MATEO Faye schien wirklich einer von diesen Menschen zu sein, die gar nicht anders konnten, als sich auf Biegen und Brechen zu wehren, während andere in ihrer Situation möglicherweise eher in angsterfüllte Schockstarre fielen. Angesichts der Tatsache, dass sie ein paar ziemlich harte Jahre hinter sich hatte, war ihre heftige Reaktion nachvollziehbar. Es änderte nur einfach nichts daran, dass sie mir mit diesem Gezappel wirklich auf die Nerven ging - je länger, je mehr. Ich hatte schon wesentlich Schlimmeres erlebt als ein paar Kratzer und unkoordinierte, verzweifelte Tritte. Es war auch nicht das erste Mal, dass mir eine Beleidigung an den Kopf flog. Trotzdem würden wir hier mindestens 15 Minuten lang nebeneinander sitzen, bis wir uns vom Krankenhaus bis auf die andere Seite der Stadt durchgeschlagen hatten. Wir waren noch etwas vor dem Berufsverkehr dran - außer vor den Schichtarbeitern, die jetzt schon anfingen - was die Strecke an sich aber nicht verkürzte. Wir beide mussten diese Zeit auf dem Rücksitz absitzen und wenn Faye weiterhin dermaßen unkooperativ blieb, konnte ich auch die Peitsche an Stelle des Zuckerbrots rausholen. Das war zwar nicht der Plan, aber im Notfall trotzdem eine kleine Option. “Hör auf damit, verflucht nochmal!”, fauchte ich mit ins Gesicht gezogenen Augenbrauen zu ihr rüber, als doch tatsächlich das lösende Klicken des Gurtes zu hören war. Sie hatte mich mit ihren Beinen gut beschäftigt, das musste ich ihr zusprechen. Ich griff trotzdem prompt nach dem Gurt und befestigte ihn wieder - nur änderte auch meine offensichtlich gereizte Drohung nichts am trotzigen Verhalten der panischen Brünetten. Riley warf mit einem tiefen Atemzug einen gereizten Blick in den Rückspiegel, was ihr wegen zwei Tritten an ihren Sitz nicht zu verübeln war. Wir hielten nur diesen kurzen, stummen Kontakt, bevor ich in meine rechte Hosentasche griff und dabei schon zurück zu Faye blickte. Letztere sah sich kurz darauf mit einer Klinge konfrontiert, die immer wieder unter dem Licht der Straßenlaternen aufblitzte. Es war dasselbe Messer, das ich Victor damals mit viel Eifer in die Narben im Rücken gestochen hatte - ich glaubte aber nicht, dass sie sich daran erinnern würde. Sie war damals etwas zu sehr unfreiwillig mit Gil beschäftigt gewesen. Ich setzte nur die Spitze des Messers seitlich an Fayes Hals, ohne dabei Druck auszuüben. Mit der kurzen Berührung der Klinge wollte ich lediglich bewirken, dass sie mal damit anfing, den Kopf wieder einzuschalten und innezuhalten. “Jetzt hör mir mal ganz genau zu, kleines Miststück. Wir beide wissen, dass du keine Chance hast, aus diesem Auto rauszukommen. Ich würde dir also dringend raten, meinen ziemlich kurzen Geduldsfaden nicht unnötig zu strapazieren… das mexikanische Temperament, du weißt schon.”, meinte ich mit trockenem Sarkasmus, so als täte meine Abstammung hier irgendetwas zur Sache. Oder als wäre hier gerade irgendjemandem nach Lachen zumute. “Bisher habe ich nicht vor, dich zu verletzen… oder Gil zu dir zu lassen, der in ein paar Stunden zu uns stoßen wird. Wenn Ryatt ein braver kleiner Soldat ist und endlich damit aufhört, uns zu verarschen, könnte es dabei bleiben. Das setzt allerdings auch ein bisschen guten Willen zur Mitarbeit deinerseits voraus.” Ich drückte die Klinge ein klein wenig mehr an ihre Haut, aber nach wie vor ohne Blut zu provozieren. Es war nur eine nachdrückliche Aufforderung, keine Verletzung. “Ich sag’s dir also hoffentlich zum Letzten Mal: Tu dir selbst einen großen Gefallen und lass’ diese Scheiße sein.”, murrte ich zu ihr rüber. Anschließend zog ich mit zu Schlitzen verengten, wachsamen Augen ganz langsam die Klinge zu mir zurück - als Anzeichen dafür, dass ich meine Worte durchaus ernst meinte. Es stand schlichtweg nicht auf der Agenda, unserer Geisel etwas anzutun. Faye hatte ihr Fett weggekriegt, es ging hier nur um Ryatt. Dass die zierliche Brünette in dieser Sache trotzdem noch mit drin hing, war irgendwie einfach Pech oder schlechtes Karma. Sie hätte sich besser nicht noch einmal auf diesen Idioten eingelassen, der außer ihr hier nichts hatte. Es war allerdings nach wie vor nicht besonders schwer, mich zu Gewalttaten zu animieren und sie täte gut daran, ihren Elan diesbezüglich von jetzt an einzuschränken. Ihr Liebster, der wieder sonstwohin verschwunden war, würde sich bestimmt auch darüber freuen, wenn ihr Körper nicht noch mehr Narben aufwies. Vor allem nicht die berüchtigten hässlichen Buchstaben von unserem Pseudopicasso, der in der ursprünglichen Fassung dieses Plans nicht mit Faye in Kontakt kam.
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Das hatte jetzt irgendwie auch nichts gebracht. Hatte sie kommen sehen, ja. Aber es war trotzdem scheisse. Warum nahm er nicht wenigstens das Tape von ihrem Mund, damit sie besser atmen konnte?? Es würde sie ja doch keiner hören, wenn sie schrie. Aber er fürchtete sich scheinbar wirklich sehr davor, dass sie mit ihm redete, anders war das nicht zu erklären. Und wenn er sie so hasste, warum hatte er sie dann überhaupt erst in dieses Auto geschleppt und nicht Ryatt?? Der Veteran würde das Geld auch dann nicht besorgen können, wenn er wusste, dass diese Ausgeburten der Hölle ihre Drohungen wahr gemacht hatten. Wie auch, die Summe war viel zu hoch und Sean hatte seine beschissene Strafe mehr als verdient! Sie hätte Ryatt besser nie dazu angestiftet, vor Gericht auszusagen… dann hätte Sean ihn aber eher früher als später wieder in die Mangel genommen, vielleicht umgebracht. Sie konnte echt nicht mehr einschätzen, welches Elend schlimmer ausgefallen wäre. Ob sie überhaupt irgendwo in dieser Geschichte die richtige Entscheidung getroffen hatte. Was sie jedoch sicher wusste, war, dass das hier gerade sehr nahe ans Worst Case Szenario für sie und Victor kam. Dass die Situation auch jegliches Potenzial dazu besass, sich zu genau diesem Worst Case zu entwickeln. Dass die reale Chance bestand, dass sie sterben würde - auf welche Art auch immer. Und da Ryatt das Geld nicht hatte, lag ihre einzige Hoffnung auf Rettung bei ihrer Schwester und Victor. Victor war in LA und ihre Schwester bis heute Abend bei einer Pflichtübung. Ungefähr genauso beruhigend wie die Klinge, die plötzlich in Mateos Hand aufblitzte. Fayes Augen hafteten wie hypnotisiert an dem Metall, während sie zurückwich, als das Messer näher kam. Allzu viel Spielraum war im Innenraum des Autos nicht gegeben, weshalb die kalte Klinge sich trotzdem an ihre Haut schmiegte. Damit war Mateo dann das letzte der vier Geschwister, das glaubte, ihr eine Klinge an den Hals - oder sehr nahe daran - halten zu müssen. In einem fahrenden Auto. Ihre grossen Augen lagen wieder auf Mateos Gesicht, seit sie die Klinge nicht mehr wirklich sehen konnte. Er redete mit ihr, als wäre sie es, die hier gerade Scheisse baute. Aber er sagte auch ein paar Sachen, die tatsächlich nicht so irelevant waren. Sie brauchte ein paar Sekunden, um seine Worte zu begreifen und zu verarbeiten, hielt sich jedoch selbstverständlich still, seit er das Messer gezückt hatte. Er hatte aufgehört, sie durchsuchen zu wollen. Wenn er fortan weiter davon absah, konnte sie den Tracker erfolgreich einschleusen. Ob das reichen würde? Ob Aryana schnell genug dort sein würde, wo ihre Reise heute endete? Bevor Gil Eigeninitiative ergriff, um seine Drohungen wahr zu machen? Bevor die Geschwister noch ein bisschen mehr Druck auf Ryatt machen wollten? Sie wusste es nicht. Sie hatte Victor und sich selbst versprochen, dass sie alles tun würde, um sich zu verteidigen. Alles, um diesmal nicht als hilfloses Opfer zu enden. Wenn sie aufhörte, sich zu wehren, wurde sie jedoch genau das. Sie hatte aber nicht definiert, wie dieses Alles aussah, sobald Waffen im Spiel waren. Wie genau die Verteidigung ausfallen sollte. Was sie machte, wenn sie mit diesen Optionen konfrontiert war. Ob sie abwarten sollte, so schwierig das auch war. Ob sie darauf vertrauen sollte, dass der Tracker seine Aufgabe erfüllte. Dass Mateo die Wahrheit sagte und ihr erstmal nichts passierte. Das war das grösste Risiko, denn auf sein Wort sollte sie grundsätzlich eher nichts geben. Er war genauso kriminell und hinterhältig wie sein Bruder, genauso aggressiv und gewalttätig, rachsüchtig und grössenwahnsinnig. Eine einzelne Träne tropfte links aus ihrem Augenwinkel und sie verkrampfte die Hände zu stummen Fäusten, wodurch sich die Kabelbinder unnötig tiefer in ihre Haut gruben. Ihr Hals kratzte noch immer, verlangte nach Wasser. Faye liess Mateo nicht aus den Augen, wollte sofort sehen, falls er sich wieder zu bewegen begann. Er hatte aufgehört, sie zu berühren, aber ihr Blick blieb trotzdem unentwegt an ihm hängen. Damit sie umgehend wieder nach ihm treten konnte, falls seine Hände zu nahe kamen. Oder falls das Auto anhielt und sie plötzlich doch eine Chance zur Flucht sah. Sie konnte noch nicht wirklich ableiten, wohin die Fahrt gehen sollte, wenn sie eine Viertelstunde dauerte. Eher nicht zu ihr oder Aryana nachhause. Aber sicher auch nicht wieder zur Scheune… oder? Die war weiter weg gewesen, glaubte sie. Sie war sich aber längst nicht sicher genug, um aus der Gewissheit Ruhe zu schöpfen. Ein Wiedersehen mit diesem Ort würden ihre Nerven aber definitiv nicht mitmachen - ganz gleich ob an jedem anderen Ort das Gleiche passieren könnte wie dort. Sie würde gerne in ihrem Kopf Ryatts Mantra wiederholen, um die Panik zu unterdrücken. Ich bin sicher und ich steh das durch, hatte er damals gesagt. Aber das stimmte nicht. Sie war nicht sicher. Einmal mehr in ihrer gottverdammten Geschichte war sie absolut nicht sicher, weil ihr Leben vom guten Willen und der Gnade irgendwelcher hirnlosen Psychopathen abhing. Davon, dass sie sie nicht wütend machte, dass sie nicht die Geduld verloren. Warum hatte sie nicht einfach noch die fünf Tage überleben und hinter sich bringen können?? Dann wäre sie weg. Dann wäre sie bei Victor. Dann müsste sie nicht schon wieder so stark um ihre psychische Gesundheit und ihren Verstand zittern.
MATEO Es war ein bisschen schade, dass man immer erst mit Gewalt drohen musste, um das zu erreichen, was man haben wollte. Dabei war das in diesem Fall nur das simple Nichtstun seitens Faye. Man konnte ihr die Angst nicht verübeln, ganz gleich wie vorerst unbegründet sie auch sein mochte. Trotzdem war es äußerst ironisch, dass erst ein Messer sie zur Vernunft bringen konnte. Ich beschloss, es vorerst nicht wieder in der Hosentasche zu verstauen, sondern behielt es in der Hand, obwohl die zierliche Brünette brav Ruhe gab. Abgesehen von ihrer sehr offensichtlichen Körperspannung, die sich wohl nicht allzu bald vollständig in Luft auflösen würde. In beinahe hypnotisch gleichmäßigem Tempo drehte ich die Klinge ununterbrochen in der rechten Hand, ohne die Augen von der Geisel zu nehmen. Denn auch wenn Faye mit dem Gezappel aufgehört hatte, verrieten ihre Augen überdeutlich, dass ihre Gedanken weiterhin kreisten. Weil es vollkommen egal war, was ich innerhalb der vier Autowände noch sagte, entschied ich mich für Schweigen. Faye würde mir keinerlei beschwichtigende Worte abkaufen, also sollte sie von mir aus stocksteif hocken bleiben, bis wir da waren. Die Sonne kratzte noch immer nicht an der nächtlichen Dunkelheit, als wir den stummen Weg bis zum Lagerhaus hinter uns gebracht hatten. Seit Sean im Knast saß, war ich nicht mehr oft hier gewesen - wenn man Aufgaben eines fehlenden Familienmitglieds erledigen musste, blieb weniger Zeit für so spaßige Dinge wie Raubüberfälle. Außerdem war Sean immer derjenige gewesen, der diese Aktionen geplant hatte. Riley hielt das Fahrzeug hinter der alten Halle an, was mich einen tiefen Atemzug nehmen und das Messer vorerst wieder in der Hosentasche verstauen ließ. Ich rutschte näher zu Faye, griff mit der linken Hand nach ihrem Oberarm und löste mit der rechten ihren Gurt, als Riley die Türen entriegelte und ausstieg. Es war nur Prävention meinerseits, damit sie keine aussichtlose Verfolgungsjagd zu Fuß anzettelte, bis meine Schwester die Tür neben ihr aufzog und sie auf die Füße holte. Ich stieg hinter Faye aus und machte den Wagen schwungvoll zu, ehe ich Riley die Fracht am Arm wieder abnahm. Sie war nämlich diejenige mit dem Schlüsselbund und musste folglich die schwere Stahltür, die direkt neben der erhöhten Laderampe und deswegen nur mit ein paar betonierten Treppenstufen erreichbar war, für uns öffnen. Ich schleppte Faye mit mir nach oben und durch die Tür, die Riley hinter uns zumachte und anschließend den Lichtschalter daneben betätigte. Die Luft hier drin war abgestanden, weil selten mal Jemand eine der Türen öffnete und in der Halle selbst war es kalt, weil nicht geheizt wurde. Der Lagerbereich war inzwischen auch fast leer. Der Hehlerbetrieb hatte seit Seans Einbuchtung beinahe still gestanden und dementsprechend hatte fast alles, was hier mal gelagert worden war, längst einen neuen Abnehmer gefunden. Nur ein paar große, zugenagelte Holzkisten standen relativ mittig in der Halle. Die wurden später am Mittag noch abgeholt - nur für den Fall, dass Ryatt tatsächlich das Geld ablieferte und wir Faye gehen lassen konnten. Sie sah alles und es sollte nichts mehr hier rumstehen, das sie im Anschluss verpetzen konnte. Bei wem auch immer, der örtlichen Polizei dürfte sie eher nicht mehr vertrauen. Sicher war sicher. Das galt auch für ihre Verwahrung. Ich zog sie auf den schwarz lackierten Pfosten zu, der die schmale Stahltreppe zum oberen Stockwerk hielt. Während der größte Teil des Gebäudes offen zweistöckig von massiven Stahlträgern gehalten wurde - eben der Lagerbereich - waren an einer Stirnseite zwei kleine Büroräume verbaut. Auch die waren ungenutzt, aber noch möbliert und beheizt. Theoretisch. Ich hielt Faye fest, solange Riley sie mit einem der alten Gurte, die normalerweise zur Sicherung von Fracht während einer Fahrt genutzt wurden, am Pfosten festmachte. Auch das triggerte wahrscheinlich Flashbacks, aber sie würde das nicht ewig aushalten müssen. Als meine Schwester fertig war, ging sie zum Büro im Erdgeschoss, dessen Tür nur fünf Meter entfernt war. Ich checkte die Fessel zur Sicherheit noch einmal, bevor ich wieder vor Faye auftauchte und sie ansah. Erst dabei fiel mir auf, dass sie mit der offenen Jacke zeitnah frieren würde. Ich griff langsam nach den beiden unteren Enden, um sie zu schließen und fing noch dabei zu sprechen an: “Riley ist gerade dabei, die Heizung im Büro anzumachen… und zu checken, dass du da drin nichts gegen uns verwenden kannst. Wenn alles sicher ist, kannst du umziehen und dich da drin frei bewegen… nur die Kabelbinder wirst du nicht loswerden. Die Fenster sind aus Sicherheitsglas und die Tür geht nach außen auf - wir ersparen uns also besser diese Art von nutzlosen Versuchen, hm?” Ich erwiderte Fayes Blick mit kritisch hochgezogener Augenbraue und gerunzelter Stirn. Die komplette Frontseite war, bis auf die Aussparung der Tür, mit großen Fenstern versehen. Ursprünglich wahrscheinlich deshalb, weil das Chefchen im Büro gerne seine Leute beim Arbeiten in der Halle beobachtet hatte. Es war aber auch ein super Raum für Geiselnahmen, weil man natürlich von dieser Seite hier genauso wunderbar alles sehen konnte und wiederum keine Fenster nach draußen gingen. Alles Licht hier drin kam durch die Dachfenster oder von den rostigen Strahlern an der Decke und die Tür konnte nicht verbarrikadiert werden. Alles davon waren ausschlaggebende Gründe für die Wahl der Örtlichkeit gewesen. Nach einer kurzen Pause nahm ich den Faden wieder auf: “Dich wird hier keiner Schreien hören. Wenn du mir also versprichst, nicht zu kreischen wie eine Gestörte, zieh’ ich dir das Tape ab und hol’ dir Wasser. Verstehen wir uns?”, bot ich ihr im Gegenzug für eine Gegenleistung noch eine Annehmlichkeit an. Ich sah sie aus dunkelbraunen Augen an und wartete auf eine einwilligende Reaktion. Mir war nicht entgangen, dass es sich in ihren offensichtlichen Angstzuständen schwer ausschließlich durch die Nase atmen ließ. Sie hatte zuweilen so ausgesehen, als würde ihr gleich der Kopf inklusive Hals platzen. Dem konnte ich Abhilfe schaffen, aber auch an dieser Stelle hatte ich schlichtweg kein Interesse daran, dass sie mir auf die Nerven ging und die ganze Halle mit ihren nichtsnutzigen Hilfeschreien ertränkte.
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Es trieb sie fast in den Wahnsinn, wie er sie anschaute, während er die Klinge in der Hand drehte. Er konnte ihr lange erzählen, dass er ihr nichts tun würde, dass er das hier nicht wollte und sie gerade wirklich nur als Mittel zum Zweck diente - sein Gesicht schrie trotzdem, dass er seine Machtposition genoss und er die Spielchen gerne spielte. Dass er die Wirkung des Messers spannend fand und mit einem gewissen Vergnügen verfolgte. Und er machte sie wütend. Zusätzlich zur Panik, die ihren Kopf dauerhaft zu sehr belastete und schmerzhaft pulsieren liess. Sie widerstand dem Bedürfnis, den Blick abzuwenden, damit sie ihn nicht mehr ansehen musste. Weil sie ihn nicht aus den Augen lassen wollte, solange er neben ihr sass und praktisch jederzeit die Finger nach ihr ausstrecken könnte, aber auch, weil sie sich wünschte, er würde nicht nur die Angst in ihren Augen sehen. Die Fahrt trug zwar nicht unbedingt zu ihrer Beruhigung bei, aber als sich ihre Atmung wieder etwas normalisiert hatte, nahm ihre Gehirnkapazität durch die erhöhte Sauerstoffzufuhr gefühlt auch wieder zu. Und je länger sie ihn anschaute, umso klarer wurde ihr bewusst, wen sie hier neben sich sitzen hatte. Dass es genau dieses Arschloch war, dem Victor die lange Narbe an seinem Arm zu verschulden hatte. Und so viele andere Narben. Und eines der schlimmsten Traumas seines Lebens. Sie hasste ihn so sehr, mit jeder Faser ihres Körpers. Für alles, was er ihr und Victor angetan hatte. Obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatten und seine Gründe so falsch und irational gewesen waren. Er hätte Victor fast getötet, ihr um ein Haar den nächsten unersetzlichen Menschen für immer entrissen. Aus purer Rachsucht, purer Freude, purer Machtgier. Sie wünschte sich so sehr, dass er für alles bezahlen müsste, was er angerichtet hatte. Für jede Narbe, die er auf ihre Körper und in ihre Seelen gerissen hatte. Die Welt wäre ein besserer Ort ohne dieses Rattenpack. Wenn sie ihn einfach nie wieder sehen müsste. Aber sie sass verschnürt neben ihm auf dem Rücksitz eines Autos auf dem Weg durch die Dunkelheit nach nirgendwo. Ihre Hände kämpften die ganze Zeit gegen die Kabelbinder an. Kabelbinder gingen aber nie rückwärts auf. Kabelbinder wurden auch nicht lockerer, wenn man die Hände darunter viel bewegte. Das führte nur zu aufgescheuerten Handgelenken und mehr Panik. Eine kleine Pause wurde ihr erst dann vergönnt, als Riley das Auto anhielt und sie ihr Ziel scheinbar erreicht hatten. Hier wandte sie den Blick dann doch von Mateo ab - er hatte das Messer nun tatsächlich weggesteckt - weil sie wissen wollte, wo sie waren. Und weil die Tür aufging. Faye war sehr versucht, vor dem Auto einmal stark nach der kleinen Brünetten zu treten, als diese tatsächlich für gefühlt fünf Sekunden den Posten ihres Bruders übernahm. Weil die Chance, Riley loszuwerden, grösser war als bei Mateo - aber auch, weil diese hirnlose Gestörte wirklich auch mal einen kräftigen Arschtritt in Richtung Realität nötig hatte. Sie liess es bleiben, weil sie mit gebundenen Händen nie im Leben schnell genug rennen könnte, um vor den Konsequenzen zu fliehen. Und es sah auch nicht aus, als ob sie in dieser Gegend schnell genug Hilfe finden würde, schon gar nicht im Dunkeln. Also ging die Reise weiter, mit einem immer schlechter werdenden Gefühl, das seinen negativen Peak erreichte, als sie tatsächlich zu dem Stützpfeiler geführt wurde und Riley nach dem Gurt und ihren Händen griff. Das konnte sie nicht. Und Faye versuchte wirklich, hier nicht die Nerven zu verlieren. Sich zu konzentrieren und bei sich zu bleiben, um nicht in blanke Panik zu verfallen. Aber ihre Atmung hatte sich zusammen mit ihrem Herzschlag längst wieder ungesund beschleunigt und sie kämpfte gegen die festen Griffe der beiden Geschwister an, als würde ihr Leben davon abhängen. Denn genau so fühlte es sich an. Mittlerweile rannen ihr die, für ihre Verhältnisse bisher erstaunlich gut zurückgehaltenen, Tränen in Bächen über die Wangen und auch als Riley ihre Mission erfüllt hatte, drückte Faye ihre Handgelenke weiter in die scharfen Kanten der Kabelbinder. Ihre Füsse scharrten verzweifelt auf dem Boden, im krampfhaften Versuch, nicht direkt unter den Flashbacks begraben zu werden, die in ihrem Kopf auf Grossleinwand spielten. Mateo war kurz weg und gleich wieder vor ihr, streckte die Hände aus und sie sah sich innerlich bereits tausend grausame Tode sterben, als er nach ihrer Jacke griff. Aber er zog nur den Reissverschluss zu. Das half nicht akut gegen das Zittern ihres Körpers, führte aber dazu, dass sie ihn wieder direkt anschaute, während er zu sprechen begann. Auch wenn sie noch nicht alles verstand, weil sie den Blick nicht von ihm abwandte, um zu schauen, wohin Riley gegangen war. Er erwartete eh keine Reaktion darauf, sondern erst auf seine nächste Reihe von Worten. Die verstand sie dann auch erstaunlich gut. Vielleicht, weil ihr Gehirn eine essenzielle Information herausfilterte und sie darum in Folge zweimal schwach nicken liess. Sie brauchte mehr Luft und dass sie hier drin nicht schreien musste, kam ebenfalls nicht überraschend. In einem Raum mit geschlossenen Türen, in dem die einzigen Fenster an der Decke hingen, bot sich das automatisch eher weniger an. Wenn sie dann noch die potenzielle Abgelegenheit dieses Gebäudes dazurechnete und die Anwesenheit mindestens zwei gewalttätiger Krimineller, war der Sinn von Hilferufen schnell gestorben.
Ist ein Last-Minute-Post vorm Urlaub, deswegen bisschen abgehackt, kurz und unkorrigiert. :') __________
MATEO Es tat mir fast ein kleines bisschen Leid, dass wir das Häufchen kratzbürstiges Elend erneut mit so einer Situation konfrontieren mussten. Im Gegensatz zu meinem Bruder fand ich eher wenig Gefallen daran, Frauen zum Weinen zu bringen. Das verschonte Faye zwar nicht automatisch von potenziellen Konsequenzen bei Widerstand, aber meine Rache war gestillt. Victor war dem Tod ziemlich nahe gewesen und ich war doch irgendwie erleichtert gewesen, als er damals aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Schließlich konnte ich bis dahin nur mutmaßen, was Vater davon gehalten hätte, wenn er nachträglich abgekratzt wäre wegen der Folter, die ich ihm angetan hatte. Zum Glück hatte ich das nicht herausfinden müssen. So oder so - der Rachedurst war gestillt und die Sache hier lief nur wegen Sean selbst weiter. Natürlich hätte ich ihn gerne wieder bei uns am Tisch sitzen, er fehlte und ich vermisste ihn. Als ältester Bruder hatte er einfach einen besonderen Platz. Trotzdem waren unsere Chancen darauf, das Geld von Ryatt zu kriegen, nach wie vor nicht unbedingt riesig und ich wusste nicht, ob Faye zu bedrohen wirklich des Problems Lösung sein würde. Der Veteran würde kaum besser denken können, wenn seine herzallerliebste Freundin bei ihren Folterknechten festsaß. Oder vielleicht brauchte er diesen Druck, um Leistung bringen zu können - die Chancen standen 50 zu 50, die Zeit würde es zeigen. Jene Zeit versuchte ich Faye gerade zumindest ansatzweise angenehmer zu machen. Kurz nachdem ich das Nicken von ihr bekam, hob ich die Hand an ihr Gesicht. Bewusst langsam, damit sie vielleicht nicht den nächsten inneren Tod dabei sterben musste. Das Klebeband war nass von ihren Tränen, weshalb es sich gar nicht so einfach gestaltete, die rechte obere Ecke richtig zu fassen zu kriegen. Ich spielte instinktiv kurz mit dem Gedanken, es mit einem ordentlichen Ruck abzumachen. Zu Fayes Glück saß meine sadistische Ader aktuell am kürzeren Hebel, weshalb ihr die möglichst hautschonende, vorsichtige Variante zuteil wurde. Trotzdem war die Haut um ihre Lippen im Anschluss in einem unschönen Quadrat gerötet. Ich knüllte das Tape langsam in der rechten Hand zusammen und ließ es achtlos auf den Boden fallen, während ich die Brünette noch einen Moment lang skeptisch beäugte. So als würde sie das daran hindern, sich die Kehle aus dem Leib zu schreien, sobald ich mich umdrehte. “Ich hol das Wasser… nicht weglaufen.” Bis ich stumpfen Humors überdrüssig wurde, dürften noch einige Jahre ins Land ziehen. Das zumindest deutete mein Grinsen, als ich ein paar Schritte rückwärts ging und mich dann umdrehte, um nochmal zum Wagen zurückzugehen. Wir hatten keine Ahnung, wie lange wir hier mit Faye festsitzen würden. Deswegen schnappte ich mir den Sixpack Mineralwasser aus dem Kofferraum und auch die kleine Tüte mit dem Proviant, der frühestens heute Abend auch für Faye etwas bereithielt. Ich stellte beides nahe der Tür zum Büro im Erdgeschoss ab, bevor ich eine der Wasserflaschen löste, um damit zu Faye zu gehen. Während ich dabei war, der Brünetten beim Trinken zu helfen, schob Riley einen alten, ziemlich zerfledderten Karton mit ein paar Sachen drin aus dem Büro. “Das sollte alles gewesen sein. Scharfe Kanten sind da keine.”, kommentierte sie ihre offenbar abgeschlossene Jagd nach potenziellen Waffen und Möglichkeiten, den Kabelbinder an den Handgelenken loszuwerden.
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Schöneee Ferieeeen und geniesss eeeeesssss! :3 _________________
Er nahm das Tape tatsächlich von ihrem Gesicht. Und jetzt sollte es ihr besser gehen, oder? Es war ein kleines bisschen Freiheit. Eigentlich. Aber das letzte Mal hatte sie auch sprechen und schreien können und es hatte ihr gar nichts gebracht. Weil es nicht das Stück Freiheit war, mit dem sie sich irgendwie sinnvoll verteidigen konnte. Noch nicht. Vielleicht später, wenn sie ganz ganz gut darüber nachdachte. Und darauf sollte sie sich konzentrieren, aufs Nachdenken und das Finden eines Ausweges, einer Lücke im System. Einer zweiten Lücke, denn die erste hatte sie schon geschaffen, indem sie Mateo erfolgreich davon abgelenkt hatte, ihre Hosentaschen gründlich zu durchsuchen. Wahrscheinlich würde sie sich am Ende auf den Tracker verlassen müssen, weil ihr bis dahin nichts besseres einfiel, aber das stand so gar nicht in ihrem Sinne. Weil sie nicht solange hier bleiben wollte, wie Aryana und Mitch auf der Arbeit bleiben mussten und weil sie die beiden auch überhaupt nicht hier sehen und in die ganze Sache mit diesen Teufelskindern reinziehen wollte. Sie würden nicht in einer Woche nach LA ziehen und dann dort in Sicherheit sein, sondern weiter im Gefahrenradius verweilen. Und sowieso - was, wenn Aryana und Mitch hier gar nicht reinkamen? Was, wenn ihnen etwas passierte dabei? Was, wenn einer dieser Wahnsinnigen eine Schusswaffe dabeihatte - wovon in diesem Land unter diesen Umständen irgendwie auszugehen war - und niemand sie zielen sah? Natürlich waren die beiden Soldaten sehr viel besser ausgebildet, als ein paar Möchtegern-Kriminelle. Aber eine Geisel war eine beschissene Waffe. Weit effektiver als eine Pistole mit schlechter Treffgenauigkeit. Es wäre sehr viel besser, wenn sie alleine hier raus kam. Sie musste nur endlich ihr adrenalingeflutetes Gehirn soweit gesammelt kriegen, dass sie einen Fluchtplan aufstellen konnte, in dem sie mit gebundenen Händen an zwei bis drei Kriminellen zu einer wahrscheinlich verschlossenen Tür vorbeikam, diese aufschliessen und draussen unbemerkt abzischen konnte. Besagte Tür hielt sie nun auch im Auge, nachdem Mateo sich in diese Richtung abgewandt hatte. Begleitet von ihrem verschleierten Blick, der sehr deutlich zeigte, wie durch sie mit ihm und seinen sehr schlechten Scherzen war. Sie blinzelte ein paar Mal gegen die Tränen, um besser sehen zu können, was er machte. Die Tür war tatsächlich noch nicht abgeschlossen, wie sie gerade feststellte. Riley hatte vorhin den Schlüssel gehabt und wahrscheinlich hatte sie ihn noch immer. Es war auch irgendwie naheliegend, dass sie später alles abschliessen würde und nicht nur die Bürotür. Wenn nicht, wäre das auf jeden Fall interessant... Auch wenn sie natürlich noch immer die Bürotür zu bewältigen hatte, die in ihrer Lage Herausforderung genug war. Mateo kam zurück und brachte das angekündigte Wasser mit sich. Natürlich würde sie es bevorzugen, die Flasche selbst zu halten, um hier nicht wie ein hilfloses Kalb getränkt zu werden - aber an diesem Punkt war sie gerade hauptsächlich froh drum, überhaupt Wasser zu bekommen, um ihre kratzige Kehle zu beruhigen. Strohhalme wären sonst auch noch eine Möglichkeit. Vielleicht würde sie ihm das vorschlagen, falls er sie nach Feedback und Verbesserungsvorschlägen fragen sollte... Also nie. Sie waren offensichtlich beide anderweitig beschäftigt. Riley hingegen schien ihre Mission beendet zu haben und kehrte in die grosse Halle zurück. Für einen kurzen Moment fragte Faye sich, ob diese ganze Aktion hier möglicherweise spontaner ausgefallen war als vorgesehen, wenn Riley erst jetzt das Büro ausräumte... und wenn ja, wieso. Hatten sie Wind davon bekommen, dass Faye sehr bald abreisen wollte? Oder hatten sie bemerkt, dass Aryana und Mitch ausnahmsweise auswärts übernachtet hatten und hatten genau das folglich als ihre einzige Chance gesehen? Oder hatte Ryatt sie gestern Abend wütend gemacht und ihr nur noch nichts davon erzählt? Sie hatte keine Ahnung. Auf jeden Fall waren sie für ihren Geschmack fünf Tage zu früh gekommen und jetzt sass sie in der Scheisse. Wenigstens wurden ihre zweiten Fesseln gelöst, nachdem ein paar Deziliter des kalten Wassers ihren Rachen hinab - und zusätzlich ein bisschen was über ihr Kinn und auf ihre Kleider - geflossen waren und Riley sich wieder zu ihnen gesellt hatte. Was auch immer das gebracht hatte, sie hier für die fünf Minuten an diesen beschissenen Pfosten zu fesseln, als wäre sie sonst plötzlich über alle Berge gewesen. Da versuchten wohl zwei, ganz besonders vorsichtig zu sein. Faye für ihren Teil sah eher anderswo Verbesserungsbedarf, als bei ihrer persönlichen Sicherung. Besonders dann, wenn sie doch sowieso in einen geschlossenen aber einsehbaren Raum ohne Möglichkeit zur Verteidigung gesperrt wurde. In besagtem Büro angekommen, wandte sie sich darum mit genau diesem Anliegen an Mateo. "Sind... die Kabelbinder wirklich nötig..?", fragte sie leise und noch etwas heiser. Er brauchte sich gewiss keine Sorgen zu machen, dass sie jetzt, bloss weil sie das Tape los war, plötzlich ununterbrochen redete und mit ihm diskutieren wollte. Da stand ihnen beiden ähnlich wenig der Sinn danach. Aber sie wollte wenigstens versuchen, diese zusätzliche Tortur zu umgehen. Die Kabelbinder bedeuteten leider nicht nur massive Einschränkung, sondern zwangsläufig auch eine Menge Schmerzen aufgrund der Druckstellen, der unnatürlichen Position ihrer Hände und wegen der bereits aufgescheuerten Haut darunter, die sie in ihrer Panik etwas zu stark provoziert hatte. Vielleicht hatte er ja nur nicht so gut darüber nachgedacht und merkte nun selber, dass das unnötig war. Spätestens für Toilettenbesuche mussten sie ja eh weg, oder? Sie ging mal schwer nicht davon aus, das einer von denen ihr den Arsch abwischen wollte. Dafür wären die sich sehr sicher - aber auch sehr hoffentlich - doch ein bisschen zu schade.
MATEO Die ganze Geiselnahme-Sache würde gleich herrlich unkompliziert für mich weitergehen. An und für sich hatte ich ja ohnehin nicht viel mit Faye zu tun, solange sie in unserer Gefangenschaft war - es wurde halt nur nochmal einfacher, wenn sie in einen Raum mit vier undurchdringbaren Wänden gesperrt war und man sie nicht permanent im Augen behalten musste. Selbst wenn sie die Kabelbinder irgendwie loswurde, was ich ihr nach Rileys wahrscheinlich sehr sorgfältiger Kontrolle sowieso nicht zutraute, steckte sie dann immer noch darin fest. Das war aber auch der einzige Grund dafür, Fayes Frage ansatzweise eine Existenzberechtigung zuzuschreiben. Ich seufzte angenervt. “Weil ich ziemlich wenig Lust auf sinnlose Angriffsversuche habe und nicht weiß, ob du dumm genug bist, dein Glück rauszufordern… ja.”, beantwortete ich ihre Frage trocken. Mein Tonfall ließ nicht wirklich Spielraum für Diskussionen. Ein paar Sekunden lang hielt ich Faye noch am Arm fest, während ich selbst einen prüfenden Blick durch den Raum warf und damit Rileys Arbeit oberflächlich überprüfte. “Weil’s die immer in so praktisch großen Packungen zu kaufen gibt, hab ich auch noch einige mehr davon in der Hosentasche.”, lieferte ich ihr eine kleine Randinformation, die für Bedeutung von sie war. “Wenn du keine Probleme machst, kann ich mich vielleicht dazu überreden, sie dir nächstes Mal vorm Körper zuzumachen.” Mit diesen Worten schob ich sie vorwärts ein Stück weit von mir weg. Natürlich half das ihrer früher oder später - ich hatte durch die Jackenärmel keinen guten Blick auf ihre Handgelenke - aufgescheuerten Haut ganz und gar nicht dabei, oberflächliche Wunden wieder zu verschließen. Es würde aber den unangenehmen Zug von ihrer Schultermuskulatur nehmen, was in ihrer Situation bald Gold wert sein würde. Die Hände permanent hinterm Rücken zu haben war einfach eine absolut unnatürliche Körperhaltung. Mein Blick fiel auf den alten, vergilbt-weißen Heizkörper an der Wand, dem stellenweise schon der Lack abblätterte. Der Wärmeregler ließ sich auch von Faye mit der Hand drehen, falls ihr zu warm oder zu kalt war, aber ich sprach dennoch weiter, während ich langsam ein paar Schritte rückwärts zurück zur Tür ging: “Wie man eine Heizung bedient, wirst du selbst wissen… falls du die Jacke trotzdem irgendwann loswerden willst, sag Bescheid.”, bot ich ihr eine weitere, minimale Annehmlichkeit an, von der ich mir schon ohne Gils Anwesenheit fast sicher war, dass sie nicht darauf zurückkommen würde. Faye würde sich wahrscheinlich lieber zu Tode schwitzen, als sich mehr als nötig von mir anfassen zu lassen. Für sowas war vermutlich höchstens Riley eine ansatzweise gute Option in ihren Augen. Weil gefühlt die Hälfte der Bürowand aus Glas bestand, brauchte Faye nur lauter zu werden, um sich Aufmerksamkeit zu angeln und ihr Anliegen mitzuteilen. Es war nicht nötig, für reine Kommunikation das gleich abgeschlossene Büro zu betreten. Ich stand schon im Türrahmen, als ich anfügte: “... aber bestenfalls bevor Gil am Nachmittag zu uns stößt und Riley ablöst. Sonst muss ich wieder mit ihm darüber diskutieren, warum er das nicht machen darf und das ist wahnsinnig anstrengend.” Ich zuckte mit den Schultern, bevor ich mich endgültig zum Gehen wandte.
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Überraschenderweise sah Mateo eher nicht ein, sie von den unnötigen Fesseln zu befreien. Das hatte sie erwartet - es war nur trotzdem scheisse. Denn ja, sie wäre wahrscheinlich dumm genug gewesen, ihr Glück irgendwann herauszufordern... je nachdem wie lange das hier andauern würde. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie Aryana geben sollte, bevor sie selbst auch aussichtslose Versuche startete, um diesem Grauen zu entkommen. Wann sie davon ausgehen musste, dass ihre Schwester nicht kommen würde, weil etwas mit dem Tracker nicht funktioniert hatte oder sonstwas ganz ungünstig dazwischengekommen war. Sie wusste auch nicht, wann sich Aryana und Mitch von der Arbeit wegschleichen konnten. Ob sie irgendeine Chance hatten, vor dem Ende der Übung zu entwischen oder ob das ausgeschlossen war. Ob Ryatt auch da war und irgendwas mitbekam. Wann die Hernandez sich bei ihm melden würden. Was überhaupt deren Plan war. Wie lange sie hier festgehalten werden sollte und wie sich die Umstände entwickeln würden, wenn Ryatt nicht die nötige Kohle locker machen konnte und der Tracker nicht seinen Zweck erfüllte. Wann Victor wohl von der Sache Wind bekam? Gott sie sollte gar nicht so viel nachdenken, sie fühlte sich so schon rundum beschissen. Sie brauchte nicht auch noch das sofort aufkommende schlechte Gewissen gegenüber ihrem Freund, gepaart mit der brodelnden Angst, ihm nie wieder - oder zumindest nie wieder so wie vorher - in die Arme fallen zu dürfen. Sie spürte, dass ihre Hände schon wieder, oder noch immer, zitterten. Die Angst liess sie trotz der momentan noch eindeutig vorherrschenden Kälte schwitzen. Was aber noch lange kein Indiz dafür war, dass sie tatsächlich vorhatte, irgendwann auf Mateos Angebot mit dem Jacken-Ausziehen zurückzukommen. Das sagte auch ihr Blick, der noch an ihm hing, während er bereits die Tür erreicht hatte und sie langsam rückwärts bis zur nächsten Wand ging. Besagter Blick wurde nochmal ein ganzes Stück dunkler, als das Arschloch seinen Bruder erwähnte. Ihr damit schön unter die Nase rieb, dass Gil nicht etwa gar nicht erst zu ihnen stossen würden, sondern Mateo lediglich dafür sorgen würde, dass er ihr vielleicht bestenfalls nicht gleich die Jacke auszog. Wenn man ihm das denn glauben wollte, er hatte sich in der Vergangenheit kaum als besonders vertrauenswürdigen Gesprächspartner bewiesen. Aber Gil würde Riley ablösen. Also so, dass Riley ganz weg wäre und Faye mit diesen zwei unberechenbaren Wahnsinnigen zurückblieb? Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, je froh um Rileys Anwesenheit zu sein… aber jetzt vielleicht doch. Das letzte Mal hatte sie aber auch nur doof daneben gestanden und zugeschaut, ohne einen Finger zu rühren oder den Mund aufzumachen, um ihren Brüder klar zu machen, dass sie komplett übertrieben. "Und was ist dann?", rutschte ihr eher ungeplant eine Frage über die Lippen. Eigentlich hatte sie nicht weiter mit ihm reden wollen. Aber ihre Gedanken hatten sich längst verselbstständigt und damit auch unnötig viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. "Wenn er hier ist oder der Abend kommt oder der nächste Tag? Wenn Ryatt nicht auf magische Art und Weise in den nächsten zwei Stunden mit einer LKW-Ladung 100-Dollar-Scheinen vorfährt? Kommt dann nochmal das Gleiche wie letztes Mal, bis ich irgendwann einfach tot bin und dein Bruder noch immer im Gefängnis sitzt, weil er im Leben einfach zu viel Mist gebaut hat?", so viel zum Thema sie wollte nicht mit ihm diskutieren. Ihre Stimme klang ziemlich abgelöscht und eher nicht so, als würde sie sich positive Neuigkeiten von seiner Antwort erhoffen. Oder überhaupt mit einer wahrheitsgemässen Antwort rechnen. Eigentlich hatte sie ja nichtmal reden wollen. Und wahrscheinlich würde sie das auch besser nicht länger tun, bevor ihre Angst lauter wurde und sich mehr Gehör verschaffte als eh schon. Sie würde besser erstmal irgendwo in einer Ecke verschwinden und versuchen zu denken. Hinter dem Schreibtisch oder hinter der Tür, Hauptsache möglichst unsichtbar trotz Fenster. Das Denken war schon schwer genug, durch den Schlafentzug, die Angst, das angedrohte Wiedersehen mit Gil und alle anderen mehr als offensichtlichen Umstände, die keiner weiteren Spezifikation bedurften.
MATEO Ob es eine gute Idee gewesen war, das kleine Biest vm Klebeband zu befreien? Ich begann daran zu zweifeln, als sie eine sehr direkte Frage loswurde und mich damit dazu brachte, noch einmal umzudrehen. Mit schief gelegtem Kopf ging ich fünf Schritte zurück ins Büro und damit wieder auf Faye zu, während in der leeren Halle hinter mir überdeutlich das Klicken eines Türschlosses hallte. Riley hatte sich mit dem Abriegeln des Autos und der Tür neben der Laderampe eindeutig die weniger anstrengenden Aufgaben ausgesucht. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich unserer Geisel überhaupt eine Antwort geben wollte. Es machte für sie am Ende keinen Unterschied, ob sie die Konsequenzen von Ryatts Aktionen kannte oder nicht. Für mich auch nicht. Ich könnte also guten Gewissens einfach wieder umdrehen und sie für die nächsten paar Stunden mit ihren Fragen alleine hier drin lassen. Eigentlich ein schmackhafter Gedanke, diese von ihr selbst provozierte, mentale Folter. Nur weil ich hier und heute nicht vorhatte, unserer Gefangenen etwas anzutun, hieß das nicht, dass ich sie nicht trotzdem gerne ein bisschen leiden sehen würde. Oder Ryatts bettelnde Gesten, wenn er eine traurige Summe Scheine ablieferte. Ein paar Sekunden lang musterte ich das zitternde Bündel mit leicht zusammengekniffenen Augen, ehe ich nicht ganz mittig im Raum stehen blieb. “Deine Folter steht nicht auf dem Plan, wie ich dir schon gesagt habe… aber das weiß Ryatt nicht und das wird er auch nicht erfahren, bis er Geld geliefert hat.” Ich begann süffisant zu lächeln. Es war grundsätzlich immer ein gutes Gefühl, wenn das Opfer die Karten, die man auf der Hand hatte, nicht sehen konnte - Ryatt in diesem Fall, nicht Faye. Zumindest bis jetzt nicht. “Ich bin mir ziemlich sicher, dass dir das Ablaufdatum für die Kautionsbeschaffung bekannt ist, so angesichts deines Umzugs in eine weniger alleine Wohnung, seit Victor sich wieder verpisst hat…”, formulierte ich eine mehr oder weniger offen endende Feststellung. Der dreckige Veteran erzählte Faye grundsätzlich mehr, als gesund für die beiden war. Etwas zu offensichtlich noch obendrein. “...Ryatt hat also noch knapp 9 Tage Zeit, um Geld auf die Türschwelle zu legen. Nicht diese hier, natürlich. Er wird nicht erfahren, wo wir dich festhalten.” Wäre ja dumm, ihm das mitzuteilen, während ich im selben Atemzug bestenfalls so gut wie keinen Finger während der Geiselnahme krumm machen wollte. “Wir wissen, wie utopisch hoch die Summe für ein halbes Jahr ist. Aber er hat sich das jetzt selbst eingebrockt - bis er angefangen hat, uns mit Ausreden an der Nase herumzuführen, war eine Teiltilgung noch möglich. Mit Zinsen für den Restbetrag natürlich, aber das hätte uns allen diese ganze Aktion hier erspart.” Seufzend machte ich eine die Lagerhalle umfassende Handgeste. “Er wusste ja, was auf dem Spiel steht… und dennoch sind wir jetzt beide hier. Es würde meiner Familie die Glaubwürdigkeit rauben, würden wir einer Drohung keine Taten folgen lassen. Entweder also Ryatt taucht am vereinbarten Treffpunkt auf - mit mindestens einem sehr großen Teil des Geldes - oder ich bereite dir ein humanes Ende.”, meinte ich angestrengt, so als würde ich den Umstand irgendwie bedauern. Tat ich auch, aber ausschließlich wegen meiner eigenen, sehr bald sehr gelangweilten Lage und nicht wegen ihrem potenziell nahenden Ende. Außerdem glaubten wir allesamt nicht, dass Ryatt einfach gar nicht auftauchen würde. Er braucht einfach nur mal etwas liebevollen Ansporn. Ein gewisser Teil von Fayes Fragerei stieß mir aber doch sehr sauer auf, weshalb ich nach kurzer Pause noch ein paar mehr Worte anfügte: “Wenn ich du wäre, würde ich mich sehr davor hüten, auch nur ein einziges weiteres schlechtes Wort über Sean zu verlieren. Spätestens wenn Riley weg ist, bin ich hier drin dein einziger Freund, Kleines.” Es flammte ein steifes Lächeln auf meinen Lippen auf, während meine Augen die Eiszeit spiegelten. Außerdem griff ich instinktiv nach dem Messer in der Hosentasche, nur um es dann sichtbar zwischen den Finger zu drehen. Riley hatte Seans Platz größtenteils eingenommen, damals nach seiner Verhaftung. Streng genommen hatte sie auch hier das Kommando, aber eben nur, bis sie nicht mehr da war - dann ging das auf mich über, weil Gil sich in dieser ganzen Sache wie ein Geist verhalten sollte. Er kam nur her, damit ich nicht alleine war. Jedenfalls würde ich später derjenige sein, der entschied, ob und wann Faye etwas zu trinken oder zu essen bekam. Wer mit ihr zur Toilette ging. Wer zu ihr ins Büro durfte. Ihr alles andere als unschuldiges Leben lag voll und ganz in meinen Händen, bis Riley morgen Vormittag wiederkam und damit meine Person ablöste.
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Scheinbar bekam sie wirklich eine Antwort. Oder Mateo drehte bloss um, um ihr klar zu machen, dass sie die Klappe halten und ihn nicht belästigen sollte. Aber da das Glück heute scheinbar durchgehend auf ihrer Seite war, setzte er tatsächlich dazu an, sie über seine weiteren Pläne ins Bild zu setzen. Diese klangen insgesamt in der Tat nicht so schlimm, wie sie sein könnten. Er eröffnete ihr nämlich gleich nochmal, dass sie - Stand jetzt und Stand Mateo - keine weitere Folterstunde in welchem Ausmass auch immer zu erwarten hatte. Also nicht nur jetzt, sondern allgemein nicht. Dass Ryatt - und Aryana und Victor und Mitch - das nicht wussten war scheisse, konnte sie aber nicht beeinflussen und war absolut vorhersehbar gewesen. Es war besser so als umgekehrt. Im nächsten Atemzug wurde ihr von Mateo noch einmal sehr nett unter die Nase gerieben, wie aufmerksam er und seine beschissene Familie sie in den letzten Wochen beobachtet hatten, aber auch das kam nicht unerwartet und sie verzichtete auf irgendeine Form gespielter Bestürzung. Genau wie die Info, dass Ryatt nicht wusste, wo sie denn festsass, hätte Mateo sich diese Sätze gut auch einfach sparen können. Allein die neun Tage von Ryatts Frist wurden ein paar Augenblicke später plötzlich sehr relevant. Wenn Ryatt versagte, ihr Tracker versagte und weder sie selbst noch jemand anderes einen rettenden Fluchtplan für sie fand, war das nämlich die Zeit, die Mateo ihr noch einen Herzschlag gönnte. Es war ein komisches Gefühl, das so direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen. Ihr war schon mehrfach der Tod angedroht worden - bisher aber immer indirekt und nie in so klaren Worten. Es liess sich schwer vermeiden, dass sie auf diese Bekanntgabe hin erstmal den Boden musterte, leer schluckte und ihre Unterlippe zwischen die Zähne klemmte. Neun Tage. Neun Tage würden reichen. Wahrscheinlich würden schon ein oder zwei Tage reichen, weil sie nicht glaubte, dass ihre Schwester sich mehr Zeit lassen würde. Aber ihre Schwester musste immer noch hier rein kommen. Der Tracker musste immer noch funktionieren. Wenn dieser Plan nicht aufging, dann würde alles weitere sehr, sehr schwierig werden. Mal wieder kam sie nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu spinnen, weil Mateo noch nicht fertig war mit seiner Reaktion auf ihre Fragen. Sie hob den Blick leider rechtzeitig wieder an, um sein beschissenes, falsches Lächeln nicht zu verpassen. Er war überhaupt gar nicht ihr Freund. Bloss weil seine beiden Brüder vielleicht auf einer einzigen Ebene schlimmer waren als er, brauchte Mateo nicht zu glauben, sie hätte auch nur eine einzige verdammte Millisekunde von dem vergessen, was er Victor angetan hatte. Und sie hätte auch noch sehr viele anderen Schimpftitel für Sean übrig, die dieser definitiv verdient hätte. Das sagten auch ihre Augen, die nicht viel mehr als pure Verachtung ausstrahlten. Es fiel ihr für ihre Verhältnisse erstaunlich schwer, weitere Beleidigungen zurückzuhalten. Und das, obwohl sie bestens wusste, was auf dem Spiel stand. Vielleicht auch gerade deshalb. Weil sie schon wieder so hilflos ausgeliefert auf die Gunst von ein paar Psychopathen hoffen konnte. Weil sie alles daran hasste und sich trotzdem nicht verteidigen konnte. Weil sie mit aufgescheuerten Handgelenken an Kabelbindern kratzte. Weil sie schon wieder wie ein unfähig zappelnder Käfer in Rückenlage darauf warten sollte, dass irgendjemand sich dafür begeistern konnte, sie zu retten. Das machte auch sein behindertes Messer nicht besser, egal wie oft er es in den Händen drehen wollte. Ihr Blick hatte für ein paar Sekunden auf der kleinen, viel zu gefährlichen Waffe in den Fingern eines Kriminellen gehaftet, glitt nun aber mit unverändertem Ausdruck zurück in seine Augen. "Ich bin mit niemandem befreundet, der meinem Freund ins Gesicht blickt, während er ihm den halben Unterarm versengt. Ich bin auch mit niemandem befreundet, der meinem Freund Messer in den Rücken sticht. Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber wir sind keine Freunde, Mateo.", war ihr einziges kaltes, gefühlt unendlich gekürzte Echo auf seine Belehrung. Alles, was sie sich zu sagen wagte, vor dem Hintergrund der unausgesprochenen Drohung, die sie beide so gut kannten. Sie sollte hier keine Schlachten kämpfen, die sie nicht kämpfen musste. Der Tag wäre auch so lang genug und die Gefahr, irgendwann irgendjemanden wütend zu machen, zu gross für unnötige Provokation.
MATEO Fayes Gesicht spiegelte innerhalb relativ kurzer Zeit ziemlich viele verschiedene Emotionen wider. Die meisten davon sehr vorhersehbar - auch die unterschwellige Wut, die sie auf mich haben musste. Ich an ihrer Stelle wäre auch mehr als ein bisschen angepisst, würde Jemand einer geliebten Person in meinem Umfeld etwas antun… was sie getan hatte. Oder streng genommen Victor, weil er so dumm gewesen war die Cops zu rufen, in seiner heillosen Sorge um Faye. “Welch süße Erinnerung…”, säuselte ich und sah für einen flüchtigen Moment nach oben, so als würde mir die Decke des Büros nochmal auf Leinwand besagte Folter abspielen. Rache war was Schönes und sie machte süchtig. Man könnte behaupten, dass das am Adrenalin lag, das bei solchen Aktionen ausgeschüttet wurde. Nicht nur vom Opfer, das krampfhaft zu überleben versuchte. “...aber für die gebrochene Nase müsste ich mich eigentlich noch irgendwie revanchieren, wenn ich so drüber nachdenke.", stellte ich fast andächtig fest, als mein Blick zurück in Fayes rutschte. Gleichzeitig umfasste ich den schmalen Griff des Messers fest, ohne das kalte Lächeln verloren zu haben. Eine weitere Narbe fiel Victor an Faye doch sowieso schon nicht mehr auf, oder? Ich könnte es ihm aber auch einfach gleich tun und einmal kräftig ausholen… oder mein Feuerzeug aus dem Wagen holen, das da eigentlich im Handschuhfach verstaut bleiben sollte. Laut Riley jedenfalls. Ich ging gerade noch zwei Schritte auf Faye zu, als ich ein Räuspern hinter mir hörte. Dicht gefolgt von “Mateo.” in einem unterschwellig mahnendem, kräftigen Tonfall. Ich blieb stehen und klappte das Messer in einer fließenden Bewegung zu, bevor es in die Hosentasche wanderte. “Ich mach doch nur ein bisschen Spaß, komm runter.", beschwichtigte ich meine am Türrahmen stehende Schwester mit einem Blick über die Schulter hinweg, woraufhin sie genervt seufzte und mit den Augen rollte. Während sie vermutlich gerade dabei war abzuwägen, ob sie mich wirklich mit Gil hier alleine lassen konnte, zog ich mich mit einem letzten Blick in Fayes Richtung aus dem Büro zurück. Die Kerkermeisterin höchstselbst schloss die Tür hinter mir ab, womit sie unsere Geisel in Einsamkeit und mich in Langeweile verdonnerte.
Es lief eigentlich alles in bester Ordnung, bis vor einigen Tagen. Ich tat mir allmählich nicht mehr ganz so schwer damit, die Therapiestunden wahrzunehmen. Es war auf jeden Fall insofern nützlich, dass Jetman zufrieden gestellt war, wenn wir telefonierten. Das kam sehr regelmäßig vor und trug zu meiner mentalen Stabilität bei. Zwischen Aryana und mir war alles so gut, wie es sein konnte - stellenweise vielleicht auch wegen der therapeutischen Unterstützung, weil ich halt einfach ein dezenter Beziehungskrüppel war. Iich schaffte es, meine Laune relativ konstant oben zu halten, was natürlich auch der Brünetten guttat, die sie andernfalls sonst immer abbekam. Als Aryana die Hiobsbotschaft nach ihrem Besuch bei Victor bei uns Zuhause platzen ließ, löste das sehr gemischte Gefühle in mir aus und brachte mich ins Straucheln. Irgendwas ganz tief in mir lechzte förmlich nach dieser Art von Action, obwohl mein Job eigentlich mehr als riskant genug war. Ich verstand nicht ganz, warum ich es nicht besonders schlimm fand, möglicherweise auf sehr hässliche Art eingreifen zu müssen, sollte Faye etwas zustoßen. Aryana hatte mich nicht darum bitten müssen - ich hatte ohne darüber nachzudenken mit einem Schulterzucken genickt, als sie Victors Bitte erwähnte. Während mich meine Gefühle diesbezüglich zum tausendsten Mal meine eigene Persönlichkeit in Frage stellen ließen, stimmte es mich doch auch etwas traurig, dass ich offenbar nicht der Einzige war, der dermaßen abgestumpft und kaputt gegangen war. Früher hätte Victor nicht um sowas gebeten… glaubte ich zumindest. Es war kein Wunder, dass diese ganze Scheiße bei ihm - und Faye - tiefe Spuren hinterließ, aber schön anzusehen war es sicher nicht. Laut Aryana war er ein ziemliches Wrack gewesen, als sie mit ihm gesprochen hatte. Wir hätten ihn gerne vom Flughafen verabschiedet, was aufgrund des Einsatzes aber völlig unmöglich war. Inzwischen war der hochgewachsene Dunkelhaarige weit weg im vermeintlich sicheren Los Angeles und seine bessere Hälfte war bei uns eingezogen. Sie telefonierten oft, beinahe täglich, soweit ich das mitbekam. Leider wusste ich aber aus erster Hand, dass ihn das nicht ausreichend beruhigte. Er checkte immer mal wieder mittels Nachricht bei mir gegen, ob es Faye wirklich okay ging, wenn sie am Hörer scheinbar mal nicht so geklungen und es trotzdem beteuert hatte. Das passte in ein ungesundes Muster, von dem ich schwer hoffte, dass die beiden es final hinter sich lassen konnten, wenn sie zusammen in L.A. waren. Victor schien eine passable Wohnung für sie gefunden zu haben. Ich konnte schwer einschätzen, ob es ihm gut tat, sich mit den Vorbereitungen für das neue gemeinsame Leben mit Faye zu beschäftigen oder ob es ihn nur zusätzlich stresste, weil sie dabei nicht bei ihm war. Schon vor einer Weile hatte Ryatt sich telefonisch bei Aryana gemeldet, weil es eine verpflichtende Schulung gab, die wir auch mit unserem in diese Zeit fallenden Urlaub nicht einfach so skippen durften. Zum einen war das eine routinemäßige, halbjährliche Wiederholung inklusive anschließender praktischer Durchläufe und zum anderen die Einführung eines neuen taktischen Geräts. Es waren nur zwei Tage und doch löste das unweigerlich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend aus. Wie eine dunkle Vorahnung, ein Wink mit dem Zaunpfahl seitens des Schicksals - das änderte nur nichts daran, dass wir da trotzdem hingehen mussten. Ryatt hatte versprochen, seinen kriminellen Freunden diese Information nicht zu stecken. Ob das reichte, war allerdings fragwürdig. Ich hatte nicht unbedingt selten das Gefühl, beobachtet zu werden. Dass Faye mir bestätigte, dass das nicht unwahrscheinlich war, machte mich nicht unbedingt weniger paranoid. Nicht im Sinne von Angst, aber von vermehrter Anspannung, die sich wieder anzusammeln begann. Der 4. Dezember konnte mir demnach gar nicht schnell genug vorbei sein. Es war schwer zu erwarten gewesen, dass Aryana und ich uns gegenseitig in diesem rundum mulmigen Gefühl bestätigten. In den gewohnt frühen Morgenstunden hatte uns der Wecker heute ein zweites Mal aus den Federn geschmissen. Die ältere Cooper hatte noch gerade so am Spind Fayes Nachricht lesen können, die beteuerte, dass sie sich auf den Heimweg machte. Mobiltelefone waren während unserem Arbeitsalltag außerhalb der Pausen sehr strikt verboten und normalerweise war das kein Problem für uns. Heute aber eben schon. Aryana war drauf und dran gewesen, ihr Handy in den Schulungsraum schleusen zu wollen, wovon ich sie nur auf Biegen und Brechen abhalten konnte. Nicht, weil ich es ihr nicht gerne gleich getan hätte, sondern weil wir uns hier nach wie vor keinen Ärger leisten konnten. Irgendwann in den folgenden drei Stunden begann auch ich dann auf dem Stuhl sitzend mit dem rechten Bein auf und ab zu wippen. Zu 99,9% hatte ich mit dem Rauchen wieder aufgehört - jetzt war jedoch einer von diesen Momenten, wo ich gerne wieder die Hand nach den Glimmstängeln ausgestreckt hätte. Während fast alle anderen in der Frühstückspause um 9.30 Uhr zuallererst in die Mensa gingen ohne einen Umweg zu machen, um den knurrenden Magen zu füllen, klebte ich im Stechschritt an Aryanas Seite auf dem Weg zurück zum Spind. Ich hätte gerne sowas wie ’es ist bestimmt alles in Ordnung’ gesagt, aber ich wusste mit am besten, wie gerne solch optimistische Gedanken zermürbt wurden. Als die Brünette den Spind aufschloss, lehnte ich mich das Umfeld abschirmend mit der Schulter seitlich gegen das Schließfach direkt daneben. Gefühlt dauerte es eine ganze Stunde, bis sie ihr Handy in der Hand hielt.
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Welch süsse Erinnerung sagte er... Und allein für diese hirnlose Aussage würde sie dieses Arschloch schon wieder am liebsten sterben sehen. Es war wirklich unglaublich, was er sich erlaubte. Und leider auch erlauben konnte, weil er jetzt wie damals in einer ihr sehr überlegenen Position stand. Weil sie mit ihren gefesselten Händen nicht gerade viel machen konnte, um ihm die dämliche Fresse zu stopfen. Sie könnte wahrscheinlich nicht einmal dann etwas gegen ihn ausrichten, wenn er sich für die gebrochene Nase revanchieren möchte, wie das seiner Meinung nach noch ausstehend wäre. Trotzdem spannte sich ihr Körper zusätzlich an, als sein Blick wieder in ihren fiel und sie ihn dunkel erwiderte. Natürlich entging ihr nicht, wie er das Messer stärker umfasste. Wie er abzuwägen schien, was er sich in diesem Moment alles leisten konnte... Nachdem er sich vor nichtmal drei Minuten als ihren bald einzigen Freund hier drin bezeichnet hatte. Scheinbar würde sie vorerst jedoch nicht erfahren, zu welchem Schluss er dabei gekommen war, denn kaum hatte Mateo sich ihr nochmal ein Stück genähert und sie damit weiter in Richtung der hinteren Ecke des Büros getrieben, wurde ihre kleine, unfaire Diskussion anderweitig beendet. Riley gab sich wirklich Mühe, dass Faye sich ihre Gesellschaft plötzlich ziemlich dringend wünschte. Und sie zugleich mit einem noch schlechteren Gefühl in Richtung des Schichtwechsels ihres Wachpersonals blickte. Nachmittag, hatte Mateo gesagt. Es war unwahrscheinlich, dass Aryana und Mitch früher hier waren als Gil. Und sie beschloss, dass sie sehr dringend auf den Mund sitzen musste und hier drin nur noch in Notfällen überhaupt mit jemandem reden würde. Das war mittlerweile wohl der einzige Teil, den sie selbst noch dazu beitragen konnte, um sich und ihre Beziehung mit möglichst wenig Folgeschäden aus dieser Sache rauszuziehen. Falls sie nicht den ultimativen Fluchtplan zusammenkratzte, jedenfalls. Die nächsten Stunden - oder Tage - würden bald zeigen, wie weit sie damit genau kam. Zuerst starrte sie jetzt noch ein paar Minuten die geschlossene Tür ihres kleinen Gefängnisses an, bis sie sich irgendwann dazu überwinden konnte, sich wenigstens oberflächlich umzuschauen. Ohne sich dabei zu viel zu bewegen, sie hatte keine Ahnung, ob sie beobachtet wurde und hatte auch keine Lust, Rileys Arbeit zu überprüfen, nur um letztendlich doch nichts zu finden, das ihr von Nutzen wäre. Je mehr das Adrenalin aus ihren Adern gewaschen wurde, umso stärker wurden auch die Müdigkeit und Erschöpfung, die nach einer Nachtschicht sowieso immer dezent ausgeprägt waren. Und so setzte sie sich irgendwann hinter dem Schreibtisch auf den Boden in eine Ecke, wo sie von der Halle aus eigentlich niemand sehen sollte und sie selbst auch niemanden sehen musste, während sie vor sich hin starrte und abwechslungsweise in den verschiedensten ungesunden Gedankenkarussells versank. Sie versuchte sogar etwas zu schlafen - weil sie definitiv lieber jetzt schlafen wollte als nachmittags oder abends. Das war nur nicht so leicht und auch keineswegs entspannt, aus allen offensichtlichen Gründen nicht.
Eine zweitägige Schulung... Natürlich genau jetzt, wo sie es am allerwenigsten brauchen konnten. Es hatte in ihren Ohren wie ein schlechter Witz geklungen, als sie davon erfahren hatte. normalerweise wurde sowas nie so kurzfristig angekündigt. Sie könnten ja auch im Urlaub sein, irgendwo in Europa Städte besichtigen oder in Asien Kokosnüsse schlürfen - was wäre dann? Entweder hatte irgendjemand auf einem Einsatz kürzlich dezent versagt oder einer in den Büros konnte nicht planen. Oder beides. Sie würde schon gerne wissen, bei wem sie sich im Anschluss bedanken gehen durfte. Vielleicht fand sies noch raus, gerade hatte sie leider aber auch noch andere Sorgen. Hauptsächlich eine andere Sorge und zwar, wie so oft, ihre Schwester. Aryana war grundsätzlich keine Person, der sich gerne um alles sorgte und da sehr wenige Menschen ihr wirklich viel bedeuteten, konnten eben auch nur diese Menschen ihr solche Kopfschmerzen bereiten. Mal wieder Fluch und Segen der Liebe... Sie hatte wirklich überlegt, wie sie aus der Sache nochmal rauskommen könnte. Ob sie sich einen Krankenschein organisieren und das grosse Fieber vortäuschen sollte. Ging aber leider nicht so leicht bei Easterlin, wo man Krankheit und Unfall jeweils bei seinem firmeninternen medizinischen Fachpersonal abklären lassen musste. Ging wohl genau darum, solche Ausfälle zu vermeiden, jedes Mal, wenn jemand keine Lust auf einen gefährlichen Einsatz oder, wie in diesem Fall, eine bestimmte Übung hatte. Also war sie trotzdem angetanzt. Hatte sich, mit etwas Hilfe von Mitch, sogar an die Regeln gehalten und ihr Handy im Spind deponiert, obwohl ihr das noch nie schwerer gefallen war als heute. Sie versuchte sich über die nächsten Stunden einzureden, dass Faye bestimmt längst zuhause und im Bett war. Dass es keinen Grund für diese übertriebenen Sorgen gab und alles gut sein würde. Aber eigentlich wusste sie, dass es nicht so war. Sie wusste, was auf dem Handy stehen würde, bevor sie ihren Spind erreicht hatte und dieses in der Hand hielt. Sie hatte nur noch nicht sicher gewusst, wie viele verpasste Anrufe von Victor es sein würden, die sich neben keiner einzigen Nachricht von Faye auf dem Display zeigten. Vier. Es waren vier verpasste Anrufe eines schwer besorgten Freundes. Und von ihrer Schwester? Absolut gar nichts. "Fuck", hauchte sie erstickt, warf Mitch einen kurzen, schon leicht panischen, hilflosen Blick zu. Erst dann entsperrte sie den Bildschirm - selbstverständlich längst mit zittrigen Fingern, öffnete noch einmal die Nachrichten, nur um sicherzustellen, dass da wirklich nur noch gähnende Leere auf die letzte, längst gelesene Nachricht folgte. Hab dich lieb, stand da. Und wo war sie jetzt? Es brauchte zwei Anläufe, bis Aryana die Karte geöffnet hatte, auf der ein kleiner Punkt ihr anzeigen sollte, dass Faye zuhause in Sicherheit war. Nur tat er das nicht. Der kleine Punkt war nicht zuhause und sie musste erstmal rauszoomen, um ihn überhaupt zu finden. In einem Industriegebiet... wenn sie das richtig ablesen konnte, sie kannte die Gegend nicht wirklich. Was, wenn das nur der Sender war und nicht ihre Schwester? Was, wenn jemand sie hier verarschte? Was, wenn Faye wirklich dort war? Wer war bei ihr? Was passierte in diesem Moment und lebte sie überhaupt noch?? "Scheisse", zischte ein zweiter Fluch über ihre Lippen, sie wählte Fayes Nummer und legte das Handy an ihr Ohr, griff dabei mit der anderen Hand eher unbewusst nach Mitchs Fingern, um sich an diese zu klammern, als könnte er ihr gerade irgendwie helfen. Selbstverständlich war alles, was sie hörte, ein zimmergleicher Anrufbeantworter. Weil Faye nicht bei ihrem Handy war. Sonst hätte sie ihr ja geschrieben, dass alles okay war. Aber es war nicht alles okay. "Wir müssen sofort gehen", gab sie überflüssigerweise bekannt, hatte sich bereits abgewandt, um sich bei irgendwem abmelden zu gehen. Einfach vom Gelände fahren war hier eher nicht so das, was man machen sollte oder konnte - ausserdem war da ja noch immer das Ding mit keinen Ärger machen, weil sie sich nichts mehr erlauben konnten. Sie wusste eigentlich gar nicht, bei wem sie vorbeischauen sollten. Easterlin persönlich? Das konnte in ihrem Zustand nicht gut enden und wahrscheinlich würde sie auch einfach keiner reinlassen. Beim Leiter der Übung? Sie bezweifelte, dass dem irgendwelche Handlungskompetenzen in diesem Bereich zuteil wurden. Ryatt? Ryatt, dieses verdammte Arschloch. Ja, wahrscheinlich sollte sie sich bei ihm melden. Dann konnte er sich um den Rest kümmern, während sie ihre Schwester vor dem Elend retteten, das allein ihm zu verschulden war. Klang fair. Ob sich bei ihm wirklich noch niemand gemeldet hatte? Oder hatte er ihnen einfach nichts sagen wollen, weil er schon die Hosen voll hatte? "Gehen wir zu Ryatt, das ist sein Problem", teilte sie das möglicherweise schlecht durchdachte Ergebnis ihres Kurzschlusses, erkundigte sich jedoch nicht weiter nach Mitchs Meinung, sondern zog ihn viel eher im Laufschritt bis leichtem Joggen mit sich mit zum Bürokomplex. Er würde schon sagen, wenn er einen besten Einfall hatte. Was auch immer das sein mochte, sie war schon offen. Nur eben auch sehr in Eile und leichter Panik.
Meine Augen folgten unruhig schimmernd jedem von Aryanas Handgriffen. Exakt so traf mein Blick dann auch mit einem tonlosen Schlucken auf ihren, als sie die unheilvolle Botschaft verkündete, die wir beide schon im Blut gehabt hatten. Statt etwas Ähnliches zu erwidern, lehnte ich mich noch ein Stück weiter vor, um das Display besser sehen zu können. Keine Ahnung, wo Faye da genau war. Bei uns Zuhause, wo definitiv der einzige Ort war, an dem sie sich gerade hätte aufhalten sollen, war es aber definitiv nicht. Ich umschloss Aryanas Finger fest mit meinen und gab währenddessen meine leicht angelehnte Position auf, um sie gegen festen Stand zu tauschen. So als hätte mir das auch mehr mentale Stabilität gegeben, weil in mir die Sorge um Faye ebenso mehr und mehr nach oben kroch. Sie war nicht meine leibliche Schwester und wir schwammen nicht immer auf einer Wellenlänge, aber sie gehörte unwiderruflich zu dem kleinen turbulenten Haufen Familie, den ich hatte. Sie hatte mir das damals gesagt, nachdem ich sie völlig rund gemacht hatte - dass sie alle die Familie für mich sein konnten, die ich nicht hatte. Ich war froh, mehr als einmal über dieses im ersten Moment unangenehm wirkende Angebot nachgedacht zu haben. Nur bedeutete das jetzt in diesem Moment, dass wir sofort gehen mussten, weil weder Aryana, noch ich selbst gewillt waren, Faye als Teil unserer Familie mit diesem Schicksal sich selbst zu überlassen. Nachdem der Anruf wie leider zu erwarten ins Leere gelaufen war, zog die Brünette mich an der Hand weg vom Spind und offenbar auf direktem Wege zu Ryatt. Ich würde nicht behaupten, in dieser Sache selbst vollkommen rational denken zu können, aber vielleicht doch ein klein wenig mehr als Aryana - deshalb ließ ich es mir wenigstens flüchtig durch den Kopf gehen, ob das eine gute Idee war. Während ich neben ihr herlief, selbstverständlich. Es war so oder so Ryatt Schuld, dass wir jetzt zu einer Rettungsaktion aufbrechen mussten. Nur blieb an dieser Stelle die Frage offen, inwieweit er überhaupt eine Möglichkeit hatte, uns freizustellen. So ganz ohne belegbaren, schwerwiegenden Grund, den er auch Easterlin glaubhaft auftischen konnte. Ich rechnete also mit maximal semi-guten Chancen für einen Abbruch der Tagung für uns. "Mal sehen, wie ach so einflussreich er tatsächlich ist...", war alles, was ich mit einer unruhigen Prise Sarkasmus sagte, als wir die Tür des Bürokomplexes passierten. Trotzdem galt es, diese Möglichkeit auszuschöpfen und herauszufinden, ob Ryatt schon Bescheid wusste und wie er darauf reagieren würde. Er mochte sich ein paar kleine Pluspunkte eingefangen haben, durch die neuerdings milde Planung für unsere Einsätze, aber das reichte zur Wiedergutmachung längst nicht - nicht nach heutigem Stand, nicht für mich. Allerdings bremste uns schon die Empfangsdame am Tresen im Erdgeschoss des gläsernen Towers mehr oder weniger effektiv aus. Sie lehnte sich mit einem “Entschuldigung, haben Sie einen Termin?” über die Theke. Das allein hinderte uns nicht am weitergehen, weil wir sie vorerst einfach passierten, aber die Securitys nahe der Aufzüge stoppten uns dann. Diese schoben sich, schon bevor wir da überhaupt ansatzweise ankamen, sehr gut sichtbar vor die Türen. Ich wurde langsamer und bremste damit auch Aryana aus, bis wir beide zum Stehen kamen. Wir wandten uns der Empfangsdame zwangsweise doch zu. Sie hing nach wie vor stumpf lächelnd nach vorne gebeugt da und tippte auf eine Antwort wartend mit ihren etwas zu langen Fingernägeln auf die bis dahin noch makellos glänzende Oberfläche. “Ist Ryatt Hayes verfügbar?”, fragte ich, hörbar genervt von diesen dummen Sicherheitsmaßnahmen. Sie ließ sich nach einem kurzen, abwägenden Blick zurück auf ihren Stuhl und damit aus unserem Sichtfeld fallen, weshalb ich Aryana ein Stück in jene Richtung zurückführte. “Wer fragt?” Sie sah uns abwechselnd an und wir nannten unsere Namen. Anschließend griff sie zu ihrem Telefon und gefühlt klingelte es eine ganze Stunde, bis Jemand abhob. Der Veteran ging offenbar nicht ran, also versuchte sie es nochmal woanders. Als dann zuerst ein kurzer Smalltalk folgte, hätte ich gerne das Telefonkabel genommen und sie erwürgt, was meine ungeduldig funkelnden Augen widerspiegelten. Sie ließ sich kein bisschen beirren und wurde dann erst noch ein weiteres Mal zu Ryatt durchgestellt. Es dauerte wieder zähe Sekunden, bis er dann doch ranging und sie sich nach seiner Bereitschaft erkundigte, uns zu empfangen. Erst als der Hörer kurz darauf wieder in seiner Gabel lag, gab die Rezeptionistin eine finale Auskunft: “Sie sind gerade mit dem Meeting fertig geworden. Oberstes Stockwerk, rechter Gang, ziemlich weit hinten.” Das war alles, was wir an Informationen brauchten, um unseren ursprünglichen Weg - dieses Mal ohne menschliche, im Weg liegende Steine - fortzusetzen. Überflüssig zu erwähnen, dass auch der Aufzug für meinen Geschmack zu langsam nach oben fuhr. Aryanas Hand hatte ich die ganze Zeit über, sei sie auch noch so hinderlich beim zügigen Laufen gewesen, nie losgelassen. Allem voran wegen des mentalen Beistands - um ihr unmissverständlich zu signalisieren, dass sie auch in dieser Sache wieder auf mich zählen konnte, obwohl sie das eigentlich längst wusste. Aber eben auch ein bisschen als wortwörtliche Handbremse, die inzwischen etwas schwitzig wurde.
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Realistisch betrachtet war ihr klar, dass Ryatt nach etwas mehr als fünf Monaten in diesem Geschäft nicht darüber verfügen konnte, wer bei einer Pflichtübung früher nachhause gehen konnte und wer nicht, was in diesem Fall relevante Gründe wären und was nicht. Das würde definitiv seine Kompetenzen überschreiten. Aber sie ging hier trotzdem nicht weg, ohne ihm zumindest eine sinnbildliche Ohrfeige verpasst zu haben. Er sollte sich mindestens so sehr anstrengen wie sie, da es immer noch seine eigene versalzene Suppe war, die es hier auszulöffeln galt. Auf Kosten ihrer Schwester. Er musste nicht losrennen und versuchen, sie zu befreien, denn das traute sie sowieso grundsätzlich nur noch sich selbst und Mitch und vielleicht Victor zu. Aber er sollte seinen Teil dazu beitragen und so wies aussah, bestand sein Teil zurzeit daraus, sie hier raus zu manövrieren. Mal schauen inwiefern er diesbezüglich ihrer Meinung war. Selbstverständlich konnten sie auch heute nicht einfach nach oben in sein Büro spazieren, sondern wurden unnötig aufgehalten und mussten das übliche Willkommensprozedere durchlaufen. Überflüssig zu erwähnen, dass es auch Aryana nicht schnell genug gehen konnte und sie die Dame am Empfang dezent ungeduldig bis angepisst anblitzte - ganz egal ob die jetzt nur ihren Job tat oder tatsächlich mit Absicht trödelte. Nach einer Ewigkeit bekamen sie dann doch die Erlaubnis, den Weg nach oben anzutreten, was sie sich bestimmt nicht zweimal sagen liessen. Der Lift war so langsam wie immer - plus ein bisschen zusätzlich gechillt, wie alles ausser ihnen gerade - erfüllte aber seinen Zweck und brachte sie in die genannte, oberste Etage, wo zielstrebig der Weg den rechten Gang runter eingeschlagen wurde. Auch dieser Weg wirkte unverhältnismässig weit, obwohl sie in ihrem Tempo kaum mehr als zehn Sekunden brauchten, um das angepeilte Büro zu erreichen. Die Tür stand offen, Ryatt musste also gerade von seinem Meeting zurückgekehrt sein und in weiser Voraussicht auf ihren Besuch die Tür offen stehen gelassen haben. Oder auch nicht, war nicht so, als würde Aryana irgendwelche Gedanken an Manieren oder Höflichkeit verschwenden und wäre nicht auch bei geschlossener Tür mehr oder weniger mit der Klinke in der Hand nach drinnen gefallen. Das war so nur nicht nötig und die Gefahr eines potenziellen Türschlosses ebenfalls vorbeugend aus dem Weg geräumt. Sehr nett. Reichte nur knapp nicht aus, um ihre Laune merklich zu heben, als sie in sein Büro stürzte und Mitch hinter sich her nach drinnen zog. "Und? Was ist jetzt unser beschissener Plan, Ryatt?", grüsste sie den Veteranen mit einem nur schwach gereizten Lächeln, das ihre aufgebracht funkelnden Augen keineswegs zu besänftigen vermochte. Ihre Schritte stoppten knapp vor seinem Tisch, auf dem Sekunden später unsanft ihr Handy platziert wurde, das nun wieder die Karte zeigte mit dem kleinen roten Punkt im verdammten Nirgendwo. "Hast du deine Millionen zur Überweisung bereit oder gibst du diesmal uns die Erlaubnis, deine Probleme lösen zu gehen? Und zwar jetzt, weil wir ja alle eher nicht wissen, wann es dafür zu spät ist", stellte sie zwei weitere, absolut unsensible Fragen, die auch eher nicht auf positive Antworten ausgelegt waren, weil beides nunmal unwahrscheinlich war. Normalerweise war sie keine solche Bitch, die gerne auf anderen Leuten rumhackte, die sowieso schon genügend Probleme im Leben hatten. Aber normalerweise galt zu Ryatts Pech nunmal nicht, wenn es dabei ums Leben ihrer Schwester ging. Er hatte also besser ein paar gute Neuigkeiten und Antworten bereit für sie.
Ich hatte mich für meine Verhältnisse mehr schlecht als recht auf das Meeting konzentrieren können. Fayes auf dem Spiel stehende Sicherheit hing seit Wochen tagtäglich wie eine schwarze Wolke über meinem Kopf - jetzt, wo Mitchell und Aryana ebenfalls auf dem Stützpunkt waren, wurde das schlimmer. Ich hatte kein Wort darüber gegenüber den Hernandez verloren, natürlich nicht. Als ich auf dem Weg zurück zu meinem Büro mein stummgeschaltetes Handy checkte, wurde aber klar, dass das nicht genug gewesen war. 'Tick, tack… tick, tack… :)' als SMS reichte mir in Kombination mit einem verpassten Anruf völlig aus, um kurzzeitig keine Luft zu kriegen und mitten im Gang stehen zu bleiben. Für ein paar Sekunden lang bewegten sich die Zahnräder in meinem Kopf derartig schnell, dass sie nur noch hohldrehten. Hätte ein Kollege mich nicht auf sein Klemmbrett fixiert am Arm angerempelt, hätte ich wahrscheinlich länger als ein paar Sekunden reglos aufs Display gestarrt. Ich hörte das Telefon in meinem Büro schon im Flur klingeln, weshalb ich die Tür unachtsam hinter mir offen stehen ließ und ohne mich hinzusetzen ran ging. Nachdem ich den Hörer zurückgelegt hatte, sah ich auf die digitale Wanduhr - Frühstückspause. Wir hatten eine halbe Stunde oder eher 20 Minuten, weil die beiden auch wieder zurückgehen mussten. Ich stellte mich mental auf verbalen Kugelhagel ein und wurde nicht enttäuscht. Kaum hatte Mitchell die Tür hinter sich mit einem unsanften Schubs zufallen lassen, legte Aryana los. Ich versuchte ruhig zu bleiben… was schwierig war, weil mein Herz dank des Adrenalins fröhlich gegen meinen Brustkorb schlug. Die patzigen Worte halfen nicht bei einer sinnvollen Lösung, aber ich bemühte mich um einen einigermaßen gefassten Gesichtsausdruck, statt Aryana das zu sagen. Mir stand der Kopf doch selbst sonstwo, da brauchte ich ihre - berechtigten - Vorwürfe echt nicht auch noch. Ich sorgte mich genauso wie sie um Faye. Schweigend sah ich auf den rot pulsierenden Punkt auf dem Schreibtisch. Ohne zu zögern streckte ich die Hand nach dem Ortungsprogramm aus und versuchte anhand der Karte zu eruieren, wo Faye sich befand… was in einem schweren Atemzug resultierte, ehe ich zu Aryana und Mitch aufsah. "Ich weiß, wo das ist… aber auch davon abgesehen, dass es leider nicht in meinem Ermessen steht, euch freizustellen, wäre da sofort hinzufahren keine gute Idee. Da fahren viel zu viele Zulieferer lang...", murmelte ich - eigentlich offensichtlich noch die Situation eruierend. Das hinderte Mitchell trotzdem nicht daran, mit den bissigen Worten "Ach, also warten wir einfach darauf, dass sie Faye vierteilen? Das ist auf jeden Fall die bessere Idee." hinterher zu schießen. Es machte mich wütender, als es sollte. "Klappe verdammt, ich versuche nachzudenken.", murrte ich nicht minder gereizt an beide gerichtet zurück, begleitet von einer energischen Handgeste. Nur zwei Mal war ich in dieser Lagerhaltung gewesen: einmal nachts zum Einlagern und einmal tagsüber, als vereinzelt Ware weiter transportiert werden sollte. Kleinkram, für den sich mein Truck mitsamt mir als Boten besser als ein extra Lieferwagen angeboten hatte. Unfähig eine magische Lösung aus der Luft zu greifen schüttelte ich den Kopf und zog mein eigenes Telefon wieder aus der Hosentasche. "Ich werd' mir zuerst anhören, was diese Arschlöcher zu sagen haben. Sie haben während des Meetings versucht, mich anzurufen.", kommentierte ich mein Vorhaben, als ich die Nummer raussuchte. Bevor ich den grünen Hörer betätigte, sah ich das Paar auf der anderen Seite des Tisches prüfend an. "Kriegt ihrs hin, still zu sein?", stellte ich eine eigentlich rhetorische Frage, die nur ein Ja als Antwort tolerierte. Ich wollte hier gleich nicht mit einem aus der Hand geschlagenen Telefon konfrontiert sein und wenn sie im Hintergrund zu hören waren, wäre das hochgradig ungünstig. Also ging ich lieber noch ein paar Schritte weiter von ihnen weg bis zu der Fensterfront, als ich das Handy ans Ohr hob. Gil ging ran und ließ mir mit dem Klang seiner schmierigen Stimme das Blut kochen. Er erklärte erstmal, wie traurig er gewesen war, weil ich seinen Anruf nicht angenommen hatte. So als wüsste er nicht ganz genau, dass ich am liebsten nie wieder auch nur ein Wort mit ihm gewechselt hätte. Ich fragte ihn, wie genau ich die Nachricht zu verstehen hatte - einfach deswegen, weil man mit ihm am besten kommunizieren konnte, wenn man sich einigermaßen dumm stellte. Gab man ihm ein Gefühl von Überlegenheit, wurde er manchmal leichtsinnig. So auch dieses Mal: Nach dem ganzen Blabla von wegen 'du wolltest ja nicht hören und gib uns endlich die Kohle', folgte die beiläufig eingestreute Info, dass er Faye leider erst später besuchen konnte. Danach nochmal die unverblümte Drohung, dass er sich höchstpersönlich vergewissern musste, ob er nicht doch vielleicht ein bisschen zu hart zu ihr gewesen war, das letzte Mal. Meine Finger verkrampften sich ums Handy, als ich statt darauf einzugehen mit gedrückter Stimme danach fragte, wie viel Geld ich mindestens mitbringen musste und wohin - eben ganz der vermeintlich einspurende Erpresste, der ich nicht war, weil ich schlichtweg nicht genug Kohle hatte. Gil sagte, dass er mir die Location schicken würde, wenn ich bereit war zu zahlen, dass am 4. Dezember um exakt Mitternacht die Zeit ablief und dass es schon sehr schade um Faye wäre, falls sie ihr dieses Mal tatsächlich einen Todesstoß verpassen mussten. Er legte auf, ohne noch eine Antwort abzuwarten - nicht, als wäre ich zu einer imstande gewesen. Ich starrte das Display noch einen Moment lang an, bevor ich mich meinen beiden hochgradig drängelnden Komplizen erneut zuwendete. "Die gute Nachricht ist… Gil ist noch nicht bei ihr. Was wiederum heißt, dass wahrscheinlich Mateo und/oder Riley bei ihr in der Lagerhalle sind… und mit zwei von denen werden wir fertig… heute Nacht.", setzte ich mit aufgewühltem Ton zu einer Zusammenfassung des Gesprächs und einem Plan an, während ich noch dabei war, meinen Schädel zu sortieren. Allein schon wegen des wahnsinnig schlechten Gewissens und der Angst, dass Faye tatsächlich noch einmal etwas zustieß - wegen mir - war mir inzwischen kotzübel. Trotzdem nahm ich einen Block aus einer der beiden Schreibtischschubladen und zog einen Kugelschreiber aus dem Stiftehalter, um eine einigermaßen detaillierte Skizze des Innenraums der Lagerhalle aufzuzeichnen. Eine fürs Erdgeschoss und dann noch eine für oben, was sich auf das kleine Plateau mit ein wenig offener Fläche, einem kleinen Büro und einer weiteren Tür nach draußen beschränkte. Genau da ratterte es in meinem Kopf dann ordentlich - außen war eine Feuerleiter, die ich in Zeitlupe einzeichnete, während ich mich daran zu erinnern versuchte, um was für ein Schloss es sich an der oberen Brandschutztür handelte. Nachdem ich damals aber nur gefühlt fünf Sekunden oben gewesen war, kam ich damit nicht wirklich zu einem Ergebnis.
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Er schwieg erstmal. Das war vielleicht intelligent - was aber nicht heissen sollte, dass sie auf irgendeiner Ebene einverstanden war damit und es sie nicht furchtbar aufregte. Sie hatten keine Zeit für stumm auf den Bildschirm schauen, wie konnte er das nicht merken?? Scheinbar, weil er nicht bloss stumm auf den Bildschirm starrte, sondern tatsächlich zeitgleich eruierte, wo das Signal des Senders aufgezeichnet wurde. Den wider jeglicher nicht vorhandener Erwartungen, mit denen sie das Handy auf dem Tisch platziert hatte, war die Gegend um den roten Punkt dem Veteranen ihr gegenüber gar nicht so unbekannt. Was er ihnen auch fast beiläufig steckte. Nicht in der von ihr bevorzugten Variante - nämlich mittels der Nennung einer genauen Adresse inklusive Anfahrtsplan - sondern mitsamt der Info, dass sie da jetzt besser nicht hinfahren sollten. Also auch abgesehen von der Tatsache, dass sie hier selbst mit seiner Hilfe nicht vor heute Abend vom Areal kamen. Traute er ihnen echt wegen ein paar Lieferfahrzeugen nicht zu, Faye bei Tageslicht da raus zu holen? Nach dem verdammten Termitenhügel in Syrien? Das war fast schon eine Unterstellung und sie würde ihn liebend gerne hier und jetzt vom Gegenteil überzeugen. Klar, Nummern mit Geiseln waren eine ganz andere Stufe von schwierig und gefährlich. Wenn die Geisel ihre Schwester war, dann erst recht. Aber Mitch konnte bestimmt ohne mit der Wimper zu zucken unterstreichen, wie ungeduldig sie wurde, wenn es um Rettungsaktionen ging, die Faye involvierten. Abends war nie früh genug. Aber abends war leider oft die einzige Option. In diesem Fall scheinbar hauptsächlich aus zwei Gründen, die ihr beide kein Stück gefielen. Und Mitch auch nicht, der den geteilten Unmut und ihre eigenen Gedanken lautstark kundtat. Niemand wusste, was bis am Abend passierte. Die konnten Faye in fünf Minuten auf jeder Ebene komplett zerstören... oder in zehn Stunden. Bis heute Abend hätte zeitlich sogar beides Platz, in dieser Reihenfolge oder umgekehrt. Niemand wusste, was schon allein während ihrem kleinen Kaffeeklatsch hier alles passierte. Ryatt beschloss etwas unerwartet, die Runde noch ein bisschen auszuweiten, indem er den Kopf der Schlange am Telefon herbeizog. Wenn auch nicht für sie alle und Aryana bewertete es gerne direkt wieder als dezent dreist, wie er sich ein paar Schritte entfernte und nichtmal im Traum auf die Idee kam, das Telefonat auf Lautsprecher zu führen. Am liebsten hätte sie ihm das Handy aus der Hand gerissen, um persönlich mit dem Elend auf der anderen Seite zu sprechen. Sie war nicht bescheuert, darum liess sie es selbstredend bleiben... Aber die Versuchung war gross, was auch ihr weiterhin wütender, hasserfüllt funkelnder Blick bestätigte. Oder ihre Finger, die sich noch immer eng um Mitchs Hand klammerten. Es kam eher selten vor, dass er sich vernünftiger verhielt als sie... Gerade würde sie jedoch überdurchschnittlich gerne einfach ihrem Anfall aus Wut und Angst und Verzweiflung folgen und alles an Ryatt auslassen, der diese nächste fette Runde Drama zu verschulden hatte. Natürlich wusste sie, dass er das nicht gewollt hatte, dass er die Hernandez' längst aus seinem Leben gestrichen hätte, wenn er könnte und so weiter. Aber letztendlich war Faye und ihre Unversehrtheit - sofern zu retten - das einzige Argument, das sie erfolgreich zum Schweigen und pseudomässigen Ruhig-Bleiben zwang. Ryatt kehrte mit Neuigkeiten zurück, die ausnahmsweise nicht nur scheisse waren. Das Gil noch nicht bei Faye war, beispielsweise. Noch. Nicht. Zeitraum undefiniert. Dass die Rettung heute Nacht erfolgen würde. Mit zwei von denen werden wir fertig, sagte er auch. Wir? Wo sah er sich in der ganzen Aktion? Als Lockvogel? Aryana kam noch nicht dazu, die Frage zu stellen, da war er schon dabei, ein bisschen zu zeichnen. Erneut dauerte es ein paar Sekunden, bis sie den Linien folgen konnte und verstand, worum es hier gehen sollte. Dann aber folgten ihre Augen dem Stift auf dem Papier, während sie sich sofort fragte, wo in dieser Skizze der verschollene Teil ihrer Familie festhing. Und in welchem Zustand sie sie diesmal in die Freiheit der Nacht hinaus begleiten würden. "Ich kann nicht bis heute Abend warten, Ryatt. Die Arbeitstage hier sind viel zu lang und bloss weil dieses Schwein jetzt noch nicht bei ihr war, haben wir keine Garantie, dass das bis zur Dämmerung und darüber hinaus so bleiben wird. Was soll ich hier irgendwelche technischen Fakten zu den neuesten Kriegsführungs-Gadgets studieren, während mir niemand sicher sagen kann, dass meine Schwester nicht im Hintergrund misshandelt wird?? Er hat ihr ja praktisch schon angedroht, dass beim nächsten Mal die Vergewaltigung folgt, willst du hier warten und hoffen, dass er das erst für morgen geplant hat??", ihre Stimme sprang zunehmend von wütend zu verzweifelt über, je mehr ihr bewusst wurde, dass Ryatt sie hier nicht abtreten lassen konnte. Und es ausser ihm auch sonst niemand tun würde. Sie also die Wahl hatten zwischen den Rest des Tages diese Schulung mitzumachen und bitter zu hoffen, dass Faye diese Stunden unbeschadet überlebte, oder abzuhauen, um sie sofort zu retten, und damit ihre Karriere hier ein für alle Mal zu begraben. Und sie wussten alle, was das bedeutete. Die Optionen waren so beschissen, dass Aryana beinahe direkt auf den Tisch vor sich gekotzt hätte. Entweder sie warf Mitch und alles, was sie gemeinsam in den letzten Monaten so hart erkämpft hatten, komplett vor die Hunde - und ging damit auch ein beachtliches Risiko ein, in der Folge einfach selbst hingerichtet zu werden - oder sie überliess Faye für weitere grauenvolle zwölf Stunden ihrem Schicksal und hoffte, dass ihr nichts passierte. Mit dem Risiko, dass ihr eben doch alles passierte. "Und wie genau stellst du dir das wir in mit zwei von denen werden wir fertig vor?", wollte sie eine weitere Frage beantwortet haben, die für ihn aber vielleicht etwas leichter zu beantworten war als die Letzte. Oder auch nicht, sie nahm - wie unschwer zu erkennen - gerade nicht allzu viel Rücksicht auf seine Gefühlswelt. Dafür war ihre zu überfordert.
Ich verstand es ja. Konnte mir bestens vorstellen, wie Aryana sich als Fayes Schwester fühlen musste, wenn es mir als nur Freund schon so beschissen damit ging. Das hieß aber nicht, dass ich endlos viel Geduld für ihre Gefühlslage aufbringen konnte. Zumindest nicht, wenn sie weiterhin so tat, als würde es mir leichter fallen als ihr, Faye bis heute Abend warten zu lassen. Ich konnte mir ja nicht einmal das, was ihr bis hierhin schon passiert war, ansatzweise verzeihen. "Denkst du, mir fällt das leicht? Dass ich nicht genauso wie ihr alles stehen und liegen will?" Rhetorische Fragen, die vielleicht nicht ganz so giftig klangen wie Aryanas Stimme. Aber auch mir war langsam anzuhören, wie sehr die Situation meine Nerven strapazierte. Mein Blick kommunizierte unmissverständlich, dass die beiden es mit ihren mal mehr und mal weniger direkten Vorwürfen echt nicht besser machten, als ich mit tief gezogenen Augenbrauen vom Papier aufsah. "Du kannst gerne sofort durch die Tür verschwinden, wenn du willst, dass dein Freund", ich warf einen kurzen Blick zu Mitchell, "Faye im Nachhinein erklärt, warum sie auch noch keine Schwester mehr hat. Oder umgekehrt, je nachdem, wen es letztendlich erwischt. Ich werds nämlich nicht machen.", erwähnte ich explizit, warum alles andere als heute Abend schlicht und ergreifend nicht in Frage kam. Neben der Tatsache, dass man in der Dunkelheit schlichtweg unauffälliger agierte - es hatte so seine Gründe, warum sehr viele von Easterlins Aufträgen des Nachts ausgeführt wurden. Natürlich wussten sie das beide schon. Nachdem sie so lange an der Strafe für Mitchs Vergehen genagt hatten, dürfte ihnen das kaum entfallen sein. Ich erwähnte es nur, um nochmal deutlich zu machen, wie unnötig diese Diskussion hier und jetzt war. Es hielt uns nur von einer tatsächlich sinnvollen Lösung ab, wenn ein bis zwei der Beteiligten sich an beschissenen Umstände festbissen, die wir nicht ändern konnten. Faye würde ihre Schwester brauchen, wenn sie aus dieser Hölle ein zweites Mal raus war… Ich sah zurück auf die Skizzen, als ich zu einer Antwort auf Aryanas letzte Frage ansetzte: "Naja… einer muss ablenken, schätze ich. Es ist unwahrscheinlich, dass wir da komplett lautlos reinkommen und normalerweise ist es da nachts sehr ruhig." Ich zuckte leicht mit den Schultern. "Außerdem muss ja irgendjemand Faye da wegbringen, weil sie sicherlich keine Sekunde länger als nötig anwesend sein möchte… und auch wenn ich hoffe, dass wir keinen Arzt brauchen, können wir sie ja nicht einfach in ein Taxi setzen." Ich hoffte, betete innerlich darum, dass Gil nur den Druck erhöhen wollte. Dass er nicht ernst machte und auch sonst keiner nur eine einzige von Fayes Strähnen knickte. Bekanntlich standen die Chancen dafür aber schlecht. “Und… korrigiert mich gerne, wenn ich damit falsch liege, aber ich gehe eher nicht davon aus, dass ihr diesen Abschaum einfach laufen lassen wollt..?” Ich warf beiden einen kurzen Blick zu, nur um mich zu vergewissern, dass ich in dieser Annahme richtig lag, bevor ich weitersprach. Ich kannte weder Aryana, noch Mitchell besonders gut oder besonders lange - es würde halt nur nicht so gut zu ihnen passen, einfach Gnade walten zu lassen und zu gehen, sobald Faye befreit war. Sinn machen würde es auch nicht: Setzten sie den Hernandez bei dieser Aktion keine maßgeblichen Grenzen, waren sie die nächsten auf der Liste. Was genau sie mit dieser Pest anstellen würden, kümmerte mich herzlich wenig, solange der Denkzettel deutlich genug war. “Es wäre leichtsinnig, wenn einer von euch alleine dort bleibt und ihr werdet euch sicher nicht dabei aufteilen wollen. Die Rollenverteilung ist also nicht wirklich optional.”, erklärte ich abschließend mit einem leicht flatternden Atemzug, warum ich nachgefragt hatte und warum ich halt leider irgendwie unverzichtbar für das eingespielte Duo war, das wahrscheinlich lieber ohne mich im Nacken aufgebrochen wäre. Da meine Rolle in dieser Sache fertig erklärt war, fixierte ich mich wieder vollständig auf den unprofessionellen Lageplan der Halle. “Ich vermute, dass sie Faye in einen der Büroräume gesperrt haben.”, dachte ich laut nach und deutete die Räume jeweils auf den Zeichnungen an, auch wenn sie eigentlich recht offensichtlich erkennbar waren. Es wäre einfacher für uns, hätten sie Faye oben eingesperrt - aber wie mit allem anderen auch ging ich an dieser Stelle nicht davon aus, dass sie es uns gerne leicht machen wollten. “Es gibt nur drei Eingänge. Zwei Stahltüren - eine oben, eine unten - und das Rolltor.” Ich folgte meinen Worten nach wie vor mit Fingern auf dem Papier. “Wegen der Ablenkung wäre es sicherlich sinnvoll, sich auf zwei Eingänge aufzuteilen… ich weiß nur nicht, inwiefern die Türen abgeschlossen sind und falls brachiale Gewalt die einzige Option ist, um da reinzukommen… dann muss das verdammt schnell gehen.” Ich kam wahrscheinlich mehr oder weniger gewaltfrei rein, wenn ich nett klopfte. Es würde ja Jemand nachsehen, wer zur Hölle den Krach machte, wenn er nicht aufhörte. Aber falls die Tür direkt hinter mir wieder ins Schloss fiel oder mir gar gleich vor der Nase zugeschlagen wurde, kamen auch Aryana und Mitch da - falls sie die andere Tür nicht aufbekamen - nicht mehr rein.
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Sie versuchte schon bevor Ryatt sie darauf aufmerksam machte, innerlich wieder etwas runter zu schalten, weil ihr klar war, dass es Faye nicht rettete, wenn sie den Veteranen zusammenstauchte. Aber er hatte es verdammt nochmal verdient und sie hatte wirklich wenig Nerven dafür übrig, sich für ihn zusammenzureissen. Nein, sie dachte nicht, dass das alles für ihn leicht war. Aber sicher auch nicht schwerer für sie. Und im Gegensatz zu ihr - und Mitch und auch Faye, die ihre Strafe für die Freundschaft mit Ryatt längst abgekriegt hatte - hatte er sich das alles selbst eingebrockt. Egal wie beschissen seine Situation damals gewesen war, niemand hatte ihn zur Kriminalität und dem Kontakt zu Sean gezwungen. Er hatte gemäss Faye sogar noch Eltern, die ihn sicher unterstützt hätten. Darum hielt sich ihr Mitleid mit ihm gerade eher in Grenzen. Das sagte auch der keineswegs freundliche Blick, mit dem sie ihn für seine Worte bestrafte. Seine geplante Aufgabenteilung stiess ihr leider trotz allen logischen Begründungen ebenfalls dezent sauer auf. Es klang einfach etwas zu stark nach die Drecksarbeit überlass ich euch. Liess sie mit der Beseitigung seines eigenen Problemes zurück, während er sich nicht die Finger schmutzig machen wollte. Ryatt verpackte es schön mit seinen Worten, liess es so klingen, als möchten sie bestimmt ihre unstillbaren Rachegelüste befriedigen. Darum gings aber maximal tertiär. Vor allem mussten sie dieser Sache ein Ende setzen, das dann auch halten würde - für sie alle. Und damit in erster Linie zwangsläufig auch für Ryatt, der seinen Kopf dann geschickt unbeschadet aus der Sache ziehen konnte. Das war ein Teil ihrer Abneigung gegenüber seiner Worte. Mal ganz abgesehen davon, dass sie nicht wollte, dass er sich dann mal eben mit Faye in Sicherheit brachte, während sie jetzt noch überhaupt nicht einschätzen konnten, wie es ihrer Schwester in diesem Moment überhaupt gehen würde. Sie würde es sehr schwer bevorzugen, wenn Victor diesen Part übernehmen könnte. Oder einfach eine unbeteiligte, sehr gute Freundin von Faye. Nicht Ryatt. Victor war zurzeit aber nicht hier. Sie konnte ihn schon anrufen, aber die Chance, dass er bis heute Abend/Nacht hier sein konnte, war gering bis nichtig. Eine unbeteiligte Freundin konnten sie schlecht mit reinziehen, ohne so ziemlich alle Fragen aufzuwühlen. Aryana wusste nicht, inwiefern Faye mit ihren besten Freundinnen je über die Vergangenheit geredet hatte. Aber es war auch absolut nicht ihre Entscheidung, wie sie das in Zukunft handhaben wollte. Also auch keine Option. Blieb eben nur noch Ryatt oder sie oder Mitch. Und damit nur Ryatt, weil sie und Mitch noch eine Aufgabe zu erfüllen hatten. Victor hatte sich deutlich genug ausgedrückt - sie würden vorsorglich ein Feuerzeug und ein Taschenmesser mitschleppen. „Du gehst nicht davon aus, dass wir sie laufen lassen wollen… Wirklich nett von dir, uns die Option der Bestrafung offen zu lassen. Und auch ausgesprochen praktisch für dich, dass wir dir damit zufällig dein grösstes Problem abnehmen, hm?“, ganz allen Unmut konnte sie trotz halbherziger Bemühung leider nicht für sich behalten. War nicht weiter schlimm, wenn er wusste, dass ihr seine Beteiligung an der Rettungsaktion trotz fehlender Alternativen schwer missfiel. Damit war die Sache aber leider auch abschliessend kommentiert, weil sie viel dringender für einen dingfesten Befreiungsplan sorgen sollten. Damit rutschten ihre Augen auf den improvisierten Raumplan auf dem Tisch, den Ryatt nun zu erklären begann. Ein Rolltor kam ja sicher nicht in Frage, weshalb auch klar war, welche beiden Eingänge zum Einsatz kommen würden. Es wäre sehr viel eleganter und risikoärmer, wenn sie sich nach drinnen schleichen könnten, weil alles andere in dieser Situation das Leben ihrer Schwester undefinierbarer Gefahr aussetzte. Selbst wenn Ryatt ablenkte, konnten sie nicht sicher sagen, dass alle Wachpersonen nach ihm schauen gingen. Und dann könnte immer noch jemand bei Faye sein, und sie im Handumdrehen lebensgefährlich verletzen, sobald Eindringlinge erkannt wurden. Ausserdem wussten sie nicht genau, wie viele Menschen in dem Moment anwesend sein würden, konnten folglich auch nicht prüfen, ob alle abgelenkt waren. „Keine Fenster, Lüftungsschächte oder ähnliches..?“, wollte Aryana darum wissen. Es wäre schon sehr vorteilhaft, wenn sie wenigstens unbemerkt nach drinnen kamen, um die Lage abzuschätzen und sich kurz umzuschauen. Dass die ganze Befreiung lautlos funktionierte, war kaum möglich. Aber das andere würde ihnen einen sehr grossen Vorteil bieten und Fayes Sicherheit stark erhöhen.
Aryana erntete einen gleichermaßen angestrengten wie angepissten Blick von mir. "Weil in euer beider Schuld zu stehen im Anschluss ja so unheimlich angenehm für mich wird… ich kann mein Glück kaum fassen.", motzte ich nur so vor Ironie triefend zurück und rollte mit den Augen. Vielleicht hätten Aryana und ich uns unter ganz anderen Umständen in irgendeinem Paralleluniversum gut verstanden. Vielleicht auch Mitchell und ich, dessen Augenbrauen bei meiner Aussage in die Höhe schossen. Das Verhältnis zwischen dem Paar und mir würde unter den gegebenen Umständen aber nicht mehr besser werden. Was im Grunde nicht schlimm war, weil unsere Wege sich früher oder später wieder trennen würden. Trotzdem machten diese verhärteten Fronten nicht nur die jetzige Horrorsituation, sondern mit absoluter Sicherheit auch die kommenden Monate furchtbar anstrengend und kompliziert. Man erntete, was man säte - ich würde am liebsten nur noch den ganzen Garten planieren. "Als würde uns das Irgendwas bringen, so gewissenhaft wie du deine verdammten Schulden zurückzahlst.", knurrte der Tätowierte mit funkelndem Blick über den Tisch. Es kribbelte mir wirklich in den Fingern, weiter darüber zu diskutieren. Doch ich beließ es dann endgültig bei einem müden Kopfschütteln - gegen zwei Sturköpfe dieser Größenordnung kam ich kaum an. Wir sollten unser aller Energie also besser auf den Tisch heften, was bei der gegenwärtigen Hochspannung alles andere als einfach war. In Stresssituationen eine Lösung zu finden war eigentlich mein Spezialgebiet – scheinbar allerdings nur so lange, bis eine zu sehr geliebte Person involviert war. Meine Geschichte wiederholte sich auf eine Weise, die kaum schrecklicher sein könnte. Auf Aryanas Frage hin schüttelte ich leicht den Kopf. "Nicht im Erdgeschoss… jedenfalls keine, die mir aufgefallen sind. Es würde mich wundern, wenn eine so verhältnismäßig alte Lagerhalle eine Lüftungsanlage hat.", verneinte ich ihre Frage zuerst. Zumal da seit jeher nur gelagert worden zu sein schien und keinerlei Produktionsprozesse vonstatten gingen, für die das zwingend erforderlich hätte sein können. Wahrscheinlich hatte das WC unten eine kleine Verbindung nach draußen - eben weil keine Fenster - da passte halt nur leider kein lebendiger Mensch durch. "...aber das obere Büro hat ein Fenster, deswegen ist es deutlich wahrscheinlicher, dass Faye unten ist. Mit einer Leiter kommt man da sicherlich ran.", folgte ich meinen Gedanken weiter mit Worten und hob den Stift nochmal an, um das Fenster mittels zweier Striche einzuzeichnen. Danach ließ ich das Ende des Kugelschreibers mittels Zeige- und Ringfinger auf den Tisch gestützt auf und ab springen, wobei er mehrmals auf den Block schlug. “Schonmal ein Fenster aufgebrochen?”, fragte ich, sah dann vom Block auf und abwechselnd in die beiden Gesichter gegenüber. Ich konnte diese Frage dank Sean leider bejahen, aber mein Part war eigentlich ein anderer. Nachdem bisher noch Niemand angedeutet hatte, gerne die Rollen tauschen zu wollen, konnte ich das höchstens an einem unschuldigen Fenster demonstrieren. Es dauerte einen kurzen Moment, bis Mitchell etwas tiefer einatmete und sich einschaltete: “Ist sehr lange her, aber… ja.” Sein mahlender Kiefer machte auch ohne Nachhaken klar, dass er Fragen diesbezüglich missbilligte. Dass er dabei vermeintlich unauffällig mehr Nähe zu Aryana suchte, indem er von einem Bein aufs andere trat und im Anschluss mit der Schulter mehr an ihrer lehnte, entging meinen geschulten Augen nicht. Zu seinem Glück stand meine Neugier in diesem Augenblick sehr weit hinten an, also nickte ich bloß. “Dann ist das wahrscheinlich unsere beste Chance… alte Fenster haben selten Sicherheitsbeschläge.” Ich hob den Stift wieder an, um meine folgenden Worte mit einer Geste zu verdeutlichen: "Bis auf das Büro ist der Bereich oben offen, also nur mit einem Geländer an der Kante und Treppe abgesichert. Das bietet null Sichtschutz, aber wenn ihr es wirklich leise reinschafft, habt ihr sicher einige Sekunden Spielraum.", um euch umzusehen, die Lage zu sondieren, in Position zu gehen und so weiter - aber das verstand sich eigentlich von selbst. "Der Raum unten ist von oben aber natürlich nicht einsehbar. Ich kann euch nur mittels Handzeichen deuten, wie viele von diesen Arschlöchern ich sehe... falls ich denn rein gelassen werde." Ich würde es irgendwie unauffällig verpacken müssen, aber das bekam ich hin. Nur das WC war logischerweise auch für mich nicht mit Röntgenblick einsehbar. Es wäre allerdings wirklich Pech, wenn ausgerechnet in diesem Augenblick Irgendwer auf der Schüssel saß. Nicht, dass Pech in diesem Kreis was Neues wäre. "Alles andere wird wohl leider spontan ablaufen müssen. Sie sind meistens eher mit Messern unterwegs, weil das leiser und billiger als ein Schalldämpfer ist... und theoretisch rechnen sie nicht mit uns, aber ich würde Schusswaffen nicht vollständig ausschließen." Meine Augen glitten zurück zu Aryana. "War das mit der nicht vorhandenen Freizeitknarre dein Ernst?", kam ich auf unser damaliges Gespräch am Bartresen zurück. Konnte sein, dass die Brünette damals die Wahrheit gesagt hatte. Das war für mich aber nicht zu überprüfen und auch, wenn wir sie bestenfalls wegen des Lärmpegels nicht bei dieser Aktion benutzten, war es ein Stückchen mehr Sicherheit. Für uns, aber auch für Faye. Mit einer Pistole ließ sich auf Distanz drohen - mit einem Messer eher nicht, solange man kein allseits bekannter, sehr begnadeter Messerwerfer war.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Vielleicht war die Schuld an sich nicht angenehm. Sie war aber eine sehr geringe Belastung, wenn man bedachte, dass Ryatt sich dafür im Anschluss wahrscheinlich keine Sorgen mehr um die Hernandez machen müsste. Klar würden sie das Risiko, dass einer von denen Ryatt irgendwann aus einem Hinterhalt auf offener Strasse anfiel und ihm ein Messer ins Herz stach, nur bedingt aus dem Weg schaffen können. Aber sie würden ihnen heute Nacht schon sehr deutlich machen, dass sie besser nie wieder auf ihrem Radar auftauchten. Also auch weder bei Ryatt noch bei Faye je wieder anklopfen sollten. Naja. Dankbarkeit sah auf jeden Fall anders aus - aber diesen Hinweis sparte sie sich lieber für später, wenn die ganze Mission erstmal geglückt war. Gerade beendete sie diesen Teil der Unterhaltung auch von ihrer Seite mit einem letzten, schwer genervten Augenrollen, mit dem sie sich mit Mitchs Worten eindeutig einverstanden zeigte. Das Einzige, was sie von Ryatt bekommen konnten, waren gewisse Vorteile bei der Arbeit. Diese hatten sie aber strenggenommen bereits zu Gute, weil sie genau darüber ja schon einmal mit ihm geredet hatten. War also in diesem einen und sicherlich einzigen Sinne wirklich vorteilhaft für Ryatt, dass Faye erneut in das ganze Drama involviert war, da er sich sonst sehr alleine mit dem Problem konfrontiert sehen würde. Nachdem die gegenseitige Antipathie soweit geklärt war, konnten sie sich im nächsten Schritt dann schon eher um wichtige Sachen kümmern. Keine schön praktische Lüftungsanlage also. Das war zu erwarten gewesen, aber halt trotzdem schade. Genau wie die überwiegend fehlenden Fenster. Sie konnten nur sehr fest hoffen, dass sich nicht in genau dem Moment, in dem sie einzusteigen planten, jemand im oberen Büro aufhielt. Sonst war dieser wackelige Plan nämlich sehr schnell futsch. Es würde sowieso schon schwierig genug werden, das alles in einer ruhigen Gegend mitten in einer stillen Nacht unbemerkt hinzukriegen. "So wie du das schilderst, handelt es sich nur um ein kleines Fenster und wir müssen entsprechend noch eine Leiter oder ähnlich mitnehmen, hab ich das richtig verstanden?", fragte sie zur Sicherheit nochmal nach, ob sie seine Worte nun korrekt interpretiert hatte. Das waren alles nicht unwichtige Details und sie wollte so viel wie möglich wissen, bevor sie da auf der Matte standen und Faye unnötig in Gefahr brachten. Auch das lautlose Fenster-Aufbrechen war keine sonderlich leichte Aufgabe, selbst wenn Mitch scheinbar in entfernter Vergangenheit bereits Erfahrung in diesem Bereich gesammelt hatte. Ihr Daumen strich flüchtig über seinen Handrücken, im Versuch, ihm das alles hier nicht mit irgendwelchen Erinnerungen noch mehr zu erschweren als nötig. Sie würde ja vorschlagen, dass sie sich einfach für beides ausrüsteten, also Tür und Fenster. Aber soweit sie informiert war, waren Fenster fast immer einfacher aufzubrechen als Türen - gerade dann, wenn es sich um alte Fenster handelte. "Du darfst uns gerne noch ein Merkblatt mit Tipps zusammenstellen bis heute Abend, nur so zur allgemeinen Sicherheit", beauftragte sie ihr Gegenüber mit einem weiteren Teil der Arbeit, den er sicher gut übernehmen konnte. Er sass ja den ganzen Tag hier drin und konnte im Tagesgeschäft bestimmt auch Morgen nachholen, was er heute nicht schaffte. Das war ganz sicher weniger wichtig als Faye. War nicht so, als würde sie Mitch nicht vertrauen, dass er das schaffen würde - sie wollte einfach lieber kein Risiko eingehen, das umgangen werden konnte. Offensichtlich war ja auch so noch lange genug Risiko vorhanden, weil sich der Grossteil ihrer Mission nicht planen liess. So beispielsweise auch die Bewaffnung und Verteidigung ihrer Gegner. Aryana schüttelte auf Ryatts Frage hin knapp den Kopf. "Nein, war es nicht", erklärte sie indirekt, dass sie entsprechend ausgerüstet sein würde. Sie würde nicht buchstäblich mit einem Messer zu einer Schiesserei aufkreuzen. Auch wenn sie die Waffe, die sie zuhause aufbewahrte, eigentlich nie ausführte, geschweige den einsetzte, gäbe es wohl keinen besseren Moment als heute für ein erstes Mal. "Hast du uns sonst noch irgendwelche wichtigen Infos zu dieser Teufelsbrut? Oder zum Ort?", fragte sie sicherheitshalber nach, damit Ryatt nochmal ordentlich seine Birne anstrengte. Sie würden sich sicher Abends auch nochmal austauschen, aber auf alles, was sie jetzt schon wussten, konnten sie sich besser vorbereiten. Mental zumindest, Zeit würden sie ja keine bekommen. Zeit hatten sie auch jetzt nicht mehr viel, weil die Pause bald vorbei wäre und sie vor Ablauf zumindest noch versuchen wollte, Victor kurz anzurufen und ihn ins Bild zu setzen. Falls ihr Handy nicht sowieso in den nächsten Minuten nochmal klingelte.