerte, führte bei Müdigkeit auch zu Schlaf. Heute tippte sie jedoch wahllos eine Geschichte an, die eine ganze Stunde dauern würde. Wenn sie es schafften, eine Stunde lang einer sehr langweiligen Geschichte zu lauschen und sich immer wieder darauf zu fokussieren, dann schliefen sie zwar vielleicht trotzdem nicht ein, aber sie lagen immerhin schonmal eine Stunde einigermassen entspannt im Bett und dachten über nichts anderes nach. Vielleicht half das auch schon etwas gegen die körperliche Erschöpfung. Aryana legte das Handy mit dem laufenden Podcast wieder weg und kuschelte sich erneut an ihren Freund. Diesmal schloss sie auch die Augen, aber ihre Finger strichen über seine Haut und verrieten, dass sie definitiv nicht sofort einschlafen würde. "Gute Nacht, Mitchi... ich liebe dich.", es war immer wichtig, dass sie sich das oft genug sagten und auch so meinten. Aber heute war es besonders wichtig. Heute, wo sie beide sonnenklar wussten, dass sie mal wieder Dinge getan hatten, die sie zum Gegenteil von liebenswert qualifizierten. Die absolut verabscheuenswert waren.
Es war schon faszinierend, wie Menschen sich im Leben fanden. Im schlimmsten Fall natürlich im Krieg, weit weg von der Heimat, die in meinem Fall aber ohnehin nie eine gewesen war. Ich hatte mich damals nicht heimisch gefühlt und tat es jetzt nur deshalb, weil Aryana mein Zuhause war. Obwohl wir damals so weit voneinander entfernt waren, hatten wir aber trotzdem zueinander gefunden. “Ich bin froh, dass wir uns trotzdem gefunden haben.”, hängte ich leiser an und spielte ein bisschen abwesend am Saum ihres Shirts herum. Ich wollte nicht wissen, wo ich oder Aryana jetzt wäre, hätte sie mich damals nach dem Drama in Syrien komplett fallen lassen. “Weil ich da bekanntermaßen ja so kreativ bin.”, murmelte ich ironisch. Inzwischen hatte ich meistens wieder relativ gut schlafen können, aufgrund des Zusammenspiels vieler verschiedener Dinge – die Versöhnung mit Jetman, die Therapie und natürlich auch, dass zwischen Aryana und mir wieder alles so gut lief, wie es das aktuell tun konnte. Jetzt stand es hingegen wieder akut schlecht um eine Mütze voll Schlaf für mich und erfahrungsgemäß hätte ich das mit nicht mehr als Herumwälzen zu bewältigen versucht. Ob es der Podcast jetzt richten würde, wusste ich nicht – schlimmer werden konnte es dadurch aber auch nicht, also nickte ich ein wenig, lockerte meine Hände von ihrem Körper und ließ die Brünette machen. Das Handy brabbelte leise im Hintergrund, als Aryana sich wieder an mich schmiegte und meine Hände sich ähnliche Plätze wie zuvor auf ihrem Körper suchten. Ich war zwar nicht 24/7 nähebedürftig und bevorzugte es ziemlich oft, nicht kuschelnd einzuschlafen – vor allem im Sommer – aber im Moment tat es doch ganz gut, sich einfach festzuhalten. An der einzigen Konstante, die ich gerne in meinem Leben hatte, auch wenn sie meinen Namen verniedlichte. “Ich liebe dich auch.”, nuschelte ich an Aryanas Haar, kurz bevor ich dort einen Kuss setzte und den Kopf zurück ins Kissen sinken ließ. “Chilli fand ich trotzdem besser.”, gedachte ich mit geschlossenen Augen einem alten Spitznamen von mir, der nur mehr selten ausgesprochen wurde. Mitchi war aber immer noch besser als Hasi oder Herzkäferchen.
~Zeitsprung hier einfügen~
Die restliche Nacht nach der Aktion im Lagerhaus verbrachte ich völlig aufgewühlt und schlaflos. Natürlich wurde ich irgendwann müde, aber mehr als kurzes Einnicken wurde nie daraus. Ich konnte auch nicht behaupten, nach den schlaflosen Stunden irgendwas erfolgreich verarbeitet zu haben. Der Wecker klingelte mich um 5.30 Uhr aus einem kurzen Dämmerschlaf inklusive flüchtigem Alptraum – ich fuhr also direkt mit reichlich Schuldgefühlen zur Schranke am Fort und entsorgte auf dem Weg dorthin noch die angestochene Weste. War sehr froh darüber, dass die beiden Jungs am Einlass nur Witze darüber machten, was ich in der letzten Nacht wohl so getrieben hatte, weil ich meinem Gesicht nach zu urteilen nicht viel geschlafen haben konnte, statt mich direkt nach der Ursache zu fragen. Ich war ein guter Lügner, aber ob ich in diesem Moment eine bühnenreife Vorstellung hingelegt hätte, war dann doch fragwürdig. Als ich vom Parkplatz zum Zimmer ging, hielt ich dauerhaft den Arm über dem Loch in der Jacke. Auf dem dunklen Stoff war das Blut kaum zu sehen, anders war das mit dem deutlich blutigeren Pullover darunter. Trotzdem würde beides noch das Zeitliche segnen, in naher Zukunft. Die warme Dusche half mir dabei, etwas aufzutauen und durchzuatmen. Trotzdem kämpfte ich mich wie ein Zombie durch den Arbeitsalltag der kommenden Stunden, während alle anderen im Büro ihre super Freitagslaune hatten. Am frühen Abend fuhr ich zu Dylans Bar. Er war überrascht, mich dort direkt zur Einlasszeit zu sehen und ich genauso. Nur war er noch immer der einzige Barkeeper meines Vertrauens und auch, wenn ich ihm nicht direkt erzählen konnte und wollte, was passiert war, tat es gut, ein paar Dinge sehr oberflächlich anzukratzen und den Kopf zwischendurch auf den Tresen zu legen. Alkohol war nicht mein Freund, schon klar, aber ich brauchte eine Pause von diesen Gefühlen, die mich sonst im Schlaf ersticken würden – oder halt im Nichtschlaf. Betrunken konnte ich aber nicht heimfahren. Mit dem Busfahren war’s schwierig, weil um diese Zeit keiner mehr aus der Stadt rausfuhr und Dylan hatte absolut kein gutes Gefühl dabei, mich alleine zurück auf die Straße zu lassen nach allem, was ich erzählt und dabei nebenher getrunken hatte. Ich bereute den Rausch am Samstagmorgen schnell, weil auch das bei jemand Anderem auf dem Sofa aufwachen ungute Deja Vues hervorrief. Der Barinhaber – und immer noch Freund, wie’s schien – gab sich Mühe, mir die Situation mit allem Verständnis angenehmer zu machen, aber ich verzog mich trotzdem nach einem schnellen Kaffee und dem ernst gemeinten Versprechen, mich bald wieder zu melden oder vorbeizukommen. Auch wenn seine Frau die Woche über bei ihren Eltern verbracht hatte und noch nicht zurück war, wollte ich auch Dylan nicht weiter zur Last fallen und einfach nur weg. Immerhin hatte mir der Alkohol etwas beim Schlafen geholfen, weil er die Träume effektiv unterdrückte. Was mir hingegen eher nicht dabei half, ansatzweise wieder einen klaren Kopf zu kriegen, war, dass Faye noch nicht Bescheid gesagt hatte, ob und wann wir uns treffen konnten. Ich checkte auch den Samstag über noch ständig unnötig mein Telefon, obwohl es gar nicht vibriert oder geklingelt hatte. Erst am Nachmittag, während ich nichts weiter tat als erledigt auf dem Bett in meinem Zimmer zu liegen, rief Faye mich an. Wirklich bereit, ihre möglicherweise noch immer gebrochene Stimme zu hören, fühlte ich mich nicht. Deswegen dauerte es fast zehn Sekunden, bis ich tatsächlich abnahm. Wir erkundigten uns nur kurz nach dem jeweils anderen, weil noch nicht mit einer massiven Besserung der Dinge zu rechnen war, bevor die Brünette mir einen Vorschlag machte: Sie am Mittwoch bis nach Portland auf der Fahrt nach Los Angeles zu begleiten, bevor sie alleine weiterfuhr. Im ersten Moment dachte ich laut darüber nach, dass ich nicht wusste, ob mein Vorgesetzter mir am darauffolgenden Donnerstag derart kurzfristig einen freien Tag einräumen würde. Erst gut eine halbe Minute später kam mir die Idee, das vielleicht mit etwas verbinden zu können, was eigentlich überhaupt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich gehörte. Easterlin scoutete schon seit einer ganzen Weile nach einem Küstenabschnitt, den er für sich und die Armee privatisieren konnte. Häufig scheiterte das an Naturschutzgebieten, am Tourismus oder einfach am Unwillen des Besitzers, was in neun von zehn Fällen der Staat Washington war. Vielleicht hatte er etwas südlicher in Oregon mehr Glück damit, weiter weg von Seattle. Am Montag war es also meine Mission, das direkt an die Quelle des Geldes heranzutragen. Zuerst schmeckte es Easterlin gar nicht, die Kampfschwimmereinheit langfristig größtenteils zum Training weiter weg auslagern zu müssen, weil täglich nach Portland zu fahren einfach ein Unding wäre. Die Fahrzeit müsste er laut Vertrag schließlich als Arbeitszeit mitbezahlen. Doch dieses Pseudoproblem ließ sich umgehen, wenn er die Einheit vollständig verlagerte und so eben nur einen pauschalen Betrag für die Arbeit auswärts zahlen müsste, der besser kalkulierbar war als amerikanischer Verkehr. Außerdem würde das den Stützpunkt hier entlasten, die Kapazität schwankte konstant irgendwo an der Obergrenze. Er könnte so also weiter nach oben skalieren, mehr Aufträge annehmen… deswegen stimmte er meinem kurzen Außeneinsatz am Donnerstag widerwillig unter Vorbehalt zu, sofern ich am Mittwoch trotzdem noch bis zum Mittag arbeitete und am Freitag wieder hier antanzte. Als ich schon an der Tür stand, verpackte er es als sarkastischen Witz, aber ich wusste, dass ich es tatsächlich stundenmäßig wieder reinarbeiten müsste, falls ich mit völlig leeren Händen zurückkam. Mein kleinstes Problem. Ich musste für besagten Trip auch noch zeitintensive Recherche leisten, um überhaupt konkrete Anlaufstellen zu finden, was die Tage bis zum Mittwochmittag stressig gestaltete. Das Gute daran war, dass mein Kopf beschäftigt blieb – sich mehr mit der nahen Zukunft, als mit der hässlichen Vergangenheit beschäftigte. Die Schlafqualität steigerte sich dadurch ebenfalls, weswegen ich zumindest halbwegs fit war, als ich den Kombi am Mittwochnachmittag nahe von Aryanas und Mitchs Wohnung parkte. Außerhalb deren direkter Sichtweite, aus Provokationsvermeidungsgründen. Auch wenn ich nicht mehr am Hungertuch nagte, würde ich mir das Geld für diese Kilometer hier für ein Taxi auf dem Rückweg ebenfalls gerne sparen, weil es auszugeben schlicht nicht nötig war. Man lernte daraus, wenn man auf der Straße gesessen hatte. Unterschwellige Nervosität machte sich in mir breit, als ich zu vereinbarter Uhrzeit mitsamt maximal halbvoller Reisetasche über der Schulter und mit einer schwarzen Mappe – Papierkram – unter demselben Arm auf Faye zuging. Sie war schon an ihrem Auto zugange, schien noch irgendwas einzuräumen. Es war einerseits schön zu sehen, dass die zierliche Brünette wohlauf war und andererseits bereitete es mir noch immer Bauchschmerzen, sie mindestens für sehr lange Zeit nicht oder sogar nie wieder zu sehen. Trotzdem erhoffte ich mir von den nächsten Stunden, dass sie ein bisschen Wasser durch die salzigen Wunden spülen würden. Bei uns beiden. “Na, bereit für die Fahrt?”, begrüßte ich Faye indirekt, als ich fast bei ihr angekommen war. Versuchte mich an einem vorsichtigen Lächeln, auch wenn es möglicherweise noch etwas unsicher wirkte.
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Wenn jemand sie fragen würde, wie sie die letzten Tage so hinter sich gebracht hatte, hätte Faye wohl ziemlich ratlos mit den Schultern gezuckt. Alles war zu einem einzigen verschwommenen Etwas verschmolzen, das sich Abschied und Verdrängung schimpfte. Den Tag in ihrer alten Wohnung hatte sie nach zusammengerechnet maximal drei Stunden Schlaf hinter sich gebracht und war mehr als froh um die Unterstützung der Freundin gewesen, die sie glücklicherweise schon weit im Voraus angeheuert hatte. Der Umzug hatte scheinbar schon ohne Zwischenfall und massiven Schlafmangel anstrengend genug geklungen. Irgendwie hatten sie es geschafft, auch die verbliebenen Zimmer der Wohnung anschliessend sauber genug zu reinigen, dass sie am Montag vor dem Spätdienst die Schlüsselübergabe ohne weitere Komplikationen machen konnte. Auch ihre restlichen drei Arbeitstage hatte sie ohne Krankenschein gemeistert, auch wenn sie sich Abends jeweils mit Schlafmittel zugedröhnt hatte, weil sie nicht die ganze Nacht wach hatte liegen und schon gar keine Alpträume hatte riskieren wollen. Ganz allgemein hatte Faye alle Willenskraft dafür aufgeboten, nicht nachzudenken und nichts zu verarbeiten. Weil sie das neben allem anderen nie im Leben hätte stemmen können und weil sie dafür ihre lange Fahrt in den Süden nutzen musste. Sie hatte Victor schon vorgewarnt, dass sie wahrscheinlich drei oder vier, schlimmstenfalls sogar fünf Tage brauchte, bis sie endlich bei ihm ankam. Auch wenn sie bei ihm genauso alles nach hinten geschoben hatte, was Erklärungen und ausführliche Gespräche anging. Sie wusste, dass das für ihn schwierig war und hatte sich dafür auch entschuldigt. Aber wenn sie das Fass irgendwo aufmachte, dann konnte sie die Flut nicht mehr kontrollieren und dann wurde sie zugeschüttet, bevor dieser Abschluss hier besiegelt war. Bevor sie alles erledigt hatte, was sie hier zurücklassen wollte. Bevor sie sich von allen verabschiedet hatte, die sie hier zurücklassen musste. Dazu gehörten auch Mitch und Aryana - egal wie sehr sie sich wünschte, dass dem nicht so wäre. Besonders jetzt, nach allem was passiert war. Nachdem sie viel zu gut gesehen hatte, was diese verdammte Nacht bei beiden ausgelöst hatte. Dabei hatte sie nur das gesehen, was Mitch und Aryana nicht verstecken konnten oder wollten, sie konnte sich bestens zusammenreimen, wie es entsprechend in ihrem Inneren aussehen musste. Die knappen Worte, mit denen Aryana zusammengefasst hatte, was sie in der Lagerhalle noch gemacht hatten, waren aussagekräftig genug gewesen. Dafür gesorgt, dass das nicht nochmal passiert, liess sich zwar vielseitig interpretieren, aber irgendwie doch immer mit dem gleichen Ergebnis. Ein Trauma mehr, um das keiner gebeten hatte. Und sie haute jetzt ab, verschwand bei Victor, hatte ihr neues Leben, die unbefleckte Zukunft, an einem Ort, wo keiner sie kannte... während Mitch und Aryana genau hier bleiben und irgendwie klar kommen mussten. Sie versuchte, sich selbst nicht dafür verantwortlich zu machen, aber man konnte sich ungefähr denken, wie gut das funktionierte. So gut wie immer. Und mit Mrs White konnte sie nicht darüber reden, weil sie erst in drei Wochen einen Telefontermin mit ihr vereinbart hatte, da sie auch hier keine frühzeitige Flut auslösen durfte. Aber genug davon, es gab glücklicherweise auch noch andere Probleme, über die sie nachdenken konnte. Wie zur Hölle sie ihr Auto über tausend Meilen in den Süden fahren sollte, ohne dabei einen panik- oder paranoiabedingten Unfall zu bauen. Aryana hatte sie am Samstag nach der Arbeit abgeholt, wobei Faye dann mit Aryanas Auto zurückgefahren war und Aryana mit Fayes. Seit da stand es nun hier auf dem Parkplatz und das Maximum, was Faye bisher hingekriegt hatte, war eine Fahrt zur Tankstelle, damit sie sich heute immerhin nicht noch um einen leeren Tank kümmern musste. Eine Fahrt zur Tankstelle auf dem Beifahrersitz, wieder mit Aryana hinter dem Steuer, wohlbemerkt. Sie versuchte eigentlich, ihrer Schwester und Mitch so wenig wie möglich zur Last zu fallen, aber das hatte sie nicht alleine geschafft. Für die erste Etappe ihrer Reise nach LA hatte sie glücklicherweise immerhin mentale Unterstützung rekrutieren können. Die Idee war ihr schon am Freitagabend gekommen, als sie versucht hatte, pragmatisch darüber nachzudenken, wie zur Hölle sie das Autoproblem in so kurzer Zeit lösen sollte. Es glich weiterhin eher einem Experiment, da sie keine Ahnung hatte, ob sie ab Portland dann wirklich ohne Probleme alleine fahren konnte. Es war gelinde gesagt optimistisch. Aber wenn Ryatt sie wenigstens bis ausserhalb des akuten Gefahrenradius' begleiten könnte, wäre das sehr sicher mehr als beruhigend für ihre Nerven. Und wer weiss, vielleicht kam ihm dieser Gefallen auch gelegen. Erstens, weil er damit vielleicht seine Schuldgefühle etwas tilgen könnte und zweitens, weil sie dann die Chance hatten, sich tatsächlich voneinander zu verabschieden. In den hektischen Tagen bis zu ihrer Abreise hatte sie das unmöglich noch reindrücken können. Und für den Fall, dass dies ein endgültiger Abschied wurde, fühlte sich ein kurzes Auf Wiedersehen einfach auch nicht richtig an. Sie war also mehr als froh drum gewesen, als er tatsächlich eingewilligt hatte, sie zu begleiten und ihnen beiden diese Zeit noch zu schenken. Faye war nicht dumm und sie wusste, dass Ryatt das auch nicht war. Es war sehr optimistisch, daran zu glauben, dass ihre Freundschaft die nächsten Jahre überstehen würde. Sie dachte zwar gerne positiv, aber diese Sache lag nicht alleine in ihrer Entscheidungsgewalt. Und sie musste mit Seattle abschliessen, um mit Los Angeles anfangen zu können. Es liess sich aktuell nur schwer einschätzen, ob dieser Abschluss auch ein Abschluss mit Ryatt beinhalten musste. Gerade war ihr Kopf jedoch noch weit weg von einem solchen Abschluss, denn gerade packte sie ihre verbliebenen Taschen in den Kofferraum des Fords, um gleich vollumfänglich bereit zur Abfahrt zu sein. Von Aryana und Mitch hatte sie sich vor zwei Stunden ausgiebig verabschiedet. Ihr Urlaub war vorbei und sie hatten heute Nachmittag das erste Briefing zu ihrem nächsten Einsatz, weshalb sie mittlerweile schon auf dem Weg zur Arbeit oder eher bereits am Stützpunkt waren. Immerhin hatten sie noch den gemeinsamen Morgen gehabt und sicherlich war es besser für Faye, dass sie nun zwei Stunden Zeit gehabt hatte, um sich vom definitiv härtesten aller Abschiede zu regenerieren. Trotzdem war sie mit den Gedanken irgendwo in den Wolken und ihre Gefühle auf dem ganzen Spektrum zerstreut, als sie den Kofferraum schloss und eine bekannte Stimme vernahm. Sie zuckte leicht zusammen, weil sie ihn nicht hatte kommen hören und trotz der frisch entfachten Paranoia scheinbar mal wieder komplett unaufmerksam herum geträumt hatte. "Hey", überspielte sie die Überraschung mit einer Begrüssung, während sie sich mit einem zarten Lächeln ihm zu wandte. Wahrscheinlich stand ihr quer übers Gesicht geschrieben, dass die letzten Tage - oder eher Wochen, war ja nicht so, als wäre vor der erneuten Havarie alles gut und easy gelaufen - ziemlich an ihr gezerrt hatten und sie froh war, wenn dieses Kapitel abgeschlossen war. Ein Umzug dieser Kategorie an sich war schon anstrengend genug. Dazu noch die ganzen Abschiede in jedem Bereich ihres Lebens, Mangel an qualitativ gutem Schlaf und die unendlich anstrengende Verdrängung ihrer tatsächlichen Gefühlslage... Naja, es war ungefähr so anstrengend, wie es klang. "Ich glaube schon ja, wird langsam Zeit", bestätigte sie seine Frage und liess den Blick zurück zu ihrem Auto schweifen. Sie hatte schon dreimal den Rücksitz geprüft in den letzten beiden Stunden. Absolut paranoid und doch hatte sie das Bedürfnis, nochmal nachzuschauen, dass da nichts war. Gut, dass sie den Vorwand nutzen konnte, ihre kleine Handtasche genau da zu verstauen - immerhin war der Beifahrersitz besetzt, wenn Ryatt mitfuhr. Sie öffnete die Tür des Rücksitzes, warf einen auffällig langen Blick nach drinnen, obwohl nichts als eine leere Rückbank und ein paar Geister der Vergangenheit zu sehen waren. Ihre Tasche fand auf dem Sitzpolster Platz und Faye schloss die Tür wieder, um sich stattdessen hinters Steuer zu setzen. Mit einem angespannten Luftholen und dann bemüht ruhiger Atmung. "Ich... ich muss dir gestehen, dass ich das Auto noch nicht selbst gefahren bin seit... letzter Woche.", murmelte sie ein nicht ganz so irrelevantes Geständnis vor sich hin. "...Aber du darfst mir gerne von... deinen Plänen in Portland oder sonst irgendwas aus deinem Leben erzählen, um mich von dieser Tatsache abzulenken", fügte Faye leicht sarkastisch angehaucht hinzu, schaute sich eher unbewusst nochmal im Auto - inklusive Rücksitz - um, bevor sie tatsächlich den Schlüssel drehte um den Motor zu starten.
Hätte ich mich irgendwie schonender bemerkbar machen können? Wahrscheinlich nicht. Ich kannte Faye inzwischen lange genug, um zu wissen, dass sie nicht selten gerne ganz tief in ihrem eigenen Kopf versank. Auf welcher Ebene sei mal dahingestellt, aber für sie waren die letzten Tage mit Sicherheit nochmal eine ganze Stufe anstrengender gewesen, als für mich. Sie sah müde aus und es war fragwürdig, ob viel Autofahren ein gutes Mittel dagegen war. Dennoch war es inzwischen wirklich Zeit für diese Reise, wie Faye sagte. Ich nickte ein wenig. “Ja, das stimmt.”, kommentierte ich meine Geste mit eigentlich unnötigen Worten. Zu viel zu reden schien mir in diesem Augenblick aber weniger schlimm zu sein, als an Worten zu sparen. Ganz gleich, wie unbedeutend sie auch sein mochten. Ich sah durchs Fenster, dass noch Platz auf dem Rücksitz war, weshalb ich schon langsam zur Beifahrerseite ging, als Faye drauf und dran war, ihre Handtasche dort zu verstauen. Meine eigene Tasche wanderte ebenfalls auf den Rücksitz, wobei ich die Unterlagen an der Rückenlehne eingeklemmte. Die Mappe an sich war fest und würde sämtliches Verknicken vereiteln, solange sie geschlossen blieb. Nur eine Flasche Wasser nahm ich aus der Tasche, bevor ich die Tür hinten schloss und mich zum Beifahrersitz aufmachte. Es war nicht das erste Mal, dass ich da saß, aber das letzte Mal war doch eine ganze Weile her. Weckte ein paar gute, aber doch auch viele schlechte Erinnerungen. Beispielsweise an den Moment, in dem ich hier eingestiegen war, weil ich Faye frisch von ihrer Therapie kommend gesehen hatte. Unsicher damit, ob ich jenen Augenblick in den Himmel loben oder für immer verfluchen sollte, schloss ich den Sicherheitsgurt. Die Brünette neben mir unterbrach diesen Gedankengang mit einem hörbaren Atemzug, der mich zu ihr rüber sehen ließ. Dass es nicht leicht für sie sein würde, den Ort des Überfalls wieder vollkommen neutral zu betrachten, hatte ich mir schon gedacht. Wenn auch vielleicht eher nicht in diesem Ausmaß. Trotzdem blieb ich, was das anging, erstmal vorsichtig optimistisch. Wir hatten uns in der Vergangenheit schon sehr oft bewiesen, dass wir uns erfolgreich gegenseitig von unliebsamen Dingen ablenken konnten. “Das wird schon… und wenn du eine Pause brauchst, machen wir eine. So oft wie nötig. Falls ich dir sonst noch irgendwie damit helfen kann, sag’s einfach.”, ließ ich Faye mit ruhiger Stimme und einem Lächeln wissen, dass ich diesbezüglich mehr Vertrauen in sie setzte, als sie das offensichtlich selbst konnte. Sollte es helfen, sah ich mich von mir aus auch alle fünf Minuten hinter ihrem Sitz um. Mir war das durchaus aufgefallen, aber das behielt ich für mich. Ich musste ihrer Verunsicherung nicht noch unter die Nase reiben, dass die Paranoia offensichtlich war. Außerdem war dieses Gefühl mehr als verständlich… “Allzu viel darf ich dir darüber wohl eigentlich nicht erzählen.”, stellte ich eingangs erstmal fest, als Faye den Wagen ausparkte und ich noch die Wasserflasche an den Fußraum vor mir loswurde. “Aber Easterlin sucht nach einer besseren Trainingsmöglichkeit für eine Spezialeinheit. Allzu oft kommt sie auf Einsätzen zwar nicht mit Wasser in Berührung, aber wenn doch, gibt’s dabei häufig… naja, unangenehme Probleme. Mit voller Ausrüstung zu schwimmen ist eben sehr anstrengend und wird nicht leichter, wenn man’s zu selten trainiert.” Wahrscheinlich alles Dinge, die Faye überhaupt nicht interessierten und die man sich eigentlich auch denken konnte. Die überflüssigen Erklärungen waren aber nicht schlecht, um das Innere des Wagens akustisch zu füllen, während wir langsam auf die Straße rollten. “Sich ein Stück Küste für militärisches Training zu kaufen ist allerdings ziemlich schwierig… und das sollte es auch sein. Hier in Washington dürfte er schon so ziemlich alles erfolglos abgegrast haben, weswegen ich vorgeschlagen habe, mich in Oregon umzusehen, wenn ich praktischerweise sowieso da hin muss. Er hat’s geschluckt und hier bin ich nun.”, den letzten Teil unterlegte ich mit etwas Sarkasmus und einer Handgeste. Ich hatte dem Milliardär gegenüber wirklich von müssen gesprochen, was gewissermaßen waghalsig gewesen war. Allerdings erreichte man in dieser Branche nur selten etwas mit kleinlauten Bitten. Er hatte mich damals ja auch nicht eingestellt, weil ich gerne zu allem Ja und Amen sagte, sondern weil ich mit Vielem glänzen konnte, was sonst keiner vorzuweisen hatte. Leute wir ich flogen für gewöhnlich nämlich nicht aus der Army. Es gab natürlich auch Momente, in denen man besser kleine Brötchen backte, aber das Gespräch über einen kurzen Abstecher nach Oregon war keiner davon gewesen. Nur für den Fall, dass Faye dazu nicht allzu viel zu sagen wusste, schnitt ich ein bisschen später gleich das nächste Thema mit an. “Ich… war bei Dylan, letzte Woche… allein ist mir die Decke auf den Kopf gefallen. Hab lange mit ihm geredet und… werde wieder öfter bei ihm vorbeischauen. Er steht eindeutig fester im Leben als ich und ich glaube, das kann mir nicht schaden.”, auch hier wieder ein bisschen Sarkasmus. Wir wussten jedoch beide, dass ich hin und wieder wirklich eine Stütze brauchte. Vielleicht half es Faye ein bisschen dabei, mich hier zurückzulassen, wenn sie wusste, dass ich dieselben Fehler eigentlich wirklich nicht nochmal machen wollte. Dass ich versuchen würde, aus alledem zu lernen, wenn sie weg war. Ich brauchte mir zwar nichts vorzumachen und wusste, dass ich Dylan niemals gesagt hätte, dass ich mich dummerweise in Faye verliebt hatte, wenn ich nicht wieder so betrunken dabei gewesen wäre, aber gut – irgendwann schaffte ich sowas ja vielleicht auch mal nüchtern. Immerhin hatte er mich – im Gegensatz zu Faye damals – nicht zum Sprechen überreden müssen. Die kleinen Schritte waren’s, oder?
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Ryatt äussere sich relativ optimistisch auf ihr Geständnis betreffend Autofahrt. Ob er das nur sagte, um sie zu beruhigen und ihr Mut in einer Sache einzureden, die sie jetzt sowieso durchziehen musste, oder ob er das tatsächlich nicht so kritisch sah wie sie, war hier vorerst sekundär. Sie nickte auf seine Worte, konnte das Lächeln aber noch nicht ganz so unbeschwert erwidern, während sie gerade erst mit Anfahren beschäftigt war und das beklemmende Gefühl in der Brust viel zu deutlich wahrnahm. "Danke... ich hoffe eigentlich, dass es mit der Zeit besser wird", meinte sie im Versuch, den vorsichtigen Optimismus zu teilen. Es war auf jeden Fall einfacher, seinen folgenden Erklärungen zu lauschen und sich davon ablenken zu lassen, als weiter über die erschwerten Umstände des Autofahrens nachzudenken. Ganz abgesehen davon, dass letzteres ihr auch nichts brachte und ihr nicht dabei geholfen hätte, den Wagen sicherer in den Strassenverkehr einzufädeln. "Keine Angst, ich erzähls nicht weiter", beruhigte sie Ryatt nun ihrerseits sarkastisch. Sie nahm nicht an, dass Aryana und Mitch das besonders spannend finden würden, da die beiden sich grundsätzlich nur so wenig wie möglich und so viel wie nötig mit ihrer Arbeit befassen wollten, ausserdem auch keiner Spezialeinheit angehörten, soweit sie informiert war. Und jemand anderes konnte mit dem Wissen sowieso nichts anfangen. Sie selbst interessierte sich auch nur insofern dafür, als dass sie gerne an Ryatts Leben teilhatte und von daher wissen wollte, womit er sich denn in Portland beschäftigte. "Klingt mal wieder nach dem Business von reichen Leuten, die sich mit ausreichend Geld alles kaufen können... ausser Küste in Washington", fällte sie ihr knappes Urteil. "Aber ich bin froh, dass du mitkommst. Nicht nur, weil ich den ersten Teil der Fahrt... eher ungern alleine gemacht hätte. Auch einfach, weil ichs schade gefunden hätte, den Abschied noch irgendwo reinzudrücken, wo kein Platz dafür gewesen wäre", meinte sie ehrlich, warf ihm einen kurzen Blick mit dem nächsten schwachen Lächeln zu, bevor ihre Aufmerksamkeit wieder der Strasse galt, die sie gerade dringend forderte. Ein Unfall wäre das Allerletzte, was sie jetzt brauchte, wo sie endlich bereit für die Abreise war. Ryatt nahm seinen mentalen Ablenkungsauftrag ernst und lenkte das Gespräch wenig später aufs nächste Thema. Dass er die letzten Tage über ähnlich zu kämpfen gehabt hatte wie sie, war wirklich kaum erstaunlich. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie bald genug noch darauf zu sprechen kommen würden und ausserdem gerade noch nicht der richtige Zeitpunkt dazu war. Vielleicht eher erst abends oder in ein paar Stunden, wenn sie nicht mehr hinter dem Steuer sass. Das Fahren brauchte aktuell nämlich zweifellos wesentlich mehr Energie und Konzentration als üblich und wie gesagt, Unfall wäre schlecht. "Das freut mich zu hören. Ich glaube auch, dass das nicht falsch sein kann... Allgemein ist es wohl maximal ein offenes Geheimnis, dass ich für dich hoffe, dass die Zukunft ein paar stabile und unbelastete Freundschaften für dich bereithält", es waren keine Breaking News für Ryatt, dass sie sich um sein Soziales Umfeld sorgte, diesbezüglich Verbesserungspotenzial sah und glaubte, dass er Menschen brauchte, auf die er sich verlassen konnte und umgekehrt. Zwischenmenschliche Beziehungen waren einfach unglaublich wichtig und sie hatte schon das Gefühl, dass das Ryatt im Verlauf des letzten Jahres deutlich bewusster geworden war. Zu Beginn ihrer Freundschaft hatte er immerhin noch sehr überzeugt davon gesprochen, dass er Menschen gerne unangekündigt wieder aus seinem Leben kickte, wenn sie ihn langweilten und er von ihnen hatte, was er zu brauchen glaubte. Sie konnte natürlich nicht in seinen Kopf sehen, hatte aber schon den Eindruck, dass sich diesbezüglich etwas verändert hatte. Wenigstens was sie und die Freundschaft zu ihr anging.
“Ganz bestimmt.”, bestätigte ich Faye unbewusst vor mich hin nickend in ihren Worten. Ich meinte mich daran zu erinnern, ihr schon vor einer ganzen Weile mal gesagt zu haben, dass ich sie als sehr starke Person empfand. Sie würde auch das hier schaffen bemessen an all den Dingen, die sie schon durchgemacht hatte. Eine Autofahrt sah im direkten Vergleich daneben aus wie ein Spaziergang bei angenehmem Frühlingswetter. “Deswegen erzähl ich’s dir ja.”, stellte ich mit einem Seitenblick und leicht hochgezogenen Augenbrauen fest. Manchmal kam es mir so vor, als würde ich der zierlichen Brünetten und ihren engelsgleichen Augen blind vertrauen. Bis mich irgendwas daran erinnerte, dass es eigentlich nicht so war. Ich fragte mich, ob ich überhaupt irgendwann wieder volles Vertrauen fassen konnte. Ohne Hintertürchen, die ich mir auf ewig einen winzigen Spalt breit offenhielt. “Jep… ich schätze, seine größte Sorge ist wirklich, der jährliche Gewinn könnte irgendwann stagnieren.”, sagte ich trocken und schüttelte innerlich den Kopf. Dabei ging er jährlich über weit mehr als eine Leiche und unzählige Staatslinien. Gefühlt kannte Easterlin überhaupt keine Grenzen mehr und wenn er auf eine traf, mutierte er zu einem bockigen Kleinkind, das erst zufrieden war, wenn es dann doch noch bekam, was es haben wollte. Eine seiner wenigen Schwächen, wenn ich so darüber nachdachte – doch das waren Gedanken für einen anderen Tag. “Ich auch. Hätte sich nicht richtig angefühlt…”, stimmte ich etwas leiser zu und ließ den Kopf an die Lehne sinken. Mein Blick lag ein bisschen länger auf Fayes Gesicht, als es umgekehrt der Fall war, aber ich hatte auch keine Straße zu beobachten. Trotzdem rutschten meine Augen ebenfalls dorthin zurück, als ich noch ein paar Worte anhängte: “Schon Wünsche fürs Abendessen?” Wir hatten noch nicht wirklich sowas wie einen spezifischen Plan für unsere Ankunft. Schon allein deswegen nicht, weil wir ja gar nicht wussten, wie lange wir am Ende für die Strecke brauchen würden. Das hing maßgeblich davon ab, wie Faye sich beim Fahren fühlte. Dass wir heute noch irgendwas essen müssen würden, war aber in Stein gemeißelt. Zumindest ich wollte nicht bis morgen hungern und Faye hatte in den letzten Tagen – meiner Einschätzung nach – wahrscheinlich nicht übermäßig viel gegessen. Ob es dann darauf hinauslaufen würde, dass wir uns irgendwo reinsetzten oder doch nur der Lieferservice im Hotel vorbeikam, war mir dabei völlig egal. So oder so würde ich mein Bestes geben, damit die Brünette heute noch einige Bissen runter bekam. "Berechtigterweise. Ist ja nicht so, als wäre ich allein gut klar gekommen.", murmelte ich und zuckte leicht mit den Schultern, bevor ich für einen Moment aus dem Fenster sah. Es war einfach nicht gesund, die ganze Welt alleine bewältigen zu wollen. Das war mir klar geworden, als Fayes Umzug datiert in Stein gemeißelt worden war. Mit ihr ging der einzige Mensch in meinem Leben, den ich seit langer Zeit als erstes wieder ein bisschen in meinen Kopf hatte gucken lassen. In diesen viel zu vollen, viel zu schwer wiegenden Schädel und das kaputte Herz, das unweigerlich damit verbunden war. “Nachdem ich mittlerweile auch weiß, dass ich zwischen Feiertagen und Jahreswechsel komplett von der Arbeit freigestellt bin, hab’ ich mich dazu durchgerungen, einen Flug nach Michigan zu buchen.” Dass ich meinen Eltern einen Besuch abstatten musste, stand schon zu lange auf der To-Do-Liste. Nur einer von gefühlt allen Lebensbereichen, die ich dringend kitten musste. Außerdem wusste ich nicht, ob ich Weihnachten und Silvester hier aushielt, ohne durchzudrehen. Ohne Faye, die ich bis dahin sicher noch nicht viel weniger vermissen würde. Ohne einen zweiten Polaroidstreifen, den ich allzu gerne da fortgesetzt hätte, wo der erste aufgehört hatte. Ohne in der Neujahrsnacht Jemanden bei mir zu haben, der dem Feuerwerk genauso wenig abgewinnen konnte und sich auf meinem Schoß verkrümelte. Da war alles noch so viel okay-er gewesen als jetzt... “Vielleicht ist bis dahin schon genug Schnee gefallen, um zu Snowboarden. Ich hab zwar ungefähr mit 12 oder 13 das letzte Mal auf dem Board gestanden und kanns wahrscheinlich absolut gar nicht mehr, aber dann haben die Leute drumherum wenigstens was zu lachen.”, teilte ich sarkastisch weitere Gedanken zu meinem Heimatbesuch, um die vorherigen zu verdrängen, hatte bis jetzt aber den Blick nicht von den letzten vorbeiziehenden Häusern abgewandt. Kalt genug war es bis dahin sicher, aber das bedeutete nicht zwangsläufig ausreichend Schnee für eine gute Piste. Damit musste ich mich also überraschen lassen, was allerdings die ungefähr allerkleinste Sorge zu meinem Aufenthalt in der Heimat war.
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Sie musste seine positive Einstellung gegenüber dem Fahrthema fast teilen, sonst sollte sie nicht hier im Auto sitzen. Wenn sie nicht daran glauben oder zumindest sehr fest darauf hoffen würde, dass es mit der Zeit besser wurde und sie mit diesem Auto wieder Frieden schliessen konnte, dann wäre es nämlich eher dumm - wenn nicht sogar gefährlich - gewesen, sich trotzdem für diese Reise zu entscheiden. Sie brauchte das Auto nicht nach Kalifornien zu überführen, um es dann da trotzdem zu verkaufen. Gut, dass sie das weiterhin nicht zu tun plante und soweit waren die letzten Minuten schonmal wesentlich aushaltbarer gewesen, als sie befürchtet hatte. Sie fühlte sich nicht unbedingt wohl, hier zu sitzen und die Grundanspannung war nicht zu leugnen. Die Fahrt würde sie wesentlich mehr Energie kosten, als das vor zwei Wochen der Fall gewesen wäre, und ihr Unterbewusstsein war deutlich gestresster. Aber Ryatt und das Gespräch mit ihm hatten die erhoffte Wirkung und sie hatte immerhin nicht akut Angst, schon während der ersten Kilometer in eine Panikattacke oder einen Nervenzusammenbruch zu straucheln. Viel mehr wanderten ihre Augen über die Umgebung, sogen nochmal den Anblick der Stadt auf, die sie hinter sich liess, ohne die Intention, je wieder hier Fuss zu fassen. Das hatte sie die letzten Jahre getan und sie würde nicht sagen, dass der Neustart nach Syrien in den Staaten komplett missglückt war. Aber vieles hätte besser und einfacher laufen können. Vieles hätte nie passieren müssen. Vieles hätte sie besser machen sollen. Hätte sie früher merken und schneller bearbeiten können. Und es war an der Zeit, diesen Teil der Geschichte abzuschliessen und alles, was sie daraus gelernt hatte, im nächsten Abschnitt umzusetzen. Los Angeles sollte nicht mehr Schauplatz für tausend unbeholfene Versuche werden, sondern der Ort, an dem Victor und sie endlich ankamen und ihr gemeinsames Glück schufen. All das, während Ryatt hier blieb und sich mit dem gleichen überreichen Chef herumschlug, wie Mitch und Aryana. Nur in einer sehr anderen Position. "Kommst du gut mit ihm zurecht?", fragte Faye, ihrem weiterführenden Gedankengang folgend, in Bezug auf Easterlin. Bisher hatte sie es eher vermieden, zu viel mit Ryatt über die Arbeit zu sprechen. Sie wusste ja, dass da alles sehr geheim war und sie sowieso schon besser informiert war, als Easterlin offiziell erlaubte. Aber nicht von Ryatt und es interessierte sie schon, ob er genauso mit dem System, nach dem diese Goldgrube funktionierte, zu kämpfen hatte oder nicht. Soweit ihr bekannt, fand er seinen nicht mehr ganz so neuen Job relativ in Ordnung, aber wie gesagt, sie wusste wenig darüber. Ähnlich unklar waren ihre Essenswünsche für heute Abend, nach denen ihr Beifahrer sich wenig später erkundigte. Faye zog erneut die Schultern hoch und gab ein ratloses Geräusch von sich. "Nein, hab' mir noch keine Gedanken gemacht. Falls du einen Wunsch hast, kannst dus also gerne sagen und sonst haben wir noch etwas Zeit zum überlegen und Hunger kriegen", spielte sie den Ball zurück, da sie sich ziemlich sicher mit fast allem anfreunden könnte. Vielleicht keinen billigen Fast Food, aber sonst war sie offen. Die Sache mit dem Appetit war eine andere Frage, da dieser bei ihr bekanntlich sehr stark von ihrer psychischen Verfassung abhängig war, aber das waren keine Neuigkeiten. Was sie allerdings gerade wesentlich spannender als Essen fand, war die fast beiläufige Info, dass er sich endlich bereit dazu fühlte, seine Eltern zu besuchen. Darauf hoffte sie gefühlt schon seit dem Tag, an dem sie ihn kennengelernt hatte, und der positiv überraschte Blick, der folglich in seine Richtung schwenkte, machte kein Geheimnis daraus. "Das freut mich echt zu hören. Ich hoffe fest, dass es ein schönes Wiedersehen gibt", meinte sie, als ihr Blick zurück auf der Strasse lag. "Hast du deine Eltern vorgewarnt oder gibt das eine Überraschung?", sie würde eher nicht mit seinen Eltern in Kontakt treten, um irgendwas vorweg zu nehmen. Aber vorangekündigte Besuche waren ein bisschen verpflichtender. Überraschungsbesuche aus der Kategorie verschollenes Kind taucht an Weihnachten vor der Tür auf hatten dafür einen ganz eigenen Reiz. Egal wofür er sich entschied oder bereits entschieden hatte, sie hoffte einfach sehr fest für ihn, dass es gut wurde und er die Beziehung zu seinen Eltern vielleicht wieder etwas stärken konnte. Und auch sonst ein bisschen Spass in der Heimat geniessen konnte, zum Beispiel im Schnee. "Oh, das klingt lustig! Da könnte ich dir fast Gesellschaft leisten, mein letztes Mal auf dem Brett ist zwar nicht ganz so lange her, aber fünf oder sechs Jahre dürfen es trotzdem sein... Ich könnte dir vielleicht zwei, drei Mal beim Aufstehen helfen", meinte sie gütig lächelnd. Obwohl sie beide wussten, dass es dazu zeitnah nicht kommen würde, war das eine Sache, über die sich sehr unbeschwert nachdenken liess.
Fayes Frage war gar nicht so leicht zu beantworten. Ich machte einen etwas längeren, tieferen Atemzug, bevor ich mit den Schultern zuckte und langsam zu einer Antwort ansetzte: “Schon… aber ich denke, das liegt hauptsächlich daran, dass ich ein Händchen dafür entwickelt habe, mit solchen Menschen zu kommunizieren… und sie bis zu einem gewissen Grad zu manipulieren. Ich hatte auch gleich von vornherein Pluspunkte bei ihm, wegen dem fast perfekten Lebenslauf, den er so noch nie auf seinem Schreibtisch liegen hatte.”, meinte ich nachdenklich. Inzwischen hatte ich meinen festen Aufgabenbereich und den verließ ich nur selten, seit sich alles perfekt eingependelt hatte und ich overall alles gesehen hatte, was ich für das große Ganze sehen musste. Theoretisch konnte ich aber für ungefähr jeden anderen hochrangigen Kollegen in meinem Bereich einspringen, sollte er verhindert sein und hatte mir zudem noch keinen einzigen Fehltritt geleistet. Ich war für Easterlin derselbe Musterschüler, den ich schon bis zu meinem jähen Zusammenbruch bei der Army markiert hatte. Da war es für ihn schwer, mich nicht zu mögen – sei’s auch nur auf die Arbeit und nicht aufs Menschliche bezogen. “Es hilft mir sicher auch bei der Arbeit, dass ich im Gegensatz zu Aryana und Mitch nicht mit dem fiesesten Knebelvertrag überhaupt zu einem ganzen Jahrzehnt Arbeit gezwungen werde.”, hängte ich trocken an. Ich konnte theoretisch jederzeit kündigen, wenn auch nicht mit sofortiger Wirkung. Ein paar Monate waren, gerade in meiner Position, sehr viel leichter auszuhalten als 12 Jahre auf den Schlachtfeldern dieses Planeten. Es war für einen Moment still, ehe ich beschloss, noch etwas klarzustellen, damit hier keine Missverständnisse aufkamen: “Das heißt also nicht, dass ich ihn für einen netten Menschen halte oder gutheiße, womit er sein Geld verdient und was er dafür alles in Kauf nimmt. Ich sehe das Ganze ja schwarzweiß in Zahlen auf Papier und zusätzlich an den Gesichtern der Soldaten.” Langsam löste ich meinen Blick von der Umgebung und ließ den Kopf in Fayes Richtung kippen. “Aber bevor ich nicht weiß, was ich stattdessen machen möchte, wäre es dumm, den Job hinzuschmeißen. Dann häng’ ich wieder in der Luft… und außerdem will ich Aryana und Mitch in Easterlins Größenwahnsinn nicht allein lassen. Jetzt noch weniger als vorher…” Je länger ich sprach, desto leiser wurde ich. Ich hatte die beiden nicht mehr gesehen, seit ich ihnen im Flur der Wohnung begegnet war. Deshalb konnte ich mir bis dato lediglich ausmalen, wie es ihnen gehen musste, aber da ging ich lieber vom schlimmsten Fall aus, als mir irgendetwas daran schönzureden. Das alles war – mindestens zu gewissen Teilen – meine Schuld und ich hatte versprochen, das Paar so gut es ging aus den übelsten Kugelhageln herauszuhalten. Auch wenn ich bei diesem Angebot nicht bedacht hatte, dass sich das noch einige Jahre hinziehen könnte – ich war ihnen inzwischen ohnehin mehr als nur das schuldig. Unwissend, wie ich diese Schuld angemessen begleichen konnte. “Weil Churros kein besonders gesundes Abendessen sind, muss ich mir dazu wohl auch noch Gedanken machen.”, stellte ich bezüglich des Essens sarkastisch fest, als mein Blick zurück durch die Frontscheibe fiel. Mein süßer Zahn fühlte sich natürlich immer dann ganz besonders angesprochen, wenn mich psychisch etwas umtrieb. Es war mir nie leicht gefallen, mit Faye über meine familiären Probleme zu sprechen, aber das schien mir jetzt angesichts des schwer verdaulichen Arbeitsthemas doch leichter geworden zu sein. “Danke… ich habs ihnen schon erzählt, ja. Sie hätten sich über die Überraschung wahrscheinlich genauso gefreut, aber so weiß wenigstens auch der Rest der Familie im Voraus darüber Bescheid, dass das ewige Problemkind nach Hause kommt.”, seufzte ich. Vielleicht war es dumm, ausgerechnet an Weihnachten in die Heimat zu fliegen. Denn nur weil ich plötzlich auf der Matte stand, wurde natürlich nicht postwendend alles abgesagt, was bis dahin schon geplant war. Das war, wie jedes Jahr, mindestens ein sehr großes Familienessen, auf das ich wenig Lust hatte. Aber es wurde niemals leichter, wenn man alles immer nur vor sich her schob. Viel schöner wäre es trotzdem, mit Faye über eine der ortsansässigen Pisten zu scheppern. Deswegen hoben sich meine Lippen auch zu einem Lächeln, als sie darüber sprach, obwohl sie mir deutlich unwahrscheinlicher als fast Gesellschaft dabei leisten würde. Die Vorstellung war trotzdem schön. “Deine helfende Hand wär mir lieber, als mich unter Umständen mit dem Bein abzumühen, wenn’s blöd läuft… aber da hoff' ich jetzt einfach mal das Beste. Abgesehen davon würde die Abfahrt wahrscheinlich in einem ähnlich ehrgeizigen Zweikampf wie im Hochseilgarten enden.”, stellte ich allein vom Gedanken daran erheitert fest. Mein Ehrgeiz schlief bekanntlich nie. Das hatte Faye in ihrer danach sehr mehligen Küche mit fliegenden Kartoffeln lernen müssen. Für mich sprach nie etwas gegen freundschaftlichen Wettbewerb. Auch dann nicht, wenn meine Chancen auf den Sieg dabei unter fünfzig Prozent lagen.
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