Es war natürlich schon ein sehr anderer Einstieg in Easterlins dreckige Geschäfte, wenn das Ganze zumindest ein bisschen freiwillig geschah. Okay, Aryana hatte das Schicksal auch freiwillig gewählt, aber halt nur, weil die andere Option Mitch umgebracht hätte. Man könnte zwar auch sagen, dass Ryatt es nur getan hatte, weil er keine andere Möglichkeit gesehen hatte, irgendwie an Geld zu kommen und damit ihre Sicherheit zu gewähren. Der Unterschied zwischen ihm und den anderen beiden war trotzdem riesig, wenn man bedachte, dass Ryatt keine Schulden abzuarbeiten hatte und jederzeit wieder aussteigen könnte. Und Easterlin ihn mochte. Wobei er dazu, wie er gerade gesagt hatte, auch etwas beigetragen hatte. Wie er fortfuhr, hätte Faye ihn sofort wieder beruhigen können - sie hatte gar nicht darauf hinauswollen, dass er Easterlin mochte oder sich auf privater, ehrlicher Ebene gut mit ihm verstand. Wenn dem so wäre, hätte sie sich ziemlich in Ryatt getäuscht denn sie glaubte nicht, dass sie mit einem Menschen befreundet sein könnte, der zugleich mit Easterlin befreunden war und diesen sympathisch fand. Zumindest nicht ohne gründliche Erklärung. Aber selbst dann wäre es schwierig. Das, was er zuletzt zu dem Thema sagte, war dann schon eher die Richtung, die sie angepeilt hatte. Faye nickte leicht, während sie das Auto endlich auf den Highway steuerte, der sie fortan wesentlich schneller in Richtung Portland führen würde. "Verstehe... Macht sicher auch Sinn, wenn du dafür sorgst, dass er dich mag, solange du dort arbeitest... Es macht die Arbeit bestimmt leichter, wenn einem kein ständiges Misstrauen entgegenfliesst, nehme ich an", äusserte sie zuerst eher allgemein, was sie von guten, möglichst unbelasteten Arbeitsbeziehungen hielt. Trotzdem war das nicht ganz alles, was sie dazu sagen wollte, weshalb sie nach ein paar Sekunden nochmal in seine Richtung blickte. Nur kurz, als würde ihr der Blick dabei helfen, einzuschätzen, inwiefern sie fortfahren sollte. "Du... du hast keine Möglichkeit, Aryana und Mitch früher da rauszuholen, als ihre Verträge das vorsehen, oder..?", beschloss sie nach kurzen Nachdenken, das Kind beim Namen zu nennen. Er würde kaum mit Doch sicher, gut dass du fragst antworten, das war ihr schon klar. Aber vielleicht konnte er darüber nachdenken. Vielleicht kam ihm irgendwann später eine Idee. Eine etwas einfacher zu findende Idee würde hingegen die Wahl eines passenden Abendessens für heute werden. Sie waren beide nicht sonderlich wählerisch, was das Essen anging und Portland dürfte die volle Palette an Restaurants aufweisen. "Vielleicht finden wir ja weiche zum Nachtisch... wenn wir ganz viel Glück haben", meinte sie lächelnd. Möglicherweise auf einem Weihnachtsmarkt, falls es da einen gab. Sonst wusste sie nämlich nicht, wo sie Churros finden sollten, das war bekanntlich eher ein Nachtisch für den Jahrmarkt. Oder Kletterparks. Dass Ryatt seine Familie über seine Rückkehr informiert hatte, nahm sie so zur Kenntnis, während das Lächeln noch immer ihre Mundwinkel umspielte. Fand sie gut, wobei sie natürlich hoffte, dass zu viel familiäre Action nicht gleich dazu führte, dass ihm alles zu viel und zu anstrengend wurde. Familienfeste, die die Festtage bei normalen Familien eben oft säumten, waren leider auch für viele Menschen eine eher anstrengende Tortour und soweit sie sich erinnerte, hatte Ryatt keinen allzu engen Draht zum Rest seiner Verwandtschaft. Aber auch hier konnte sie mal das beste für ihn hoffen. Mal sehen, ob sie je davon erfahren würde, wie seine Heimkehr für ihn gelaufen war... Eher nicht bei einer gemeinsamen Abfahrt auf dem Snowboard, soviel stand fest. "Ach, das hätten wir schon überlebt... Da wir beide meiner Einschätzung nach denkbar wenig Lust auf einen erneuten Spitalaufenthalt in der Rolle der Patienten haben, wären wir ja sicher vorsichtig gefahren", winkte sie ab, wobei ein erneut leicht sarkastischer Unterton verriet, dass sie sich dessen eher nicht so sicher war. Sie lebte zwar gerne ein bisschen auf der sichereren Seite - zumindest theoretisch - aber ob sie sich daran im Eifer des Gefechts, beziehungsweise Wettbewerbs, noch erinnern würde, war schwer zu sagen. Im Normalfall warf sie immerhin auch nicht mit Kartoffeln um sich und das hatte sie damals in der Küche geflissentlich ignoriert.
Oh ja, und wie viel leichter ein guter Draht die Arbeit machte. Nicht nur in Hinblick auf Easterlin, sondern auf mein gesamtes Umfeld. “Definitiv. Vor allem zwischen Söldnern. Meiner bisherigen Einschätzung nach sollte man die mit noch mehr Vorsicht genießen, als die Führungsriege der Army… weil das Spielfeld in der Privatarmee viel offener konstruiert ist. Es gibt zwar zwei, drei Kollegen, mit denen ich mich relativ gut verstehe, weil sie meine oder zumindest sehr ähnliche Ansichten teilen, aber es ist nicht gerade die Mehrheit. ”, seufzte ich. Nicht, dass mir das extrem zu schaffen machte. Schon bei der Army war ich mein eigener bester Freund gewesen, bis auf vereinzelte Ausnahmen, und ich arbeitete bei Easterlin sehr unabhängig, wenn man von den Meetings absah. An manchen Tagen war die Einzelkämpfer-Mentalität des einen oder anderen aber wirklich kontraproduktiv für gute Arbeit und das ging mir unfassbar auf die Nerven. Als ich im Augenwinkel bemerkte, dass Faye zu mir rübersah, tat ich es ihr gleich. Lange hielt dieser Blickkontakt nicht an, was aber nicht nur an der Tatsache lag, dass die Brünette besser die Straße im Auge behalten sollte. Vielleicht hätte ich mir schon denken können, dass sie mir diese Frage irgendwann stellen würde. Möglicherweise hatte ich aber gehofft, dass sie es nicht tat. War doch wieder nur die nächste Möglichkeit, glorreich zu versagen. Deswegen folgte ein sehr kontrolliertes, langes Ausatmen. “Ich weiß es nicht, Faye… vielleicht ist es ein bisschen einfacher, nur einen Vertrag zu lösen, als Easterlin große Summen aus den Taschen zu leiern… aber die Arbeitsverträge in sämtlichen Kautionsfällen sind extrem wasserdicht. Das ist, wie sich für die Army zu verpflichten.”, murmelte ich vor mich hin und sah dabei nachdenklich auf meine Knie runter. Easterlin hütete seine Kohle wie nichts anderes und dazu gehörten zwangsläufig sämtliche seiner sorgfältig getätigten Investitionen. Seine Söldner waren für ihn eine Sache – ein Weg, Geld zu verdienen, nicht mehr und nicht weniger. Wenn sie keines mehr einbrachten oder auf andere Weise hinderlich wurden, sortierte er sie also einfach aus. In Gräber, nicht in den freien Arbeitsmarkt. “Ich… halt’ Ausschau, okay? Da kann ich dir nur wirklich nichts versprechen.”, schloss ich mit einem leichten Kopfschütteln und sah danach zögerlich erneut zu Faye. Wollte sie nicht damit enttäuschen, konnte aber nicht anders, als dabei realistisch zu bleiben. Wenn ich eine Chance sah, dann könnte ich ihr weiter nachgehen. Das war ich ihnen schuldig, allen dreien… aber eine einfache Vertragslücke würde ich gewiss nicht finden. Wenn es keine Churros zum Nachtisch gab, tat es wahrscheinlich auch ein Donut oder ein Brownie. Irgendein süßer Abschluss, um meine Nerven pseudomäßig ein wenig zu streicheln. Ich war glatt froh darüber, morgen gut zu tun zu haben, dann dachte ich wahrscheinlich deutlich weniger nach als jetzt. Untätig auf dem Beifahrersitz ließ sich allzu leicht wieder ein schlechtes Gewissen kriegen. “Klingt nicht wirklich nach uns, wenn du mich fragst.”, erwiderte ich sarkastisch auf die Snowboard-Sache. Nicht nur auf unsere zahlreichen Mini-Wettbewerbe bezogen, sondern ganz allgemein auf die letzten Monate. Ich war eindeutig zu selten vorsichtig gefahren. “Apropos… hast du dich schon nach neuen Arbeitsplätzen umgesehen?”, hakte ich nach, während mein Blick an einem Lastwagen haftete, den Faye im Begriff zu überholen war. Bisher lief das Fahren ziemlich gut und ich war mir sicher, dass sie mit ihrer durchweg sympathischen Art und Qualifikation wenig Probleme damit haben würde, zurück ins Berufsleben zu finden. Ihren sauberen Abschluss hatte sie hier jetzt ja auch noch auf Biegen und Brechen absolviert. Ich würde es allerdings auch verstehen, wenn sie es damit nicht eilig hatte, weil sie erstmal durchatmen und in Ruhe ankommen wollte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Ja in seinem Arbeitsumfeld tat er sicher gut daran, eine gesunde Portion Vorsicht walten zu lassen, was den Genuss seiner Arbeitskollegen anging. Allgemein wurde zu viel Vertrauen und Glaube an das Gute in jedem Menschen im Leben gerne mal bestraft - sie konnte ein Lied davon singen - was im Kreis von mehr oder weniger kriminellen Leuten sicher nicht anders war. "Sowas ähnliches habe ich von den anderen auch schon gehört... Angesichts von Easterlins Rekrutierungsstrategien ist das bestimmt sinnvoll", pflichtete Faye ihm bei, auch wenn sie wusste, dass er in dieser Sache eigentlich keine Zustimmung mehr brauchte und schon selbst Bescheid wusste, wo mehr und wo weniger Vorsicht geboten war. Ryatt hatte seine Erfahrungen in dieser Hinsicht längst gemacht, siehe Sean und Freunde. Sie hatte eigentlich auch nicht beabsichtigt, ihn mit ihrer anschliessenden leisen Frage in Bedrängnis zu bringen oder unter Druck zu setzen. Darum sah sie auch davon ab, ihren Blick erneut zu ihm schweifen zu lassen, als sie sein gut hörbares Ausatmen vernahm. Was er sagte, wusste sie ja bereits. Ihr war klar, dass er nicht hier und jetzt einen Plan aus dem Ärmel schütteln konnte. Sie wünschte sich nur einfach von ganzem Herzen, dass Aryana und Mitch da raus kamen - an einem Stück und lebendig. Dass auch die beiden nach all den Jahren endlich die Chance bekamen, einen mehr als verdienten, sauberen Neustart in Freiheit zu wagen. "Ich weiss, Ryatt... Wenn es einfach wäre, hätten sie es längst geschafft.", stellte sie darum murmelnd klar. "Das ist auch keine Forderung oder Erwartung oder was weiss ich. Ich bin dir nur einfach wirklich dankbar, wenn du genau das tust: Die Augen und Ohren offen halten. Und vielleicht ab und zu einen Gedanken daran verschwenden... Sie haben das nicht verdient, egal was damals gewesen ist. Und ich... naja, du kannst es dir wohl zusammenreimen.", seufzte sie und beschloss, die Sache nicht weiter auszuführen. Wie sehr sie von einer Zukunft träumte, in der niemand mehr hauptberuflich morden und Kugeln abwehren und in unfreiwilligen Arbeitsverhältnissen dienen musste, konnte jeder, der sie ein bisschen kannte, selbst erschliessen. Und dass sie Angst hatte, dass irgendwann plötzlich wieder was passierte, ebenfalls. Also genug davon. Wenn sie keinen Unfall bauen wollte, wäre es sicher besser, wenn sie ihre Gedanken mit weissen Snowboardpisten zukleisterte, anstatt mit Leichen und düsteren Bildern irgendwelcher Horrorszenarien. "Könntest du Recht haben... Vielleicht wären dafür unsere Schutzengel mal wieder zahlreich eingesprungen. Wir werdens leider nicht erfahren", zählte sie eine weitere Möglichkeit auf, die sie vor dem Schlimmsten bewahrt hätte. Vielleicht in einem anderen Winter, wer weiss... wie schon mehrfach bemerkt, stand die Zukunft dieser Freundschaft unleserlich in den Sternen. Auch eine Thematik, mit der sie sich noch intensiv befassen musste. Falls Ryatt nicht von sich aus beschloss, dass er keinen Kontakt mehr wollte und das an ihr hängen bleiben würde, falls sie eben ihrerseits zu diesem Entschluss kommen sollte. Von wegen Ungewissheit, brachte ihr Beifahrer ganz passend direkt den nächsten Punkt ein. Glücklicherweise einer, der sie nicht ganz so sehr stresste. Sie wollte natürlich keine unnötig grosse Lücke im Lebenslauf, aber zumindest aus finanzieller Sicht durfte sie sich ein, zwei Monate Zeit nehmen, um eine passende Stelle zu finden und musste nicht einfach direkt das erstbeste Angebot annehmen, das sich ihr auftun sollte. Sie hatte im letzten Jahr genügend Rücklagen gemacht und Victor auch. Es war nicht ihr Ziel, lange auszufallen, aber die Jobsuche hatte sie in den letzten Wochen echt nicht auch noch unter einen Hut mit dem ganzen Rest gebracht. "Nein... und jetzt bin ich ehrlich gesagt ganz froh, dass ich noch nicht wirklich geschaut habe. Ich… möchte mich in den nächsten Tagen bei keinem potenziellen Arbeitgeber vorstellen müssen, glaub ich. Muss erstmal schauen, dass ichs bis nach L.A. schaffe und dann auch wirklich… klarkomme... Sonst verbaue ich mir eine Möglichkeit, bloss weil es mir nicht wirklich gut genug geht, um einen anständigen ersten Eindruck an einem Vorstellungsgespräch abzugeben", das wäre eine mögliche Konsequenz davon, wenn sie zu früh irgendwo auftauchte und ihre Konzentration noch nicht auf dem Niveau war, das sie für ein erfolgreiches Vorstellungsgespräch und die Vorbereitung davon brauchte. Also nahm sie sich lieber noch etwas Zeit, bis sie in Kalifornien war und die ersten paar Tage am neuen Ort überlebt hatte.
Auf Fayes Feststellung nickte ich leicht vor mich hin. Man konnte nur schwer von teils unehrenhaft entlassenen Soldaten erwarten, dass sie sich nicht selbst der nächste Freund waren. Das brauchten wir nicht weiter zu vertiefen, auch wenn der Inhalt ihrer nächsten Worte ansatzweise daran anknüpfte. Denn das Paar, von dem wir hier sprachen, hatte schon Vieles im Alleingang geschafft und dadurch leider auch auf so einige Regeln geschissen. Ich wollte diesbezüglich eigentlich nicht vorschnell urteilen – ich wusste nicht, wie es dazu gekommen war, dass Mitch dem Gegner auf dem Schlachtfeld Informationen zugeschoben hatte. Ich konnte ihn aber auch nicht danach fragen, weil er mir wahrscheinlich eher einen Kinnhaken, als eine Antwort darauf geben würde. Dass er – zusammen mit Aryana – blind Straftaten zugunsten der jüngeren Cooper-Schwester beging, stand maximal insofern mit diesen verjährten Taten in Verbindung, dass es exakt genauso wahnsinnig war. Etwa genauso irrsinnig, wie zu glauben, Easterlin übers Ohr hauen zu können. Wieder nickte ich zwei, drei Mal kaum sichtbar. Nahm viele von Fayes Worten erstmal einfach so hin, bis ich sie ansatzweise ausreichend verdaut hatte, um sinnvoll darauf zu antworten. Meinerseits mochten es lediglich massive Schuldgefühle sein, die an der Freiheit des Paares hingen. Es war hingegen immer noch Fayes Schwester, von der wir hier sprachen und ich konnte sie verstehen. Schon aus Syrien mehr oder weniger heil rauszukommen, war ein kleines Wunder und Faye hatte schon zu viele Menschen im Leben verloren. Ich konnte die beiden, realistisch betrachtet, auch nicht erfolgreich ein Jahrzehnt lang aus sämtlichen riskanten Aufträgen raushalten. Mit jedem weiteren Jahr sank die Wahrscheinlichkeit darauf, lebend aus dieser Kiste rauszukommen… und gleichzeitig ein direktes Attentat auf Easterlin zu verhindern, nahm ich an. “Das werde ich.” Meine Stimme klang wieder fester als zuvor. Denn das war eine Sache, die ich Faye versprechen konnte. Eine Sache, die ich Aryana und Mitch schlichtweg schuldig war. Inwiefern das von Erfolg gekrönt sein würde, mal dahingestellt – aber wenn ich eine Möglichkeit sah, sie aus ihren Pflichten zu lösen, ohne dass wir alle drei geschlossen in den Knast oder ins Grab wanderten, würde ich dem nachgehen. “Aryana und Mitch haben mir meine Freiheit zurückgegeben… ich würde mich gerne dafür revanchieren.”, seufzte ich, als ich den Kopf an die Stütze sinken ließ und einen Moment die Augen zumachte. Ich machte mir nichts vor und wusste, dass ich kein bedingungslos loyaler Mensch war. Bevor ich Jemandem ehrliche Loyalität zollte, musste dafür ein sehr guter Grund her. Bei die Army waren das große Perspektiven und Geld gewesen, bei Faye Heilung und Wachstum, bei Aryana und Mitch war es jetzt eben die Freiheit. Das und vielleicht auch ein bisschen der Glaube daran, dass man sich nicht alles gefallen lassen sollte, was einem diese Welt auferlegte, nur weil man keinen schnurgeraden Ausweg direkt vor sich sah. Ob sie meine Loyalität nun wollten oder nicht, hatten sie sich genau diese quasi erfolgreich erkauft. “Ja, leider.”, stellte ich leise fest. Vielleicht ein Gedanke, den ich nicht laut aussprechen sollte. Es ließ sich nur nicht unterdrücken und außerdem dürfte Faye inzwischen gemerkt haben, dass ich von diesem Abschied auch nichts mehr hielt. Mir wünschte, er wäre nicht nötig. Dafür war es jetzt aber viel zu spät. Dass die Brünette sich noch nicht konkret auf Jobs beworben hatte, konnte ich bestens nachvollziehen und unterstützen. “Ist sicher das Beste so.”, bestätigte ich Faye in ihrem Vorhaben. Wohlwissend, dass es mal wieder meine Schuld war, dass sie aktuell mit sich selbst und den Geschehnissen zu kämpfen hatte, fiel mir jedoch auch an dieser Stelle das Lächeln schwer. Es zeigte sich insgesamt gerade viel zu deutlich, wie viel Schmerz ich in ihr Leben gebracht hatte und es war kaum möglich, mich nicht dafür zu hassen. “Wann auch immer du dich auf die Suche machst, hoffe ich auf jeden Fall für dich, dass du einen guten Job findest, mit dem du glücklich bist.”, und bei dem dir kein krimineller Veteran im Notdienst über den Weg läuft, der dein Leben in Schutt und Asche legt. “Aber da hab’ ich eigentlich keine Bedenken. Man kann dich nur mögen und offensichtlich weißt du, was du tust.”, ich deutete mit der linken Hand salopp an mir selbst hinunter. Die Brünette hatte mich mehr als einmal geflickt und gesundheitlich beraten. Ob sie uns allen einen Gefallen damit getan hätte, es nicht zu tun? Möglicherweise.
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Das war alles, was sie hatte hören wollen. Mehr verlangte sie von ihm gar nicht, auch wenn sie von ganzem Herzen hoffte, dass Aryana und Mitch das Elend schon bald hinter sich lassen konnten und nicht erst in all den langen Jahren, in denen noch so vieles passieren konnte. Sie konnte nur davon träumen, wie das Leben sein würde, wenn diese unterschwellige Angst und Gefahr eines Tages nicht mehr sein würden, wenn sie endlich frei wären. Alle zusammen. Und so träumte sie paradoxerweise noch ein bisschen vor sich hin, wenn sie sich Aryana und Mitch in Freiheit vorstellte, während Ryatt gleich darauf erwähnte, wie er seinerseits dank den beiden Kämpfern seine Freiheit wiedererlangt hatte. Und er war nicht der Einzige. "Das kann ich wohl von allen Menschen dieser Welt mit am besten nachvollziehen...", erwiderte Faye leise. Sie hatte ihm die Geschichte einmal erzählt. Davon, wie Syrien für sie und Victor geendet hatte. Warum sie die Narben auf dem Rücken trug. Aber eben auch, wie sie da wieder rausgekommen waren. Wie sie es geschafft hatten, nicht getötet zu werden. Was eben weniger etwas war, was sie geschafft hatten, als viel mehr etwas, das für sie geschafft worden war. Durch Mitch und Aryana, die todesmutig in die Hölle eingebrochen waren, um sie drinnen vom Boden zu kratzen und in die Freiheit zu tragen. Genau wie Ryatt verdankten auch sie und Victor ihrer Schwester und deren Freund die Freiheit und eigentlich das Überleben. All das, während es am Ende immer Aryana und Mitch waren, die in irgendeiner Form von Gefangenschaft zurückblieben. In Ketten gelegt von irgendwelchen unfairen Verträgen. Zu Dingen verpflichtet, die sie schon lange nicht mehr tun wollten - vielleicht gar nie wirklich hatten tun wollen. Es gab viele Sachen, die auf dieser Welt nicht gerecht waren. Aber das gehörte in Fayes Universum definitiv zu den Spitzenreitern der Ungerechtigkeit. Irgendwie war die Sache mit dem nicht stattfindenden Snowboard-Wettbewerb auch nicht sonderlich aufheiternd. Sie hätte es vielleicht einfach bei der Fantasie belassen sollen, ohne nochmals zu betonen, dass es zeitnah nicht passieren würde. Auf sein Ja, leider hatte sie nämlich nichts mehr zu sagen und auch keine tröstenden Worte zu erwidern. Sie wussten beide, dass zurzeit vollkommen unklar war, ob ihre Wege sich in der Zukunft je wieder kreuzten. Das musste sie hier in diesem Auto, das so gar keine Ausweichmöglichkeit für sie beide bot, nicht erneut in den Raum stellen. Da gab es weitaus sinnvollere Unterhaltungen, die wesentlich mehr hergaben und idealerweise sogar auf die Zukunft abzielten, auf eine positive Version davon. Ihre Jobsuche beispielsweise. Die hatte zwar auch Stresspotenzial, aber konnte in etwas hoffentlich richtig Gutem enden, wenn sie sich bemühte und sich eben die Zeit gab, die sie brauchte, um dann so aufzutreten, wie sie sollte. Seine Worte lockten jedenfalls wieder ein zartes Lächeln auf ihr Gesicht, wobei die letzten beiden Sätzchen das Lächeln noch etwas breiter werden liessen. Sie warf ihm einen erneuten Seitenblick zu, als müsste sie kritisch betrachten, ob das Ergebnis ihrer Arbeit denn nun wirklich zufriedenstellend war. "Dreimal Danke und ich schätze, das kann kaum einer besser beurteilen als du", meinte sie bezüglich ihrer Fähigkeiten im Rettungsdienst. Es war ganz schön lange her, dass sie ihn damals von der Strasse gepflückt hatte. Irgendwo aus einem brennenden Gebäude gerettet hatte, das nur er gesehen hatte. "Vielleicht kann ich dich ja als Referenz angeben auf der Jobsuche, sozusagen als Stimme der Kundschaft", kam ihr eine kleine Idee, die sie auf Anhieb sinnvoll fand. Kundenmeinungen waren auch im Rettungsdienst wichtig. Wenn sie positiv ausfielen, konnte das das Image des Krankenhauses genauso steigern, wie eine gute Pflege oder tolles Essen. Also ja, Ryatt schien eine gute Referenz darzustellen.
Ich war jetzt so frei einen Mini-ZS einzufügen, weil ichs nicht geschafft hab mir das nächste (einigermaßen sinnvolle) Gesprächsthema aus dem Ärmel zu ziehen. x'D Bin dank Schnupfen (ja, wer hätts gedacht - wenn alle um mich rum Zuhause UND auf der Arbeit krank sind, bleib ich selbstredend mit meinem kaputten Immunsystem auch nicht verschont) nur so semi-denkfähig. ______
Tja, irgendwie schien es quasi Schicksal zu sein, dass wir vor allem unangenehme Gefühle und Gemeinsamkeiten miteinander teilten. Das war nicht immer so gewesen… und eigentlich wollte ich mich in diesem Moment wirklich nicht darauf versteifen. Ich war nicht hier, um Faye nochmal all die ganze Scheiße aufzuzeigen, die mit mir zusammenhing. Natürlich hatte die damalige Rettungsaktion in Syrien nichts mit mir zu tun, aber das war eben auch ein Punkt ihres Lebens, den sie viel lieber vergessen würde. Ich sollte anfangen, weniger in Selbstmitleid zu versinken und mich stattdessen auf meine Aufgabe konzentrieren. “Ja, da hast du wohl Recht.”, erwiderte ich deshalb nur noch, ohne weiter darauf einzugehen. Faye sollte diese hässliche Vergangenheit ruhen lassen und ich konnte mich noch genug mit meinen eigenen Schuldigkeitsgefühlen herumschlagen, wenn ich Aryana und Mitchell das nächste mal über den Weg lief. Zu jenem Zeitpunkt war die zierliche Brünette hoffentlich schon heil im fernen Los Angeles angekommen und ließ sich mit etwas Glück milde Sonnenstrahlen ins Gesicht fallen, von denen wir hier oben in Seattle derzeit nur träumen konnten. Ein Tag war hier nur noch grauer als der andere und man brauchte schon Glück, damit eine der unzähligen Regenwolken ohne Ballast abzuwerfen vorbeizog. Bezüglich Fayes Jobsuche konnte ich – zumindest gefühlt – deutlich hilfreicher sein. Ihre Anmerkung dazu ließ auch meine eigenen Mundwinkel zucken. “Eine bessere Rezension als meine wirst du kaum finden.”, stellte ich fest. Ich deckte so ziemlich alles ab, was sie als gute Sanitäterin bieten können sollte. “Ich war ja echt kein einfacher Patient. Am halluzinieren, schwer zu beruhigen, in der Nachsorge völlig stur… und trotzdem hast du mich geduldig mit Bravour am Leben gehalten, wofür ich dir sehr dankbar bin.”, listete ich eingangs sarkastisch auf. Faye hatte mich zum Glück dazu überredet, besser nicht einfach so an der Bauchwunde zu verrecken, um damit Sean und Co. aus dem Weg zu gehen. Meine Eltern würden sie dafür in den Himmel heben wollen, wüssten sie davon. Die beiden saßen auf der sonnigen Seite der Konsequenzen dieser Entscheidung und waren damit leider ziemlich allein. Für mich blieb aktuell nur zu hoffen, dass die Flashbacks nicht noch schlimmer wurden, nach den kürzlichen Ereignissen. “Sogar außerhalb deiner Arbeitszeiten warst du immer zum Einsatz bereit, wenn's nötig war. Mehr kann sich ein Arbeitgeber ja kaum wünschen.”, hängte ich, wieder ein bisschen sarkastisch, mit einem kurzen Seitenblick inklusive hochgezogenen Augenbrauen in Fayes Richtung an. Möglicherweise sollte sie bei dieser Referenz aber nicht zu sehr ins Detail gehen. Flüchtige Straftäter zu unterstützen war wahrscheinlich eher nicht so gerne gesehen, obwohl das ihr etwas zu großes, viel zu verständnisvolles Herz bestens offenlegte. Den Rest der Fahrt über versuchte ich, mich an unverfängliche Themen zu halten. Ein bisschen über alles Mögliche zu reden, was bestenfalls wenig bis gar nicht mit den letzten Wochen in Verbindung gebracht werden konnte. Dann und wann war es auch mal für kurze Zeit still im Auto, wenn sich ein Teil des Gesprächs im Sande verlief. Sobald ich irgendwas vom Beifahrersitz aus entdeckte, das mir genug Anreiz für weiteren Gesprächsstoff gab, machte ich den Mund aber wieder auf. Einen Zwischenstopp machten wir nach etwa der Hälfte, einfach um uns kurz die Beine zu vertreten und auch, weil ich es nicht für verkehrt hielt, wenn Faye ein paar Minuten durchatmete. Davon abgesehen kamen wir in gleichmäßigem Tempo voran und ich begann schon nach unserem Zwischenhalt, mich auf dem Handy rund um unser Hotel in Portland etwas umzusehen, um uns mehrere Restaurants in der Nähe vorzumerken. Unsere Zimmer lagen zentral in Flussnähe, was mehrere Gründe hatte. Erstens musste Faye dann nicht mehr ewig lang durch etliche Straßen fahren, weil in der Nähe eine Auf- und Abfahrt des Highways lag, der quer durch die Stadt verlief. Zweitens waren meine morgigen Anlaufstellen von hier aus nicht allzu weit weg und drittens war die Gegend belebt, wodurch wir uns wahrscheinlich beide grundsätzlich sicherer fühlten. Dadurch waren natürlich auch mehr Möglichkeiten, etwas zwischen die Kiemen zu kriegen, vorhanden, was so ziemlich der einzige feste Anhaltspunkt auf unserer Checkliste für den Rest des Tages war. Dabei war es nicht mal dunkel, als wir ankamen. Die sowieso nicht sichtbare Sonne war noch dabei, sich hinter dem Horizont zu verkriechen, als Faye das Auto auf die Abfahrt in Portland zusteuerte. Die Rushhour fing zum Glück gerade erst an, weshalb auch der Rest des Weges hauptsächlich nur aufgrund der Ampeln ein wenig nervig war. Es galt jetzt lediglich noch Ausschau nach einem Parkplatz zu halten, damit wir das Einchecken ohne Hetze erledigen konnten.
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Du und dein jämmerliches Immunsystem... :'( Gute Besserung! ____________
"Es steht auch nicht wirklich eine andere Kundenrezension als deine zur Verfügung. Normalerweise versandet mein Patientenkontakt mit dem Schichtende, ich hab' also leider niemanden sonst, auf den ich zurückgreifen könnte", merkte sie weiterhin sarkastisch unterlegt an. "Wobei es vielleicht auch genau daran scheitert... Je nach dem wie man das liest, könnte es sicher auch negativ ausgelegt werden, dass ich scheinbar Beruf und Privatleben nicht trennen kann", böse Zungen nannten es fehlende Abgrenzung oder Unprofessionalität, einen Fremden aus Mitgefühl von der Strasse zu pflücken und mit nachhause zu nehmen, statt ihn rechtmässig der Polizei zu übergeben, die bereits nach ihm suchten. Aber wie dem auch sei, das war sowieso eher sinnloses Gerede. Einen ehemaligen Patienten - besonders diesen ehemaligen Patienten - als Referenz anzugeben, war ein bisschen gewagter als sie es sich wünschte. Sie waren sicher beide froh, dass die Reise so ruhig verlief. Wobei Faye zugegeben ein bisschen überrascht war, wie gut sie - abgesehen von den ersten fünf Minuten Fahrt - ignorieren konnte, was in diesem Auto passiert war. Das hing sicher mit den Gesprächen und ihrem Beifahrer zusammen, die ihre Aufmerksamkeit immer wieder ins Hier und Jetzt lockten und verhinderten, dass sie plötzlich in ihren Gedanken hing. Der morgige Tag würde zeigen, wie gut sie das auch alleine hinbekam. Aber immerhin war sie nicht mehr in Seattle und der erste Schritt wäre getan. Und wenn er nur bis nach Portland führte, war das doch schon ein guter Anfang, den sie zurückgelegt hatten, als sie das Auto auf den gut belegten Parkplatz des gebuchten Hotels steuerte. Nach ein paar Sekunden konzentriertem Zirkeln hatte sie den Wagen in einem der eher engen Parkfelder platziert und seufzte erstmal hörbar. "Ich würde sagen, das war ein relativ guter Anfang", war ihr Fazit der ersten und wahrscheinlich kürzesten Etappe ihrer Reise in den Süden. "Hast du schon einen Favoriten rausgesucht fürs Abendessen?", wollte sie von Ryatt wissen, als sie die Schnalle ihres Gurtes löste. Er hatte zwischendurch immer mal wieder kommentiert, was er auf der Karte an Restaurants gefunden hatte. Aber den letzten Stand seiner Abklärungen hatte sie dann nicht mehr mitbekommen, da sie zu dem Zeitpunkt bereits über ein anderes Thema gesprochen hatten. Ein bisschen Zeit blieb ihnen sowieso noch zur Entscheidung, jetzt galt es erstmal, im Hotel einzuchecken. Faye fühlte sich auch, als bräuchte sie dringend ein paar Minuten Ruhe. So gut die Fahrt auch gelaufen war, liess sich die Anstrengung nicht leugnen. Kombiniert mit dem qualitativ minderwertigen Schlaf der letzten Nächte, fühlte sie sich unterschwellig dezent erschöpft. Die Zimmerschlüssel abzuholen war eine kurze Sache und die dazu passenden Türen auf dem ersten Stock zu finden ebenfalls. Die Zimmer waren schlicht eingerichtet, boten jedoch eindeutig alles, was man in einem Hotelzimmer dringend brauchte. Also auf jeden Fall ein Bett und ein Bad. "Hast du schon Hunger oder denkst du, ich kann mir noch einen kurzen Nap erlauben, bevor ich mich zum Essen fertig machen sollte? Dein Gewinn wäre dabei, dass ich dir nachher nicht über dem Tellerrand einschlafe", formulierte sie eine Frage, die in sich nicht wirklich eine war. Sie bezweifelte nämlich, dass Ryatt SO hungrig war, dass er genau jetzt schon los musste fürs Essen. Und sie hatte eigentlich vor, den Abend mit ihm noch soweit möglich zu geniessen, damit sie sich gegenseitig in guter Erinnerung behalten konnten. Damit sie einen schönen Abschluss hatten, nach allem, was in den letzten Monaten Unschönes gelaufen war.
Ich überleg' halt wirklich langsam, ob ich nicht weiter mit Maske rumlaufen soll, um mir diese Kacke zu ersparen... aber dann wird's ja noch schwächer, weil's nie was abkriegt. ES NERVT. x'D Aber jetzt geht's mir besser, die 24/7-Müdigkeit is weg, auch wenns für mehr Text trotzdem noch nicht gereicht hat. ^^" ______________
Der Wagen kam bald zum Stehen und Faye äußerte ihre Erleichterung darüber sofort akustisch. “Jep, will ich auch meinen.”, bestätigte ich sie in ihren Worten. Schon kurz darauf nickte ich bezüglich ihrer Frage zum Abendessen. “Kann man so sagen.”, hielt ich mich zuerst noch mit einer Erklärung zurück. Auf dem Weg vom Auto zum Eingang ging ich dann mehr ins Detail: “Ich hab’ auf der Karte einen Italiener gefunden, der direkt am Fluss liegt. Ob wir ohne Reservierung einen Platz am Fenster kriegen, wage ich zwar anzuzweifeln, aber es wäre irgendwie eine nette kleine Anekdote an Karens Diner am Fluss…”, schlug ich konkreter vor und musste beim Gedanken daran ein wenig lächeln. Das war inzwischen lange her und doch konnte ich mich noch sehr gut an diesen Tag erinnern. “Auch wenn du dich jetzt schon ewig mit mir rumärgerst, hab ich immer noch das Gefühl, wir hätten uns gestern erst kennengelernt.", äußerte ich meinen Gedanken etwas leiser, kurz bevor wir mitsamt Gepäck das Hotel betraten. Das Einchecken nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Bei den Zimmern angekommen schob ich gerade den Schlüssel in die Tür, als Faye noch ein paar Worte an mich richtete und mich so dazu brachte, nochmal in ihre Richtung zu blicken. Ich zögerte nicht, den Kopf ein wenig zu schütteln. “Nein, mach ruhig. Ich will ja nicht deine Haare aus der Pastasoße fischen müssen.”, winkte ich sarkastisch ab und lächelte schief zu ihr rüber. Das Schläfchen hatte Faye sich nach der Fahrt und den mit Sicherheit sehr anstrengenden letzten Tagen mehr als verdient. Es war noch nicht spät und es gab absolut nichts, das ihrem Powernap im Weg stand. “Sag später einfach Bescheid, wenn du ready bist.”, hängte ich noch an, als ich den Schlüssel dann im Schloss drehte. Ich zog ihn mit einem letzten Lächeln in Fayes Richtung ab, indem ich die Tür gleichzeitig mit einem Fuß von mir wegschob. Dann trat ich ins Zimmer, um die Brünette dem Bett nebenan zu überlassen und legte meine Tasche erstmal kurz auf meiner Matratze für diese Nacht ab. Die Akte – welche die Fahrt wie erwartet unbeschadet überstanden hatte – hingegen ließ ich noch nicht los. Stattdessen suchte ich nach einer Möglichkeit, die Dokumente sicher verwahren zu können. Eigentlich hatte Niemand außer mir selbst einen Grund dazu, dieses Zimmer bis morgen früh zu betreten. Trotzdem wollte ich nicht Easterlins Zorn provozieren und Vorsicht walten lassen. Es würde dennoch dabei bleiben müssen, dass ich die Unterlagen semi-gut versteckte. Der winzige Safe im unteren Kasten des Nachtschranks war nicht groß genug. Nachdem ich nicht gerade wie ein vornehmer Geschäftsmann herumlief und der tätowierte Hals da auch so gar nicht ins Bild passte, würde hoffentlich nur unwahrscheinlich irgendwelches Personal gezielt nach dem bisschen Papier suchen, das ich ins Hotel gebracht hatte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Fraglich was am Ende sinnvoller ist.... Aber ich hoffe für dich, dass es jetzt wenigstens für diesmal vorbei ist und du dich des wunderbaren Winters erfreuen kannst :') _________
Faye warf Ryatt einen fragenden Blick zu, als er andeutete, bereits ein Restaurant fürs Abendessen ins Auge gefasst zu haben, dann jedoch nicht direkt mit der Sprache rausrückte. Besonders viel Geduld forderte er heute jedoch ausnahmsweise nicht von ihr, da er, schon bevor sie das Hotel betreten hatten, erklärte, was er auf der Karte gefunden hatte. Italienisch konnte sie definitiv begrüssen und die Anekdote an Karens Diner klang ebenfalls äusserst stimmig. Gerade im Anbetracht der Umstände dieses zumindest vorübergehend letzten Abendessens in dieser Gesellschaft. "Musik in meinen Ohren", lächelte sie den Plan zufrieden und ohne Einsprüche ab. Selbst wenns kein Platz am Fenster war - draussen wars sowieso dunkel, wenn sie zum Abendessen aufbrachen - war die Erinnerung an damals eine schöne. Psychisch waren sie beide nicht in besserer Verfassung gewesen als heute, würde Faye mal ganz realistisch behaupten. Im Gegenteil, da hatte sie noch sehr tief im Trauma um den ersten Zusammenstoss mit Seans Geschwister gesteckt. Aber sie hatte Ryatts Gesellschaft als angenehme Abwechslung empfunden und es hatte ihr geholfen, wenigstens gegenüber ihm einen kleinen Teil der Wahrheit nicht vertuschen zu müssen. "Ja... geht mir ähnlich. Das liegt wohl daran, dass wir viel bis zu viel erlebt haben in der Zwischenzeit", begründete sie die in Windeseile vergangene Zeit mit einem Umstand, den sie beide bestens kannten. Es hatte zwar auch ruhigere Monate im letzten Jahr gegeben, jedoch war trotzdem alles an dieser Zeit im Zeichen des Umbruchs gestanden und sie hatten immer irgendwie gewusst, dass dieser Zeitpunkt des Abschieds kommen würde und dass er wahrscheinlich auch nicht Jahre in der Zukunft lag. Auch wenn Faye gerne mal sehr optimistisch dachte, hatte diesbezüglich auch sie selten Zweifel gehabt. Es hatte viel eher die Frage im Raum gestanden, ob Ryatt sich nicht schon viel früher verabschieden würde. Aber das war offensichtlich nicht passiert und jetzt waren sie hier. Oben bei den Zimmern angekommen, musste sie scheinbar mit keiner Widerrede rechnen, nachdem sie ihr Schläfchen angekündet hatte. "Ich denke nicht, dass ich das unserem Repertoire an gemeinsamen Erfahrungen hinzufügen möchte", erwiderte sie sarkastisch auf den Hinweis mit den Haaren in der Pastasauce. Sie nickte seine weiteren Worte noch ab, bevor sie ebenfalls die Zimmertür aufschloss, um sich der nötigen kleinen Auszeit in Einsamkeit zu widmen. Theoretisch hätten sie auch Geld sparen und gemeinsam ein Zimmer mit zwei separaten Betten buchen können. Da wäre im Normalfall nicht wirklich was dabei gewesen. Aber heute war es besser, wenn sie nachts alleine war. Sie wollte keine Alpträume in seiner - oder irgendwessen - Gegenwart riskieren und ihren medikamentös induzierten Schönheitsschlaf genoss sie auch lieber alleine. Weil sie auch für das jeweils unangenehme Aufwachen am nächsten Morgen keine Zeugen brauchte. Zudem hatte sie mit den Schlafmitteln aufhören wollen. Besser heute als Morgen, da sie Victor gar nicht erst damit konfrontieren wollte. Also noch genau drei oder vier Nächte hatte, um damit aufzuhören... war nicht so, als würde sie nicht selbst erkennen, dass das ein unrealistischer Zeitplan war. Letztendlich schlüpfte sie lediglich aus der Hose, dem Pulli und dem BH und verkrümelte sich nach einem kurzen Besuch im Bad auch schon unter der Bettdecke. Normalerweise war sie ziemlich dagegen, ungeduscht ins Bett zu schlüpfen. Aber ein Hotelzimmer, in dem sie gerade mal eine Nacht verbracht, durfte diesbezüglich eine Ausnahme bilden. Wie üblich fiel ihr das Einschlafen tagsüber leichter als abends, wobei auch der anschliessende Erholungsschlaf natürlich wesentlich weniger tief ausfiel. Für ein bisschen frische Energie reichte es aber aus und als sie sich eine knappe Stunde später wieder aus den Laken schälte, konnte sie Ryatt gut und gerne mitteilen, dass sie in einer halben Stunde bereit sein würde fürs Abendessen. Sie hatte den ursprünglich gesetzten Zeitplan zwar etwas überzogen, aber das lag hauptsächlich daran, dass sie die Dusche spontan doch schon zwischen jetzt und Abendessen schob, statt sie auf später zu verlegen. Besonders lange dauerte das alles aber ohne Haarewaschen glücklicherweise nicht und so klopfte sie neunundzwanzig Minuten später an Ryatts Zimmertür um ihm zu signalisieren, dass sie bereit für ihren abendlichen Ausflug war.
Mit dem italienischen Dinner waren wir uns scheinbar sehr einig. Auch konnte ich Faye nur mit einem Nicken zustimmen, was die verflogene Zeit anbelangte. Es war innerhalb all der letzten Monate wirklich viel passiert. Vieles, wofür ich sehr dankbar war, aber auch Vieles, das ich lieber ungeschehen machen würde. Auf manche Situationen traf sogar beides gleichzeitig zu, was es wirklich nicht leichter machte, gewisse Abschnitte ruhen zu lassen. Nicht ständig wieder das aufzuwühlen, was ohnehin längst vergangen war. All das würde mehr Zeit brauchen, zumindest meinerseits. Ich hoffte wirklich für Faye, dass es ihr damit anders erging, sobald sie mit ihrem neuen Leben in Los Angeles anfing. Ich selbst beschäftigte mich im Zimmer überwiegend mit dem Handy – beziehungsweise mit beiden, weil zwei Bildschirme das Notizen machen und gleichzeitig Informationen sammeln sehr erleichterten – während die Brünette nebenan dafür sorgte, dass ihre welligen Strähnen heute nicht mehr in einem Teller baden gehen mussten. Dabei dachte ich auch kurz daran, ob ich zumindest versuchen sollte, einen Tisch zu reservieren, aber ich hatte keine Ahnung davon, wie lang sich Fayes Nickerchen letztendlich hinziehen würde. Also ließ ich es bleiben, aber unter der Woche war hoffentlich sowieso nicht so viel los. Natürlich versuchte ich auch möglichst wenig Krach zu verursachen, was mir bei so wenig Bewegung nicht schwerfiel. Als die Brünette sich mittels Telefon als zeitnah bereit fürs Essen ankündigte, wischte ich die Benachrichtigung mit kurz nach oben zuckendem Mundwinkel bei Seite und warf einen Blick auf die Uhr. Ich hörte erst etwa zwanzig Minuten später damit auf, am Handy zu tippen und zu scrollen, um noch kurz ins Bad zu gehen. Es war nicht nötig noch zu duschen, weil ich seit heute Mittag nicht geschwitzt hatte und die Kleider zu wechseln war auch überflüssig, weil nichts dreckig geworden war. Es war eben auch kein Date, sondern nur ein Essen unter Freunden – kein Grund, sich übermäßig herauszuputzen. Demnach wusch ich mir nur das müde wirkende Gesicht mit kaltem Wasser – was tatsächlich half – und richtete zwei, drei lose Strähnen in der Frisur, bevor ich vom Bad zurück ins Zimmer ging. Faye klopfte schon wenig später an und ich angelte nach der Jacke. Schnappte mir noch den Zimmerschlüssel vom Nachttisch, checkte das Dasein des Geldbeutels in der rechten Jackentasche und mit einem letzten Blick außerdem, dass der Papierkram von Easterlin nicht auf den ersten Blick sichtbar war. Es sollte zwar eigentlich Niemand hier reinkommen, aber man konnte nie wissen. Erst dann zog ich die Tür auf, wo mich prompt Fayes etwas ausgeruhteren Augen empfingen. “Der Schönheitsschlaf hat dir gut getan, Dornröschen.”, witzelte ich in meiner früher oft so ausgelassenen Art mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, während ich die Zimmertür abschloss. Irgendwann in den letzten Monaten hatte diese Art der Konversationen zwischen uns mehr und mehr nachgelassen, weil… naja, die Umstände es einfach nicht mehr erlaubt hatten. Die verkrampfte Situation, in der wir uns befunden hatten, einen entspannten Umgang miteinander sehr schwierig gemacht hatte. Jetzt war es eher der anstehende Abschied, der mir flau im Magen werden lassen könnte. Solange es ging, würde ich also gerne mit lockeren Konversationen gegensteuern. “Ich hoffe, du bist auch ungefähr so hungrig wie nach 100-jährigem Schlaf? Die Speisekarte sieht gut aus, schwer sich zu entscheiden.”, meinte ich, während wir den Gang runter gingen. Als wir wenig später unten auf der Straße ankamen, lenkte ich Faye aus dem Gedächtnis heraus in die richtige Richtung. Der Weg war zu Fuß gar nicht so weit, aber ich konnte nicht einschätzen, ob meine Begleitung vielleicht trotzdem lieber den Bus nahm. Inzwischen war es beinahe dunkel und möglicherweise reichte das selbst in einer belebten Stadt, wo weit und breit keine Hernandez auftauchen sollten, dazu aus, Faye mulmig werden zu lassen. Falls ich sie durch mein Gequassel nicht nochmal erfolgreich ablenken konnte, versteht sich. “Ist nur ungefähr ein Kilometer zu Fuß… aber in ein paar Metern kommt auch eine Haltestelle, wenn dir das lieber ist.”, stellte ich der zierlichen Brünetten mit einem leichten Schulterzucken frei, wie wir die Strecke bewältigten.
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Es dauerte nicht lange, bis Ryatt scheinbar ebenfalls bereit war und entsprechend seine Zimmertür aufzog. Sie mit einem Spruch begrüsste, der Faye dazu verleitete, ihm sofort übertrieben erfreut entgegen zu blinzeln. "Fühle mich wie neu geboren", übertrieb sie das Ergebnis ihres Schläfchens und ging damit auf den lockeren Gesprächseinstieg ein. Ryatt war nicht der Einzige, der sich scheinbar einen möglichst unbeschwerten Abschied wünschte. Der sehr gerne nochmal für ein paar Stunden so tat, als würde sie einfach eine normale Freundschaft verbinden, als wären die schrecklichen Erinnerungen nie passiert oder hätten zumindest nichts mit dem hier zu tun. Mit ihnen beiden. Was sie innerlich mal wieder unweigerlich zu der Frage führte, was wohl aus ihnen geworden wäre, wenn sie sich auf normalem Weg kennengelernt hätten. Wenn da keine Hernandez gewesen wären. Wenn sie einfach nur Freunde hätten sein können, ohne all das andere Drama. Hypothesen. Manchmal verschwendete sie ihre Zeit etwas zu gerne mit sowas. Aber dieses Manchmal sollte im Idealfall nicht jetzt sein. "Mindestens. Ich hoffe du auch, sonst gibt das später ein ungleiches Bild ab", kündete sie gross an, was sehr sicher nicht eintreffen würde. Sie ass zwar aktuell relativ normal, war also nicht zum wiederholten Mal in eine ihrer Ess-Depressionen gerutscht. Sicher auch, weil sie sich so vehement dagegen wehrte - aber dass hiess nicht, dass sie sich innerlich schon eine XXL-Portion bestellen sah, während er an seinem Salat knabberte. Beides war nicht realistisch. Faye zog ihre Jacke enger zu, als sie unten auf die Strasse traten. Es war schon relativ kühl zu dieser Jahreszeit und die einkehrende Dunkelheit machte das nicht angenehmer. Trotzdem musste sie nur kurz überlegen, bevor sie etwas den Kopf schüttelte als Antwort auf die Bus oder zu Fuss Frage. "Ich denke, dass schaffen wir schon... bis da ein Bus ankommt, haben wir die zehn Minuten auch zu Fuss geschafft", traute sie ihnen beiden diese Mini-Sporteinheit ohne weitere Bedenken zu. Jedenfalls ohne ausgesprochene Bedenken. Aber die Strecke kreuzte keine dunkle, einsame Gegend nahm sie an, da sie sich doch ziemlich zentral in Portland bewegten. Ausserdem war hier keiner, der sie jagte. Das sollte es ganz allgemein nicht mehr geben seit letzter Woche, aber je weiter südwärts sie ging, umso unwahrscheinlicher wurde ein Aufeinandertreffen mit Menschen, die sie dringend für den Rest ihres Lebens meiden wollte. "Und, mit was hast du dich beschäftigt in den letzten eineinhalb Stunden? Mit Schlafen ja wohl nicht, da Dornröschens Part in der Geschichte schon besetzt war", erkundigte sie sich zur Ablenkung jeglichen potenziellen Übels nach Ryatts Zeitvertrieb. Sie war nicht allzu vertraut mit dem Märchen um Dornröschen, aber gut möglich, dass es da noch eine Rolle gab, die ihm eher entsprach. Oder vielleicht in einer anderen Geschichte - oder in keiner.
Es würde mich freuen, wenn das der Wahrheit entsprechen würde. Leider konnte eine Stunde Nickerchen nicht wie ein Fingerschnippen alles ausradieren, was sich in Fayes Gesicht über die letzte Zeit hinweg an kleinen Müdigkeitsfältchen und Schatten angesammelt hatte. Nicht mal das tat ihrem Aussehen aber einen nennenswerten Abbruch in meinen Augen, was ich definitiv der idiotischen rosa Brille zuschob. “Ich hab immer Bärenhunger, weißt du doch.”, erwiderte ich, so als hätte ihr das längst klar sein müssen. Ich glaubte zwar mich zu erinnern, in ihrem Beisein niemals eine (Zwischen-) Mahlzeit abgelehnt zu haben, aber das war nicht unbedingt ein handfestes Indiz für einen übergroßen Magen. Eher nur dafür, dass ich gutes Essen oder auch nur verlockende Snacks stets zu schätzen wusste und gerne mochte. Ich schob die Hände in die Jackentaschen, wobei in der mit dem Geldbeutel weniger schnell die wärmste Ecke gefunden war. Währenddessen lehnte Faye schon die Fahrt ab und wählte ziemlich entschieden den Fußmarsch. Ich nickte begleitet von den Worten “Denk’ ich auch.” mit dem Lächeln, das ich seit dem Verlassen des Zimmers nie ganz abgelegt hatte. Einerseits klebte es deshalb in meinem Gesicht, weil ich mich freute, tatsächlich mal wieder ansatzweise normal mit Faye unterwegs zu sein. Andererseits versuchte ich selbst in ihrer Gegenwart nach wie vor, nicht alles nach außen zu tragen, was in mir vorging. Auch wenn das kaum noch nötig war, nach den paar Zusammenbrüchen, die ich ihr inzwischen präsentiert hatte… trotzdem sollten die nächsten Stunden schön werden, möglichst unbeschwert. Für uns beide, bestenfalls. “Nichts Interessantes… die Speisekarte hab ich mir nochmal angesehen, um sicherzugehen, dass du die 100 Jahre Schlaf auch wirklich angemessen kompensieren kannst. Das Angebot muss der Prinzessin ja würdig sein.” Da schwang eine gute Prise Humor mit, die ich nicht mal gut tarnte. Auch wenn ich irgendwie gar nicht in dieses Märchen passte, weil ich gewiss nicht der Prinz war, der sie aus ihrem Dornenturm retten gekommen war. “Aber abgesehen davon hab’ ich hauptsächlich noch ein paar mehr Notizen für morgen gemacht. Ich wusste ja nicht, wie lange du letztendlich schlummerst und ob sich’s lohnt, das Zimmer zu verlassen. Zu gut vorbereitet sein kann man bei solchen Angelegenheiten sowieso nicht.” Ich zuckte leicht mit den Schultern und zog den rechten Mundwinkel dabei zu einem schiefen Lächeln nach oben. Der Tag morgen würde stressig werden. Insgeheim hoffte ich schon, dass ich an irgendeiner Ecke Erfolg haben würde. Nicht weil ich mich bei Easterlin weiter einschleimen wollte, sondern weil ich mir wünschte, dass mich das noch einen Tag länger hier in Portland festhielt, aus welchen Gründen auch immer. Ich wollte nicht zurück nach Hause, weil es sich ohnehin nicht so anfühlte. Ich hielt Faye an der ersten Kreuzung angekommen dazu an, mit mir nach rechts über die Straße zu gehen und damit den direkten Weg zum Fluss einzuschlagen. Es waren noch einige Meter dorthin und ich ließ zwischenzeitlich die Augen über die weihnachtlichen Lichterketten wandern, die schon jetzt teilweise an den Balkons über uns aufgehängt waren. Auch wenn dieses Fest für mich einzig dem Kommerz diente, war das bei Dunkelheit schön anzusehen. "Wirst du dieses Jahr 'nen Weihnachtsbaum schmücken?" Wir hatten schon über mein Weihnachten geredet, nichts aber über Fayes. Ich war oft genug bei ihr Zuhause gewesen, um zu wissen, dass sie ihre vier Wände gerne ausschmückte. Letztes Jahr war das Weihnachtsfest bei ihr aus Gründen zwar untergegangen, aber das musste es dieses Jahr nicht nochmal tun. Theoretisch.
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Wusste sie das? Wahrscheinlich hätte sie es annehmen können, da er zumindest in der Freizeit einen relativ aktiven Lebensstil hatte und das die meisten Menschen hungrig machte. Auch ihre diversen gemeinsamen (Zwischen-)Mahlzeiten hatte er nie abgelehnt. Aber er hatte auch nie auffällig viel gefuttert soweit sie sich erinnern konnte, also blieb das Ergebnis ihrer gedanklichen Abwägung ein bisschen mittelmässig aussagekräftig. "Na dann gehen wir besser mal den Bären füttern, will ja nicht, dass er plötzlich anfängt, nach alternativen Nahrungsquellen zu suchen... hab mich jetzt psychisch schon auf den Italiener eingestellt", gab auch sie dem Versuch, hier einen Weg zurück zu alter Ungezwungenheit zu finden, eine Chance. Sie hatten immerhin noch ein paar Minuten Fussmarsch zurückzulegen, während deren sie die relative Ruhe noch mit Gesprächen in normaler Lautstärke geniessen sollten. In den meisten Restaurants war der Lärmpegel leicht erhöht, auch wenn sie nicht damit rechnete, ihn in den nächsten Stunden anschreien zu müssen. Weder aufgrund von übertriebenen Hintergrundgeräuschen, noch mit sonstiger Motivation - wie allseits bekannt war sie nicht der Typ für Kommunikation mit erhöhter Lautstärke. "Na wunderbar, dann muss ich mir ja keine weiteren Sorgen machen, dass ich am Ende mit knurrendem Magen ins Bett steigen oder die überteuerte Minibar des Hotelzimmers plündern muss", zeigte sie sich erfreut über seine Rückmeldung zur Speisekarte, die sie selbst noch so gar nicht beachtet hatte. Würde sie gleich im Restaurant eben etwas mehr Zeit brauchen, um eine Wahl zu treffen - aber das lag heute Abend ja auch definitiv drin. Gerade auch weil Ryatt dem Anschein nach seinen morgigen Tag schon ausreichend vorbereitet hatte und sich somit auch nicht früher als allgemein indiziert ins Zimmer zurückziehen musste. "Das klingt auch auf mich als Nicht-Business-Frau sinnvoll. Dann hoff ich für dich, dass du morgen erfolgreich bist und der kleine Ausflug sich in dieser Hinsicht auszahlt", hoffentlich nicht nur in dieser Hinsicht, aber für den Rest wollte sie jetzt einfach mal zuversichtlich sein und zugleich gar nichts versprechen. Sie ging davon aus, dass sie einen verhältnismässig guten Abschied auf wohlwollender Basis hinkriegten. Trotzdem vermutete sie stark, dass sie beide diesen Part eigentlich lieber überspringen würden. Weil es weh tat und nie so ganz schön sein konnte. Da konnte auch das potenziell tolle Essen von heute Abend nichts dran ändern. Gut, dass er ihr nicht mehr Zeit gönnte, um darüber nachzudenken, da plötzlich eine ganz andere Frage aufkam. Eine, die jedoch auch nicht leicht zu beantworten war. Sie hatte sich eine Weile ziemlich stark an den Gedanken eines schönen Weihnachtsfestes für dieses Jahr geklammert und auch wirklich geglaubt, dass es endlich so sein würde, wie es sein sollte. Dann war alles ein bisschen anders gekommen und in den letzten beiden Wochen hatte sie die Gedanken daran dann eher verdrängt, um sich nicht mit der Möglichkeit befassen zu müssen, dass das Fest der Liebe auch dieses Jahr in einem trostlosen Desaster enden könnte. Vielleicht nicht so einsam wie letztes Jahr, vielleicht aber trotzdem unschön. Je nach dem, wie sich die nächsten Tage und Wochen gestalteten. Wie sie es schaffte, alles hinter sich zu lassen und sich ganz auf den Neuanfang zu konzentrieren. "Ich hab' ehrlich gesagt noch keine Ahnung... Kommt drauf an, wie weit wir mit der allgemeinen Einrichtung der Wohnung schon kommen bis dann... Unsere Sachen sind zwar mittlerweile im Süden angekommen, aber bis das dann alles ausgepackt und eingeräumt ist... Kann mir nicht vorstellen, dass die Weihnachtsdeko im ersten Umzugskarton zu finden ist, den wir auspacken", seufzte sie eher realistisch vor sich hin. Auch wenn sie noch keinen Job hatte, dürfte sie in den ersten Tagen und Wochen ausreichend beschäftigt sein. Und dass sie dieses Jahr wirklich noch in Weihnachtsstimmung verfiel, wagte sie zu bezweifeln. Ausser wenn Victor sie sehr vehement dazu überredete, weil er es für wichtig hielt.
Ich lachte leise in mich hinein. Klischeemäßig fielen den meisten Menschen wohl Honig und Beeren als Mahlzeiten für das große Säugetier ein. Was auch nicht verkehrt war, weil Bären tatsächlich relativ viel vegetarische Kost zu sich nahmen. Im Staat Washington und im daran angrenzenden Kanada gab es aber auch haufenweise Flüsse, die dem einen oder anderen Grizzly Fisch auf den imaginären Teller brachten. Das kostete weniger Energie, als einem Huftier hinterher zu jagen. “Keine Sorge, du stehst erst ganz hinten auf meinem Not-Speiseplan.”, beschwichtigte ich Faye sehr ironisch. “Vielleicht stehen Grizzlys ja generell auch auf Pasta oder Pizza. Bin noch nicht dazu gekommen, das zusammen mit einem anderen Artgenossen zu testen.”, zuckte ich unbekümmert mit den Schultern, ohne den Sarkasmus dabei zu verlieren. In meinem Kopf zeichnete sich derweil ein lebhaftes Bild von einem großen Braunbären ab, der in ein Restaurant spazierte, sich mit seinem überdimensionalen Hintern auf einen viel zu kleinen Stuhl an einen Tisch setzte und der Bedienung sagte, dass er mal was neues ausprobieren wollte. “Das wird dir ganz bestimmt nicht passieren.”, tat ich auch den knurrenden Magen und die Minibar entschieden ab. Ich selbst ernährte mich zwar nach wie vor nicht vegetarisch, aber dass Faye mittlerweile auf Fleisch verzichtete, war in meinem Kopf fest abgespeichert. Logischerweise hatte ich während meiner Restaurantsuche also darauf geachtet, dass für die zierliche Brünette eine annehmbare Auswahl geboten war, als ich eine um die andere Speisekarte überflogen hatte. Ich kannte das Problem zwar nicht, konnte mir aber gut vorstellen, dass man auch als Vegetarier gerne mehr Möglichkeiten als nur Vier-Käse-Pizza und -Nudeln hatte. Man sollte meinen, dass sowas im 21. Jahrhundert selbstverständlich wäre, aber das wars nicht. Bezüglich meiner eigenen Vorbereitung auf den morgigen Tag nickte ich nochmal leicht und warf Faye ein kurzes Lächeln zu. “Danke, das hoff’ ich auch… vor allem deshalb, weil ich mich damit vielleicht ein bisschen weit aus dem Fenster gelehnt habe. Immobilienhandel ist ja nicht gerade das, was ich sonst jeden Tag tue – ich hab’ in meinem ganzen Leben noch kein einziges Grundstück gekauft, was semi-gute Voraussetzungen sind.”, stellte ich ein wenig trocken fest, zuckte aber kurz darauf schon mit den Schultern. Überflüssig zu erwähnen, dass es beim Erwerb von einem Stück Land, das zukünftig militärisch genutzt werden sollte, noch viel mehr zu beachten gab, als bei privatem Hausbau. Ich kam auch mit einem unzufriedenen Easterlin zurecht, sollte ich tatsächlich mit völlig leeren Händen zurückkommen. Das machte das Arbeitsleben – das zwangsläufig auch irgendwie zu meiner Freizeit gehörte, weil ich nun mal auf dem Stützpunkt wohnte – aber trotzdem prompt eine ganze Stufe unangenehmer, weshalb ich das auf andere Art wieder gutmachen müsste. Fayes Weihnachtsfest würde wohl auch nicht so unkompliziert werden, wie ich ihr das wünschte. Schwer kalkulierbar. Am Ende war aber bestimmt auch nicht eine Tanne im Wohnzimmer entscheidend dafür, wie sie sich während der Feiertage fühlte. Auch wenn ich für Victor nicht übermäßig viel übrig haben mochte, war es wünschenswert, dass er schnell über die letzten Tage hinweg kam. Nicht nur wegen Weihnachten, sondern ganz generell für diese offensichtlich sowieso schon relativ kaputte Beziehung. Nicht, dass ich glaubte, dass Faye mit mir ein unbeschwertes Leben führen würde – allein der kurze Gedanke daran ließ mein schlechtes Gewissen hämisch auflachen. Aber ich wünschte mir für sie, dass sie jetzt endlich ankam und durchatmen konnte. Ohne weitere Zwischenfälle, ohne noch mehr Talfahrten. “Der Baum ist zum Glück auch nicht unbedingt entscheidend für Festtagsstimmung.”, meinte ich weiterhin relativ optimistisch, was vielleicht unrealistisch war. Es half natürlich immens dabei, in entsprechendes Feeling zu kommen, wenn auch Zuhause überall Weihnachtsdeko verteilt war. Doch das war nicht die einzige Komponente, die da reinspielte. Vor allem nicht bei Faye und Victor. “Aber wenn du dieses Jahr schon keine Zeit zum selber backen hast, musst du dir wenigstens ein bisschen Weihnachtsgebäck kaufen, hm?” Mit hochgezogener Augenbraue und einem Lächeln, das viel mehr schon der Ansatz eines Grinsens war, sah ich zu ihr rüber. Selbstgebacken war natürlich immer besser – vor allem mit vorangegangener Mehlschlacht – aber bestimmt fand sie bei einer örtlichen Bäckerei in Los Angeles ein paar gute Plätzchen oder anderes Weihnachtsgebäck. Süßigkeiten lösten bekanntlich keine Probleme, aber bei schlechter Laune und Stress konnten sie durchaus temporär helfen.
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Faye blinzelte ihn eher gespielt besorgt als beruhigt an, als er seinen Bären-Speiseplan weiter ausführte. "Ich steh da drauf??", wollte sie nicht ganz so begeistert wissen, schüttelte unzufrieden den Kopf. "Ich habe eigentlich eher an andere Restaurants gedacht... aber das... Und ich dachte wir wären Freunde", liess die Brünette es sich nicht nehmen, noch gleich ein bisschen dramatischer zu werden. Ihn entsprechend die pure Enttäuschung in ihrem Blick entgegenzutragen. Nur für ein paar Sekunden. Dann zuckten ihre Mundwinkel doch auch ein bisschen verräterisch aufwärts, als er das Abendessen mit Artgenossen bei Pizza und Pasta erwähnte. Das war eine in der Tat interessante Vorstellung, die auch vor ihrem inneren Augen ziemlich lebhaft tanzte. Auch wenn es im Grunde sicher besser war, dass er nicht wirklich ein Bär war und sie auch nicht dauerhaft von Snacks aus einer Minibar leben musste. Beides würde ihre Leben doch ein bisschen stärker auf den Kopf stellen, als sie sich das wünschten - wobei die Snacks sicher das kleinere Übel wären. Es würden ihr nur etwa alle Vitamine und wichtigen Nährstoffe fehlen, aber liess sie nicht gleich mit ihren dick befellten Geschwistern durch den Wald streifen und jagen, was sich finden liess. Seinen folgenden Ausführungen war zu entnehmen, dass Ryatts Aufgabe für den morgigen Tag nicht ganz so einfach zu bewältigen sein dürfte. Trotzdem wollte sie lieber erstmal ein bisschen zuversichtlich bleiben. "Ach... wenn Easterlin dir das zutraut, wirst du wohl überzeugend genug argumentiert haben. So wie ich das bisher mitbekommen habe, ist er eher nicht der Typ für blindes Vertrauen gegenüber seinen Mitmenschen. Und irgendwann kauft man eben sein erstes Grundstück - das wird nicht so anders sein als... keine Ahnung... der Erwerb von Donuts im Donutshop und das beherrschst du ja bestens", versuchte sie ihn mit ihren überzeugendsten Argumenten zu beruhigen. Der einzige Unterschied war, dass man Donuts eben in einem Laden auswählte und ein Grundstück eher draussen. Und die Preise dürften leicht abweichen. Leicht. Inwiefern ein Zusammenhang zwischen Donuts und Grundstückkäufen bestand, liess sich wahrscheinlich bestreiten. Im Gegensatz dazu war der Zusammenhang zwischen Weihnachtsbaum und Festtagsstimmung schon eher gegeben. Wahrscheinlich könnten sie und Victor auch ohne Baum ein schönes Weihnachtsfest verbringen. Aber wenn keine Deko hing, war das ein ziemlich gutes Indiz dafür, dass es ihr nicht gut ging und wenn es ihr nicht gut ging, standen auch die Sterne für ein gelungenes Fest eher kritisch. Naja. Sie hatte noch ein paar Tage zur Verfügung, um sich zu fangen. Und eine neue Wohnung so einzurichten, dass sie und Victor sich zuhause fühlten. Immerhin hatte sie keine Arbeit und entsprechend Zeit, vielleicht half das ja. Vielleicht halfen auch ein paar Weihnachtskekse, auf die Ryatt gleich zu sprechen kam. Süssigkeiten hatten schon potenzial, wenigstens kurzfristig für gute Laune zu sorgen. "Stimmt, das ist eine ganz gute Idee. Auch wenn mir die Mehlschlacht dann schon ein bisschen fehlen wird...", ein schiefes Grinsen in seine Richtung verriet, dass sie beim Erwähnen der Weihnachtskekse selbstverständlich automatisch an dasselbe kleine Desaster in ihrer alten Küche zurückdachte wie er. Schade, dass sich sowas jetzt nicht mehr wiederholen liess. Sie könnte versuchen, Victor fürs Backen überredet zu kriegen... aber irgendwie wusste sie nicht, ob sie das wollte. Sie trennte die beiden Männer gedanklich gerne ganz bewusst voneinander und es half nicht, wenn sie sich solche Spässe leistete, anhand derer sie dann sofort irgendwelche Vergleiche aufstellen konnte. Wahrscheinlich würde sie also keine Kekse backen mit Victor. Sie hatten genug anderes aufzuholen.
“Ich enttäusche dich ungerne, aber unter verhungernden Umständen steht da jeder drauf.”, stellte ich schwer seufzend fest. Wenn man kurz vorm Hungertod war, dann griff man zur Not – so als sehr gefräßiger Bär zumindest – sicher auch zu unliebsamen Optionen. Leider konnte ich das nicht ansatzweise so theatralisch rüberbringen wie Faye, weil das leichte Grinsen auf meinen Lippen mich sehr frühzeitig verriet. “Deswegen gehen wir ja jetzt essen, damit sowas nicht passieren muss.”, führte ich weiter aus, wie gefährlich mein Leben als Bär für meine Mitmenschen war, während wir dem Fluss näher kamen. Die Straße, die laut Karte parallel zum Ufer verlief, war mittlerweile ganz gut durch die immer wieder umschaltende Ampel an der Kreuzung dort erkennbar. Aufmerksam lauschte ich Fayes weiteren Worten zu meiner morgigen Tagesaufgabe, wobei ich zum Ende hin doch ziemlich amüsiert schnauben müsste. “Ich wünschte wirklich, dieser Vergleich wäre zutreffend.”, meinte ich, jedoch ohne den leicht beschwingten Tonfall dabei zu verlieren. Ich malte mir das Unterfangen morgen nicht komplett schwarz, sondern wägte nur das ausnahmsweise relativ hohe Risiko des Scheiterns ab. Erst jetzt im Nachhinein, was eigentlich so gar nicht meine Art war. Aber was tat man nicht alles für einen Abschied, den man eigentlich lieber ganz umgehen wollte… “Andererseits hast du vielleicht Recht. Wenn ich sogar Easterlin überzeugen konnte – Sympathiepunkte hin oder her – dann stehen meine Chancen vielleicht gar nicht mal schlecht. Viel schwerer als das kanns eigentlich kaum werden.”, dachte ich laut weiter darüber nach und wog gegen Ende für einen Moment lang nachdenklich den Kopf hin und her. Trotzdem konnte mein Vorhaben dann noch an rechtlichen Haken scheitern. Allerdings sah der amerikanische Staat ab gewissen Geldsummen hin und wieder mal über sowas hinweg – es blieb einfach abzuwarten, was morgen so passierte. Wahrscheinlich würde ich danach gerne mit Faye reden oder ihr zumindest schreiben, wie’s gelaufen war. Aber das würde nicht passieren… richtig? Nicht mal mit meinem teils zu komplexen Verstand bekam ich es auf die Reihe, dieses letzte Wort samt Fragezeichen durchzustreichen und stattdessen einen endgültigen Punkt zu setzen. Nur knapp konnte ich es mir verkneifen, der Brünetten ebenso unvernünftig vorzuschlagen, ihr welche von meinen bekanntlich gut schmeckenden Vanillekipferl in den Süden zu schicken. Ich hatte nämlich genug Freizeit fürs Backen, solange am Nachmittag keine Zusatz-Meetings auf dem Stützpunkt anstanden. Zwar hatte ich keine private Küche, aber dafür hätte ich eine Lösung gefunden. “Und ich erst. Dein entsetzter Gesichtsausdruck ist für die Ewigkeit hier oben gespeichert, da kannst du dir absolut sicher sein.”, grinste ich und zog extra die rechte Hand aus der Jackentasche, nur um mir damit zweimal an den Kopf zu tippen. Es war viel Scheiße passiert, in die wir beide involviert waren, aber die würde ich nie vergessen. Es war einer der wenigen Momente gewesen, die sich dank Faye federleicht angefühlt hatten, obwohl meine Lebensumstände ganzheitlich beschissen gewesen waren. Vielleicht würde diese Erinnerung ab dem morgigen Tag auch für immer ein bisschen Wehmut bei mir auslösen. Wir kamen gerade an der Kreuzung am Flussufer an, als ich hinzufügte: “Vielleicht ruf’ ich mal im Kinderheim an… die Kids sind zwar keine so zuverlässigen Backpartner wie du und ich muss 90% der Arbeit selber machen, aber ich hab’ voraussichtlich genug Zeit für sowas und die sind sehr wahrscheinlich nach wie vor chronisch unterbesetzt.” Ein spontaner Einfall, dem ich möglicherweise tatsächlich nachkommen würde, weil ich mir sicher war, dass ich mich auch in meiner Freizeit beschäftigt halten sollte. Ich wusste nicht, wie realistisch es war, darauf zu hoffen, dass ich dieses Mal schneller über den Herzschmerz hinwegkam. Schließlich war ich mir nicht mal sicher damit, die Geschichte mit Avery inzwischen ausreichend verarbeitet zu haben, sondern fragte mich viel mehr nach wie vor, ob dieser Knacks in meinem Schädel nicht einfach für immer bleiben würde. Dass die Fußgängerampel auf Grün schaltete und wir die Straße überquerten, um auf den Fuß- und Fahrradweg am Flussufer zu kommen, ließ mich die Gedanken an diesen Teil meiner Vergangenheit zurück nach irgendwo ganz hinten in meinem Kopf schieben. Die auffällig beleuchtete Brücke in der Ferne fischte sich meine Aufmerksamkeit vorübergehend. "Joshua würde sich wahrscheinlich freuen, wenn Mitch da mit von der Partie wäre, aber ich hab das Gefühl, dass ich mir diese Frage lieber noch sparen sollte.", sprach ich geistig leicht abwesend weiter, mit leisem Seufzen im Abgang. Selbst wenn der Freund von Fayes älterer Schwester bis dahin vom Einsatz zurück war, wollte er meine Visage aktuell sicher nicht auch noch außerhalb des Stützpunkts ertragen müssen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
"Das ist wirklich ziemlich bitter. Ich muss mal schauen, inwiefern ich jetzt noch mit dir reden kann, so auf diesen Schock hin...", blieb sie dabei, dass er mit diesen Worten ihren Glauben an die Menschheit - Bärenheit - tief erschüttert hatte. Sie hätte passenderweise lieber befreundet sein kann statt reden kann gesagt. Aber das stand bekanntlich gerade sowieso in den Sternen. Sie hatten sich noch nicht darüber unterhalten, ob diese Freundschaft nach heute noch irgendwie bestehen würde oder nicht und Faye wusste auch ganz genau, warum sie das nicht getan hatten. Nämlich weil sie keine Ahnung hatte, was sie dazu sagen sollte. Sie hatte es gedanklich schon so oft durchgekaut und doch kam sie zu keinem Ergebnis. Es war wirklich frustrierend. Es lag ihr so absolut fern, sich von jemandem bewusst zu verabschieden, wenn sie Ryatt doch eigentlich mochte und gerne Zeit mit ihm verbrachte. Aber sie konnte unter keinen Umständen verantworten, dass der Kontakt zu ihm ein drittes Mal zum Eklat führte. Und niemand konnte ihr garantieren, dass das niemals passieren würde. Und darum waren sie hier - um sich zu verabschieden. Für eine Weile oder für immer. Allein der Gedanke fühlte sich falsch an und sie versuchte sofort, ihre Aufmerksamkeit zurück aufs Essen zu lenken. Oder auf seine Grundstücksuche. Irgendwas, das sie zum aktuellen Zeitpunkt nicht wirklich beschäftigte oder zumindest nicht belastete. "Na siehst du. Und ich trau' dir auch zu, dass du was Tolles findest und erfolgreich zurück nachhause gehst - also wirst du das schon hinbekommen. Wenn du schon deine zwei grössten Kritiker überzeugt hast", meinte sie grosszügig, als würde sie ihre Meinung in dieser Sache tatsächlich in irgendeiner Weise als relevant einschätzen. Sie hatte keine Ahnung von Landkauf und wusste auch wenig darüber, welche Kompetenzen hier relevant waren. Es war aber schon naheliegend, dass es Überzeugungsarbeit und Verhandlungskompetenz brauchte - zwei Dinge, in denen Ryatt ihrer Meinung nach eindeutig punkten konnte. Dann brauchte es noch die Prise Glück, dass überhaupt irgendwas dabei war, das letztendlich für Easterlins Zwecke in Frage kam und schon würde das hinhauen. Die Erinnerungen an ihr Keksabenteuer waren auf allen Ebenen süss genug, um auch Fayes Lächeln wieder zu einem Grinsen werden zu lassen. "Gut, dass wir ein paar Bilder davon haben. Das sind zweifellos die Art von Fotos, die wir in zwanzig Jahren noch anschauen und darüber lachen werden", wenn auch vielleicht nicht gemeinsam, aber sie würde sicher nichts davon löschen, bloss weil sie keinen Kontakt mehr zu Ryatt pflegen konnte. Er schien währenddessen spontan eine Idee ausgebrütet zu haben, wie er dieses Jahr trotzdem noch zum Backspass zu Weihnachten kam. Und die klang ziemlich süss, denn sie war sich ebenso sicher, dass die Kinder sich sehr darüber freuen würden, ihn wiederzusehen. Ganz allgemein, weil zumindest einige von ihnen sicher eine Beziehung zu ihm aufgebaut und ihn gemocht hatten, aber auch, weil die meisten Kinder sich einfach freuten, wenn jemand Zeit mit ihnen verbrachte. "Das klingt nach einer hervorragenden Idee, ich hoffe, du setzt sie tatsächlich um. Würdest sicher ein paar glückliche Kinder zaubern und die Küche würde im Anschluss wohl vergleichbar aussehen, wie bei uns nach der Mehlschlacht", unterstützte sie sein Vorhaben grinsend. Auch wenn die Kinder keine Mehlschlacht veranstalteten, sahen Arbeitsfläche und Boden nach solchen Backnachmittagen selten noch irgendwie heilig aus. Mussten sie glücklicherweise auch nicht, darum ging's ja niemandem. Inwiefern es sinnvoll wäre, wenn Ryatt auch Mitch beizog, war auch für sie aktuell eher fraglich. Josh fände das auf jeden Fall toll, aber Mitch? Soweit sie wusste, fand alles, was mit Ryatt zu tun hatte, zurzeit noch so gar keinen Anklang bei Mitch - oder bei Aryana. Was sie ihnen auch nicht verübeln konnte, auch wenn sie mal wieder besser keine (innerlichen) Diskussionen bezüglich Schuld und nicht Schuld anfangen wollte. "Vielleicht ist das noch etwas früh... Aber möglicherweise kannst du ihn dann zum Ostereier-Verstecken fragen", versuchte sie auch hier vorsichtig optimistisch zu sein, um dieser Konversation nicht gleich einen schwungvollen Schubser Richtung Abgrund zu geben.
Ich warf Faye einen kurzen Blick mit hochgezogener Augenbraue zu. Natürlich wollte ich das nicht aussprechen, aber sie sprach trotz einiger Missetaten meinerseits noch immer mit mir. Dass es nun also ausgerechnet daran scheitern sollte, klang in meinen Ohren ein bisschen sehr unglaubwürdig. “Das dürfte anstrengend für dich werden. Mich in einem unangenehmen Schweigen festzuhalten ist ziemlich schwierig.”, was hauptsächlich daran lag, dass ich das nicht ausstehen konnte, sofern es eben auch für mich als Gefühlskrüppel ausnahmsweise mal unangenehm war. Fayes Chancen standen dahingehend aufgrund ihres Status in meinem Leben ziemlich gut, aber wir waren hier glücklicherweise nicht tatsächlich erpicht darauf, den Rest des Abends den Mund zu halten und uns komische Blicke zuzuwerfen. Es würde schließlich noch mehr als genug Tage geben, an denen wir kein einziges Wort mehr miteinander wechselten. “Stimmt, kann eigentlich kaum noch schiefgehen.”, kam ich leichthin zum Schluss und ließ meine morgige Aufgabe damit einfach so stehen. Es gab nur ungefähr eine einzige Sache, von der ich Faye nie hatte überzeugen können. Den Gedanken daran legte ich auch im Folgenden nicht gleich wieder ab, weil die Brünette auf die Fotos zu sprechen kam. Ob das eine einsame Foto noch immer in der Kabine im Club steckte? Es war unwahrscheinlich, dass irgendwer das kleine Stück Papier rein zufällig entdeckte. “Oh ja, die sind wirklich Gold wert.” Daran würde sich nie was ändern. Vielleicht sollte ich das im Hinterkopf behalten – für die ganz dunklen Tage, die irgendwann bestimmt kamen. Taten sie ja immer. “Genauso wie die im Klettergarten.”, hängte ich an. Da waren ein paar herrliche Mimik-Entgleisungen dabei, die den Weihnachtsfotos in nichts nachstanden. Als Faye auf die Backsession mit den Kids einging, nickte ich leicht vor mich hin. “Sehr wahrscheinlich… alles davon.” Easterlin müsste mir ungewöhnlich viel Arbeit aufladen, damit das nirgends mehr in meinen Kalender passte, was maximal dann vorkommen würde, wenn ich morgen versagte. Zum Glück hatten wir gerade schon geklärt, dass das nicht passieren würde. Ich konnte die Ablenkung also wahrscheinlich genauso gut gebrauchen wie die Kinder selbst. “Und zum Glück für die Kinder bewerfe ich sowieso lieber dich mit Mehl.”, erklärte ich grinsend. Mal ganz unabhängig davon, dass die Erzieher auf die Barrikaden gehen würden, wenn ich den Kids beibrachte, mit Lebensmitteln zu werfen, brauchte ich dafür schon irgendwie einen ernstzunehmenden Gegner. Sonst fehlte ja die Herausforderung. Ich war versucht, sowas wie ’also wenn wir schon übertrieben optimistisch sein wollen, dann können wir auch gleich darauf hoffen, dass Aryana und Mitch sich an Ostern schon am anderen Ende der Welt die Sonne auf den Bauch scheinen lassen’, hielt aber auch das zurück. Ich war mir noch immer recht sicher damit, dass sich das Verhältnis zwischen dem Paar und mir nie mehr ganz einrenken würde. Vielleicht gab es Waffenstillstand, wenn ich sie tatsächlich aus Easterlins Armee rausboxen konnte. Das war dann aber vermutlich auch schon das höchste der Gefühle. “Man sollte niemals nie sagen, schätze ich.”, hielt ich meine Gedanken vor Faye zurück, zeigte mich jedoch trotzdem etwas weniger optimistisch und zuckte leicht mit den Schultern. Die zierliche Brünette war ja nie dabei, wenn ich mich mit den beiden unterhielt und konnte das Ganze nicht wirklich gut einschätzen. Das Restaurant kam indessen langsam in Sicht und ich versuchte auf die dafür noch viel zu große Distanz durch die Fenster zu erkennen, ob viel los war. Eigentlich war das einzige, was ich schon jetzt sicher sagen konnte, dass auch dort schon irgendwas an – vermutlich weihnachtlichen – Lichterketten im einen oder anderen Fensterrahmen hing.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Faye spiegelte seinen Blick mit der hochgezogenen Augenbraue und schaute ihn ganz genauso wenig überzeugt an. "Pure Selbstüberschätzung... Ich bin mir sicher, ich würde das hinkriegen", zweifelte sie gespielt einfach mal lieber an seinen Möglichkeiten als an ihren Fähigkeiten. Als würde ihr tatsächlich irgendwas daran liegen, den Abend in seiner stummen Gesellschaft zu verbringen. Weil das halt so unglaublich toll sein musste. Vielleicht nicht ganz so toll wie die Fotos ihrer vergangenen Abenteuer, aber wie auch er gleich nochmal bestätigte, war das sowieso ein etwas hoher Massstab. "Ich bin wirklich froh, dass wir da gegenseitig ein paar wundervolle Grimassen eingefangen haben... Sonst würden die nämlich übles Potenzial zu Druckmittel in schlechten Zeiten haben", meinte sie sarkastisch zu den teilweise wenig vorteilhaften Seilpark-Fotos. Auf einigen Bildern sprach die Anstrengung und Konzentration etwas zu deutlich aus ihren Gesichtern, da war nicht mehr viel von dem Modelpotenzial ersichtlich, welches sie beide doch üblicherweise so stolz nach aussen trugen. Die Backidee im Kinderheim hatte hoffentlich einen festen Platz in seinem Kopf bezogen, damit er sie auch wirklich umsetzte. Ein paar glückliche Kinder würden ihm sicher sehr lange dankbar sein für seine Zeit. "Ich weiss jetzt nicht, ob die Kinder sich wirklich daran stören würden, wenn du eine kleine Mehlschlacht lostreten würdest... über das Betreuungspersonal lässt sich diskutieren, aber die Kinder dürften mit mindestens so viel Eifer ins Gefecht starten wie ich", wagte Faye grinsend zu bezweifeln, inwiefern es Glück für die Kinder war, dass er sie nicht mit Mehl bewarf. Wie gesagt würde die Küche wahrscheinlich ohnehin aussehen, als hätte eine Bombe eingeschlagen, eigentlich war da die Mehlschlacht gar kein so grosses zusätzliches Übel mehr wenn man sie fragte. Aber sie wurde nicht gefragt, da sie hinterher auch nicht aufräumen musste. Bezüglich Mitch und Frieden beschloss Faye, lieber nichts mehr zu sagen. Sie wollte wirklich lieber nicht über dieses Thema reden, das sie sowieso nicht beeinflussen konnte. Mitch bewies sich bekanntlich als äusserst wählerisch in der Wahl seiner Freundschaften - genau wie Aryana. Und genau wie Aryana war auch er, soweit ihr bekannt, eher nachtragend. Vielleicht nicht nachtragend im Sinne von auf ewig wütend, aber halt so, dass sie nicht vergasen, was mal gewesen war. Dass sie ihr Misstrauen nach einem Betrug oder einem Versagen nur sehr schwer je wieder ganz ablegen konnten. Hatte sicher auch damit zu tun, dass beide grundsätzlich misstrauisch waren und niemandem leichtfertig vertrauten. Es blieb abzuwarten, ob Ryatt sich dieses Vertrauen jemals erarbeiten konnte oder nicht. Wesentlich näher in der Zukunft spielte ihr Abendessen, als sie das auserkorene Restaurant nach dem Fussmarsch schliesslich erreichten. Von drinnen schlug ihnen die warme Luft entgegen, kaum hatten sie die Tür geöffnet und waren eingetreten. Noch während Faye dabei war, sich erstmal umzusehen, tauchte ein Kellner bei ihnen auf, um sie nach Klärung der nicht vorhandenen Reservation an einen Tisch zu führen. Das Restaurant war gut besetzt aber nicht übermässig voll und so war auch der Lärmpegel durchaus tragbar, erreichte kein unangenehmes Level. Sie bekamen tatsächlich einen Tisch am Fenster zugewiesen, wenn auch nicht auf der Flussseite. So dunkel wie es draussen sehr bald sein würde, spielte das aber auch kaum eine Rolle. Faye schlüpfte aus der warmen Winterjacke, hing diese über die Stuhllehne, bevor sie sich aufs Kissen sinken liess. Die warme Beleuchtung im Inneren des Restaurants führte zu einer ganz schön kuscheligen Atmosphäre, während ihre leicht rötlichen Wangen gerade noch davon berichteten, dass es draussen wirklich kalt geworden war.