“Hoffentlich nicht.”, schnaubte ich nur noch und wendete den Blick mit einem leichten Augenrollen ab, ohne dabei die angehobenen Mundwinkel zu verlieren. Wir hatten schon ganz viel zusammen herausgefunden und sich gemeinschaftlich in Magenkrämpfe auslösendem Schweigen zu suhlen gehörte definitiv auf die Liste mit Dingen, die meiner Meinung nach noch hinzugefügt werden müssten. Bezüglich der Fotos konnte ich wieder nicken, denn ein paar davon fielen wirklich sehr unvorteilhaft aus. Also eher nichts, was für die Öffentlichkeit bestimmt war, unter Freunden aber mehr als in Ordnung ging. “Da ist was Wahres dran.”, stimmte ich zu. Zwar hoffte ich schwer, dass ich mich nicht nochmal in eine Situation manövrierte, in der ich notgedrungen hässliche Druckmittel benutzte, aber gerade Faye hatte in dieser Hinsicht ohnehin nichts zu befürchten. Lieber setzte ich mich aus eigener Kraft in Seans Zelle. “Ich glaube, da muss ich jetzt doch differenzieren, mit welcher Gruppe ich die Kekse backe… die Älteren würden mich wohl gnadenlos unterbuttern. Mit Pech wortwörtlich, wenn das Mehl erstmal leer ist und ich glaube nicht, dass ich da spontan irgendwelche Kartoffeln fürs Backfire finde.”, stellte ich amüsiert fest. Die jüngeren Kids trauten sich das gegenüber mir eher nicht, aber alles über 10 Jahren würde sich vermutlich zu einer fiesen Wurf-Mannschaft vereinen. “Wenn ichs mir recht überlege, wäre irgendwas in der Richtung ‘ne wirklich gute Teambuilding-Maßnahme… auch wenn's den Respekt vor Älteren vorübergehend untergräbt.”, was wiederum auch nicht immer falsch war. Nur bei den sowieso schon rebellischen Kandidaten müsste man mit solchen Aktionen etwas aufpassen. So oder so sollte man solche Späße lieber nicht in einer Küche, sondern in einer Turnhalle mit geeigneteren Wurfgeschossen veranstalten. War nur eigentlich gar nicht meine Aufgabe. Allzu gern ließ ich mir von Faye die Tür in die Hand geben, um ins warme Innere des Restaurants zu flüchten. Der Geruch des Flusswassers wich gleichzeitig einem angenehmen Duft nach Pizza und ließ mich nochmal an meiner am Handy getroffenen Wahl auf der Speisekarte zweifeln. Während wir uns von der Bedienung zu unserem Platz bringen ließen, warf ich hier und da flüchtige Blicke auf die Tische ringsum, was mich noch mehr verunsicherte. Also war ich froh darum, den Kellner sehr bald nochmal wiederzusehen, als wir uns schon hingesetzt hatten und die Jacken losgeworden waren. Er reichte uns jeweils eine Speisekarte – Faye zuerst – und fragte uns danach, ob wir schon einen Getränkewunsch hatten, während er die eine Kerze in der mit kleinen Tannenzweigen ebenfalls ziemlich weihnachtlich wirkenden Tischdeko anzündete. Ich bestand vorerst nur auf ein Mineralwasser, in der weisen Voraussicht, dass ich mir zum Essen – je nachdem, was es denn nun wurde – ein Glas Wein genehmigen würde. Mehr nicht, weil alle hier wussten, was betrunken gerne mit mir passierte. Mir stand hier weder eine katastrophale Arbeitsleistung, noch irgendeine Art von Gefühlsausbruch im Sinn. Letzterer kam so oder so noch früher, als mir lieb war. Ich ließ erst noch einmal kurz den Blick schweifen und tat abschließend mit einem zufriedenen Nicken ein "Hier gefällts mir." kund, bevor ich die Karte auf der Tischplatte vor mir aufschlug. So viel, wie ich in den letzten Jahren immer unterwegs und nie lange an ein- und demselben Ort gewesen war, würde ich Restaurants wie dieses noch eine ganze Weile lang allen anderen vorziehen. Es gab mir zwar auch kein Gefühl von Zuhause, aber es war gemütlich und lud mich dazu ein, innerlich ein bis zwei Gänge runterzuschalten. Das war eine Sache, die mein Hirn bekanntlich nicht so gut konnte, wenn ich ganz genau wusste, dass es noch irgendwas zu erledigen gab. Grundstücke kaufen, Vertragsbrüche planen und einen Abschied durchziehen, beispielsweise. Für jetzt konnte ich das alles aber ausnahmsweise mal getrost auf mindestens Morgen verschieben.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Die Vorstellung von Ryatt im Gefecht gegen einen Haufen Kinder war wirklich äusserst unterhaltsam und ihre Mundwinkel zuckten immer wieder amüsiert aufwärts. "Ich würde wirklich gerne zuschauen, wenns dazu kommt... Das stell' ich mir tatsächlich wesentlich interessanter vor als irgendwelche Fussballspiele, die wohl von den durchschnittlichen Betreuungspersonen als alternative Teambuilding-Massnahme vorgeschlagen würden", meinte sie schon fast etwas bedauernd, dass sie bei diesem Spektakel ganz sicher nicht dabei sein könnte. Da sich die Mehlschlacht nicht wirklich planen liess und sie ausserdem schlecht einen Flieger nach Seattle nehmen konnte, um mal kurz eine Küche zu verwüsten oder auch nur dabei zuzuschauen, war ihre Teilnahme leider keine Option. "Aber ich drück dir auf jeden Fall die Daumen, dass es dich nicht allzu hart erwischt", endete sie mit einem erneuten aufmunternden Grinsen in seine Richtung. Am Tisch angekommen wurden sie kurzum mit einer Kerze beglückt, die den weihnachtlichen, gemütlichen Touch der Atmosphäre gleich noch ein bisschen zusätzlich unterstrich. Sie nahm die Speisekarte dankend entgegen und hängte sich mit ihrem Getränkewünsch gleich mit an Ryatts Auswahl - erstmal Mineralwasser klang bestens. Sie hatte absolut keine Vorliebe für Süssgetränke und mit dem Alkohol wollte sie es ebenfalls nicht übertreiben. Eigentlich sollte sie besser gar keinen trinken, nur für den Fall, dass sie heute Abend doch nochmal ein Schlafmittel brauchte. Alkohol vertrug sich schlecht mit Benzos. Aber eigentlich hatte sie ja damit aufhören wollen. Eigentlich. "Mir auch, ist wirklich gemütlich", liess sie sich gerne von Ryatt zurück ins Hier und Jetzt holen, lächelte ihn nochmal zufrieden an. "Hast du gut ausgewählt", wagte Faye sich, seine Restaurantwahl schon zu loben, bevor sie das Essen gekostet hatten. Aber so wie das auf den Teller der anderen Leute aussah und wies hier drin roch, konnte das eigentlich nur gut werden. Nun widmete sie ihre Aufmerksamkeit jedenfalls erstmal der umfangreichen Speisekarte, um zu sehen, mit welchem der vielen Gerichte sie letztendlich ihre Geschmacksnerven beglücken wollte. Grundsätzlich war Pizza immer gut und hatte vorhin beim Vorbeigehen auch gut ausgesehen. Aber mit der Pasta verhielt es sich ungefähr gleich. Wobei sie Pasta eher mal selbst noch kochen konnte - mit Pizza sahs etwas anders aus. Das bekam sie nie auch nur annähernd so gut hin, wie es die Pizzaiolos in den Restaurants konnten. Eine kleine Wissenschaft für sich, wies schien. Trotzdem war die Wahl nicht leicht und noch bevor sie irgendwelche Wünsche äusserte, blickte sie über den Kartenrand zu Ryatt rüber. "Wonach steht dir der Sinn?", erkundigte sie sich neugierig. Einfach weil sie genau wusste, dass sie nicht Pasta bestellen konnte, wenn er dann eine Pizza bekam. Wahrscheinlich war das allein ein zuverlässiges Indiz dafür, dass sie grundsätzlich sowieso besser bei der Pizza bleiben sollte.
Ich rollte flüchtig mit den Augen, was normalerweise eher Fayes Part war. “Wärst du da anwesend, wärst du nicht lange mit Zuschauen beschäftigt. Ich würde schon dafür sorgen, dass du in den Mehlkreis mit reingezogen wirst… sonst wär’s ja genauso unfair wie die Fußballspiele, wo bei den Wahlen am Ende immer dieselben Außenseiter übrigbleiben.”, erklärte ich mit wissendem Grinsen völlig überflüssig, dass es zu einem entspannten Zuschauen seitens der Brünetten in keinem Fall jemals kommen würde. Auch wenn es mir trotzdem lieber wäre, sie stünde nur untätig daneben und würde mich bei meiner Niederlage auslachen, als dass sie ganz und gar nach Los Angeles verschwand. Bekanntlich war das Leben aber kein Wunschkonzert und ich musste mich genauso damit arrangieren, sie nicht mehr zu Gesicht zu kriegen, wie das umgekehrt auch der Fall war. “Aber danke… ich hoffe, ich ersticke nicht im Mehl.”, was leicht passieren könnte, wenn es erstmal überall in der Luft wäre. Das einzuatmen war einfach ungesund, wie Faye uns damals veranschaulicht hatte. Das große Backen mit den Kids war allerdings ebenfalls ein Problem von Morgen. “Freut mich, dass es dir auch zusagt.”, meinte ich ehrlich mit einem kurzen Lächeln, bevor ich versuchte, das richtige Mahl für heute zu finden. Die eigentlich simple Auswahl einer Speise entpuppte sich nicht nur für mich als kleine Herausforderung, wie’s schien. Als Faye sich nach meiner heutigen Vorliebe erkundigte, sah ich mit einem Seufzen ebenfalls kurz über die Karte hinweg in ihre Richtung. “Ich weiß nicht… ich hatte mich eigentlich für das Zitronenrisotto mit Fisch entschieden, aber es klingt gefühlt alles lecker und es riecht hier drin fast unwiderstehlich nach Pizza.” Ich verzog unentschlossen das Gesicht, ehe ich mit der rechten Hand ein weiteres Mal umblätterte. Wäre es nicht gnadenlos zu viel zu Essen, hätte ich mir am liebsten mindestens drei Gerichte bestellt. Eine Pizza, einen Teller voll Nudeln und dann noch ein Reisgericht. Wie so oft versuchte mein Verstand eine Zwischenlösung dafür zu finden, während ich weiter die Liste durchging. Letztendlich war er damit auch erfolgreich. Außerdem war es eine verflucht schlechte Angewohnheit von mir, dass ich mich je nach Lage der Dinge spontan nochmal umentschied. Es dürfte zwar Niemanden kümmern, ob ich jetzt doch Nudeln anstelle von Reis zu mir nahm, aber darum gings nicht. Mit einem leichten Kopfschütteln blätterte ich die Karte plötzlich ganz zurück zu den Appetizern und sah mich dort erneut um. “...weswegen ich wohl leider Pizzabrot als Vorspeise nehmen muss, damit ich meinem Hauptgang guten Gewissens treu bleiben kann.”, kündigte ich etwas sarkastisch meine Wahl an und musste mich damit nur noch zwischen der schlichten Knoblauch-Variante und Tomate-Mozarella entscheiden. Da ich mir das Bett bekanntlich mit Niemandem teilen musste, war der Knoblauch nicht automatisch vom Tisch. Das Leben konnte schon schwer sein, wenn man ausnahmsweise mal die Ruhe dazu fand, sich ein gutes Abendessen zu genehmigen. Im Augenwinkel sah ich schon den Kellner mit Tablett wiederkommen, der eben erst nach den Getränken gefragt hatte.
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Mehlkreis... das gab dem Ganzen schon fast den Klang eines etwas fragwürdigen Rituals. Aber in solchen Gruppierungen sah sie eigentlich weder sich noch Ryatt verkehren, geschweige denn fremde Kinder mit reinziehen. "Warst du beliebt? Bei der Mannschaftsbildung für Fussballspiele damals, mein ich", fragte sie stattdessen interessiert, blickte ihn mit schiefgelegtem Kopf an, während sie versuchte, die Antwort schonmal für sich selbst zusammenzureimen. So wie Ryatt bisher erzählt hatte, war er ja nicht unbedingt ein einfaches Kind gewesen. Er hatte dabei aber eigentlich nie erwähnt, wie er sich gegenüber Gleichaltrigen verhalten hatte. Da er grundsätzlich ein geselliger Mensch war - was ja wahrscheinlich nicht erst seit gestern so war - konnte sie aber davon ausgehen, dass er auch als Kind keine Probleme damit gehabt hatte, Kontakte zu knüpfen. Und nicht selten waren diese Kontakte oder Freundschaften wesentlich wichtiger als das sportliche Können, wenns um freie Mannschaftsbildung ging. Ausserdem war er sicherlich auch nicht unsportlich gewesen. Glaubte sie. Aber das konnte sie nicht sicher sagen, da sich manche Kinder erst in ihrer Jugend sportlich entfalteten. Es somit theoretisch auch möglich war, dass das bei ihm erst gekommen war, als die Militärschule ihm keine andere Wahl mehr gelassen hatte, als auch in diesem Bereich Leistung zu zeigen. Scheinbar war sie nicht die Einzige, die gerade ein bisschen mit Überforderung zu kämpfen hatte, wenns um die Auswahl des perfekten Abendessens ging. Wobei Ryatt in eine etwas andere Richtung schwenkte als sie, da sie das Risotto von Anfang an aussortiert hatte. Hatte aufgrund des Fischs nämlich keinen grünen Trieb zwischen der Nummer und dem Namen des Gerichts und wurde darum von ihr nicht beachtet. Trotzdem bezweifelte sie keineswegs, dass es gut schmecken dürfte, denn wie er schon sagte: Es klang eigentlich alles lecker. "Hmm...", machte sie nur wenig hilfreich, während sie gefühlt zum zweihundertsten Mal ihre Wahl überdachte. Dabei kam der Kellner mit dem Wasser wieder bei ihrem Tisch an und Faye legte die Karte auf dem Tisch ab, um ihn dankend anzulächeln, während er das Wasser in die Gläser schenkte. Gefolgt von der erwarteten Frage, ob sie sich denn bereits entschieden hätten oder noch etwas Zeit brauchten. Faye zögerte nur kurz, beschloss dann aber nach einem kurzen Blick zu Ryatt, die erste Teilfrage zu bejahen, da sie auch mit längerer Bedenkzeit auf kein definitiveres Endresultat kommen würde. Trotzdem liess sie Ryatt beim Bestellen den Vortritt, um die Karte derweil zurück zu den Vorspeisen zu blättern und dem Kellner anschliessend ihre Wünsche zu diktieren. Da sie schliesslich wie angedacht die Pizza mit Tomaten, Spinat, Ricotta und Mozzarella bestellte, entschied sie sich zur Vorspeise lieber für etwas Leichteres, da sie genau wusste, dass eine Pizza meist für ziemlich guten Hunger bemessen war. Somit blieb sie beim Rucolasalat mit Parmesansplitter und Cherrytomaten und nickte vorfreudig, als der Kellner die Bestellung nochmal wiederholte und sich schliesslich auf den Weg zur Küche machte. Sie hatte ihrerseits schliesslich auf die Bestellung von Wein verzichtet - aus genannten Gründen. So wies aussah, würde es ihr trotzdem an nichts fehlen.
“Das ist… nicht so einfach zu beantworten, wie ich’s mir wünschen würde.”, meinte ich vorab etwas trocken und versuchte mich gleichzeitig bestmöglich in meine frühe Kindheit zurück zu versetzen. Die war mal so und mal so gewesen, auch in der Schule. Der Sportunterricht war aber selten zum Drama für mich geworden, glaubte ich mich zu erinnern. Zumindest anfangs nicht, bevor ich konsequent alles mögliche aus Sturheit abgeblockt hatte. Doch bevor ich Faye etwas darüber erzählte, waren unsere Bestellungen dran. Ich gab nach dem kurzen Blickwechsel mit ihr meine eigene zuerst auf, dicht gefolgt von der Frage an den Kellner, ob er mir einen Wein passend zum Essen empfehlen konnte. Dabei verließ ich mich ganz auf ihn und orderte das entsprechende Genießer-Glas – eine ganze Flasche lehnte ich dankend ab – bevor auch Faye ihren Essenswunsch preisgab und die Bedienung uns schließlich alleine am Tisch zurückließ. Dann zögerte ich aber nicht mehr, auf die vorherige Frage der Brünetten einzugehen und sie dabei auch direkt anzusehen. “In den ersten zwei, drei Schuljahren schon, weil ich da noch Spaß dran hatte. Damals konnte ich mich noch viel mehr für simple Dinge begeistern und war eigentlich gefühlt mit der ganzen Klasse befreundet. Mein erster Kindergeburtstag während der Schulzeit muss für meine Eltern der Horror gewesen sein, wenn ich so drüber nachdenke... der Garten ist aus allen Nähten geplatzt.”, erzählte ich ironisch die eher schwammigen Erinnerungen, die nur vereinzelt ein wenig klarer waren und zuckte leicht mit den Schultern. Als kleines Kind hatte ich deutlich mehr Freunde und gute Bekannte gehabt als heute, was auch nicht schwer war. Rückblickend betrachtet war das möglicherweise der Grund dafür, warum ich sozial nicht noch verkorkster geendet war. Meine zwischenmenschliche Basis damals war gut gewesen, nur hatte die Army sie – wie so vieles Andere auch – in ihren Grundfesten erschüttert. “Aber als ich mich dann chronisch unterfordert gelangweilt und Probleme gemacht habe, auf ungefähr jeder möglichen Ebene, hat mir das Vieles kaputt gemacht… nicht nur den Unterricht und die Noten, sondern auch die Freundschaften, die ich noch aus dem Vorschulalter mitgenommen hatte. Was das angeht gab's also nichts mehr, was meine Eltern mit der Militärschule hätten kaputtmachen können.”, führte ich ruhig weiter aus. Es war doch ein bisschen unangenehm, das alles nochmal Revue passieren zu lassen, obwohl es ja eigentlich gar nichts Neues für mich war. Lag wahrscheinlich wieder nur daran, dass ich es aussprechen musste. “Warst du jemals unbeliebt in der Schule? Ist fast unvorstellbar.”, lenkte ich das Thema zurück auf Faye und legte nun meinerseits fragend den Kopf schief. Ob sie früher weniger nett, hilfsbereit und selbstlos gewesen war? Gar eine rebellische Teenager-Phase durchgemacht hatte? Ich wusste nicht genau, wann ihre Eltern gestorben waren, doch das war bei meinem Wissensstand das einzige, was zu einem harten sozialen Rückzug ihrerseits in der Schule hätte führen können. Möglicherweise war ich diesbezüglich aber schlicht nicht ausreichend informiert. Seit ich ein paar mal zu scharf nachgehakt und Faye damit zurück ins Schneckenhaus hatte kriechen lassen, hielt ich mich damit weitestgehend zurück. Diese Grenzen zu akzeptieren war bei meiner exzessiven Neugier nach wie vor nicht meine bevorzugte Strategie, aber dass ich nicht immer das haben konnte, was ich haben wollte, gehörte auch zu den Dingen, die sie mir förmlich verbal eingeprügelt hatte – hatte einprügeln müssen, weil ich es anders nicht hatte einsehen wollen.
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Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, ihn hier gedanklich auf eine unschöne Reise zu schicken. Nur hatte sie es scheinbar doch irgendwie unabsichtlich in Kauf genommen, wies aussah. Hoffentlich nicht allzu dunkel, sonst tats ihr nämlich wirklich leid. Glücklicherweise wurde die Beantwortung ihrer Frage von der Anwesenheit des Kellners unterbrochen, was mit grosser Wahrscheinlichkeit verhindern sollte, dass Ryatt gleich zu sehr in den negativen Erinnerungen versank. Verbunden mit dem Bestellen des Essens, das ja eigentlich nur super werden konnte, war das nämlich kaum möglich. Der Start seiner Antwort - seiner Schulkarriere - schien indes auch noch nicht so schrecklich ausgefallen zu sein. Automatisch hoben sich ihre Mundwinkel wieder an, als er von den Kindergeburtstagen erzählte, die fast schon legendär gewesen sein mussten. Allgemein waren Kindergeburtstage etwas Tolles - vorausgesetzt das Geburtstagskind hatte Freunde und die Eltern organisierten tatsächlich etwas Schönes. So sachlich wie er weitersprach, schien er sich nicht allzu sehr in den Erinnerungen zu verlieren, die nach der schönen Kindheitsepisode nun leider wie erwartet weniger glorreich ausfielen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde wieder schmaler und sie nickte schwach vor sich hin, ohne dabei jedoch den interessierten Blick von ihm abzuwenden. "Verstehe... Das ist schade...", viel mehr wusste sie akut nicht zu erwidern, da es leider ein Muster war, dass sich in seinem Leben scheinbar abzeichnete. Als kleiner Junge hatte er Freunde, verlor diese, ging auf die Militärschule, hatte da bestimmt neue Freunde gefunden, auch diese wieder verloren, war bei der Army, sicher auch da nicht ganz alleine unterwegs und doch fehlten ihm diese wichtigen zwischenmenschlichen Beziehungen nun wieder. Dann traf er Faye, sie wurden ziemlich gute Freunde und jetzt ging sie nach Los Angeles und liess ihn erneut mehr oder weniger alleine in Seattle zurück. "Ich wünsche dir wirklich, dass dieser Kreislauf irgendwann ein Ende nimmt...", meinte sie ehrlich, ohne dabei ihren Gedankengang offenzulegen. Ging einfach mal davon aus, das er das Muster auch ohne erneuten Hinweis ihrerseits erkannte. Er war ja derjenige, der das immer wieder durchlebte und mitmachte und darunter litt... Die Gegenfrage liess Faye nun ihrerseits gedanklich auf einen Zug in Richtung Vergangenheit hüpfen. Wobei sie aber seine Vermutung relativ bald ziemlich umfangreich bestätigen konnte. "Ich hatte eigentlich nie Mühe, Freundinnen zu finden... Als... durchschnittlich intelligentes, offenes, extrovertiertes, regelkonformes, weisses Mädchen aus einem gesunden Elternhaus fällt einem das glaub ich fast automatisch nicht so schwer", resümierte sie die ihrer Meinung nach wichtigsten Gründe dafür, warum sie eben nie wirklich einsam gewesen war damals. Zudem hatte sie das Glück gehabt, keine Mobbing-Schule besucht zu haben und auch sonst eigentlich nie das Opfer irgendwelcher Gemeinheiten geworden zu sein. "Nachdem mein Vater und dann später meine Mutter gestorben sind, hat sich das natürlich etwas verändert. Aber ich hatte eigentlich immer ein paar Freundinnen und war nie wirklich unbeliebt. Glaub ich. Und ich schätze, das hätte ich gemerkt", sie zuckte leicht mit den Schultern, als sie mit ihrer Zusammenfassung geschlossen hatte, die ihr Gegenüber wohl eher nicht überrascht haben dürfte.
Wieder nickte ich leicht vor mich hin und griff dann erstmals nach dem Glas Wasser, um ein paar Schlucke zu nehmen. Das gab mir wenige Sekunden, um darüber nachzudenken, wie sehr ich denn überhaupt wollte, dass dieser ewige Kreislauf des Alleinseins ein Ende fand. Ich war neulich zu Dylan gegangen, weil ich die stille Einsamkeit nicht ertragen hatte – wegen meiner Taten und Nicht-Taten, nicht wegen des Alleinseins an sich. Nur gesund war’s wahrscheinlich trotzdem nicht, sich immer nur auf sich selbst verlassen zu wollen. Und bis jetzt hatte ich’s überlebt, richtig? Mich ein zweites Mal hochgradig unpassend zu verlieben, weil ich gefühlt nichts anderes zu können schien – mich nur ganz oder gar nicht anzuvertrauen schaffte. Schlimmer als hier mit Faye konnte der nächste Schmerz, der in künftigen zwischenmenschlichen Beziehungen auf mich wartete und vor dem ich mich so fürchtete, also eigentlich gar nicht werden. Ich wünschte wirklich, dass nicht ausgerechnet sie meine Feuerprobe in dieser Hinsicht geworden wäre. Vielleicht sah ich Faye im Anschluss ans Trinken ein bisschen zu lange stumm an, bevor ich dazu etwas sagte. “Das kann er erst, wenn ich irgendeinen Fleck Erde finde, an dem ich wirklich bleiben will, fürchte ich.”, meinte ich, wobei meine Nachdenklichkeit unweigerlich in den Tonfall floss. Unbewusst drehte ich das Glas in der Hand, denn eigentlich war es logisch – wenn ich nirgends Fuß fasste, dann würde das Weglaufen immer schmackhafter sein, als mich mit den Menschen um mich herum auseinanderzusetzen, wenn es schwierig wurde. Weder in Seattle, noch in dessen Umland sah ich mich meine nächsten 40 Lebensjahre verbringen. Wozu also Freundschaften aufbauen, die ich sowieso wieder zurücklassen würde? Ganz gleich wie logisch dieser Gedankengang mir erschien, wusste ich ganz genau, dass ich trotzdem Jemanden zum Reden brauchte, wenn Faye erstmal weg war. Dylan würde sich also mit noch mehr Gejammer von mir rumschlagen müssen, wie’s aussah. Ich hatte schließlich noch was zu erledigen, bevor ich so wie mein Gegenüber das Weite suchen konnte. Dennoch versuchte ich, mich von Fayes kurzer Reise in die Vergangenheit in eine andere Richtung leiten zu lassen. Ein einziges Wort aus ihren Sätzen reichte dafür vollkommen aus und formte ein neues Lächeln. “Regelkonform", wiederholte ich hochtrabend und zog dabei auch die Augenbrauen ein wenig in die Höhe, als Faye ihre Erzählung geschlossen hatte. Ich hängte mich lieber an diesem Part auf, als über ihre verstorbenen Familienmitglieder zu sprechen. Davon hatte sie leider ein paar zu viele. “Hast du damals echt nie Mist gebaut? Nur ein winziges kleines bisschen? So viel, dass es gerade so für einen kurzen Adrenalinkick gereicht hat?”, fragte ich sie abwartend und verengte die Augen ein wenig, ohne die Mundwinkel wieder fallen zu lassen. Vielleicht war die zierliche Brünette einfach kein Mensch, der sich zu solchen Dingen hinreißen ließ – schon immer nicht. Dass hier und da aber durchaus etwas Ehrgeiz und Bereitschaft zur Herausforderung in ihr schlummerte, hatte ich aus ihr herauskitzeln können. Ein bisschen Mehl auf dem Kopf reichte dafür schon. Trotzdem wäre ich wohl damals wie heute schlechter Einfluss für Faye gewesen. Obwohl es rein gar nichts brachte, darüber nachzudenken, wäre es interessant zu wissen, wie wir uns verstanden hätten, wären wir etwas mehr im selben Alter und schon in der Jugend miteinander kollidiert. Wahrscheinlich ähnlich heftig wie auch heute, nur mit sehr viel weniger Konsequenzen.
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Er machte sich etwas länger Gedanken über ihre Worte, als sie beabsichtigt oder erwartet hatte. Als er schliesslich seinen abschliessenden Kommentar dazu abgab, war auch klar, warum das so war. Es machte leider ein bisschen zu viel Sinn, dass er sich erst dann ein solides, beständiges Netzwerk aufbaute, wenn er einen Ort gefunden hatte, der ihn zum Bleiben inspirierte. Manchmal waren es aber auch die Menschen, Freundschaften und Beziehungen, die den Ort aufwerteten und schliesslich zu dem Platz machten, an dem man bleiben wollte. Oder alternativ zu dem Ort, den man möglichst zeitnah wieder verlassen wollte. Siehe Seattle und Hernandez. Victor und sie wären kaum jetzt schon von dort verschwunden, wenn das ganze Drama nicht gewesen wäre. Dann wäre er nämlich gar nicht ins Exil gegangen... Aber gut, da waren zu viele Faktoren involviert gewesen, um ihren Umzug einem einzigen Punkt anzulasten. Auch wenn es zweifellos der relevanteste Umstand gewesen war. "Und auch hier hoff' ich für dich, dass das nicht mehr ewig weit in der Zukunft liegt", meinte sie ehrlich, rundete auch diese Aussage mit einem hoffnungsvollen Lächeln ab. Sie hatten schon mehrfach über die Problematik gesprochen, dass Faye sich gerne verantwortlich fühlte für das Glück anderer Menschen - insbesondere von ihm. Und dass sie manchmal das Gefühl hatte, bestens zu wissen, was gut für ihn war, ohne ihn davor zu fragen. Das war schliesslich der Ausschlaggeber dafür gewesen, dass sie ihn jemals zu sich nachhause geschleppt hatte. Darum musste sie auch aufhören, ihm ständig ihre Hilfe anzubieten oder aufzuzwingen. Weil sie eben nicht seine Mutter war. Weil er selber denken und handeln konnte. Darum hielt sie sich hier lieber mit ungefragten Tipps und gut gemeinten Ratschläge zurück, konzentrierte sich auf ihr Kerngeschäft der verbleibenden Stunden mit Ryatt: Gute Wünsche und kein zusätzlich aufwühlendes Gespräch. Er schien grundsätzlich sowieso wesentlich erheiterter vom Gedanken an ihre ordnungsgemässe Kindheit zu sein, also sollte sie besser dort ansetzen. Bei der Regelkonformität, die ihn offensichtlich nur mässig überzeugte. Die Fragen, die er gleich darauf stellte, waren gar nicht so leicht zu beantworten, weshalb sie nochmal ordentlich nachdenken musste. "Also... irgendwie hab ich den Eindruck, dass ich diese Frage nicht verneinen kann, weil ich ja sonst ein absolutes Traumkind gewesen wäre. Sozusagen ein kleiner Jesus", man musste nicht religiös sein, um zu verstehen, dass wohl kein Kind ein sündenfreier Engel sein konnte. Nichtmal sie. Auch wenn sie gerade bewusst nicht das Wort Engel in den Mund genommen, sondern sich stattdessen für den schwer christlichen Heiligen entschieden hatte. Einfach, weil sie nicht an die Bedeutung des Wortes für Victor und sie denken wollte. "Und das würd' ich jetzt so nicht unterschreiben und meine Eltern hätten es wohl auch eher nicht getan", fuhr sie mit unterschwelliger Ironie fort. "Nur war der Mist, den ich gebaut habe, nie besonders schwerwiegend oder folgenreich. Eher so die Blumen für Mutti ohne Erlaubnis aus Nachbars Garten pflücken-Stufe. Oder wenn ich mich mal wieder Aryana und Julian angehängt habe und wir gemeinsam die Welt hinter Baustellenabsperrungen und Private Property Beschilderungen erkundet haben. Oder wenn ich ohne Vorwarnung zu spät nachhause gekommen bin, weil ich mich bei Freundinnen vertrödelt habe... Wenns hochkommt, kann ich dir noch berichten, dass ich einmal bei einer Prüfung geschummelt habe. Aber das war dann schon sehr stressig und mir persönlich ein etwas zu krasser Adrenalinkick", zählte sie ein paar Beispiele auf, endete dabei jedoch wieder auf einer sehr sarkastischen Anekdote, die von ihrem stolzen Lächeln bestens abgerundet wurde.
“Das weiß ich, danke.”, lächelte ich ihr über den Tisch hinweg zu. Die Brünette machte nie ein Geheimnis daraus, dass sie mir immer und in jeder Lebenslage grundsätzlich nur das Beste wünschte. Dass sich alles wieder einrenkte und auch bei mir mal wieder was rund lief, dass ich über den einen oder anderen Schatten zu springen schaffte. Nur der Himmel konnte wissen, warum das so war und warum sie immer nur gute Worte für mich übrig hatte. Unabhängig vom höchstens in Fayes Unterbewusstsein existentem Grund für all das, war ich ihr unfassbar dankbar dafür. Wir beide wussten, dass ich nicht hier sitzen würde, hätte ich mir damals auf Lance’ Sofa nicht von ihr ins Gewissen reden lassen. Keine Zeit, an die ich gerne zurückdenken wollte. “Vielleicht lindert der Besuch bei meinen Eltern ja auch ein bisschen die Rastlosigkeit. Dass sie mir meine Fehltritte der letzten Jahre nicht übel nehmen, kann dabei jedenfalls nur helfen.” Ich zuckte mehr oder weniger optimistisch bis ratlos mit den Schultern. Möglicherweise war das nur Wunschdenken und es änderte sich dadurch absolut gar nichts in meinem Sturschädel. Trotzdem wäre damit ein dicker Punkt auf meiner Liste voll Dingen, die ein schlechtes Gewissen in mir auslösten, abgehakt. Ich würde eher nicht langfristig zurück in die Heimat ziehen, weil ich damit einfach nicht mehr viel verband. So oder so war es wahrscheinlich nur gut für meinen Kopf, das angespannte Verhältnis zwischen meinen Eltern und mir endgültig zu beseitigen. Freunde konnte man sich bekanntlich selbst aussuchen, die Blutsfamilie jedoch nicht. Aufmerksam lauschte ich Fayes Antwort auf meine Frage und schon eingangs ließ sie mich leise auflachen, als sie sich allem voran selbst mithilfe des wohl sündenfreisten Beispiels überhaupt ins rechte Licht zu rücken versuchte. Ich hatte leider nicht ausreichend Zeit dafür, mir die Brünette mehr als nur flüchtig in bodenlangem Stoffgewand mit Heiligenschein und Bart vorzustellen, weil sie gleich darauf ein paar Beispiele auflistete. Gegen Ende musste ich ein zweites Mal in mich hinein lachen. “Das ist alles so putzig, dass ich vielleicht froh darüber sein sollte, dass wir den gemeinsamen Fallschirmsprung nie umgesetzt haben… du hättest wahrscheinlich einen Herzstillstand erlitten.”, zog ich sie weiter auf und wackelte kurz mit den Augenbrauen. Mit dem breitesten Grinsen überhaupt, selbstverständlich. Wenn sie schon das Schummeln bei einer Prüfung ins Schwitzen gebracht hatte, war ein Sprung aus mindestens 2000 Metern Höhe vielleicht nicht ganz das Richtige für sie – Sarkasmus hin oder her. Eigentlich lohnte sich der Absprung sowieso erst noch weiter oben, weil man dann länger was von der Aussicht hatte… oder eben vom Herzflattern. Ich lehnte mich entspannt mit anhaltendem Grinsen und einem leichten Kopfschütteln zurück. Mir war bis heute ein bisschen unklar, wie sie Syrien tatsächlich hatte überleben können, wenn auch mit hässlichem Abschluss. “Das mit dem Vertrödeln sieht dir bis heute noch ein bisschen ähnlich.”, stellte ich mit leicht schief gelegtem Kopf fest, ohne den Blick von Fayes markantem Gesicht zu nehmen. Ich wollte hier keine chronische Unpünktlichkeit unterstellen, denn die Brünette hatte mich eigentlich niemals warten lassen, soweit ich mich erinnern konnte. Trotzdem war sie bis heute noch ein bisschen verträumt, oft nicht allzu fest im harten alltäglichen Realismus und strikt getakteter Uhrzeit verankert. Da war sie so ganz anders als ich selbst und vielleicht war auch das eine der vielen Kleinigkeiten, die sie für mich in gleichem Maße interessant wie auch unverständlich machten – warum ich bei ihr nie das Gefühl hatte, schon alles über sie zu wissen.
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An die möglichen positiven Auswirkungen eines Besuches bei seinen Eltern hatte sie vorhin natürlich auch schon gedacht, es aber bewusst nicht ausgesprochen. Sie hatte es in einem anderen Zusammenhang sowieso schon gesagt, damals, als er ihr davon erzählt hatte, dass er zu Weihnachten seine Eltern besuchen würde. "Gut möglich. Vielleicht inspiriert dich ihr sesshafter Lebensstil ja unerwartet", warf sie ein, wobei das Lächeln auf ihrem Gesicht verriet, dass das eher ironisch gemeint war und sie keine grossen Hoffnungen diesbezüglich hegte. Er traf immerhin immer wieder auf Menschen, die ihr Leben an einem Ort lebten und glücklich damit waren - trotzdem war er selbst noch nicht zur Ruhe gekommen. Es war also nicht unbedingt zu erwarten, dass ausgerechnet seine Eltern ihn mit ihrer blossen Existenz dafür begeistern könnten. Als Ryatt sie ganz ungeniert dafür auszulachen begann, dass sie offenbar bei Prüfungen nicht schummeln konnte, rümpfte Faye gespielt beleidigt die Nase. Bezüglich des Fallschirmsprungs musste sie dann aber doch Einspruch erheben. "Das kann man so doch nicht sagen... Bei Prüfungen schummeln ist verboten und wie gesagt, war ich sehr regelkonform. Auch in meinem Verhalten. Ich weiss, das ist für dich sehr schwer zu glauben, nachdem unsere erste Begegnung Beihilfe zur Flucht vor den Cops beinhaltete. Aber normalerweise bin ich noch immer so", stellte sie klar und liess es sich nicht nehmen, auch hier wieder durchaus sarkastisch zu enden. "Das Adrenalin ist nicht das Gleiche, wenn ich etwas Verbotenes tun soll oder aus einem Flugzeug springe. Letzteres ist grundsätzlich legal", differenzierte die Brünette noch etwas weiter, nur für den Fall, dass er ihr gleich ihre vorherige Aussage bezüglich des Adrenalinkicks vorhalten würde. Faye musterte ihn kurz, ohne dass dabei das Lächeln bereits ganz aus ihrem Gesicht gefallen wäre. "So schlimm kann dein Mist damals aber auch nicht gewesen sein, wenn du trotzdem zur Army gekommen bist. Die nehmen eigentlich keine Straftäter, soweit ich mich erinnern kann", sie liessen aber auch sehr gut mit sich reden, wenn man mit den gewünschten Argumenten aufkreuzte, wie sie sich ebenfalls erinnern konnte. Aber das gehörte nicht in dieses Gespräch, denn davon hatte sie Ryatt nie erzählt. Würde sie auch nie tun, da niemand davon erfahren musste, der es jetzt noch nicht wusste und sie es liebend gerne für den Rest ihres Lebens totschwieg. War auch nicht so, als würde sie das je wieder tun können, selbst wenn sie heute in der gleichen Situation wäre wie damals. Aber sie sollte besser nicht vertieft darüber nachdenken, das war keine schöne Richtung. Lieber liess sie sich von ihm darauf hinweisen, dass er das trödelnde Mädchen von damals noch immer ein bisschen in ihr erkennen konnte. "Das ist gut. Ich finde es schön, wenn ich wenigstens ein bisschen so geblieben bin wie damals. Ich... ich mag die Erinnerungen", was keine Überraschung war und auch so sein sollte, wie ihr seichtes, etwas verträumtes und etwas nostalgisches Lächeln bezeugte. Ihre Kindheit war sehr schön gewesen. Und alles, was sie von damals noch in sich trug, war das Vermächtnis ihrer Eltern, das sie nicht verlieren wollte. Auch wenn seit damals viel Scheisse passiert war und sie viel Scheisse gebaut hatte.
“Also ganz nüchtern betrachtet…”, setzte ich an und verzog kurz die Stirn, während ich so über meine Familie nachdachte. Mittlerweile kannte ich niemanden davon mehr wirklich persönlich. Ich wusste nicht, was in ihren Leben so vorging. Woher auch? “...sind meine Eltern wahrscheinlich sogar die Personen, die in meinem Familienkreis am wenigsten sesshaft geworden sind. Sie sind die einzigen mit nur einem Kind, das auch noch überdurchschnittlich früh wieder aus dem Haus und eigentlich noch gar nicht vorgesehen war.”, schnaubte ich nun meinerseits ironisch. Im Grunde verlief mein Leben nicht so unterschiedlich zu dem meiner Eltern: Ich war bis zu meinem Absturz genauso ehrgeizig gewesen, was die Karriere anging. Meine Mutter war beruflich zeitweise viel unterwegs – gewesen? – und ich war quasi nie Zuhause gewesen, seit ich in der Militärschule gesessen hatte. Nur den Patzer mit dem Kind, den hatte ich nicht gemacht. Ich schüttelte den Kopf und griff erneut nach meinem Wasser. “Vegiss’ einfach, was ich eben gesagt habe. Vermutlich wird mir irgendein Baby in die Arme gedrückt werden, von dem ich jetzt gerade noch gar nicht weiß, dass es überhaupt existiert.” Diesen sarkastisch ausgesprochenen Gedanken ertränkte ich in einem Schluck Wasser, weil ich mir sonst vielleicht die Sache mit dem Kekse im Kinderheim backen gleich selbst ausredete. Schon der Gedanke an irgendein Neugeborenes, das hilflos in meinen Armen hing und mich mit seinen überdimensionalen, unschuldigen Augen anstarrte, erzeugte ein innerliches Schütteln. Kaum stand mein Glas wieder auf dem Tisch, setzte Faye zu einer ausführlichen Rechtfertigung an, die mein Grinsen weiter provozierte. Erst nur wegen der Rechtfertigung an sich, dann aber auch wegen dem kleinen Detail, dass wir uns ziemlich rechtswidrig kennengelernt hatten. Ich hob währenddessen schon beschwichtigend die Handflächen nach oben, bevor sie zurück auf den Tisch sackten. “Für deinen Körper schon.”, konnte ich zumindest einen Hauch von Klugscheißerei nicht zurückhalten, auch wenn ich es wenigstens mit einem schiefen Grinsen verpackte. Es war schlichtweg nur ihr Kopf, der bei diesen Situationen eine Differenz machte. “Aber versteh schon, versteh schon… ist mir hier und da ja durchaus aufgefallen.”, beschwichtigte ich Faye im Anschluss auch wörtlich ein bisschen. Ich erinnerte mich noch daran, wie sie das Graffitis sprühen abgelehnt hatte. Und noch besser daran, wie oft ich ihre Körbe geschluckt hatte, auch wenn das nichts mit staatlichen Gesetzen zu tun hatte. Das lag eher an ihrer hohen Hemmschwelle, gesellschaftlichen Normen und sehr vielen, sehr komplizierten Gefühlen und Umständen. Jedenfalls konnte ich mir für unsere wahrscheinlich sowieso keinen Bestand habende Freundschaft merken, dass ein Fallschirmsprung nicht vom Tisch war. Vielleicht brauchte ich irgendwann ja doch nochmal ein Geburtstagsgeschenk für Faye. Sie kam dann kurzum auf meine eigene – ihrer Vermutung nach nicht vorhandene – kriminelle Laufbahn zu sprechen. “Allem voran gilt die Devise, dass wer sich nicht erwischen lässt, auch nicht straffällig wird… zumindest nicht vorm Gesetz.”, erklärte ich trocken, schüttelte dann jedoch leicht den Kopf. “Aber nein, was wirklich Schlimmes hab ich nicht verbockt. Das wäre wahrscheinlich erst später gekommen, wenn ich nicht ins Internat gesteckt worden wäre.” Zumindest hielt ich das für möglich. Ich wäre zwar nach meinen heutigen Erkenntnissen kein begnadeter Verbrecher geworden, aber die Dinge hätten ganz anders laufen können, hätten meine Eltern nicht die Reißleine gezogen. “Aber ich für meinen Teil hab weit mehr als einmal in Prüfungen beschissen, weil ich keine Lust auf den Schulstoff hatte. Zu trocken, zu langweilig.” Ich zuckte mit den Schultern. “Dann war da eben noch die etwas heftige Randale an Silvester, weswegen ich da dann nicht mehr alleine raus durfte… und die Graffitis, aber da wurde ich auch nie erwischt. Damals war ich noch ein bisschen schneller zu Fuß, musst du wissen.” Im letzten Satz schwang eine gute Prise Humor mit. Kurz darauf kam der Kellner mit unseren Vorspeisen an den Tisch, weshalb ich meine Erzählung unterbrechen musste. Er wünschte uns guten Appetit, woraufhin ich ihm mit einem Nicken lächelnd dankte, bevor meine Augen ohne Umschweife zurück in Fayes Richtung schwankten. “Und ich hatte dir ja erzählt, dass ich mit meinem Dad rumgeschraubt habe… ich hab’ aus Trotz über eine verhängte Ausgangssperre den Truck kurz geschlossen und bin damit rumgefahren. Mit fast 14. Wäre der Cop, der mich wegen der Schlangenlinien gestoppt hat, kein Freund aus der Nachbarschaft gewesen und hätten sie damals nicht schon die Zusage von der Army für die Schule gehabt, wäre das wohl mein erster Eintrag in die Strafakte geworden.”, vollendete ich meine glorreiche semi-kriminelle Laufbahn vor meinem Einzug ins Militär. Dabei ließ ich eine ganze Menge an Kleinkram aus. Sowas wie Kaugummis klauen – Dinge, die beinahe jedes Kind außer Faye irgendwann mal gemacht hatte. “Und jetzt will ich dich nicht weiter vom Essen abhalten, also lass es dir schmecken.”
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Scheinbar waren seine Eltern auch nicht ganz so begeisterte Verfechter der standardmässigen Lebensführung von wegen Schule, heiraten, Kinder kriegen, alt werden, sterben, Ende. Konnte sie ihnen nicht verübeln, aber darauf war ihre Aussage eigentlich auch nicht bezogen gewesen. Trotzdem zog sie etwas die Augenbrauen hoch, als er mal eben im Nebensatz erwähnte, ein ungeplantes Kind gewesen zu sein. Das hatte sie nicht gewusst. Im Grunde war es für sie natürlich auch nicht unbedingt relevant. Sie verstand trotzdem nicht, warum Eltern ihren Kindern mitteilen mussten, dass sie Unfälle gewesen waren. Sie konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass das vollkommen folgenlos an einem Menschen vorbeiging. Schon gar nicht an einem Kind, für das die Liebe seiner Eltern noch so wichtig war. Wenn es also nicht absolut sonnenklar war und darüber gar nicht gesprochen werden musste, konnte sie wenig Verständnis dafür aufbringen, solche Dinge jemals zu erwähnen. Und sie war sonst bekanntlich ein eigentlich sehr verständnisvoller Mensch. Aber sie sollte sich wahrscheinlich nicht an diesem Wort aufhängen, wenn er im nächsten Satz direkt wieder davon ablenkte. Trotzdem wanderte auch ihre zweite Augenbraue Richtung Haaransatz, als er das noch unbekannte Baby erwähnte. "Juhu", machte sie sarkastisch, weil er durchaus erfreut über Nachwuchs in der Verwandtschaft klang. "Darüber musst du dir aber sicher keine zu grossen Gedanken machen - normalerweise findet sich relativ schnell irgendeine Oma, die dir das Kind wieder abnimmt, weil sie es sowieso kaum erwarten kann, es in den eigenen Armen zu wiegen", beruhigte sie ihn sarkastisch. Nicht, dass sie sehr viel Erfahrung in dieser Thematik hätte. Ihre Verwandtschaft war bekanntlich klein und sie konnte sich an kein Familienfest mit Baby erinnern. Aber es war kein Geheimnis, dass Säuglinge gerne herumgereicht wurden, weil alle etwas von ihnen haben wollten. Also würde das kein langes Problem für ihn werden. Ob ihr Körper oder ihr Kopf den Unterschied im Adrenalin definierte, war ihr eigentlich sehr egal, weshalb sie auf seine Korrektur hin erstmal mit den Augen rollte. "Danke für den Hinweis", meinte Faye sarkastisch, wobei ihre gespielte Genervtheit von ihrem wieder aufkeimenden Lächeln untergraben wurde. Sie blieb gedanklich nicht lange bei ihrer Definition von Adrenalinschüben stecken, da er gleich mit ein paar Anekdoten seiner kriminellen Laufbahn fortfuhr. Alles davon liess ihr Lächeln weiter wachsen, wobei sie schwach den Kopf schüttelte, bevor der Kellner Ryatt unterbrach. Die Graffitis hatten sie schonmal besprochen, daran konnte sie sich also bestens erinnern. Genau wie die Silvesterrandale. Apropos Silvester... Nein, sie sollte wohl besser nicht daran denken. An letztes Jahr nicht und an dieses Jahr auch nicht. Das musste sie noch mit Victor besprechen, wie ihr gerade einfiel. Glücklicherweise war es nicht das Einzige, haha. Auch Faye bedankte sich beim Kellner, ehe ihr Blick vorfreudig auf ihren Teller glitt. Der Salat sah super aus und auch wenn sie sich noch mehr auf die Pizza freute, machte ihr Magen plötzlich sehr deutlich, dass sie hungrig war. Gutes Essen half oft massgeblich dabei, dieses Gefühl zu fördern, das bei ihr bekanntlich gerne verloren ging in Zeiten wie diesen. "Guten Appetit", blickte sie nochmal zu Ryatt auf, bevor sie die Gabel das erste Mal im Salat versenkte. Erst zwei Mundvoll später nahm sie sich wieder Zeit für eine Unterbrechung, um auf seine letzte Ausführungen einzugehen. "Klingt gut. Dann bist du jeweils selbst zur Schule hin und am Wochenende wieder nachhause zurückgefahren?", erkundigte sie sich grinsend. Das Bild vor ihrem inneren Auge war ziemlich unterhaltsam. Ein vierzehnjähriger Ryatt, der in Schlangenlinien einen übergrossen Truck auf einen Schulparkplatz manövrierte, dabei jeden Randstein touchierte, dem er begegnete, und am Ende drei Parkfelder besetzend anhielt, sich den Schweiss von der Stirn wischte und den Motor ausmachte.
Damit könnte die zierliche Brünette durchaus Recht behalten. Zumindest in der Theorie, weil ich im Grunde überhaupt keine Ahnung davon hatte, wer beim diesjährigen Weihnachtsfest alles mit von der Partie war. “Nachdem ich bewusst nicht nach einer Gästeliste gefragt habe, um mich nicht selbst im Voraus zu verschrecken, hoffe ich einfach, dass du damit richtig liegen wirst oder erst gar kein Baby auftaucht.”, meinte ich mit verhältnismäßig viel Optimismus, wenn auch mit trockener Ironie. Schlimmstenfalls lehnte ich einfach von vornherein ab, mir das Kind in die Arme drücken zu lassen. Dann war vielleicht eine meiner Cousinen beleidigt, aber nachdem ich ohnehin nicht wieder in die Heimat ziehen wollte, war das im Grunde halb so schlimm. Nicht nett vielleicht, aber mein Leben beeinträchtigen würde es nicht. Mit dem Augenrollen hatte ich schon kalkuliert. Genauso wie mit dem verlockenden Duft von frisch gebackenem Teig, der vom Teller in meine Nase stieg. “Danke”, lächelte ich Faye noch entgegen, bevor auch ich mich über die Vorspeise herzumachen begann. Das Pizzabrot hielt geschmacklich das ein, was es auch optisch schon versprach – knusprig dünner Teig mit im Vergleich zu richtiger Pizza etwas spärlicherem Belag aus kleinen Tomaten, Mozzarella und ein paar Blättern Basilikum. Angenehm abgerundet durch Gewürze und etwas Öl, ich nickte schon beim ersten Bissen zufrieden vor mich hin. Ein kurzer Blick zu Faye verriet, dass sie ihren Salat nicht nächstens aus Unzufriedenheit vom Tisch fegen würde, was für mich erstmal reichte, um ausnahmsweise kommentarlos weiter zu essen. Die Brünette unterbrach mich mit einer Frage zu der Fahrerei, als ich gerade noch kaute und deshalb zuerst nur amüsiert die Mundwinkel nach oben zog, bis der Mund leer war. “Schön wärs gewesen… dann wär ich von Anfang an der Coolste gewesen und es hätte mir die lästigen Zugfahrten erspart.”, sprang ich zuerst auf die witzige Schiene mit auf. Anfangs hatte ich Probleme mit sozialem Anschluss an der Academy gehabt. Die meisten anderen Jugendlichen, die dort hingeschickt wurden, waren nämlich eher schon Zuhause ordentlich gedrillt worden und demnach nicht so scharf drauf, sich mit Jemandem abzugeben, der Probleme macht. Mir war hingegen eher zugute gekommen, dass mich einige meiner Lehrer als durchaus begabt und schlau angesehen hatten, auch wenn mir noch die richtige Richtung gefehlt hatte, um das auch zu nutzen. Im ins Muster zwängen war die amerikanische Armee bekanntlich sehr gut, daran hatte meine Aufnahme also nicht scheitern müssen. “Auf jeden Fall bin ich froh darüber, dass ich heute besser Auto fahre als mit 14.”, meinte ich weiter, um mich von den vorherigen Gedanken abzulenken. “Wie waren deine ersten Fahrstunden?”, fragte ich, während ich die nächste Ecke des Pizzabrots anvisierte. Vor den Lippen hielt ich aber nochmal inne und hängte weitere Worte an: “Hattest du Angst oder warst du total heiß drauf?” Heute war Faye eine tendenziell übervorsichtige Person, was man ihr bei dieser Vergangenheit absolut nicht verdenken konnte. Autofahren konnte einen im ersten Moment leicht überfordern, aber vielleicht hatte die damals teilweise noch anders tickende, junge Faye viel mehr schon die ersten Ausflüge mit ihren Freundinnen vor ihrem inneren Auge gesehen. Die Freiheit zum Greifen nah… den Part mit der wilden Jugend hatte ich selbst komplett geskipt.
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Klar, die Option von gar kein Baby könnte auch eintreffen, um Ryatt glücklich zu stimmen. Sie hatte keine Ahnung von seiner Verwandtschaft, konnte somit auch absolut nicht einschätzen, welche der Möglichkeiten am Wahrscheinlichsten zutreffen würde. Egal wie die Sache ausging, war Faye sich aber sicher, dass er es überleben würde. So schlimm konnten diese Familienfeste für ihn gar nicht sein, sonst wäre er nicht auf die Idee gekommen, die lange Abwesenheit in seinem Elternhaus ausgerechnet an Weihnachten zu beenden. "Vielleicht gibts ja auch ein Baby und letztendlich findest du das so toll, dass du dich inspiriert fühlst und auf tolle Ideen kommst", plapperte sie mit der gleichen Ironie weiter, die er ihr davor aufgetischt hatte. Plus ein bisschen mehr vielleicht, da es mehr als nur ein bisschen unwahrscheinlich war, dass Ryatt vom Anblick eines einzigen Babys einen Kinderwunsch entwickelte. Im Kinderheim hatte er jeden Tag Kinder gesehen und ihr Informationsstand war trotzdem, dass er sich in seiner Zukunft nicht als Vater sah. Zudem müssten dafür erst einmal ein paar andere Faktoren eingerenkt werden. Aber das kümmerte an diesem Tisch hoffentlich aktuell niemanden, da sie sich besser mit dem eben angerichteten Essen beschäftigen sollten, das ihnen vor die Nasen gestellt wurde. Der köstliche Duft von Ryatts Pizzabrot stieg ihr in die Nase, während sie sich an dem frischen Salat gütlich tat. Sie griff gerade nach einem Stück Brot aus dem Körbchen, welches der Kellner neben ihrem Salatteller auf den Tisch platziert hatte - stellte entzückt fest, dass dieses trotz der Tageszeit noch (oder wieder) warm war - während Ryatt wieder zur Unterhaltung ansetzte. Scheinbar war Zug- statt Autofahren angesagt gewesen, auch wenn das dem 14-jährigen Rebellen kaum gepasst haben dürfte. Die Militärschule musste ziemlich klare Regeln und Konsequenzen gesetzt haben, wenn er tatsächlich unbegleitet in einem Zug angereist und letztendlich doch angekommen war. Aber das überraschte sie nicht, er hatte längst deutlich genug kommuniziert, dass diese Schule nicht sehr offen für Fehltritte gewesen war. Sie lachte leise in sich hinein, als er seine verbesserten Fahrskills erwähnte, kaute ohne Eile ihren Salat fertig, bevor sie zu einer Antwort auf seine Frage ausholte. "Darüber bin ich auch froh, auch wenn ich bis vor ein paar Tagen nie Beifahrerin in deinem Auto gewesen war", liess sie es sich nicht nehmen, zuerst noch seine Fahrkünste zu kommunizieren. Auf dieser einen Fahrt hatte sie deutlich genügend andere Probleme gehabt, als dass sie sich auf seinen Fahrstil konzentriert hätte. Aber sie ging davon aus, dass dieser nicht schlecht ausfallen dürfte, sonst hätte sie es ja wohl gemerkt. "Meine ersten Fahrstunden waren... hmm... ambitioniert aber ein bisschen ernüchternd", fasste sie ihr eigenes Erlebnis in vier Worten zusammen, lächelte ihn dabei schief über den Tisch hinweg an. "Ich hab mich gefreut, sehr sogar. Wie du weisst, wollte ich Rettungssanitäterin werden, seit immer. Exzellente Fahrkünste sollten dabei Teil des Portfolios sein. Meine waren zu Beginn eher interessant als exzellent. Den wagemutigen Aspekt hatte ich schnell im Griff, das mit der allgemeinen Kalkulation und Koordination hat etwas länger gedauert. Aber hey, ich habs geschafft", führte sie aus, hob zum Schluss ihr Wasserglas zu einem Toast, als gäbe es tatsächlich etwas zu feiern. "Und du so? Wahrscheinlich etwas weniger ungeschickt, wenn du seit so jung schon mit Autos gebastelt hast. Oder ist das nur eines dieser unwahren Vorurteile?"
Das Kopfschütteln, das auf Fayes wenig ernst gemeinte neue Möglichkeit der weihnachtlichen Familienzusammenkunft folgte, kam quasi sofort. Es war möglich, dass ich falsch damit lag, dass sich meine Meinung bezüglich des Kinderthemas niemals ändern würde. Vielleicht fehlte mir nur die richtige Partnerin dafür, die alles änderte. Daran glaubte ich zum jetzigen Zeitpunkt allerdings absolut nicht, weil meine Meinung dazu in Stein gemeißelt war. Die Zukünftige müsste mit extrem schwerem Geschütz aufwarten. Kategorie Presslufthammer bis Abrissbirne. “Das ist von allen Szenarios das mit Abstand unwahrscheinlichste.”, sprach ich amüsiert aus, was Faye längst selbst wusste. Mein leicht verzogenes Gesicht untermauerte meine Aussage überflüssigerweise zusätzlich. Die Brünette zeigte sich nicht weniger froh über meinen Werdegang hinterm Steuer, als ich selbst. Obwohl sie wie erwähnt eigentlich so gut wie nie mit mir Auto gefahren war. Ich ließ sie – weil ich noch kaute – erst ihre eigene Vorgeschichte mit Autos vollenden, bevor ich zu einer vollumfänglichen Antwort ansetzte. “Ist echt ein Jammer, dass ich damals keine Kohle für den Sprit hatte… der Truck war trotz seines Alters ziemlich komfortabel. War immer ein gutes Gefühl, etwas weiter oben als alle anderen zu sitzen… vielleicht ähnlich, wie in einem Krankenwagen. Leider hab ich's mir da ja lieber im hinteren Teil bequem gemacht.”, legte ich meine Gedankengänge humorvoll offen, seufzte zwischendurch jedoch einmal leise. Ich hatte nichts gegen den Kombi, den ich jetzt fuhr. Der Leihwagen war ein gutes, fast neues Auto, das nie Zicken machte und sich super fahren ließ – aber es war eben nicht der Truck, den ich nur mit viel Überwindung verkauft hatte, weil so viele Erinnerungen daran gehangen hatten. Womit wir, wie so oft, mal wieder an dem Punkt waren, dass sehr viele sehr beschissene Dinge nie passiert wären, hätte ich mich gar nicht erst so tief in die Scheiße geritten. Es hätte mir eigentlich selbst einfallen können, dass Faye auch wegen ihres damaligen Traumjobs alsbald hinters Steuer gewollt hatte. Ich lächelte bis jetzt noch stetig weiter vor mich hin. “Ich hatte jedenfalls noch nie was an deinem Fahrstil zu meckern, soweit ich mich erinnern kann.”, bestätigte ich, dass sie es geschafft hatte. Es war aber wahrscheinlich auch schwer, ein schlechter Autofahrer zu bleiben, wenn man fast täglich durch die Arbeit auf den Straßen unterwegs war. Falls doch, sollte man über einen Berufswechsel nachdenken – erst recht, wenn man Fahrzeuge mit Verletzten darin beförderte. “Was mich selbst angeht, wären wohl alle froh gewesen, wenn das Rumschrauben automatisch einen guten Autofahrer aus mir gemacht hätte. Zumindest meinem Fahrlehrer hätte das zwei bis drei halbe Herzinfarkte erspart, weil ich auch dabei etwas überambitioniert war… also definitiv ein unberechtigtes Vorurteil. Mein Dad hat mich zwar ein paar Mal hinterm Steuer sitzen lassen, aber dabei war der Wagen immer aus. Jedenfalls bis zu meinem erwähnten Alleingang, bei dem ich noch kaum an die Pedalen gekommen bin, weil der Wachstumsschub da noch ausstand.”, grinste ich, mir meiner Schuld von damals vollumfänglich bewusst. Nur weil man wusste, wie das Innenleben eines Autos funktionierte, hatte man nicht automatisch schon ein Gefühl für Lenkrad und Pedale. Die noch zu kurzen Beine hatten die Schlangenlinien bei der verbotenen Fahrt in jedem Fall massiv begünstigt. “Ich war vielleicht nicht ungeschickt, aber für einen Anfänger viel zu dynamisch unterwegs. In diesem Sinne war es also sicherlich gut, dass mein Führerschein ebenfalls über die strikte Schule abgewickelt wurde.” Auch was das anging, kochte in diesem Land jeder Staat sein eigenes Süppchen und die Militärschule selbst war nochmal eine Stufe strikter gewesen. Aus dem simplen Grund, dass von vornherein klar war, dass die Schüler zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Kriegsgebiete fahren würden und das nicht mit 0815-Autos. Nach dem Aushändigen des gewöhnlichen Führerscheins hatte es also noch einen Haufen Zusatzstunden dafür gegeben, um auch wirklich sicher im Umgang mit Fahrzeugen zu werden. “Irgendwann… wenn klar ist, wo ich bleiben möchte und keine akuten Umzüge mehr anstehen... wird’s trotzdem wieder ein Pickup.”, schloss ich meine Erzählung mit kleinem Ziel für die Zukunft vor mich hin nickend ab, ehe ich mich den letzten paar Happen Pizzabrot widmete. Materielle Dinge machten nur bis zu einem gewissen Maß glücklich, das hatte ich nach meinem Rauswurf aus der Army leider auf die harte Tour festgestellt. Es ging mir jedoch viel mehr wieder um eine kleine Anekdote meiner Erinnerung an die Bastelei mit meinem Vater. Selbst dabei war ich manchmal anstrengend und ungeduldig gewesen, aber doch immer irgendwie zur Ruhe gekommen. Meine Kindheit war nicht super verlaufen, aber an dieser guten Erinnerung hielt ich seit jeher gerne fest.
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Abgesehen davon, dass er das sowieso am besten einschätzen konnte, war sie sowieso bereits schwer von dieser oder einer ähnlichen Antwort ausgegangen. Der akute Kinderwunsch war, wie er bestimmt schon richtig verstanden hatte, nicht ganz ernst gemeint gewesen. Faye verzichtete ihrerseits abgesehen von einem Lächeln und einem unwissenden Schulterzucken auf weitere Kommentare zum Thema. Besonders wollte sie lieber nicht bewerten, ob das nun gut oder schlecht war so. Sie vertrat im Allgemeinen die Meinung, dass Menschen, die eigentlich keine Kinder wollten, auch eher keine Kinder haben sollten. Das würde nur nicht mehr zutreffen, wenn das fremde Baby tatsächlich zum eigenen Kinderwunsch führte. Aber das waren ziemlich wilde Hypothesen. Dem Truck schien er hingegen eher nachzutrauern als einem nicht entstandenen, nicht erwünschten Kind. Was auch verständlich war, wenn man die Geschichte berücksichtigte, die er mit dem Fahrzeug verband. Es war nicht nur ein Auto für ihn gewesen, sondern eben ein Truck voller Erinnerungen. Sie hätte sich an seiner Stelle zweifellos auch nicht davon trennen wollen, wenn die Umstände es anders zugelassen hätten. "Ja, das kann ich mir bestens vorstellen... Auch wenn Innenausstattung und Motorleistung nicht ganz identisch sein dürften, kann ich immerhin beim höheren Sitz mitreden", bestätigte sie seine Vermutung. Viel mehr konnte sie auch dazu nicht sagen, da es keine aufmunternden Worte zu sprechen gab. Er würde den Truck nur sehr sehr unwahrscheinlich wiedersehen, wenn er sich nicht intensiv damit befasste. Und selbst dann könnte der Wagen mittlerweile ungefähr überall sein, Erfolg war also nichtmal dann vorprogrammiert. "Und sonst wäre jetzt ein guter Moment, um Kritik anzubringen", meinte sie grinsend bezüglich seines Urteils zu ihrem eigenen Fahrstil. Er hatte ja nicht vor, nochmal bei ihr einzusteigen, sie konnte ihn also auch nicht mehr eingeschnappt irgendwo stehen lassen, weil er ihre Fahrkünste kritisierte. Aber grundsätzlich wäre es natürlich besser, wenn sie jetzt schon so fuhr, dass er nichts auszusetzen hatte - ihre Patienten und Mitarbeitenden waren ihr bestimmt dankbar. Ryatt war für seinen Teil offenbar ebensowenig als Ausnahmetalent in seine Fahrkarriere gestartet wie sie. Ihre Vermutung machte er umgehend zunichte und seine Erzählungen malten erneut ein lebhaftes Bild vor ihrem inneren Auge, was sie trotz vollem Mund dezent lächeln liess. "Na dann... kann die Bevölkerung doch sehr froh sein, dass wir uns beide in den letzten Jahren noch ein bisschen positiv entfalten konnten", schloss sie auch dieses Thema grinsend ab. Es gab genügend Menschen, die nicht gut Autofahren konnten und es trotzdem zu oft und zu schnell taten. Besser, sie gehörten da nicht auch noch dazu. Sein Wunsch, irgendwann wieder einen Pickup zu fahren, liess sie ihn erneut etwas länger anschauen und leicht den Kopf schief legen, was fast automatisch passierte, wenn sie einen Gedanken gefasst hatte, den sie innerlich noch etwas weiter spinnen wollte. "Klingt nach einem realistischen Plan", nickte sie schliesslich langsam und liess dem erst eine weitere Gabel Salat folgen, was zu einer kurzen Pause bis zu ihrer nächsten Frage führte. "Hast oder hattest du noch andere solche Wünsche? Ich find' sowas immer cool. Meistens wird ja nur von Heiraten und Kinder kriegen als Fernziele gesprochen, aber manchmal ist ein Garten mit Pool oder eben ein Pickup in der Einfahrt mindestens genauso interessant", konnten ja auch kleinere Sachen sein. Aber spannend war es sowieso.
“Nein, keine Kritik… und du weißt, ich würde sie mit dieser Form einer Erlaubnis jetzt definitiv aussprechen, wenn es welche gäbe.”, ließ ich Faye mit schiefem Grinsen wissen, dass es nichts zu beanstanden gab. Selbst wenn es anders wäre, würde ich lieber weiter mit ihr und ihrem grausamen Fahrstil Richtung Los Angeles in ihrem Wagen feststecken, als sie ziehen zu lassen. Nichts Neues, aber seit heute morgen wiederholten sich ähnliche solcher Gedankengänge noch öfter als sonst. Ob es jetzt allerdings viel besser war, mich in Fayes großen Augen zu verlieren, weil sie kurz darauf über irgendwas nachzudenken schien, sei mal dahingestellt. Es ließ mich nur ein kurzes “Jep.” aussprechen, als sie mir ihren Gedanken zu dem zukünftigen Truck mitteilte. Ich überbrückte etwas Zeit mit der Serviette, mit der ich mir die Mundwinkel abwischte. Es blieb aber auch bei Fayes folgender Frage bis auf ein hörbares Ausatmen mit leicht aufgeblasenen Backen meinerseits erstmal still. “Ich weiß nicht… materielle Dinge sind mir nur noch in seltenen Fällen wichtig, seit ich auf der Straße gesessen habe.”, startete ich ein paar Sekunden später meine kurze Aufzählung in den Stuhl zurückgelehnt mit einer Feststellung. Meine Augen visierten den krümeligen, ansonsten aber leeren Teller direkt vor mir auf dem Tisch an. Kurz darauf hob ich den Blick an und sah erneut in Fayes Gesicht. “Einen Club fühl’ ich nicht mehr so. Vielleicht werd’ ich einfach nur alt, immerhin geh’ ich jetzt stark auf die 33 zu”, was eigentlich nicht wirklich alt war und deswegen entsprechend ironisch von mir verpackt war, “aber eine Bar zu pachten oder zu kaufen, könnte ich mir noch vorstellen. Das ist nicht ganz so laut und man trifft trotzdem ständig neue Leute… was nicht heißen soll, dass ich das mit den richtigen Freundschaften gerade wieder verworfen habe, aber ich mag das einfach.” Ich zuckte mit den Schultern. Der Typ für viele enge Freundschaften war ich noch nie gewesen und bekanntlich lebte ich für Abwechslung. Mit zwei oder drei guten Freunden wäre ich ausreichend bedient, alle anderen Menschen auf platonischer Ebene durften gerne nur Bekanntschaften für eine Nacht am Tresen sein. “Vielleicht wirds auch irgendwas anderes. Ich denke nur, was eigenes in welcher Form auch immer zu haben, würde mir in jedem Fall gut tun. Mir ständig auf die Zunge zu beißen stresst mich und mehr als nochmal pleite zu gehen kann mir ja eigentlich nicht passieren.” Nochmal trockener Sarkasmus, aber ich würde denselben Fehler so nicht nochmal machen und schon gar nicht wieder mit irgendwelchen kriminellen Arschlöchern anecken. Fehler zu machen war gut, denselben Fehler zweimal zu machen hingegen mindestes sehr naiv. “Ein paar Tattoos will ich noch… aber ich hab noch keine Vorstellung davon, was und wohin. Das hat gerade noch nicht genug Priorität.”, meinte ich weiter. Faye musste ich ja nicht erst erklären, worüber ich mir sonst so den Schädel zerbrochen hatte. “Und eben Bucket 2.0, vielleicht finde ich sogar einen hinkenden Streuner im Tierheim.” Das ich irgendwann gerne wieder einen Hund hätte, hatte ich Faye schon mal erzählt, war mir in dieser Liste mit Dingen und potenziellen zukünftigen Familienmitgliedern aber der Vollständigkeit halber wichtig. Das einzige kleine Zeichen für Nervosität wegen der noch folgenden Worte war der Zeigefinger meiner rechten Hand, der mit zeitlichem Abstand ein paar Mal leicht auf die Tischplatte tippte. “Und auch wenn Kinder bei mir gestrichen sind und mir zu Heiraten bisher nicht unbedingt wichtig ist, wärs schon schön, irgendwann mal gesunde Liebe zu finden. Aber das ist noch ein längerer Weg, auf dem ich mich lieber nicht stressen lasse, weil sonst bestimmt nichts Gutes passiert.” Nach diesen teilweise etwas undeutlich gesprochenen Sätzen wandte ich den Blick erstmals kurz von Faye ab, um stattdessen zu einem der Nachbartische zu sehen. Dort speiste ein offensichtlich noch frisch verliebtes, sehr glücklich wirkendes Paar. Vielleicht war ich auf ewig dazu verdammt, von einer komplizierten Beziehung in die nächste zu stolpern. Dennoch wollte ich lieben, sonst wäre mir das mit Faye nicht passiert. Das hatte ich nämlich von vornherein besser gewusst und trotzdem saß ich jetzt hier, um mich mit stechendem Herzen von ihr zu verabschieden. Weil sie das verdient hatte nach allem, was sie wegen mir durchgemacht hatte. Doch ich sollte die Tragödie mit Avery – und die gefühlsmäßig sehr schwierige Angelegenheit mit Faye – erst in Ruhe abschließen und verstehen, bevor ich erneut auf die dumme Idee kam, irgendjemandem in seine schon vorhandene Beziehung zu pfuschen. "Du wirst sicherlich heiraten, oder? Es würde mich wundern, wenn nicht.", während dieser Worte drehte ich meinen Kopf mit einem schmalen, aber aufrichtigen Lächeln zurück in Fayes Richtung. Ich wünschte ihr ehrlich, dass sie glücklich wurde, ganz gleich wie und mit wem sie das erreichen würde. Mein Schmerz würde vergehen, irgendwann. Hoffentlich mehr früher als später.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Er schien tatsächlich zufrieden zu sein mit ihren Fahrkünsten, wie er gleich nochmal verlautete. Das war natürlich schön und darauf hatte sie auch nichts mehr zu erwidern bis auf ein ebenso zufriedenes Lächeln. Das blieb auch mehr oder weniger bestehen, als er sich gedanklich mit ihrer Frage beschäftigte, schmälerte sich nur, weil sie sich derweil an den verbleibenden zwei Gabeln Salat gütlich tat. Als auch ihr Teller leer war, schob sie diesen ein paar Zentimeter zurück und lehnte sich abwartend in den Stuhl, während ihre Augen zurück zu Ryatt fanden. Sie nickte schwach auf seine Feststellung betreffend der materiellen Dinge, die bekanntlich nur begrenzt zum Glück führten. Dem konnte sie nur zustimmen. Sie war nie wirklich auf solche Sachen fixiert gewesen, aber doch hatte es auch in ihrem Leben stetig an Wert verloren. Würde jedoch vielleicht wieder zunehmen, wenn sie an das schöne Haus in LA dachte, das Victor und sie irgendwann in Zukunft ganz gerne besitzen möchten. Zumindest hatten sie davon schon gesprochen. Sie sehnte sich weniger nach dem Haus als nach den ganzen damit verbundenen Gefühlen. Nach dem Zuhause- und Angekommen-Sein, nach der Familie, die sie darin sein konnten, nach der Sicherheit, die ein Daheim bieten konnte und der Liebe, die darin wohnen würde... Scheinbar hatte auch der Club an Reiz verloren in der Zwischenzeit, aber das entlockte Faye nur ein leises Lachen. "Klar. Das muss ein schmerzhafter Unterschied zu 31 oder 32 sein, kann ich nachvollziehen...", stimmte sie ihm ebenso sarkastisch zu. Es überraschte sie aber auch nicht grossartig, dass er auf eine Bar oder nochmal was anderes umgeschwenkt war. Der Club war ja damals mehr nur eine Idee gewesen und solche Ideen und Pläne änderten sich im Laufe des Lebens oft genug. Jedenfalls die Details - der grobe Plan der Selbstständigkeit schien weiterhin zu bestehen. Eigentlich hatte Faye die Frage eher belanglos gestellt. Aber so wie Ryatt erzählte, fiel ihr auf, dass er tatsächlich gar nicht so schwammige Vorstellungen seiner Zukunft hatte. Vielleicht war das alles noch nicht sehr konkret, aber er hatte eine Idee der Richtung, in die er gehen wollte. Und diese Zeichnung seiner Zukunft rundete er mit ein paar Sätzen ab, die sie nun auch ihrerseits den Blick abwenden und auf den Tisch sinken liessen. Das wünschte sie ihm auch - sehr, sehr fest. Zugleich kam sie nicht umhin, sich zumindest ein bisschen schlecht zu fühlen, wenn er das so sagte. Es war nicht so, als hätte Ryatt ihr jemals direkt seine Liebe gestanden oder so. Aber dass er gerne mehr gehabt hätte, als sie bereit gewesen war, zu geben, war kein Geheimnis. "Das wünsch' ich dir auch... ganz fest. Wenn man sowas verdienen könnte, dann... hast dus auf jeden Fall verdient.", waren die zwei etwas zögerlichen Sätze, die sie darauf erwidern konnte und durchaus ernst meinte. Der Verlust von Avery allein hätte längst ausgereicht, um diesen "Status" zu erreichen. Er verdiente es, glücklich zu werden und das war ein Teil vom Glück. Oft sogar ein ziemlich grosser, wichtiger Teil. In diesem Bereich konnte sie ganz gut mitreden, wie auch Ryatts Anschlussfrage implizierte. Das selige Lächeln bahnte sich sofort einen Weg zurück in ihre Gesichtszüge, noch während sie unverändert den Teller musterte. "Ja... ich hätte ihn schon geheiratet, sobald wir aus Syrien zurück waren... Noch im Krankenhauszimmer, ohne mich richtig bewegen zu können. Wahrscheinlich hätte ich das Versprechen für die Ewigkeit sogar schon in den Wüstensand gezeichnet...", philosophierte sie leise in der Vergangenheit herum, bevor sie schwach mit den Schultern zuckte und ihrerseits zurück zu Ryatt blickte. "Aber Victor ist ein bisschen pragmatischer als ich... ein bisschen realistischer. Er plant ein bisschen umsichtiger. Er will schon auch heiraten, aber ich glaube, ihm ist es wichtig, dass wir zuerst unser Leben im Griff haben. Beide einzeln und beide zusammen. Ich glaube, für ihn ist die Hochzeit vielmehr ein Ziel, weisst du? Er will dorthin, aber das Heiraten soll am Ende die Krönung sein. Nicht nur irgendein anderer Meilenstein oder eine Nebensache. Zumindest ist das meine Erklärung dafür, dass ich bisher keinen Antrag bekommen habe, obwohl wir beide wissen, dass wir heiraten wollen.", schloss sie ihre umfangreiche Antwort, die Anstelle eines schlichten Ja auf seine Frage gefolgt war, mit einer kleinen Hypothese ab. Sie zweifelte nicht an Victors Liebe oder seinem Willen, zu heiraten. Es zeigte sich nur deutlich, dass das für ihn eine grössere Sache war als für sie. Eine grössere Frage vielleicht? Sie wusste es nicht. Vielleicht, weil er Victor war. Vielleicht, weil er schonmal verlobt gewesen war. Vielleicht, weil sie wirklich erstmal zur Ruhe kommen sollten.
“Du hast ja keiiine Ahnung.”, übertrieb ich maßlos, was mein Alter anbelangte. Gefühlt war ich zwar durchaus ein wenig gealtert, aber eher aufgrund der Geschehnisse und nicht wegen des steigenden Alters selbst. Ich war froh darüber, dass das Souvenir von Mateo sich deutlich besser aushalten ließ als die Stichwunde seines älteren Bruders damals – möge er auf ewig im Knast verrotten. Es piekte noch etwas, diesmal hatte sich aber nichts entzündet und es heilte quasi wie im Bilderbuch. Auf Fayes gute Wünsche nickte ich lächelnd vor mich hin, auch wenn ich mir nicht sicher war, inwiefern ich mir das denn wirklich verdient hatte. Zumindest vor Avery hatte ich mehr als ein Herz gebrochen und Faye gegenüber hatte ich mir in vielerlei Hinsicht grobe Patzer erlaubt, um es mild auszudrücken. Sie gab mir nur – im Gegensatz zu ein paar anderen Menschen – nie so richtig für irgendwas die Schuld oder zumindest nicht lange. Madame Karma musste mir jedenfalls nicht zwangsläufig positiv gesinnt sein. “Ich werd’ ganz vorbehaltlos einfach mal sehen, was die Zukunft da noch für mich bereit hält.”, schloss ich das Thema zügig und relativ neutral wieder ab. Mehr als abzuwarten blieb mir ohnehin nicht übrig. Wenn ich was gelernt hatte, dann dass ich die Liebe immer genau da fand, wo ich sie nicht erwartet hatte. Bevor ich auf Fayes Erklärung hinsichtlich ihrer eigenen Hochzeit antworten konnte, kam der Kellner bereits mit zwei anderen leeren Tellern bepackt an unserem Tisch vorbei. Er erkundigte sich kurz, ob alles geschmeckt hatte, was ich bejahen konnte, und ob wir irgendwelche offenen Wünsche hatten, was ich für jetzt wiederum erstmal verneinte. Als er unser Geschirr vom Tisch genommen hatte, verschwand er wieder in Richtung Küche. Faye und Victor hatten sicher genauso wenig geplant, sich im Krieg zu finden. Ein denkbarer ungünstiger Zeitpunkt für Liebe, wie ich leider selbst gut beurteilen konnte. “Eine unterhaltsame Vorstellung, die ganz zu dir als offensichtlich verträumte Romantikerin passt.”, schmunzelte ich. Manchmal kam es mir so vor, als würde Faye mindestens die Hälfte des Tages nur damit verbringen, sich irgendwelche Szenarien zu erträumen, die so nie eintrafen. Wahrscheinlich drehten sich davon auch alle nur um Victor und ihre Liebe zueinander, so wie sie bei dem eigentlich so simplen Thema ins Reden kam. Immerhin schienen die zwei sich mit dem Heiraten an sich schon mal einig zu sein. “Es klingt für mich nicht verkehrt, die Ehe mit Bedacht anzugehen…”, begann ich mein Fazit. Ich lehnte mich leicht nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und legte die Hände vor meinem Kinn ineinander. Darüber hinweg konnte ich Faye weiterhin entspannt ansehen und ich ließ genug Platz zwischen meinen Händen und den Lippen, um weiterhin gut verständlich zu klingen. “...bestenfalls heiratet man schließlich nur einmal im Leben, also sollte dafür alles passen, nicht? So gesehen ist sein Abwarten auf den besten Zeitpunkt schon irgendwie angebracht.” Man könnte es natürlich stattdessen auch auf die ungefähr tausend Stolpersteine in ihrer Beziehung schieben, dass die zwei noch keine Ringe trugen. Auf die lange Auszeit, die erst seit kurzem vorüber war und schon zu einer zweiten, wenn auch deutlich kürzeren Abwesenheit seinerseits geführt hatte. Nur konnte ich das alles überhaupt gar nicht beurteilen, weil Victor und ich uns im Grunde kein einziges Mal wie zwei normale Erwachsene miteinander unterhalten hatten. Faye würde schon Recht haben mit ihrer These, jedenfalls hoffte ich das für sie. “Vielleicht lässt er dich ja gar nicht mehr so lange mit dem Antrag warten, wenn euer Leben in L.A. sich erstmal eingependelt hat.” Ich zuckte lächelnd mit den Schulter. Das war wiederum nur eine Theorie meinerseits, die ich nicht mal irgendwie belegen konnte. Aber ich wünschte mir für Faye, dass sie nicht mehr gefühlt ewig darauf warten musste. Das wäre einfach fies, so viele Herzen wie sie in den Augen hatte, wenn sie nur darüber sprach. “Und Kinder? Seid ihr euch damit auch einig?” Wir redeten irgendwie immer nur darüber, dass ich keine Kinder wollte. Faye wäre allerdings sicher eine bessere Mutter, als ich ein Vater. Schon ihre Fürsorge für Menschen, die sie gar nicht kannte, war beispiellos. Wenn Victor sie bei der Überfürsorglichkeit ab und zu ein bisschen ausbremste, so wie er das schon mit der Hochzeit tat, könnte das funktionieren. Wusste man halt vorher nie und mir persönlich war das Risiko da viel zu groß, zu schlecht kalkulierbar. So manch anderer Mensch fand jedoch seine Bestimmung in der Familiengründung. Vielleicht suchte ich mit dieser Frage aber trotzdem nur nach guten Gründen dafür, warum das mit Faye und mir sowieso nie hätte hinhauen können. Dass wir teilweise sehr verschieden waren, war jetzt schon kein Geheimnis.
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Doch, sie ging eigentlich schon davon aus, die Sache mit dem Altern ausreichend einschätzen zu können. Aber seine Worte klangen jetzt auch nicht unbedingt ernst gemeint, weshalb eine Rechtfertigung kaum von Nöten sein dürfte. "Natürlich, Opa... wenn du meinst", pflichtete sie ihm somit mit kurz zuckenden Augenbrauen bei, um ihn gespielt in seiner Wahrheit zu unterstützen. Bei seinem Umgang mit dem Thema Liebe war sie hingegen schon eher bei ihm und nickte schwach lächelnd zur Bestätigung seiner Worte. Sie kannte sich nur begrenzt aus mit dieser Thematik, da sie fast den gesamten Teil ihres Erwachsenenlebens in langjährigen Beziehungen verbracht hatte. Aber hiess es nicht immer, dass man Liebe nicht suchen sollte? Dass sie irgendwann von selbst kam und einem im unerwartetsten Moment besuchte? Hatte sie ihre Freundinnen jedenfalls schon mehrfach sagen hören, wenn eine von ihnen mal wieder - oder noch immer - Single unterwegs war. Das mit dem unerwarteten Moment konnte sie selbst wunderbar bestätigen, den Rest konnte sie nicht beurteilen. Aber sie wollte es für Ryatt trotzdem hoffen. Auch Faye bedankte sich beim Kellner und bestätigte vorbehaltlos, dass der Salat wundervoll geschmeckt hatte. Sie war definitiv die Art von Person, die das auch sagen würde, wenn es überhaupt nicht stimmen würde - aber hier und heute brauchte sie keineswegs zu lügen und sie konnte sich weiterhin vollumfänglich auf ihre Pizza freuen. Daran änderte auch Ryatts Reaktion auf ihre Kundgebung bezüglich der ganzen Heiratssache nichts. Faye blieb weiterhin etwas zurückgelehnt sitzen, konnte sein Schulterzucken während er sprach zweimal erwidern. Ihre Augen wanderten einmal durchs Restaurant, streiften flüchtig die anderen Gäste, bevor sie wieder auf Ryatt zu liegen kamen. "Ich weiss. Ich glaube auch nicht, dass es falsch ist, dass wir noch nicht geheiratet haben. Warten ist sicher der durchdachtere Ansatz, er kommt ja von ihm. Ich sage nur, dass es von mir aus nicht nötig wäre", dass man bevorzugt nur einmal heiratete, unterstützte sie natürlich auch. Aber sie war sich schon relativ lange sehr sicher, dass es bei einmal bleiben würde, wenn es Victor wäre, dem sie das Ja-Wort gab. Die Hochzeit wäre aber natürlich schöner, wenn sie sie erst dann feierten, wenn sie gesund waren und mit beiden Beinen im Leben standen, das war klar. Wie lange das noch auf sich warten liess, wussten nur die Sterne und vielleicht Victor. "Wir werden sehen... es bleibt spannend", hielt sie sich relativ wage in ihren Voraussagen, lächelte Ryatt begleitet vom dritten Schulterzucken entgegen. Seine nächste Frage passte in die genau gleiche Sparte und würde sich eigentlich mit den exakt gleichen beiden Sätzen beantworten lassen. Faye zögerte aber trotzdem etwas, liess den Blick erneut ohne wirkliches Ziel wandern, bis er auf ihr Wasserglas absank, welches sie zwischen die Finger nahm, ohne es vom Tisch zu heben. "Noch nicht ganz", meinte sie schliesslich diplomatisch. "Wir sind uns einig, dass wir beide eigentlich gerne Kinder hätten... Aber ich weiss noch nicht, ob ich jemals bereit dazu sein werde. Meine Devise ist aktuell, dass ich erstmal das nächste Jahr abwarte und einfach mal sehe, was das so bringt...", begann sie, drehte das Wasserglas dabei langsam in den Händen. "Ich... möchte schon gerne zuerst meine Psyche soweit im Griff haben, dass ich glaube, dass ich mit der Verantwortung umgehen kann, die ein Kind mit sich bringt. Dass mich das nicht direkt in die nächste Krise schiebt. Dass ich ohne Probleme und ohne Medikamente schlafen kann. Dass meine Paranoia wirklich so weit wie möglich abgetötet ist und ich zumindest alles getan habe, was ich tun konnte, um keine gestörte, von Angst geprägte Beziehung auf ein potenzielles Baby zu projizieren. Aber wenn ich das hinkriege, dann ja. Möchten wir ein Kind oder auch mehrere", schloss sie und liess ihre Augen noch einen Moment auf dem Glas ruhen. Erst nachdem sie dieses angehoben und einen Schluck getrunken hatte, blickte sie mit einem schwachen Lächeln zu Ryatt. Wahrscheinlich hatte sie auch diese Frage zu umfangreich beantwortet. Vielleicht hätte sie das besser nicht getan. Sie wollte ihn nicht besorgen und hatte die letzten Tage über lieber so weit wie möglich Heile Welt gespielt. Aber das Kinderthema war ja auch nicht erst seit gestern eines, das mit sehr vielen Unsicherheiten verbunden war. Vielleicht wünschte sie sich einfach, dass sie innerlich besser damit klar kam, wenn sie mehr darüber redete. Dass sie eine Lösung fand und ihre Unsicherheiten und Ängste sich dank Gesprächen plötzlich auflösten. Oder sie zumindest Klarheit in ihren eigenen Wünschen fand. Nur war Ryatt vielleicht nicht ganz der richtige Empfänger für so viel Ehrlichkeit, was wusste sie...