Dass Faye um den Kontakt zu dem Unruhestifter vorerst nicht herum kam, war mir leider vollauf bewusst. Das war inzwischen der einzige Grund dafür, dass ich sie nicht darum bat, ihn mindestens vorübergehend auszuradieren. Wenigstens so lange, bis wir beide wieder fest im Leben standen. Eine neue, gute und sichere Basis für unsere gemeinsame Zukunft gelegt hatten. In Ruhe, ohne irgendwelche ungewollten spätabendlichen Besuche. Es gab aber diesen einen, alle anderen Argumente schlagenden Grund dafür, den Cut auf den Zeitpunkt ihres finalen Umzugs zu verschieben. "Nein, das macht eher keinen Sinn.", bestätigte ich Aryana seufzend in ihrer Annahme. Wäre schön, wenn es anders wäre, aber noch vor dem Umzug Distanz zwischen die beiden zu bringen, war schlichtweg ein Unding. "Wahrscheinlich ist er zu ihr sowieso am ehrlichsten, was in dieser Sache nur von Vorteil sein kann..", hängte ich noch ein paar Worte an, den Blick nachdenklich auf die Bierflasche gerichtet. Ryatt hatte schon früher, als die ganze Sache damals angefangen hatte, hin und wieder mit ziemlichen Halbwahrheiten geglänzt. Ich wusste nicht, inwiefern er sich jetzt anders verhielt oder ob das noch zum festen Repertoire für seine Mitmenschen gehörte. Ein Grund mehr dafür, warum er am besten mit Faye reden sollte und einer mehr dafür, dass ich mir schwer damit tat, diesem Typen zu vertrauen. Erst als Aryana mehr auf Faye selbst zu sprechen kam, hob ich vorübergehend den Blick in ihr Gesicht an. Ich glaubte nicht, dass die zierliche Brünette jemals wieder von sich aus einen Schritt in diese Richtung machen würde. Sie hatte sich schon mehr als einmal mit dem für sie schrecklichen Gefühl herumschlagen müssen, von einem anderen Mann angefasst worden zu sein. Sie würde ihr Selbstwertgefühl und unsere Beziehung nie wieder freiwillig auf diese Art sabotieren. Aber was die andere beteiligte Person anging… "Tja, Ryatt ist leider die Dreistigkeit in Person… und Faye manchmal ein bisschen zu naiv, um gewisse Situationen frühzeitig richtig zu deuten oder einfach ganz zu vermeiden, fürchte ich.", seufzte ich. Es war eigentlich eine Eigenschaft, die ich an Faye immer gemocht hatte - dass sie das Gute in Menschen sah oder wenigstens zu sehen versuchte, während ich schon mit Schwarzmalen beschäftigt war. Manchmal war das jedoch keine besonders hilfreiche Einstellung zum Leben. Es gab mehr als genug Menschen auf diesem Globus, die primär immer ihre eigenen Ziele verfolgten. Ich hörte Aryanas weiterer Ausführung aufmerksam zu. Und ja, wenn sie das alles so aufzählte, dann klang das sehr nach der hoffnungslos romantischen Faye, die ich schon vor Jahren kennengelernt und in die ich mich unverhältnismäßig schnell verliebt hatte. Wahrscheinlich ab dem ersten Tag unserer Bekanntschaft, wie die zierliche Brünette es erst vor Kurzem gesagt hatte. “Ja, ich… ich weiß.”, reagierte ich nach ein paar stummen Denkersekunden anfangs nur sehr knapp auf das eigentlich schöne Bild, das Aryana vor meinem inneren Auge zu malen versuchte. Es machte mir nochmal klar, wie dumm meine Eifersucht eigentlich war, radierte sie aber trotzdem nicht einfach so in Windeseile aus. Das war im Grunde alles, was ich wollte - dass Faye mich noch immer so sehr wollte, wie ich sie. Das hatten wir uns in den letzten Wochen eigentlich auch mehr als oft genug gegenseitig bewiesen. Nur war der kürzliche Tapetenwechsel leider alles andere als eine leicht verdauliche Wendung der Dinge. “Ich werd’ wohl einfach auf den Tag warten müssen, an dem sie in Los Angeles aus dem Flieger steigt.”, meinte ich mit einem schwachen Kopfschütteln und Blick auf das Bier in meiner Hand. “Und bis dahin hoffe ich, dass mich Wohnungssuche und Co. ausreichend ablenken. Vielleicht werden die nächsten Wochen sowieso so stressig, dass ich nicht mal Zeit dafür haben werde, mir um Ryatts Spielchen Sorgen zu machen.”, versuchte ich, mir die Sache mit einer guten Portion Ironie irgendwie schön zu reden. "Wie ist er auf der Arbeit eigentlich so..?", leitete ich einen für mich durchaus interessanten Themenwechsel ein, weil ich mit der Eifersucht heute sicher genauso wenig auf einen grünen Zweig kam wie gestern.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Es war echt unschön zu sehen, wie sehr Victor mit dieser Sache - beziehungsweise mit dieser Person - haderte. Aryana konnte zwar durchaus nachvollziehen, dass er nicht gut auf Ryatt zu sprechen war, aber dass zu allem Rest auch noch die Eifersucht kommen musste, machte die Situation für Victor leider keineswegs angenehmer. Sie hatte keine Ahnung, wo sie alle, besonders aber natürlich Victor und Faye, wären, wenn Ryatt nie auf die Bildfläche getreten wäre. Der Mehrwert seines Auftritts hatte sie jedoch schon ein paar Mal zu oft in Frage gestellt. "Ich kann dir abschliessend dazu wohl nicht mehr versprechen, als dass ich auch in dieser Hinsicht ein Auge auf meine Schwester - und Ryatt, wo nötig - haben werde... und wenn dir irgendwann noch was einfallen sollte, das die ganze Angelegenheit leichter für dich machen könnte, dann lass es mich wissen", war Aryana dann so langsam am Ende mit ihrem Latein und auch gewillt, auf Victors Themenwechsel einzugehen. Es gab scheinbar zurzeit keine Worte in ihrem Kopf, die ihn effektiv von seinen Emotionen wegtragen könnten und länger als nötig bei der Eifersucht zu verharren, brachte ihn auch nicht weiter. Immerhin stand darauf ein Ablaufdatum, an das er sich klammern konnte, wenn er anders nicht davon wegkam. Sobald Faye sicher umgesiedelt war, konnten sie und Victor Ryatt hinter sich lassen, zumindest physisch. Bei Mitch und Aryana sah das etwas anders aus, arbeitsbedingt. Genau darauf kam Victor nun auch zu sprechen und die Brünette zuckte fast unmittelbar nach seiner Frage mit den Schultern. "Er ist ziemlich hoch eingestiegen... Wohl aufgrund seiner Vorgeschichte, aber ich hab' mich ehrlich gesagt nicht gross drum getan, mehr darüber zu erfahren, weil er mir wenig Grund für ehrliches Interesse geboten hat", begann sie, liess dieser sarkastischen Teilantwort ein angedeutetes Augenrollen folgen. "Er weiss auf jeden Fall, wie er an entscheidenden Stellen schleimen muss, um gut dazustehen und in Easterlins Gunst zu stehen, soviel kann ich beurteilen. Aber abgesehen davon, habe ich selten direkt mit ihm zu tun. Er ist im Bürokomplex und mehr im Hintergrund tätig, plant die Einsätze und sowas. Ich glaube, ihm gefällt der Inhalt seiner Arbeit... Wobei ich vor kurzem das erste Mal von ihm selbst gehört habe, wie er sich kritisch über Easterlin geäussert hat... Hat wohl selbst gemerkt, dass da nicht alles Gold ist, was glänzt, der Arme. Erfahren hab ich das natürlich in einem Gespräch mit uns, in dem es darum ging, dass er Frieden schliessen wollte, indem er uns im Gegenzug weniger gefährlichen Missionen zuteilt. Was an und für sich wie ein guter Deal klingt, zu dem wir selbstverständlich nicht Nein sagen konnten", schmückte Aryana ihre nicht ganz abschliessende Antwort noch etwas aus, weil sie sonst nicht viel zu Ryatt auf der Arbeit zu sagen hatte. Er war halt einfach da - aber meist nicht da wo sie.
Vielleicht sollte ich das nicht gut finden. Die Überwachung in Hinblick auf Faye sollte eigentlich Geschichte sein. In jeder nur möglichen Hinsicht. Gerade auch deshalb, weil ich ganz genau wusste, dass sie sich in vielerlei Hinsicht nicht mehr unter die Arme greifen lassen oder eben gar akribisch überwacht werden wollte. Trotzdem war es allzu verlockend, Aryana zu sagen, dass sie die Augen auch in diesem Belangen offen halten sollte. Es kostete mich einige stumme Sekunden der Selbstüberwindung, bevor ich zögerlich den Kopf schüttelte. "Nein, das… das sollte nicht nötig sein. Sie sind alt genug - beide.", brachte ich die Worte leicht stockend über die Lippen, bevor ich langsam wieder mit den Augen nach Aryanas Blick suchte. Faye würde immer ihre kleine Schwester bleiben und ich war mir ziemlich sicher, dass Aryana sich - ähnlich wie ich - für immer ein bisschen dazu verleitet fühlen würde, ein bis viel lieber gleich zwei Hände über sie zu halten. Doch Faye musste auf sich selbst aufpassen können und hatte mir in den letzten paar Tagen ungefähr hundert Mal versichern müssen, dass sie das konnte. Dazu gehörte auch, ihre Beziehung zu mir zu schützen, wenn ich ihr noch immer so heilig war, wie sie es sagte. Eifersucht hin oder her... ich wollte nicht zu einem dieser gestörten Kontrollfreaks mutieren. "Aber ja, falls mir noch etwas einfällt, dann sag ich dir Bescheid.", stimmte ich diesem Part ihres Angebots hingegen allzu gerne zu. Womöglich fiel mir vor meiner Abreise nichts mehr ein, weil ich schlichtweg völlig durch den Wind war. Aber dieses Angebot würde nicht mit meinem Flug nach Los Angeles erlischen und es könnte sein, dass der zwangsweise wieder ziemlich vollgepackte Alltag dort mich noch über ein oder zwei Dinge stolpern ließ, die ich Aryana dann zukommen lassen würde. Bezüglich Ryatts Job unter Easterlins Fuchtel hatte die ältere Cooper nicht übermäßig viel zu erzählen. Das, was sie sagte, klang aber definitiv nach Ryatt. Was sollte er aber auch anderes machen, als selbst im Hintergrund zu bleiben und andere rauszuschicken - mit seinem Gehinke käme er auf dem Schlachtfeld wohl nicht so weit. "Das klingt nach Ryatt, ja.", war meine erste wörtliche, trockene Reaktion darauf. Er wusste sich schließlich auch sehr erfolgreich bei Faye einzuschleimen, immer dann, wenn er es für nötig hielt… aber vielleicht sah ich das alles inzwischen viel zu schwarzweiß, um noch irgendwas rational beurteilen zu können. Es war auch nicht fair, ihm das alles nicht ins Gesicht zu sagen. Immerhin hatte er direkte Konfrontation mit mir neulich abends sehr gezielt gemieden und offenbar war er auch mit Aryana und Mitch auf dem Friedenspfad. Das ließ mir, als Aryana es erwähnte, etwas überrascht die Augenbrauen nach oben zucken. "Wenn er das wirklich durchzieht, sind das ausnahmsweise mal gute Nachrichten… und das beruhigt Faye bestimmt auch ein bisschen. Sie fühlt sich eher nicht so gut damit, euch beide hier zu lassen… ich mich natürlich auch nicht, erst recht aufgrund der neuen beschissenen Umstände, aber meine Schwester sitzt glücklicherweise sicher in ihren Vorlesungen.", sprach ich nachdenklich murmelnd meinen fehlenden Verwandtschaftsgrad zu dem Paar an. Faye ließ hier ihre Schwester zurück, ich nicht. Ein weiterer von vielen Punkten, der die Abreise für sie schwieriger gestaltete, als sie es für mich war. "Ihr habt nach wie vor keine Möglichkeit, da irgendwie rauszukommen, oder..?", hakte ich mit wenig Optimismus nach. Aryana und Mitch hatten von Anfang an gesagt, dass sie in dieser Armee keinen Tag länger als nötig dienen wollten. Seitdem war nun schon mehr als ein Jahr vergangen und sie mussten immer noch regelmäßig ins Ausland fliegen, um irgendwelche rechtlichen Grauzone für diesen reichen Idioten betreten. Wenn Ryatt Wort hielt, dann war aber immerhin schonmal die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Ende dabei draufgingen, ein bisschen geringer...
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Das war durchaus ein guter Punkt, den sie vielleicht auch mal bedenken sollte. Eine ziemlich erwachsene Aussage seitens Victor, gerade wo relativ offensichtlich war, dass er eigentlich lieber was anderes gesagt hätte. Aryanas Lippen zeigten ein kleines Lächeln, als sie nickte und ihm damit deutlich machte, dass sie verstanden hatte. "Das ist wahrscheinlich ein berechtigtes Argument", schob sie etwas sarkastisch nach, weil Victor bestimmt am allerbesten nachvollziehen konnte, wie leicht sich diese Tatsache ignorieren liess. Die Brünette nickte nochmal auf Victors folgende Aussage, womit ihr Hilfeangebot und damit auch die Sache mit Faye erstmal abgeschlossen waren. Mehr liess sich dazu jetzt einfach noch nicht sagen und für den Rest mussten sie leider abwarten und hoffen, so doof sie das auch fanden. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte Victor ebenfalls nicht unbedingt damit gerechnet, dass Ryatt so viel an der Friedensschliessung mit ihr und Mitch lag. Es stand nunmal im starken Kontrast zu seiner Art, sie zu bedrohen, um bei Easterlin anfangen zu können. Aber sie teilte Victors Meinung dazu durchaus: Wenn es klappte, war das eine gute Sache und positive Neuigkeiten. Und wenn nicht, dann ging ihr Leben eben weiter wie bis Anhin. Sie würde sich schon irgendwie hüten, trotz teilweise widrigen Umständen nicht zu sterben. Das tat sie bekanntlich erfolgreich seit fast 29 Jahren und würde sie auch noch für mindestens vier Jahre und siebeneinhalb Monate schaffen. Das war die Zeit, die ihnen bei Easterlin blieb, wenn sie nicht endlich eine bessere Lösung fanden. "Nein... die Lage sieht leider weiterhin ziemlich nüchtern aus und wir kommen scheinbar einfach auf keine Idee, um unserer Karriere ein frühzeitiges Ende zu setzen...", erklärte sie mit einem Seufzen die unspektakuläre Faktenlage. "Uns kommen nur immer wieder die gleichen Einfälle... und die sind halt leider schlecht. Durch die Strassen rennen und ein bisschen Leute töten, auf die man keine Lust mehr hat, funktioniert halt eben nicht - wie wir heute schon eimal festgestellt haben", fügte sie sarkastisch, aber doch mit einem gewissen Bedauern hinzu. Ihr war natürlich bewusst, dass eine Gesellschaft so nicht funktionieren würde. Sie wollte auch nicht wirklich, dass alle mit einer Knarre für ihre persönliche Gerechtigkeit sorgten. Aber es wäre halt in manchen Fällen sehr viel leichter - jedenfalls vorübergehend. Die justizbezogenen Konsequenzen waren dann leider nicht mehr ganz so tragbar wie der Verlust dieser Menschen, weshalb sie besser nicht auf Mord zurückgriffen. Hatten sie schon nächtelang durchgekaut. Es gab noch keine schnelle Lösung und Faye musste ohne sie umziehen. Vielleicht konnten sie ja irgendwann nachziehen... Wenn sie das beide wollten und wenn diese Scheisse durchgekaut war. Dass sie Seattle dann ebenfalls den Rücken kehren würden, verstand sich wohl von selbst - das war nie eine definitive Niederlassung gewesen und daran hatte sich nichts geändert. "Und wie läufts bei dir so? Jetzt nur auf die Arbeit bezogen und den Rest ignoriert... So wie ich das bisher herausgehört habe, hat dir der Job in Vegas ja ziemlich gut gefallen. Haben sich deine Ängste von früher ganz aufgelöst?", stellte sie eine oder zwei Gegenfragen. Die zweite war vor allem auf die Messersache bezogen, die ihm in der Ausbildung bekanntlich ziemliche Kopfschmerzen bereitet hatte. Sie wusste, dass er viel daran gearbeitet hatte, aber das resultierte nicht zwingend im Ende solcher Ängste.
"Berechtigt und doch allzu leicht auszublenden.", stimmte ich mit trockenem Sarkasmus ein. Faye war und blieb einfach für immer das kleine Engelchen, das für mich über allem anderen stand. Das ich am liebsten um jeden Preis davor bewahren wollte, auch nur eine einzige strahlende Feder mehr verlieren zu müssen. Doch das war nicht nur meine - oder Aryanas - Angelegenheit, sondern vor allem Fayes. Ihr diesbezüglich einfach zu vertrauen, ganz gleich ob in Hinblick auf Ryatt oder ganz generell auf das Leben bezogen, fiel mir nach wie vor nicht leicht. Das würde ich mit der Zeit noch verfestigen müssen. Bezüglich des Verbleibs in Easterlins Armee schien das Paar leider noch keine Fortschritte gemacht zu haben. Obwohl das keineswegs überraschend kam, weil sich reiche Leute - wie ich jetzt aus eigener Quelle ganz gut wusste - meist nur schwer austricksen ließen, hätte ich mir eine andere Antwort gewünscht. Dass es mal für uns alle gemeinsam bergauf ging, schien für das Universum irgendwie blanke Utopie zu sein. “Ich fürchte, reiche Menschen lassen sich einfach nicht gerne über den Tisch ziehen.”, stellte ich mit einem nicht minder bedauernden, tiefen Atemzug fest. Ryatt hatte vorhin ebenfalls indirekt über etwas zu gute Sicherheitsvorkehrungen geklagt. Wahrscheinlich waren es ziemlich genau die, denen all seine semi-guten Ideen am Ende zum Opfer fielen. Oder eben die vin ihm genannte Tatsache, dass er irgendwelche Haken nicht alleine umgehen konnte, aus welchen Gründen auch immer. Moment mal... “Ryatt hatte ursprünglich wohl vor, Easterlin zu erpressen… oder zumindest war das eines von seinen Hirngespinsten für die Geldbeschaffung. Er hat ja scheinbar Zugang zu einigen wichtigen Unterlagen in seiner Position und du kannst dir wahrscheinlich noch sehr viel besser vorstellen als ich, was da alles im Keller liegt. Nur kommt er da alleine wohl nicht weiter.”, streute ich absolut bewusst ein paar Brotkrumen in dieser Angelegenheit, die ich vielleicht besser für mich behalten hätte. Vielleicht tat ich das aus reiner Herzensgüte, weil ich am liebsten sofort den Tag erleben würde, an dem Aryana und Mitchell diese mehr als lästigen Ketten sprengen konnten. Vielleicht tat ich es aber auch, um Ryatt eins reinzudrücken, weil er es wahrscheinlich nicht so gerne sehen würde, wenn ihm untergebene Soldaten von diesen höchstens halbfertigen Plänen wussten. Hoppla. Ich für meinen Teil konnte mich aktuell wohl schlechter auf meine eigentlich lieb gewonnene Arbeit konzentrieren, als seit einer gefühlten Ewigkeit. “Ja, das stimmt. Mir gefällt die Arbeit gut, auch wenn sie manchmal mental ein bisschen auslaugend ist. Ich mach’s gerne… und das Trauma von damals hab ich mittlerweile so gut es geht verarbeitet, denke ich. Es gab da mal einen Vorfall, noch vor Vegas in einem anderen Job. In der heiklen Situation hab ich das Messer als solches gar nicht so wahrgenommen und nicht gezögert, einzugreifen. Das hat mir gezeigt, dass ich damit umgehen kann, wenn es drauf ankommt.” Ich zuckte mit den Schultern und lächelte schmal. Nur eines von vielen Dingen, die ich im vergangenen Jahr gelernt hatte. “Ganz gut bezahlt ist’s auch, weshalb ich die Selbstständigkeit guten Gewissens noch eineinhalb Jahre aufschieben kann. Braucht sowieso alles noch etwas Planung… bis dahin sind wir dann auf jeden Fall auch restlos in L.A. angekommen und ich kann mich richtig darauf konzentrieren.” (Ich glaub zwar du hattest in dem Post damals nur eine Frist für Seattle erwähnt, aber ich denk mal das ist auch für alle anderen Standorte sinnvoll. So wegen langfristiger Personalplanung etc. xD)
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Das musste er leider nicht ihr erklären, weil sie sehr gut wusste, wie viel leichter es war, selbst für ihre Schwester zu sorgen und auf sie aufzupassen, als darauf zu vertrauen, dass Faye alleine klar kam. Damit sei natürlich nicht gesagt, dass Aryana besonders geschickt war, wenns ums Aufpassen ging - die Vergangenheit sprach eher fürs Gegenteil. Aber sie war bekanntlich ein kleiner Kontrollfreak, hatte gerne selbst die Fäden in der Hand und tat sich schwer damit, anderen zu vertrauen. Also war diese Tatsache wohl nicht ganz so überraschend. Ungefähr ähnlich überraschend war auch, dass Easterlin kein einfaches Schlupfloch in seinen Verträgen offen liess, welches sie mittlerweile hätten nutzen können, um seiner Scheiss-Armee zu entkommen. Der reiche Sack war leider nicht erst seit gestern im Geschäft, wusste bestens, wie man selbst unwillige Soldaten tüchtig machte und scheute sich nicht davor, seine Vorstellungen und Pläne auch mal zwanghaft durchzuziehen. Darüber hinaus sass er schlicht am längeren Hebel, hatte ihr Schicksal viel zu stark unter Kontrolle, als dass Aryana und Mitch sich einen Fehler erlauben könnten. Also sassen sie eben noch bei ihm fest, spielten mehr oder weniger nach seinen Regeln und schwemmten brav immer mehr Kohle in seine längst untragbar fetten Taschen. Nun wanderten zur Abwechslung aber Aryanas Augenbrauen aufwärts, als Victor Ryatts vermeintlichen Plan offenlegte. Eine Erpressung? War natürlich an seiner Stelle nicht mehr ganz so unmöglich, mit den Zugängen, die er besass. Trotzdem sehr riskant und potenziell zum Scheitern verurteilt... Oder nicht? War das realistisch? Eventuell eine Möglichkeit..? Aryanas Reaktion beschränkte sich auf ein langgezogenes "Hmmm...", weil sie aktuell noch nicht wusste, wie sie mit dieser Information umgehen, beziehungsweise was sie damit anfangen sollte. Wohl erstmal eine Menge drüber nachdenken und eventuell ein bisschen mit Mitch reden. Victor war hier und jetzt nicht der richtige Gesprächspartner für Fluchtpläne ihrerseits, er hatte definitiv genügend andere Sorgen und Probleme, musste sich echt nicht auch noch darüber den Kopf zerbrechen. Scheinbar gehörte seine Jobsituation jedoch zu einem der wenigen Dinge, die gerade doch ganz gut liefen - mehr oder weniger nach Plan, wenn man davon absah, dass er Hals über Kopf nach Kalifornien fliegen und sich ein Leben aufbauen musste, ohne schon wirklich bereit dafür gewesen zu sein. Immerhin kannte er seinen Arbeitgeber bereits, wusste, wie das, was ihn arbeitstechnisch erwartete, ungefähr aussehen würde und dass er das auch mochte, sich darauf freuen konnte. "Das freut mich zu hören. Klingt wirklich so, als hättest du eine sehr gute Ausgangslage für eine bessere Zukunft... und das ist wirklich schön. Endlich.", tat sie ihre offene Zufriedenheit diesbezüglich kund, lächelte Victor ehrlich an. Er hatte ebenfalls lange genug gekämpft seit Syrien, um sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren und sinnvoll und zukunftsorientiert zu arbeiten. Scheinbar auch langfristig, so wie er von seiner Selbstständigkeit redete. "Das ist gut und ja, ich bin auch zuversichtlich, dass das gutgehen wird mit euch beiden in L.A. Vielleicht ziehen Mitch und ich ja irgendwann nach... Aber dazu müssen wir nicht nur erstmal diesem Goldhasen entkommen, sondern auch irgendwas finden, was wir mit unserer Zukunft anfangen möchten... In dieser Hinsicht ist die Anstellung bei Easterlin nämlich ganz praktisch: Sie hat uns die Jobsuche und Überlegungen bezüglich Weiterbildung recht erfolgreich abgenommen", erzählte sie, wieder mit einer Prise Sarkasmus. Sie fand die Vorstellung, ein geregeltes Leben zu leben ohne Easterlin ja schon verlockend. Aber sie konnte sich noch immer gut daran erinnern, wie sie mit Mitch über mögliche Zukunftsinteressen geredet hatte, vor langer langer Zeit. Da war nicht viel gekommen, womit sich Geld verdienen oder eine Anstellung finden liess. Also ja, könnte dann spannend werden, irgendwann, wenn sie das nächste Mal vermeintlich frei waren.
War gut möglich, dass ich es vielleicht nicht hätte ausplaudern sollen. Schon nur deshalb, weil ein dermaßen riskanter und bis dato nur sehr wackelig stehender Plan - wenn mans denn überhaupt so nennen konnte - auch für Aryana und Mitch sehr gefährlich werden könnte. Doch auch an dieser Stelle galt, dass die beiden alt genug waren, um das Risiko selbst für sich abzuwägen und ich traute ihnen eine ganze Menge zu. Nicht nur Gutes vielleicht, aber das war für mich längst schwer in Ordnung. Es wäre schön, wenn einem die Gesellschaft die Möglichkeit geben würde, nur Liebe und Frieden in die Welt hinaus zu tragen. War aber nicht so und manchmal musste halt zurückgetreten werden von Leuten, die sich dazu fähig sahen. Ich war und blieb kein besonders konfliktfreudiger Mensch und überließ das, so weit wie möglich, lieber anderen. Was Aryana und Mitch nun also am Ende mit dieser Information anfangen würden, blieb ihnen überlassen. Ich hatte die Tür lediglich einen kleinen Spalt breit aufgezogen, sie konnten sie leicht wieder zuschieben. Mein Job war so ziemlich das einzige, das aktuell ansatzweise rund lief. So wie alles andere vielleicht nicht unbedingt planmäßig, aber was das anging erwartete mich in Los Angeles aller Voraussicht nach keine allzu große Umstellung. Lediglich neue Kollegen, ein anderer direkter Vorgesetzter und völlig unbekannte Kunden, aber damit kam ich klar. Mich unbeliebt zu machen fiel mir meistens glücklicherweise schwer. Auf Aryanas Worte hin nickte ich leicht und erwiderte das Lächeln, das sie in meine Richtung warf. “Ja… ist eben schon eine große Sorge weniger, wenn man weiß, wo man langfristig hin möchte. Ein winziges Stück Sicherheit, wenn auch sonst schon wieder alles aus sämtlichen Fugen fliegt.", stellte ich mit einer Prise Sarkasmus fest. "Hätte Faye mich nicht auf diese Idee gebracht, ginge es mir heute vielleicht noch wie dir und Mitch… aber das wird schon. Zeit zum Überlegen habt ihr ja sowieso noch.”, meinte ich, wobei das Lächeln gegen Ende hin ziemlich schief wurde. Falls sie tatsächlich die als Minimum veranschlagten sechs Jahre dort verbüßen mussten, war das noch eine halbe Ewigkeit. Außerdem brauchten sie dann auch noch das Geld, um sich aus den verbleibenden Jahren rauszukaufen, wenn ich das alles richtig in Erinnerung hatte. Sechs bis im worst Case sogar zwölf Jahre waren leider mehr als genug Zeit, um sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Es wurde nur wahrscheinlich nicht einfacher, je später sie tatsächlich in die Freiheit entlassen waren. “Jedenfalls würde ich mich freuen, wenn ihr mit nach L.A. kommt. Aber ich könnte euch auch keine endlose Weltreise übel nehmen, wenn ich daran denke, dass ihr mit auch fast 30 bisher fast nur Scheiße gesehen habt.”, führte ich mit einem bedauernden Kopfschütteln aus und nippte daraufhin erneut an der Flasche. Sie hatten es sich früher beide mal ausgesucht, zur Army zu gehen. Das machte aber nichts davon oder von dem ganzen Mist, der darauffolgend noch auf sie gelauert hatte und sie noch immer nicht losließ, irgendwie leichter erträglich. Vielleicht würden sie auf einer längeren Reise auch zufällig auf eine schöne Möglichkeit stoßen, sich ihr zukünftiges Leben zu finanzieren. Massive Tapetenwechsel eröffneten einem nicht allzu selten neue, ungeahnte Optionen oder Wünsche. "Aber abgesehen davon geht's euch gut, oder..?" Ich hatte mich in den letzten beiden Monaten schon mit Mitch alleine getroffen und seiner Aussage nach lief bei den beiden soweit alles in geregelten Bahnen, aber ich wollte trotzdem gerne eine unabhängig getätigte Zweitmeinung dazu hören. Ich zerstörte dieses neu gewonnene Gleichgewicht nur sehr ungerne durch meine Abreise, die in absehbarem Zeitrahmen implizierte, dass die jüngere Cooper unter deren Dach einzog. Sei es auch nur für einen knappen Monat, bedeutete das eine Umstellung und außerdem potenzielle Bedrohung durch die Hernandez.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
War nicht so, als könnte sie das wirklich nachvollziehen, weil sie dieses Gefühl wahrscheinlich noch nie im Leben gehabt hatte... Aber dass es schön sein musste, konnte sie sich trotzdem bestens vorstellen. Gerade eben auch, weil sie es nie gefühlt hatte. Weil sie immer nur so halb einen Plan gehabt hatte, immer nur ein bisschen gewusst hatte, wie die nächsten Jahre laufen sollten. Und jedes Mal war dann selbst dieser Ansatz eines Planes kaputtgegangen, weshalb sie scheinbar irgendwann aufgegeben hatte. Konnte sie sich jedoch nichtmal selbst ernsthaft verübeln - ohne jetzt übermässig in die Opferrolle schlüpfen und im Selbstmitleid baden zu wollen. "Das glaub ich dir gerne. Bin auf jeden Fall gespannt, wo du diesbezüglich in ein paar Jahren stehen wirst", lächelte sie ihm ehrlich zu. Sie drückte ihm gerne die Daumen, dass sich die ganze Sache mit der Selbstständigkeit so fügte, wie er es sich vorstellte. Aber gleichzeitig machte sie sich auch keine ernsthaften Sorgen, weil Victor grundsätzlich keine desillusionierte, allzu träumerische oder gar verblendete Persönlichkeit war. So wie sie ihn einschätzte, würde er die Sache bestens vorbereiten und durchdenken und in Kombination mit seiner Erfahrung und seiner optischen Erscheinung schliesslich mit den besten Voraussetzungen ins Geschäft steigen. Auf ihre eigene Zukunft sah sie gerne mit ähnlich sarkastischem Blick, wie Victor das gerade getan hatte: Sie hatten noch sehr viel Zeit zum Überlegen. "Es wäre sicher besser, wenn wir bereits Pläne oder Ambitionen hätten. Nicht nur wegen der zusätzlichen Motivation, die das bringen würde, sondern auch einfach, weil wir dann bereits Schritte einleiten und beispielsweise irgendwelche Kurse besuchen könnten, um nach unserem Austritt einen möglichst stabilen Start in ein besseres Leben hinzulegen. Und falls dieser Austritt dann per Zufall auf einmal ganz plötzlich ausfällt, wäre es auch gut, wenn wir dann nicht direkt vor dem Nichts stehen würden. Aber ja: Realistisch betrachtet... haben wir noch viel viel Zeit", teilte sie ihre Gedanken zum Thema mit einem schiefen Lächeln zum Schluss. "Ist aber halt auch so, dass weder Mitch noch ich bis Anhin besonders vielversprechende Ideen gehabt hätten. Irgendwie halten sich unsere Interessen sehr beschränkt... Die bisher beste Option wäre glaub' ich irgendwas im Fitnessbereich, aber auch da haben wir halt keine Ausbildung und ob wir uns auf Dauer im direkten Kontakt mit Menschen beschäftigen sollten, ist auch fragwürdig", sie hatten auch nicht gerade das Kapital, um sich etwas aufzubauen, wenn man davon ausging, dass sie ihr ganzes Erspartes wieder an Easterlin abtreten dürften, falls sie nicht zwölf Jahre bei ihm chillen wollten. Aber mal sehen, so weit lohnte es sich wie gesagt oft gar nicht zu denken in ihrem Leben. Bezüglich ihres allgemeinen Wohlbefindens, konnte sie aber ausnahmsweise guten Bericht abgeben, weshalb sie mit einem erneuten ehrlichen Lächeln nickte. "In der Tat, ja. Während der ersten Hälfte deiner Abwesenheit hatten wir auch nicht die leichteste Zeit... gelinde gesagt. Aber tatsächlich hat sich das alles dann dank sehr vielen Gesprächen - und einem Besuch bei Jetman - nach und nach gelöst und momentan gehts uns abgesehen von der unglücklichen Arbeitssituation wirklich gut", natürlich hatten sie immer mal wieder ihre Differenzen. Aber das sah sie als relativ unproblematisch und war sehr sicher unvermeidbar, wenn man zwei tendenziell (zu) temperamentvolle und impulsive Menschen in eine Beziehung steckte. Da gabs halt mal einen Knall, aber sie erholten sich mittlerweile wesentlich schneller davon als früher. Also ja, ihnen ging's gut. "Und... euch? Ist jetzt vielleicht ein ungünstiger Zeitpunkt, das zu fragen... Aber wie war die ganze Rückkehr für dich? Und für euch?", stellte sie die Gegenfrage, die einen leicht anderen Fokus hatte als umgekehrt.
“Ich auch.”, schloss ich meine berufliche Zukunft als Thema ab. Man wusste bekanntlich nie, wie das Leben zu spielen vermochte. Trotzdem glaubte ich nach wie vor daran, dass ich den Sprung in die Selbstständigkeit gut hinbekam und dann hoffentlich einigermaßen erfolgreich wurde. Es ließ sich nicht leugnen, dass Zukunftsplanung auch für Aryana und Mitch essentiell war - eigentlich schon jetzt. Manchen Menschen fiel es leichter als anderen, ihre berufliche Leidenschaft oder zumindest eine Sache, die sie gerne taten und sich mit einem Beruf verbinden ließ, zu finden. “Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich eure Interessen nur auf Menschen aus dem Weg räumen und Sport beschränken.” Ich sparte nicht am Sarkasmus und zog lächelnd die rechte Augenbraue hoch. Indirekt gab ich damit auch eine Antwort darauf, dass sie auf Dauer möglicherweise nicht so gut mit direktem Kundenkontakt klarkamen. Ich schätzte die beiden für ihren ehrlichen und loyalen Charakter, aber sie waren nicht unbedingt dafür bekannt, besonders einfach im Umgang und zu sein. Mitch noch weniger als Aryana. “Ich weiß, dass das leichter gesagt als getan ist, aber ums tiefer graben kommt ihr bei dieser Angelegenheit wohl nicht rum.” Mehr wusste ich dazu nicht zu sagen, was mein Schulterzucken ziemlich deutlich machte. Ich konnte hier halt leider nicht einfach irgendwelche supertollen Jobvorschläge anbieten - ich kannte ihre Interessen ja noch weniger als sie selbst. Immerhin schien in Hinblick auf ihre nicht immer einfache Beziehung mittlerweile alles gut zu laufen. "Ja, das kann ich mir vorstellen… dass ihr Jetman besucht habt, hat Mitch schon am Rande erwähnt. Geht’s ihm gut?” Mitch hatte das Thema nur absolut oberflächlich angekratzt, weil es ihm ziemlich offensichtlich zu gefühlsbelastet zu sein schien, um mit mir darüber zu sprechen. “Ist schön zu hören, dass ihr eine Möglichkeit gefunden habt, miteinander zu reden… auch wenn der Weg dahin sehr holprig war. Ich erinner’ mich noch etwas zu gut an euren Besuch nach Mitchs Entlassung.“ Aryana war damals völlig fertig mit den Nerven gewesen, weil wohl ungefähr gar nichts in diesen Tagen so gelaufen war, wie sie sich das erhofft hatte. Umso schöner, dass sich all der Stress seitdem wenigstens ausgezahlt hatte und sie sich jetzt näher waren als zuvor. Während der noch nicht lange zurückliegenden Feiern hatten die beiden deutlich vertrauter gewirkt als damals. Nach Faye und mir zu fragen war aktuell nur semi-günstig, wie Aryana selbst erkannte. Ich versuchte mich bei der Antwort nicht zu sehr von aktuellen Ereignissen beeinflussen zu lassen. “Am Anfang ein bisschen zu rosarot. Wie das eben so ist, wenn man sich sehr vermisst hat. Verändert haben wir uns beide ein wenig… man merkt ab und zu, dass wir in der Zwischenzeit zwei völlig unterschiedliche Leben gelebt haben. Aber das hatte sich jetzt nach fast zwei Monaten eigentlich gut eingependelt und unsere Wünsche sind noch immer dieselben. Das Leben könnte also ziemlich schön sein, würden mir gewisse Dinge nicht zum tausendsten Mal den Schlaf rauben.”, erzählte ich stellenweise etwas nachdenklich und mit einem müden Seufzen im Abgang. Wir waren innerhalb der neuneinhalb Monate nicht zu zwei völlig anderen Personen geworden, aber dieselben wie vorher waren wir auch nicht mehr. Das war stellenweise gewöhnungsbedürftig, aber nie ein ernstes Problem gewesen. Anders sah es da leider mit Ryatt und dem Rattenschwanz aus, den er nach wie vor hinter sich herzog. Für einen Moment lang hatte ich vor unserer Reise allzu verträumt darüber nachgedacht, Faye schon während des Urlaubs einen Antrag zu machen, weil ich mich kurz nach meiner Rückkehr völlig von den Gefühlen für sie hatte einnehmen lassen. Inzwischen war ich traurigerweise ganz froh darüber, dass meine Vernunft diesbezüglich gesiegt hatte. Konnte ja schon wieder keiner mehr wissen, wie die nächsten Wochen ausgingen...
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Nein, das taten sie nicht. Zumal Menschen aus dem Weg räumen gar kein wirkliches Interesse ihrerseits darstellte. Es war nur leider etwas, das sie etwas zu gut konnte und das jemand anderes sich gerne zunutze machte. Vielleicht sollte sie mal versuchen, etwas dahinter zu blicken, warum sie denn so gut darin war. Ob sie strategisches Denken, Durchhaltewillen, Durchsetzungsvermögen und eine schnelle Auffassungsgabe auch woanders gezielt zum Einsatz bringen könnte. Aber wie bereits gesagt, konnte sie bisher noch mit keiner Lösung dienen. "Das schon nicht. Aber ich weiss noch nicht wirklich, wo sonst sich meine Stärken einsetzen liessen und wie sich mit Interessen Geld machen lässt. Es erschwert sich halt auch immer etwas, wenn man nicht mehr zwanzig ist und eigentlich nicht zurück an ein College möchte. Aber das brauch' ich wohl keinem zu erzählen, ist halt leider einfach so", Bildung war bekanntlich eines der Dinge, die nicht leichter wurden mit dem Alter. Die Schwellen waren höher, die Hemmungen grösser, die Zeit weniger und die Verpflichtungen mehr. Aber es gab schon Angebote und das war sicher eines der Dinge, die sie mit Mitch in nächster Zeit bewusst angehen musste. Sobald sich das andere Zeug hier gelegt hatte, das zurzeit eindeutig Priorität hatte und relativ viele Ressourcen und Aufmerksamkeit brauchte. "Jetman gehts gut, ja. Er hat im Krieg leider drei halbe Finger verloren, weshalb er ebenfalls frühzeitig zurückgekehrt ist... Soweit ich das beurteilen kann, kommt er mittlerweile aber gut damit klar. Lebt in einem hübschen Haus mit seiner Frau und Tochter und wirkt zufrieden. Er hat auch nach euch gefragt und Grüsse ausgerichtet, die sind wahrscheinlich noch nicht bis zu dir gelangt, darum: Grüsse von Jetman", fasste sie mit einem erneuten Hauch Sarkasmus zusammen.Das war zwar eine Weile her, aber soweit sie wusste, hatten Grüsse kein Ablaufdatum. Als Victor die katastrophale Situation nach Mitchs Entlassung aus dem Gefängnis erwähnte, konnte die Brünette nur müde den Kopf schütteln. "Davon sind wir glücklicherweise endlich sehr weit entfernt und du wirst mir sicher glauben, wenn ich sage, dass ich fast alles dafür geben würde, nie mehr an so einen Punkt zurückzufallen. Aber muss ich akut glücklicherweise auch nicht befürchten, wir haben mittlerweile unsere stabile Ausgangslage gefunden", die, die man eben erstmal suchen und aushandeln musste, wenn man zwei Menschen war, die etwas zu emanzipiert waren. Etwas zu sehr daran gewohnt, auf sich selbst - und nur sich selbst - aufzupassen. Etwas zu einzelgängerisch, zu selbstzerstörerisch, zu gleichgültig gegenüber dem eigenen Wohlbefinden oder Ableben. Sie hatten beide viel heilen müssen und mussten das noch immer. Aber jetzt sah es doch so aus, als würde der Weg nicht mehr nur steinig einen nebligen Berg hoch führen. Und das war ein grosser Gewinn. Das Update bezüglich der Lage zwischen Victor und Faye bekam sie gleich darauf ebenfalls zu hören. Vielleicht hätte sie besser nicht gefragt... Jedenfalls nicht heute. Entweder vor ein paar Tagen schon oder dann erst in zwei Monaten wieder, denn es schien nicht so, als würde Victor gerade besonders weit hinter die akute Scheisslage blicken können. Nicht, dass man ihm das wirklich ankreiden könnte, aber Aryana glaubte trotzdem, dass die Hernandez das wahre Bild gerade schwer verfälschten. Es war schwer in Worte zu fassen, was Victor gerade ganz allgemein ausstrahlte, aber sie war sich auch nicht sicher, inwiefern es angebracht oder gar erwünscht wäre, sich jetzt gross mit ihm darüber zu unterhalten. Er war offensichtlich gestresst und belastet und sie war nicht hier, um ihm dafür bestenfalls noch Vorwürfe zu machen. "Dann... hoffe ich mal, dass es dafür umso schöner wird, sobald ihr in Sicherheit seid und du diese Dinge hinter dir lassen kannst...", blieb damit ihr einziger, vorsichtiger Kommentar zum Thema. Den sie dafür absolut ernst meinte. Blieb ihnen ja nicht viel anderes übrig, als jetzt einfach auf genau das zu hoffen. Den bestmöglichen Ausgang einer zu gefährlichen Situation, die niemand gewollt hatte.
Nochmal eine komplett neue Ausbildung anzufangen, sei es nun überwiegend schulisch oder praktisch im Beruf, war mit zunehmendem Alter niemals einfach. Man tat sich schwerer damit als früher, neue Dinge aufzunehmen und auch zu behalten. Wenn man dann nebenher noch arbeiten ging, weil das Leben eben auch während der Ausbildung was kostete, wurde es nicht einfacher. "Ja, da ist leider was dran. Ist mir auch aufgefallen, während der Ausbildung… und ich musste noch nicht mal ganz von vorne anfangen, wegen der Army.", konnte ich der Brünetten mit nachdenklichem Ton nur zustimmen, bevor ich ein weiteres Mal an der allmählich leer werdenden Flasche nippte. Jetman schien trotz verlorener Finger gut durchs Leben zu kommen, aber mir zuckten die Augenbrauen unweigerlich nach oben. Ich war auch nicht grade unversehrt nach Hause gekommen, aber immerhin waren meine Hände noch ganz. Dafür war seine Psyche möglicherweise weniger geschädigt als meine. "Gleich drei..? Das klingt wie auch nochmal Glück im Unglück gehabt." So wie gefühlt jeder von uns, nur dass sich das traurigerweise noch immer ständig zu wiederholen schien. Mehr oder weniger. "Danke, ich geb's weiter.", erwiderte ich ebenso sarkastisch bezüglich der verspäteten Grüße. Mitch hatte vermutlich aufgrund seiner generell abweisend kurzen Erwähnung des Aufenthalts bei Jetman nicht daran gedacht. War aber kein Weltuntergang, weil ich nicht wusste, ob ich den einstigen Kameraden je wieder zu Gesicht kriegen würde. Dagegen hätte ich aber nichts. Er schien in seinem neuen Leben angekommen zu sein und das war bestimmt schön anzusehen. Ich konnte ihn mir als Vater nur schwer vorstellen, aber ich kannte Mitchs damaligen besten Freund auch nur in Uniform. Besagter Tätowierter gab sich inzwischen offenbar Mühe damit, nicht wieder zu dieser unangenehmen Version seiner selbst zu mutieren. Gut für uns alles, aber am besten natürlich für Aryana. "Daran hab ich keinen Zweifel.", winkte ich ab. Beinahe so, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, dass die beiden miteinander klar kamen und harmonierten, was eher nicht so war. Aryana war jedoch bestimmt nicht die einzige, die an diesen Punkt nicht mehr zurück wollte - wenn die Basis jetzt gefunden war und sie beide am selben Strang zogen, sollte hoffentlich nichts mehr schiefgehen. Andererseits zeigte sich am Beispiel meiner eigenen Beziehung ziemlich deutlich, dass es nicht immer ausreichend war, nur in dieselbe Richtung zu wollen und sich aufrichtig zu lieben, um auch tatsächlich ohne massive Probleme am Ziel anzukommen. "Ja, das hoffe ich auch.", weil mir halt nichts anderes mehr übrig blieb. Ich hatte nicht ansatzweise Einfluss darauf, nachdem ich nicht mal hier sein würde, wenn der 4. Dezember nahe rückte. Der Gedankenstrudel wurde ziemlich schnell wieder ziemlich düster. "Ich meine... versteh' mich nicht falsch, ich... ich liebe Faye noch immer so wie damals, als sie das bisschen Scherben, was von mir noch übrig war, mühsam eingesammelt und wieder zusammengeklebt hat. Es hat wahrscheinlich nicht länger als zwei oder drei Gespräche gedauert, bevor ich mich in sie verliebt habe. Faye… ist die Eine." Für einen Moment lang bogen sich meine Mundwinkel leicht nach oben. Es war schön auszusprechen, denn nicht alle Menschen hatten dieses Glück im Leben. Doch der Kleber von damals hielt leider nicht einfach so für immer, wenn man ihn immer wieder dermaßen extrem strapazierte. Auch nicht der zwischen Faye und mir. Nach einer kurzen Pause sprach ich weiter: “Ich halte wirklich viel aus, wenn ich das muss…” Offensichtlich, sonst wäre ich kaum noch hier. Nicht bei Faye und womöglich auch nicht mehr am Leben. “...aber Liebe sollte nicht so schmerzhaft sein. Das alles zieht sich jetzt schon beinahe 4 Jahre so durch… und es verändert mich. Ich will einfach nicht rausfinden müssen, was noch in mir kaputt geht, wenn das alles nicht aufhört… wenn Faye tatsächlich wieder etwas zustößt…" Ich schüttelte den Kopf und ließ die ohnehin fast leere Flasche los, um mich erneut in meinen Handflächen zu verkriechen. Diesmal allerdings deutlich länger. Ich war nicht ganz so nah am Wasser gebaut wie Faye. Wenn ich aber so darüber redete, was mir aktuell quasi 24/7 im Kopf rumspukte, dann brauchte es ein paar sehr tiefe Atemzüge, um mein pochendes Herz zu beruhigen. Vielleicht sollte ich nicht so intensiv über mögliche Zukunftsvarianten nachdenken - schließlich war es auch möglich, dass überhaupt nichts passierte und ausnahmsweise mal alles glatt ging. Dennoch wollte ich mich damit auseinandersetzen, was passierte, wenn eben nicht alles gut ausging. Letzteres konnte leider nur in mindestens einem halben Herzinfarkt, reichlich Selbstvorwürfen und noch mehr Paranoia enden. "Kann ich dich um einen… verwerflichen Gefallen bitten ohne, dass du mich schief ansiehst?", nuschelte ich unter meinen Händen hervor. Trotzdem senkte ich die Hände noch nicht wieder, sondern verkroch mich allzu gern vor mir selbst. Als hätte das schon jemals so funktioniert.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Zu der ganzen Ausbildungs- und Berufswahlsache gabs dann auch nichts mehr zu sagen, das sie nicht schon beide wussten. Wie bereits festgestellt war das einfach ein allgemein schwieriges Thema, wenn man nicht direkt nach der Schule schon wusste, wohin man wollte - oder wenigstens eine solide Basis schuf, auf die man später aufbauen konnte. Beides war bei ihr nicht der Fall, da die Army halt leider keine solide Basis darstellte. Aber das war ein weitaus kleineres und lange nicht so akutes Problem wie das, mit dem sich Victor und Faye unfreiwillig auseinandersetzen mussten. Auch nicht so schlimm wie der Verlust von drei Fingern. "Ja. Aber sind wir ehrlich - jeder der dieses Rattenloch überlebt, hat Glück gehabt...", war ihr trockener Kommentar zu Jetmans Unfall. Er hätte sterben können und wäre um ein Haar auch nicht lebend zurückgekehrt. Aber so war Syrien eben. Grausam und gefährlich - am liebsten beides gleichzeitig. Jedenfalls für alle, die nicht wie Warren ihre Tage im Schutz eines Camps verbrachten. Und selbst da war man ja nicht wirklich sicher - siehe zwei Überfälle mit ausreichend Toten. Und dann gab es noch die gefährlichen Schlangen, die einem zufälligerweise auf Tagesausflügen bei Motorversagen umbringen konnten... Sie wäre von sich aus nicht weiter auf sein Verhältnis zu ihrer Schwester eingegangen, wenn Victor nun nicht doch nochmal zum Reden angesetzt hätte. Angefangen damit, dass er beteuerte, dass sich an der Intensität seiner Liebe zu Faye nie was geändert habe. Und das glaubte sie ihm ohne jeden Zweifel, denn natürlich liebte er sie. Das bewies er doch mit allem, was er machte immer wieder. Vor allem damit, dass er zurückgekommen war, aber eben auch mit dem Ausmass an Sorgen, die er sich machte. Es war nur wirklich schmerzhaft zu beobachten, wie die Welt den beiden immer wieder in die Knie trat, wie sie immer wieder auseinandergerissen und gefühlt gegen die nächste Wand geklatscht wurden. Darum wusste Aryana auch schon lange nicht mehr, was sie noch dazu sagen sollte. Sie war sowieso nicht besonders begabt mit Worten, aber was konnte man hier denn noch Tröstendes sagen, wenn sie doch niemanden belügen musste mit Worten wie das wird schon wieder oder diesmal passiert bestimmt nichts? Fakt war, dass sie nicht wussten, ob diesmal nichts mehr passierte, dass sie nicht versprechen konnten, dass es wieder gut wurde. "Ich weiss. Und ich wünsche mir wirklich, dass es jetzt ein Ende hat. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dafür zu sorgen, dass ihr nichts passiert...", murmelte sie das gleiche Versprechen ein weiteres Mal vor sich hin, nur für den Fall, dass es diesmal etwas Linderung verschaffen könnte. Offenbar war da aber noch was anderes, was sie vielleicht für Victor tun konnte. Möglicherweise etwas, das tatsächlich helfen würde. Sie musterte ihn fragend, auch wenn er sie noch nicht anschaute. Gab dann ein leises Seufzen von sich. "Also erstens, habe ich dir vorhin schon ein moralisch verwerfliches Angebot gemacht... Zweitens habe ich gebeten, dass du mir sagst, was ich tun kann... Drittens ist verwerflich mein Fachgebiet... und viertens siehst du sowieso nicht, wenn ich dich schief anschaue, solange du deine Hände von innen betrachtest", analysierte sie den Stand der Dinge, gefolgt von einer kurzen Pause. "Das heisst Ja.", nur, falls er das nicht herausgehört hätte.
“Da ist leider was dran.”, gab ich Aryana Recht. Syrien war und blieb einfach ein seelenloses Drecksloch. Das Land war vor dem dort herrschenden Krieg wahrscheinlich mal schön anzusehen gewesen, doch all die vom Krieg zerstörten Städte würden das Bild jetzt für eine sehr lange Zeit kaputt machen. Das weit entfernte Land gehörte allerdings eher nicht zu meinen tatsächlichen Sorgen. Ich zweifelte nicht daran, dass die ältere der beiden Schwestern alles dafür tun würde, ihr eigenes Blut vor noch mehr Schaden zu bewahren. Damals während unseres Krankenhausaufenthalts hatte Aryana mal gesagt, dass sie nicht immer genug für Faye da gewesen war. Ich konnte mich jedoch nicht daran erinnern, dass sie in wirklich entscheidenden Momenten jemals aus eigenem Einfluss heraus gefehlt hatte, seit ich die beiden kannte. “Das weiß ich.”, ließ ich sie wissen. Die ältere Cooper hatte Warren aus dem Weg geräumt und sie hatte den Hügel gestürmt - beide dieser riskanten Manöver waren mit Mitch an ihrer Seite erfolgt. Er würde sie auch mit den Hernandez nicht hängen lassen, obwohl er sich das aufgrund seiner Vorstrafen lieber zweimal überlegen sollte. Wahrscheinlich kam ich aufgrund dieser Geschehnisse überhaupt erst auf die Idee, meine böswilligen Wünsche aussprechen zu wollen - ohne die Hände vorm Gesicht, die auf der Tischplatte landeten, kaum war Aryana mit ihrer runden Aufzählung fertig. "Genau darum gehts. Je nachdem, wen du in die Finger kriegst, sollten sie Faye tatsächlich etwas tun… vergelte Gleiches mit Gleichem. Die eigene verbrannte Haut zu riechen, ist auf ganz anderer Stufe unangenehm. Ähnlich muss es mit fetten Buchstaben sein, die einem in den Oberkörper geritzt werden." Meine Worte klangen kühl, während mir der gedankliche Schwank in diese Höllenzeit innerlich heiß werden ließ. Weil es mich niemals völlig unberührt lassen würde, aber auch, weil mich all die Ungerechtigkeit inzwischen unfassbar wütend machte. Trotzdem sah ich Aryana bei all diesen Worten direkt in die Augen. Es war mir egal, ob sie es sah - das ganz tief lodernde Feuer, das nach Rache oder wenigstens einem Funken Gerechtigkeit für Faye und mich züngelte. Ich versuchte inzwischen nicht mehr, es zu verscharren. "Bei Riley bin ich unschlüssig. Der Schnitt am Hals war das geringste Übel.”, stellte ich trocken fest und griff mit der rechten Hand an jene Narbe. Sie war gut verheilt, aber trotzdem noch immer zu sehen. In der zweiten Nacht hatte die einzige Schwester im Bunde ihre beiden Brüder die Drecksarbeit machen lassen. “Aber vielleicht reicht bei ihr auch das Zuschauen. Dann weiß sie mal, was dieser Schmerz wirklich bedeutet, weil sie da irgendwie eine sehr verschobene Wahrnehmung à la 'mein rechtmäßig im Knast sitzender Bruder ist viel schlimmer als deine tote Familie' hat. Ich denke nämlich nicht, dass im Fall der Fälle nur einer von dreien dort wäre… sähe ihnen zumindest nicht besonders ähnlich.” Sean war damals mit Riley im Schlepptau auf Faye losgegangen. Bei der Folter waren sie zu dritt gewesen, obwohl das ab der zweiten Nacht auch einer allein hätte erledigen können. Uns selbst zu befreien war unmöglich gewesen. Ich machte den letzten Schluck Bier leer und stand auf, um die Flasche zu verräumen. “Aber ich will nicht, dass euch das danach um den Schlaf bringt. Ich weiß am besten, wie heilig der ist. Also tut das nur, wenn euch das nicht zu viel ist. Es ist allzu ironisch, aber ich könnte es wohl nicht selbst machen… und einen simplen Gnadenschuss hat keiner von denen verdient.”, redete ich weiter vor mich hin, als wäre das irgendwie normal, während ich zu einem der Hängeschränke ging, um mir ein Glas rauszunehmen. Mir war nach mehr Bier, aber die Vernunft verlangte trotz meiner parallel ziemlich ungesunden Rachewünsche, dass ich mich stattdessen an dem Wasserkrug auf dem Tisch bediente und mich wieder hinsetzte. Aryana und Mitch waren nicht meine persönlichen Racheengel und anderen Menschen bewusst Schmerz zuzufügen, machte etwas mit der eigenen Psyche. Es wäre halt nur nicht das erste Mal für sie - Warren musste ziemlich qualvoll verreckt sein, Schlangengift war eine üble Sache. Meine Augen suchten nach dem Tattoo an Aryanas Unterarm, das sich mit dieser Angelegenheit bestens traf. Ich hatte vorhin schon gesagt, dass ich sie nur deswegen noch von einem persönlichen Gespräch mit der Pest in Person abbringen wollte, weil ich Angst davor hatte, dass durch diese frühzeitige Provokation alles schlimmer enden würde, als es das musste. Wenn sie Faye hingegen schon in ihren Fängen hatten, würde mich nichts mehr daran hindern, den beiden Söldnern mutwillig ein Feuerzeug und ein Messer in die Hände zu drücken und ihnen bei ihrem Vorhaben alles Gute zu wünschen. Eine andere Sprache schien dieser Abschaum ohnehin nicht zu verstehen, in Anbetracht der Vergangenheit. "Ihr habt ihn umgebracht, oder?" Mit dieser Frage rutschte mein Blick zurück in Aryanas.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Sie hatte sich noch nicht wirklich mit dem Gedanken auseinandergesetzt, was der verwerfliche Gefallen seitens Victor denn beinhalten könnte, als er nun die Hände sinken liess. Aber das war gar nicht nötig gewesen, er spezifizierte im Anschluss ziemlich konkret, was er denn meinte. Und vielleicht sollte es sie etwas mehr schockieren, diese Worte aus seinem Mund zu hören, als das am Ende tatsächlich der Fall war. Andererseits - wie sollte es irgendwen denn wirklich überraschen? Nach allem, was er durchgemacht hatte, nach allem, was diese Familie ihm und Faye angetan hatte? Selbst sie verspürte eine nicht zu geringe Rachelust, obwohl sie damals nicht dabei und nicht betroffen gewesen war. Sie hatte nur das Ergebnis gesehen, ihre Schwester blutüberströmt im Zimmer aufgefunden, nachdem diese mit den Folgen der Folter nicht mehr hatte leben wollen. Sie wollte liebend gerne vergelten, was Faye und Victor durchgemacht hatten. Aryana blickte Victor stumm entgegen, direkt in die Augen, während er sprach. Bis er schliesslich sein Bier ausmachte und aufstand, um sich ein Glas zu holen. Da rutschten ihre Augen auf ihr eigenes Wasser ab, blieben an ihren Daumen hängen, die beide abwechselnd aber lautlos auf das Glas tippten. Scheinbar hatte Victor aber noch nicht alles gesagt, beteuerte lieber noch, das das keine Forderung, sondern eine Bitte war, die sie nur erfüllen sollte, wenn sie sich damit nicht unwohl fühlte. Tat sie das? Nein, eigentlich nicht. Jedenfalls nicht in diesem Moment. Sie würde kaum hier und jetzt irgendwas versprechen, weil Mitch da auch noch was mitzureden hatte. Aber die Vorstellung, ein paar brandgefährliche Hobbykriminelle, die glaubten, ihre Liebsten traumatisierten zu müssen, mit den nötigen Mitteln mal ordentlich in die Schranken zu weisen, fühlte sich richtig an. Wie sonst sollten sie dafür sorgen, dass niemand am Ende noch auf die beschissene Idee kam, nach Kalifornien zu fliegen, weil Sean mit den logischen, voraussehbaren Konsequenzen seiner Taten nicht umzugehen wusste? Manchmal war Karma leider eine Schlaftablette und wer war besser darin, hier und da etwas nachzuhelfen, als sie und Mitch? Das beste Beispiel war die Geschichte, die Victor etwas unerwartet direkt im Anschluss ansprach. Aryana brauchte einen Moment, um zu merken, dass sein Blick auf ihrem Arm lag. Von da an dauerte es jedoch nur noch maximal zwei Sekunden, bis sich ihre Mundwinkel zu einem versonnenen, fast friedlichen Lächeln verzogen. Sie liess das Glas los, um stattdessen andächtig mit den Fingerspitzen die feinen Linien des Tattoos nachzumalen. "Natürlich... Genau wie er es schon so lange verdient hätte... Genau so, wie es jeder verdient, der auch nur denkt, er könnte meine Schwester ohne Konsens berühren", redete sie lächelnd vor sich hin. "Und das Einzige, was ich an dieser Aktion jemals bereut habe, ist, sie nicht schon viel früher durchgezogen zu haben. Ich hätte ihm nach Julians Tod den Kopf abschlagen können. Oder besser schon davor. Dann hätte ich Faye die ganze Scheisse erspart", sie seufzte, das Lächeln war mittlerweile wieder verblasst. Ihre Augen fanden zurück zu Victor und sie liess die Schlange so stehen. "Ich weiss, dass ich in diesem Land nicht so einfach und folgenlos töten kann. Mitch und ich haben in verschiedenen Zusammenhängen schon lange genug darüber nachgedacht und jeder Plan scheint zumindest teilweise lückenhaft oder einfach viel zu riskant. Darum lebt Gil auch noch. Aber wenn er oder seine beschissenen Geschwister sich wirklich nochmal in eure Nähe wagen, werde ich sehr sicher nicht zögern, deiner Bitte Folge zu leisten", kam sie auf seine vorangehenden Worte zurück. Ihr war schon klar, dass es sehr wenige Menschen gab, mit denen sie sich so unterhalten konnte, ohne gleich in die nächste Klapse oder Anstalt eingeliefert zu werden. Dass solches Denken nicht normal, nicht gesund und sicher auch nicht wirklich legal war - jedenfalls dann nicht, wenn sie Taten folgen liess. Aber Victor wusste sowieso schon, dass sie relativ weit von normal abwich. Ausserdem hatte er das Thema überhaupt erst angesprochen.
Ja, natürlich. Vielleicht war es verwunderlich, dass wir bis heute nie darüber geredet hatten. Vielleicht aber auch nicht. Weder zu Aryana, noch zu Mitch hatte ich bis dato ein ganz besonders enges Verhältnis gepflegt, was unterschiedliche Gründe hatte. Der Zeitpunkt, um diese bisher teils eher oberflächliche Freundschaft - so ehrlich und loyal sie dennoch sein mochte - zu festigen und zu vertiefen, schien noch immer nicht gekommen zu sein. Dafür war ich bald etwas zu weit weg von den beiden. Trotzdem würde ich ihnen für diesen Mord wohl immer dankbar sein. Das mochte genauso falsch sein wie meine Bitte an Aryana, aber im Gegensatz zu früher fühlte ich mich heute nicht mehr schlecht deswegen. “Du hättest das Alles kaum vorhersehen können.”, stellte ich ruhigen Tons fest und richtete den Blick von ihrem Arm zurück in ihre Augen, obwohl die Brünette mir hier offen einen ungestraften Mord gestand. Man brachte einen anderen Menschen, sofern man kein Psychopath war, ja nicht grundlos zum Spaß um. Aryana hatte erst all diese triftigen Gründe gebraucht, um dieses Arschloch aus der Welt zu schaffen - so beschissen das auch für alle Beteiligten war, die nun mit Warrens Taten leben mussten. Möglicherweise war ich ein paar Mal zu oft beinahe abgekratzt, um bezüglich all dieser Dinge noch eine gesunde Einstellung vertreten zu können. Gil war genauso wie Warren eine Person, die sich zu viel herausgenommen hatte. Unabhängig davon, ob ein Mord an ihm neue Probleme heraufbeschwören würde oder nicht, war ich mir ziemlich sicher damit, Niemanden aktiv davon abhalten zu können. Ich wollte ihn halt nicht weniger tot sehen als Aryana. “Die Staaten sind eben einfach kein Syrien.”, meinte ich bloß mit einem Schulterzucken, was die Komplikationen hinsichtlich schwerer Straftaten auf amerikanischem Territorium anbelangte. Verhältnismäßig lockeres Waffengesetz hin oder her, wurde auch hier Mord teilweise nach Gutdünken mit sehr langen Gefängnisstrafen geahndet. “Selbstjustiz ist sicherlich zu Recht als kritisch anzusehen, aber wenn einem die ach so guten Vorgesetzten und Gesetzeshüter sowieso in den Rücken fallen, bleibt einem ja nichts anderes mehr übrig.” Ich schüttelte schnaubend den Kopf und nahm einen großen Schluck aus dem Glas. Es machte mich fassungslos, dass man sich offenbar wirklich derart leicht aus dem Gesetz rauskaufen konnte. Das korrupte System - hier in der Heimat, wie auch bei der Army - selbst war vielleicht kein ausreichender Grund für Selbstjustiz in Form eines Mordes, aber es reichte mir auch als gute Basis dafür. All der Schmerz, den ich physisch wie psychisch durchlebt hatte, erledigte allzu leicht den Rest. Folter erfüllte den Zweck möglicherweise aber sogar noch besser. “Ich schätze, dass das in diesem Zusammenhang irgendwie schräg klingt, aber… danke.”, sagte ich schief, aber aufrichtig lächelnd. Ich machte mich hier gerade zum Mitwisser etwaiger Straftaten und es könnte mich nicht viel weniger interessieren. “Auch fürs Reden... und fürs nicht verurteilen.", seufzte ich, ehe mein Blick zurück auf die Tischplatte rutschte. Eigentlich glaubte ich schon, dass ich mit Faye über so ziemlich alles reden konnte. Aber diese sehr düstere Version von mir, die sich zweifelsohne erst innerhalb der letzten Jahre so entwickelt hatte, hielt ich instinktiv vor ihr zurück. Vielleicht war die brünette Schönheit nicht wirklich ein Engel. Sie hatte genauso wenig eine weiße Weste wie ich selbst und doch sträubte sich nach wie vor alles in mir, auch nur einen einzigen Krümel Dreck in ihre Richtung zu werfen. Auch sie wünschte Gil & Co. nichts Gutes, aber meine Vorstellung von Gerechtigkeit diesbezüglich wich ziemlich sicher von ihrer ab. Schon nur deswegen, weil sie bestimmt nicht ihre Schwester dazu anstacheln würde, dieser Teufelsbrut einzuheizen. Aber wenn nicht Aryana und Mitch, wen dann?
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Das war eben so eine Sache. Hätte sie es wirklich nicht vorhersehen können? Nüchtern betrachtet schon. Warren war von Anfang an ein Arschloch gewesen. Aber sie hatte damals einfach noch ein bisschen zu sehr an das Gute im Menschen geglaubt. Zu wenig wahrhaben wollen, dass er tatsächlich so schlimm war, um Warren zuzutrauen, dass er nicht nur eine unfähige Führungsperson, sondern auch ein dreckiger Vergewaltiger war. Tja, heute wusste sie das besser. Heute misstraute sie grundsätzlich jedem ein bisschen, bis sie die Person wirklich zu kennen glaubte. Manchmal war dieses Misstrauen natürlich unangebracht, aber es hatte sich schon oft genug als sinnvoll erwiesen, um für sie absolut berechtigt zu bleiben. Entsprechend zuckte sie lediglich schwach mit den Schultern, als Antwort auf Victors Feststellung. "Im Nachhinein ist man meistens klüger", meinte sie etwas sarkastisch. Sie hatte halt auch erstmal einen sinnvollen Plan gebraucht, auf den sie bekanntlich selbst nicht gekommen war. Hatte schon alles seine Sinnhaftigkeit gehabt - auch wenn sie weiterhin wünschte, Warren schon vor seinen Gräueltaten dem Erdboden gleich gemacht zu haben. Dass sie hier mit einer etwas anderen Gesetzeslage, Mentalität, Staatsform und generell anderen Lebensumständen konfrontiert waren als in Syrien, war eigentlich eine Tatsache, die sie stark befürwortete. Aber klar, das machte Mord etwas schwieriger und an gewissen Tagen fand sie das schade. Wenn dem jedoch nicht so wäre, wäre sie vielleicht auch schon tot, weil jemand sie nicht mochte und eben spontan umgelegt hätte. Also hatte sicher auch das seine Richtigkeit. Es liess sich nur nicht lügen, dass dieses System besser funktionieren würde, wenn sich alle daran halten würden und die, die für die Durchsetzung zuständig waren, diese Aufgabe auch ernst nehmen würden. Aber darüber musste sie sich mit Victor kaum unterhalten, nachdem er es war, der persönlich erlebt hatte, was passierte, wenn Korruption diese Rechnung versalzte. Es war stattdessen ein Lächeln, das sie erwiderte, als der Dunkelhaarige ihr seinen Dank aussprach. "Gerne... Auch wenns noch ein bisschen früh ist, mir dafür zu danken, wenn ich noch gar nichts gemacht habe", ausser eben zuzuhören. Aber mit den Hernandez hatte sie sich noch nicht persönlich auseinandergesetzt. Würde sie eben, wie abgemacht, auch nur, wenn diese tatsächlich nochmal ihre volle Dreistigkeit auspackten und Faye als Druckmittel gegen Ryatt nutzen wollten. Aryana hatte keine Ahnung, wie wahrscheinlich diese Option war, aber sie wollte Victor auch nicht weiter danach fragen. Sie würde genauso vorsichtig sein, wenn die Chancen bei 1:2000 lagen, wie wenn Gil mit 50%-Wahrscheinlichkeit eines Tages vor Fayes Haustür stand. Am Ende galt es einfach zu verhindern, dass ihrer Schwester - und damit irgendwie ihnen allen - durch die Klauen dieser Schweine noch mehr Elend widerfuhr als jetzt schon. Aryana lehnte sich etwas in ihrem Stuhl zurück, liess den Blick dabei aber noch nicht von Victor abfallen, sondern musterte ihn mit einem wieder etwas schmaler gewordenen Lächeln weiter. "Ich hoffe wirklich, dass ihr dann endlich mal eure Ruhe haben, die Zeit geniessen und glücklich werden könnt... So wie auf den Malediven - da habt ihr mir am besten gefallen", versuchte sie sich an einer positiveren Zukunftsperspektive, die sie mit einer kleinen Anspielung auf die verliebten Strahle-Selfies, die ihr Faye zwischendurch aus dem Urlaub geschickt hatte, abrundete. Falls man sich Glück verdienen konnte, dann hatten diese beiden auf jeden Fall längst eine ganze Menge davon zugute.
Sarkasmus hin oder her war das leider eine Tatsache, an der sich nicht rütteln ließ. Man konnte so viele Prognosen aufstellen, wie man wollte - am Ende konnte man trotzdem erst im Nachhinein sagen, welcher Fall eingetreten war und was am besten gewesen wäre. So funktionierte das Leben in neun von zehn Fällen und das konnte ordentlich aufs Gemüt schlagen, wie ich bestens musste. Trotzdem nickte ich auf diese Feststellung hin nur mit einem andächtigen Blick ins Wasserglas. “Ihr seid - wahrscheinlich beide - willens, mit einer Haftstrafe zu pokern. Das ist schon Grund genug zum Dank, in Anbetracht der Vergangenheit.”, stellte ich nachdenklich murmelnd fest. Aryana war auch so ein Mensch, der mit Dank nur semi-gut umgehen konnte, oder? Vielleicht machte Mitch ihr auch einen Strich durch die Rechnung, weil er ziemlich sicher ungerne zurück hinter Gitter wollte. Andererseits spielte er aber vielleicht noch immer gerne mit dezent zu hohem Einsatz und außerdem schlug er Aryana ziemlich sicher nichts dergleichen aus. Hatte er nie, wieso sollte er jetzt damit anfangen? Ebenso wie Aryana gefiel auch mir die so völlig unbeschwerte, lebensfrohe Version von Faye und mir am besten. Deshalb zuckten meine Mundwinkel kurz nach oben, obwohl ich den Blick trotzdem nur langsam wieder anhob. Ich hing mit den Gedanken noch kurz in dem Moment fest, als wir einfach einen angenehm erfrischenden Sprung ins Wasser machen konnten. Noch vor dem Frühstück, noch bevor sich der Rest all der schönen und viel zu kurzen Tage abgespielt hatte. Mir war möglicherweise anzusehen, dass ich mir in diesem Moment wünschte, schon damals oder wenigstens kurz danach ohne Zweifel gewusst zu haben, was die Hernandez schon wieder im Schilde führten. Ungefähr so, wie Aryana gerne Warren früher ausgelöscht hätte, hätte ich jetzt gerne schon viel früher meine Sachen mit Faye gepackt… zusammen, nicht jeder für sich in anhaltender Angst um den jeweils anderen. "Irgendwann… nach dem wahrscheinlich anstrengenden Neustart… ja." Selbst wenn die Höllenbrut dann tatsächlich endlich die Finger von Faye ließ, würde es wieder eine ganze Weile dauern, bis wir uns eingelebt hatten. Natürlich war das Wichtigste nach wie vor, dass wir einander hatten und am selben Strang zogen. Trotzdem war Los Angeles eher nicht mit der Kleinstadt hier zu vergleichen.
Zeitsprung ----> 25. November
MATEO (der auf ewig bannerlose x'D) Es kam eigentlich gar nicht unbedingt oft vor, dass ich Leute kidnappen ging. Komischerweise häuften sich solche Aktionen aber seit Faye vor einer halben Ewigkeit auf Sean getroffen war. Letzterem ging es im Knast eigentlich so gut, wie es ihm dort mit einer endlos langen Haftstrafe gehen konnte. Ich besuchte ihn so regelmäßig, wie es sich einrichten ließ und eigentlich wurde er schon zu dem Zeitpunkt unausstehlich, als er eine offenbar ausreichend große Gang um sich gesammelt hatte, die ihm das Ruder im Zellenblock sicherte. Zu diesem Zeitpunkt wurde ihm nämlich offensichtlich sehr langweilig. Das war schon ewig her und da hatte das angefangen - das Gerede davon, dass das Huhn mit Ryatt nach wie vor nicht gerupft war und er diesem Bastard eigentlich gerne eigenhändig den Hals umdrehen wollte. Aus symbolischen Gründen, nahm ich an. Doch ganz gleich wie stetig der Geldfluss familienintern lief, war der nicht für solche Kautionssummen gedacht. Vater würde uns allesamt zurück nach Mexiko abschieben, würden wir all das sorgfältig gewaschene Geld dafür opfern. Wir waren nicht die italienische Mafia, sondern eher Kleinkriminelle mit teils zu hohen Ambitionen - siehe Ryatt. Ganz gleich wie bahnbrechend dieser Typ früher bei der Army angeblich gewesen war, taugte er offensichtlich nicht zur illegalen Beschaffung hoher Geldbeträge. Damals als Seans Komplize nicht und auch jetzt nicht. Außerdem waren seine Nerven aus Stahl von früher unübersehbar ebenfalls dahin, weil er ziemlich zügig zu Faye und Victor gerannt war, kaum hatten wir ihm wieder eine indirekte Drohung in den Nacken gesetzt. Er hatte oft beteuert, dass er ihnen nichts gesagt, sondern nur nach dem Rechten gesehen hatte, weil ihm, wie wir ja wussten, etwas an Faye lag. Leider umso naheliegender, dass er eben doch geplaudert hatte und spätestens, als das kleine Miststück dann offenbar zu ihrer Schwester mit Freund umzog, brauchte er das nicht mehr zu leugnen. Wie auch immer er seinen Arbeitskollegen das blaue Auge erklärt hatte, schien unsere Warnung bis heute nicht gefruchtet zu haben. Er hielt uns nach wie vor mit doppeldeutigen Aussagen hin, ohne Ergebnisse zu liefern. Laut Sean war es also höchste Zeit dafür, diesen Irrsinn wieder auf ein neues Level zu heben und irgendwie gab es inzwischen auch einfach kein Zurück mehr. Aryana und Mitch waren gestern zum ersten Mal wieder für einen ganzen Arbeitstag lang verschwunden, also jetzt oder nie. Während ich mich auf der Rückbank von Fayes Wagen hinter dem Fahrersitz so winzig wie nur irgendwie möglich machte, wartete Riley in einem unauffälligen Auto auf dem nächstgelegenen Parkstreifen auf der anderen Seite der Fahrspur, also höchstens zehn Meter entfernt. Eigentlich hatte Gil einen dieser Parts übernehmen wollen, aber aus dem simplen Grund, dass wir Faye eigentlich gar nichts tun wollten, kam das nicht wirklich in Frage. Deswegen stand er verdeckt von Schatten ein gutes Stück entfernt, aber in Sichtweite des Ein- und Ausgangs, den Faye für gewöhnlich nach der Arbeit nutzte. Er würde erst später zu uns stoßen, wenn einem von uns danach war, mal aus der Lagerhalle rauszukommen. Wir hatten ein kurzes Ablenkungsmanöver geplant, damit Faye bestenfalls erst dann, wenn all ihre Arbeitskollegen schon weggefahren waren, selbst zu ihrem Auto ging. Je weniger Leute hier herumliefen, desto besser. Die sympathische alte Lady, die vermeintlich zu einem frühen Kontrolltermin in der Röntgenabteilung musste und sich nicht zurechtfand, bekam eine nette Summe dafür, Faye damit nochmal für fünf Minuten zurück nach drinnen zu locken. Sie glaubte natürlich, dass sie etwas Gutes tat und wir Freunde der Brünetten waren, die eine schöne Überraschung planten. Stattdessen würden wir eine Fahrt in eine entlegene Ecke der Stadt machen, die Faye nie hätte sehen wollen. Wenn es nach Sean ginge, hätten wir sie ruhig nochmal in die Scheune zerren können, aber das würde sie mehr retraumatisieren, als nötig war. Wahrscheinlich wäre sie so schon beinahe wieder reif für die Klapse, es war also einfach unnötig. Ihr zu schaden war nicht das Ziel, der Fokus lag zu Gils großem Missfallen auf Ryatt. Mein Bruder gab mir mittels Kurzstreckenfunk durch, dass Faye sich jetzt auf den Weg zum spärlich beleuchteten Parkplatz machte. Ich warf einen letzten Blick nach hinten über die Rückbank zu Riley im anderen Fahrzeug und holte mir von ihr noch Bereit-Status ab, bevor ich das Funkgerät zur Sicherheit ausschaltete. Der Parkplatz schien leer und ich verkrümelte mich wieder tief in den Sitz. Um Folgeschäden für sie zu vermeiden, musste Faye nur ganz oldschool einen gezielten Würgegriff aushalten. Das würde sie allerdings bloß einige Sekunden ausknocken - so lange, bis ihr Gehirn wieder mit ausreichend Blut versorgt war - also musste das Ganze entsprechend zügig über die Bühne gehen. Wenn ich sie zum Fluchtwagen rüberzog, musste sie mundtot und ausreichend verschnürt sein, dass sie nirgends zum Krach machen gegenschlug.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Der Tag war gekommen, an dem Victor, wie kurzfristig geplant, abgereist war. Er hatte davor sein Auto verkauft und sie hatten abgemacht, welche Teile des Wohnungsinventars mit nach Los Angeles kamen und was sie bis zu ihrer eigenen Flucht in den Süden noch loswerden sollte. Sie hatten die Wohnung gekündigt und Faye ihren Job. Und zwei Tage nach seiner Abreise war sie zu Mitch und Aryana ins Gästezimmer gezogen. Sie war an ihren freien Tagen oft in der Wohnung gewesen, um alles zusammenzupacken, zu putzen und für einen den Umständen entsprechend trotzdem möglichst ordentlichen Abgang zu sorgen. Ihre Freundinnen hatten ihr zwischendurch dabei Gesellschaft geleistet, was Faye sehr schätzte, gerade weil sie doch auch hier irgendwie nicht zu einem richtigen Abschied kommen würde. Im Grossen und Ganzen waren die letzten Wochen einfach schwierig gewesen. Das war zu erwarten gewesen, was es aber leider nicht erträglicher machte. Sie war zwar sehr dankbar für das vorübergehende Asyl bei Aryana und Mitch, fühlte sich aber auch scheisse, die beiden mit in ihr Elend zu ziehen und potenziell in Gefahr zu bringen. Der Abschied auf der Arbeit fiel ihr bekanntlich auch nicht leicht und die Organisation des Umzugs war sehr anstrengend, zeitintensiv und sie musste gefühlt an tausend Sachen denken. All das, während ihr Kopf gleichzeitig trotz Therapiestunden einen fetten Schritt rückwärts gemacht hatte, was ihren Umgang mit Trauma und Paranoia anging. Vielleicht war die Vorsicht besser. Dass sie sich so oft umschaute und nirgendwo alleine hingehen wollte. Dass sie sich drinnen versteckte und abends nicht raus ging. Aber es raubte Energie, sich ständig beobachtet zu fühlen und alles zu hinterfragen, an so viele Möglichkeiten und Gefahren zu denken. Der kleine Tracker, den sie auch jetzt in ihrer Jeanstasche spürte, hatte ihr ein winziges bisschen Seelenfrieden zurückgeben können. Aber er half auch nur solange, wie sie ihn auf sich trug und niemand ihn ihr wegnahm. Wie gross diese Chance war, konnte sie noch immer nicht einschätzen - aber höchstwahrscheinlich wurde sie jeden Tag ein bisschen grösser. Bis sie am 30. November endlich abhauen konnte. Im Gegensatz zu Victor, würde sie mit ihrem eigenen Auto die etwas weniger als 2000 Kilometer nach Los Angeles fahren. Sie hatte dann ja Zeit, so als Arbeitslose. Auch Faye hatte mit dem Gedanken gespielt, den Wagen zu verkaufen und im Süden einen neuen zu suchen, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Erstens war es zu stressig, neben allem anderen auch noch das Auto zu einem Okay-Preis zu verkaufen, zweitens hing sie eigentlich schon etwas an dem Fahrzeug, das auch noch in bestem Zustand war und drittens hätte sie dann möglicherweise einen oder mehrere Tage länger bleiben müssen, je nachdem, wie der Verkauf terminiert hätte werden können. Wenn sie am ersten Tag sehr viele Kilometer schaffte, dürfte die einsame Reise in den Süden auch mit ihrer Paranoia vereinbar sein. Und vielleicht war das auch abgesehen davon nicht schlecht für ihren Kopf und den Abschied von Washington State. Jedenfalls waren bis dahin jetzt nur noch ein paar Tage zu überstehen. Sie hatte gerade ihre letzte Nachtschicht hinter sich gebracht, heute war Ruhetag und morgen frei, weshalb da das Zügelunternehmen die ganzen Möbel und gepackten Kisten aus der Wohnung holen kommen sollte. Sie lebte bereits jetzt aus dem Koffer, die alte Wohnung war praktisch abgabebereit. Musste nach dem Abtransport der Einrichtung nur nochmal kurz durchgeputzt werden und das Kapitel war zu Ende geschrieben. Dann noch zwei Frühdienste und ein Spätdienst und sie war fertig. Sie hatte sich eigentlich nochmal mit Ryatt treffen wollen… einfach, um sich von ihm zu verabschieden. Auch wenn sie das so nicht gewollt hatte, war es sehr naheliegend, dass ihre Freundschaft hier mehr oder weniger ihr Ende finden würde. Sie brauchte sich nichts vorzumachen, LA war weit weg und sie und Victor brauchten dringend einen Neustart ohne Altlasten. Ohne Ryatt. Nach dem hier drohenden Desaster war selbst ihr klar, dass es zu naiv und utopisch war, sich nochmal unbeschwerrt auf ihn einzulassen. War auch nicht wirklich möglich, auf diese Distanz. Leider war er genau wie Aryana und Mitch heute an diese beschissene Pflichtübung gebunden, weshalb die zeitlichen Möglichkeiten für ein solches Treffen immer wie beschränkter wurden. Faye hoffte trotzdem, das noch irgendwie hinzukriegen. Sie war nicht der Typ für sang- und klanglose Abgänge ohne ihm wenigstens nochmal alles Gute gewünscht zu haben. Aber nicht jetzt. Jetzt musste sie erstmal nach Hause, auch wenn sie das nicht wirklich wollte. Sie hatte schon gestern vor der Nachtschicht schlecht geschlafen, weil sie alleine gewesen war, nachdem es draussen bereits dunkel geworden war. Es war nichts passiert, aber das konnte ihr eben im Voraus keiner versprechen und ihr Gefühl war gewohnt beschissen, als ihre Schicht ein Ende fand. Sie trödelte in der Garderobe mit dem Umziehen und verzog sich anschliessend aufs Klo, als wäre tatsächlich eine drückende Blase ihr Problem. Faye war fast froh, als sie auf dem Weg nach draussen nochmal aufgehalten wurde. Die Röntgenabteilung des Krankenhauses wirkte halt leider wesentlich sicherer auf sie als eine stille, einsame Wohnung. Und die alte Frau hatte wirklich etwas hilflos gewirkt und sich sehr für die Hilfe bedankt… nachdem sie ihr ihre Lebens- und Unfallgeschichte einmal vor und zurück durcherzählt hatte. Dann wurde es aber trotzdem Zeit, zu gehen. Noch im Inneren des Krankenhauses tippte sie eine Nachricht an Aryana, liess sie wissen, dass sie sich jetzt auf den Heimweg machte. Worauf auch prompt eine Antwort kam, als hätte ihre Schwester bereits auf diese Worte gewartet. Faye behielt das Handy zwischen den Fingern - auch nachdem sie versichert hatte, sich wieder zu melden, wenn sie zuhause war. Sie schaute sich mehrmals um, als sie das Gebäude verliess. Ganz ihr paranoides Selbst. Aber es war nichts Auffälliges zu sehen. Es standen relativ viele Autos rum, von dem ganzen Personal der Frühschicht. Und irgendwo dazwischen, nicht zu weit vom Eingang, ihr eigenes, das auf sie wartete. Ihre Finger tasteten nach dem Tracker in ihrer Jeans, sie atmete tiefer durch und ging schneller, nachdem sie ihn unter den Fingerspitzen gespürt hatte. Etwa mit acht Meter Entfernung, entriegelte sie den schwarzen Wagen. Blickte sich nochmal hastig um. Aber da war nichts und ihr Bauchgefühl sollte sich besser mal wieder beruhigen. Sie hatte das Handy noch immer neben der Handtasche in der linken Hand, als sie mit Rechts die Fahrertür öffnete, einstieg und die Tasche auf dem Beifahrersitz deponierte. Zog die Tür zu und steckte den Schlüssel ins Zündschloss, nur um dann erst die Zentralverriegelung zu betätigen, bevor sie nach der Gurtschnalle angelte.
MATEO Ganz gleich wie oft man schon den Nervenkitzel gespürt hatte, der unweigerlich immer dann aufkam, wenn man etwas sehr Verbotenes tat, wurde er auch über die Jahre hinweg nicht weniger. Faye brauchte nicht lange vom Eingang bis zu ihrem Auto. Mein Herz schlug unter Einfluss von Adrenalin bereits einige Takte zu schnell gegen meinen Brustkorb, als sich die Türschlösser des Wagens entriegelten und ich mich instinktiv noch kleiner machte. Die schwarzen Klamotten waren auf den ebenso dunkel bezogenen Sitzen und Fußraum gut getarnt, doch es blieb ein Restrisiko, gesehen zu werden. Das Glück schien jedoch auf meiner Seite zu sein. Die Fahrertür wurde aufgezogen und kurz darauf schwankte das Auto leicht unter dem Gewicht der einsteigenden Person. Ich war schon dabei, mich möglichst lautlos aufzurichten, als der Wagen erneut verriegelt wurde. Das war ein kleines Hindernis mehr, das mich jedoch nicht beirrte. In einer fließend schnellen Bewegung legte ich die rechte Hand grob an Fayes Stirn und drückte ihren Kopf in die Lehne, um im nächsten Moment den linken Ellbogen um ihren gestreckten Hals zu legen. Danach stabilisierte ich meinen Arm ohne Umschweife mit der zweiten Hand. Weil ich doch etwas aus der Übung war, fühlte es sich ein bisschen an wie damals, als ich mit meinen beiden Brüdern in jungen Jahren ein paar Kampftechniken zur Selbstverteidigung gelernt hatte – zu hundert Prozent wusste ich nicht, was ich da tat, aber es schien zu funktionieren. Es war nicht mein erster Würgegriff und ich konnte zwar Fayes Gesicht nicht sehen, spürte aber sehr bald exzessive Gegenwehr. Die Kopfstütze des Fahrersitzes drückte mir schmerzhaft in die Schulter und machte das Festhalten deutlich anstrengender, doch der Sitz war insofern sehr praktisch, dass er mich völlig von Fayes reflexartiger Selbstverteidigung abschirmte. Je länger sie sich wehrte, desto mehr versteiften sich die Muskeln in meinen Armen. Ich hatte keine Lust darauf, mich von Riley oder Gil – oder noch schlimmer Sean in ein paar Tagen – anschnauzen zu lassen, weil ich diesen entscheidenden Moment versaut hatte. Also hielt ich sie trotz krampfenden Armen so lange fest, bis das Röcheln nach Luft allmählich leiser wurde. “Du machst uns beiden… diese Sache wirklich… mühsamer… als sie sein müsste.”, presste ich angestrengt zwischen den Lippen hervor. Vielleicht hätte ich besser die Klappe gehalten, weil meine Stimme die Brünette nicht unbedingt zu beruhigen schien. Ihr Selbstrettungszug war aber sowieso schon abgefahren, als sie ins Auto gestiegen war. Es machte keinen Unterschied mehr. Es waren verdammt lange 15 Sekunden, bis Fayes Hände tatsächlich von meinen Armen abfielen und die Reglosigkeit eintrat. Mit zitternden Armen ließ ich sie los und zog das präparierte Stück Panzertape ab, das mit einer Ecke am hinteren Ende der Mittelkonsole klebte, um ihr die Lippen damit zu versiegeln. Ich gab der jungen Frau einen milden Schubs nach vorne, damit ich ihr beide Hände auf den Rücken ziehen und mit altbewährtem Kabelbinder zusammen schnüren konnte – nichts ging schneller als das und Zeit war ein entscheidender Faktor. Ich streckte mich zwischen den Vordersitzen hindurch bis zu dem Schalter für die Zentralverriegelung, bevor ich die Tür neben mir aufstieß. Ich sah nicht zum Fluchtwagen, hörte Riley aber aussteigen. Kaum hatte ich die Fahrertür geöffnet, griff ich nach dem Arm der Bewusstlosen und zog sie aus dem Wagen. Mit Faye im rechten Arm, schmiss ich die Autotür mit links wieder zu, weil das weit weniger Aufmerksamkeit erregte als ein offenstehendes Fahrzeug. Riley half mir dabei, die neue alte Geisel möglichst unauffällig über den geteerten Parkplatz zu unserem Wagen zu manövrieren. Schon währenddessen blinzelte Faye und kam langsam wieder zu sich. Umso dankbarer war ich also dafür, dass meine jüngere Schwester die hintere Tür des Wagens bereits geöffnet hatte und auch dabei half, die sich langsam wieder windende Brünette auf den Rücksitz zu ziehen. Wir schnallten sie zwangsweise etwas grob an – weniger aus Sicherheitsgründen für sie als für mich. Auch wenn sie keine Hände zur Verfügung hatte, konnte Faye sich so noch ein gutes Stück weniger bewegen. Riley verriegelte zusätzlich die Türen, als sie wieder hinterm Steuer saß. So konnte ich das Bündel neben mir in Ruhe nach Gegenständen abtasten, die sie besser nicht bei sich tragen sollte, während das Auto schon ins Rollen kam. Das Handy hatte sie in ihrem Auto fallen lassen, aber ich ging trotzdem noch auf Nummer sicher und suchte zuerst die Taschen ihres Mantels ab. Ich war nicht mein ehrlicherweise ein Fünkchen weniger intelligenter Bruder – dennoch kam ich daraufhin nicht drum herum, Fayes Jacke zu öffnen und sie auch an Stellen anzufassen, wo sie meine Hände offensichtlich lieber nicht haben wollte. Gerade da wäre es klug, Dinge zu verstecken, also kamen wir da jetzt nicht drum herum. “Ich will das auch nicht, aber ich muss. Es geht schneller, wenn du stillhältst.”, riet ich Faye mit einem genervten Seufzen, die Sache nicht zu verkomplizieren. Wir konnten hier in zehn Sekunden fertig sein, wenn sie aufhörte, sich zu winden wie ein im Sterben liegender Fisch am Ufer. An ihren Beinen war ich trotzdem achtsam – nicht, dass sie mir hier gleich ein Knie sonst wohin rammte. Victors Kopfnuss hatte mich ziemlich geprägt und ich war seitdem übervorsichtig auf kurze Distanzen geworden. Wenn man genau hinsah, konnte man die gebrochene Nase leider immer noch sehen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Es gab Momente, da sollte man besser auf sein Bauchgefühl hören. Das war nur halt auch nicht so einfach, wenn das Bauchgefühl seit Tagen durchgehend Alarm schlug. Wenn man immer ein bisschen von Paranoia verfolgt wurde, wenn man immer ein bisschen Angst hatte. Wenn hinter jeder Ecke eine Gefahr lauern könnte - oder eben hinter keiner. Dafür hinter einer Autotür. Da, wo sie sich gerade eingeschlossen hatte, weil sie sich hier drin im Normalfall einigermassen sicher fühlte. Bis heute. Und offensichtlich zu Unrecht. Die Hand, die sich an ihre Stirn legte, kündigte das Elend sehr deutlich an, entlockte ihr einen erschrockenen Schrei. Sie schnappte nach Luft, wollte sich bereits umdrehen, als sich die Schlinge in Form eines fremden Armes eng um ihren Hals schloss. Viel zu eng. So, dass sie eigentlich sofort wusste, was das Ziel des wahrscheinlich nicht ganz Unbekannten auf dem Rücksitz war. Das machte es aber nicht besser oder erträglicher, weil sie nicht bewusstlos werden durfte. Sie konnte nicht mit den Folgen leben, konnte das weder sich selbst, noch Victor, Aryana oder Ryatt antun. Darum kratzen ihre Finger auch seinen Arm blutig und sie wand sich hin und her um dem unnachgiebigen Griff zu entkommen. Aber es passierte nichts und sie hatte ihr Handy fallen gelassen, konnte nicht zu ihrer Tasche sehen, um irgendwas zur verstärkten Gegenwehr herauszuholen. Pfefferspray wäre auch schwierig, wenn sie ihren Gegner nicht sah, sie nicht zielen konnte und sich sowieso selbst einnebelte, weil sie sich in einem geschlossenen Auto befanden. Ausserdem wurde ihr schwindlig. Während sie den angestrengten Atem in ihrem Nacken hörte, bekam sie selbst gefühlt gar keine Luft und der Griff wurde immer enger. Und dann hörte sie seine hässliche Stimme durch das Rauschen in ihren Ohren. Eine Stimme, die sich allzu tief in ihr Gedächnis gebrannt hatte, als das sie sie jemals vergessen könnte. Mateo. Es war nicht Gil, das war gut. Aber es war sein Bruder, das war nicht gut. Sein Bruder, der Menschen gerne in die Augen sah, während er ihre Haut verbrannte. Der einem Messer in die Haut stechen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Bruder. Dann war es nur eine Frage der Zeit, bis die anderen auch auftauchten. „Du… dreckiges… verdammtes… Arschloch…“, die Worte waren kaum verständlich, als sie von ihren Lippen geformt wurden. Es war aber das Letzte, was sie sagte, bevor der Sauerstoffmangel ihr Hirn in die schwarze Ohnmacht drängte. Hier, in diesem Kampf, den sie unbedingt nicht hatte verlieren dürfen. Faye hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging, bis sie wieder zu sich kam. Die Welt drehte sich noch schneller in ungefähr jede Richtung und ihr Kopf hatte den kurzen Aussetzer auf jeden Fall so gar nicht gut mitgemacht. Sie wusste, dass sie sich wehren sollte, dass sie gegen das ankämpfen musste, was die beiden Teufel hier mit ihr machten. Aber sie konnte ihre Hände nicht bewegen, irgendwas klebte auf ihrem Gesicht, sie konnte nicht schreien und ihre Füsse gehorchten ihr mehr schlecht als recht, wurden ziemlich verloren über den Teer geschleift. Und dann wurde sie in ein fremdes Auto gesteckt und egal wie wenig sie gerade verstand, wusste sie sehr sicher, dass sie hier wieder raus musste. Irgendwie. Aber Riley und Mateo ignorierten oder unterdrückten jeden ihrer Befreiungsversuche sehr effektiv und effizient. Und langsam kroch die Panik zurück in ihre schweren Glieder, biss sich fest und wollte nicht mehr weichen. Das führte zu einem noch kratzigeren Hals und sie begann unter dem Tape zu husten, was zusätzlich das Gefühl zu ersticken, verstärkte. Und damit wiederum ihre Panik schürte. Die Türschlösser klickten, die Reifen kamen ins Rollen. Und Mateos Hände streckten sich nach ihr aus. Begannen damit, ihre Kleidung und ihren Körper abzutasten. Überflüssig zu erwähnen, dass sich ihre Pseudo-Schnappatmung zwischen dem Husten damit nur verschlimmerte. Ihre Lungen sich nur oberflächlich mit Luft füllen konnten. Ich will das auch nicht, sagte er. Dann sollte er auch nicht, verdammt! Er tat das freiwillig, sie könnte ihm schwören, dass es nichts zu finden gab, wenn er nur das Tape entfernen würde! Nichts - bis auf etwas, das er nicht finden durfte. Sie hatte den Tracker so tief wie möglich in der kleinen Hosentasche versenkt. Von aussen würde er ihn nicht ertasten, aber wenn er die Finger ebenfalls reinsteckte, war sie sich der Sache nicht mehr so sicher. Im Sitzen ging das aber denkbar schlecht. Ausserdem würde er sowas eh nicht erwarten, oder? Er suchte bestimmt nur nach Handy und Waffen, oder? Sie hatte keine Ahnung. Aber es war auch nicht so, als könnte sie irgendwas anderes tun, als Panik schieben und möglichst kräftig nach ihm zu treten, weil alles andere in dieser beschissenen Position sehr schwer bis unmöglich war. Viel mehr als seine Beine konnte sie mit ihren Füssen und Knien aber auch nicht erreichen, dem Gurt sei Dank, der ihre Bewegungsfreiheit weiter einschränkte. Mateo kam auch nicht nah genug für eine Kopfnuss - seine leicht schiefe Nase liess vermuten, dass er diesbezüglich aus Fehlern gelernt hatte - und Faye wusste doch, dass übertriebene Gegenwehr zu diesem Zeitpunkt alles nur schlimmer machen könnte. Sie kam hier eh nicht weg mit den Kabelbinder, geschlossenen Türen und zwei Personen, die sich gerne gegen sie einsetzten. Trotzdem streckte sie ihre Finger nach der Gurtschnalle aus, um diese zu lösen. Ein bisschen mehr Freiraum zu schaffen. Ein bisschen Platz, damit sie hier nicht gefühlt zum zweiten Mal erstickte.