Zur Auflockerung stellte er ihr tatsächlich einmal eine verhältnismässige einfache Frage. Also die Formulierung einer Antwort war einfach, die Ausführung dessen, was ihre Worte beinhalteten, eher weniger. "Ja, natürlich... Also erst, wenn er zurückkommt. Aber es wird ihn nicht freuen", bestätigte sie, dass sie schon vorhatte, Victor darüber zu informieren. Er wusste ja jetzt schon, dass sie sich nicht gerade selten mit Ryatt traf. Vielleicht hatte er diesbezüglich sogar schon seine Vermutungen aufgestellt, wollte es nur nicht am Telefon mit ihr besprechen. Genau wie sie eben auch nicht die eine Stunde, die sie alle vier Wochen vergönnt bekam, damit verschwenden wollte, Victor über das Chaos in ihrem Kopf und Herzen aufzuklären. Und damit, ihm zu sagen, dass der Kuss nun eben doch passiert war. Er hatte die Frau - sie nahm jetzt einfach mal an, dass die Person, welche ihm am Wichtigsten gewesen war, die Frau war, welche er bereits in der Silvesternacht erwähnt hatte - also wie erwartet nicht absichtlich in den Tod geschickt. Wie viel Schuld konnte er dann wirklich an diesem Verlust tragen? Es erinnerte sie ein bisschen an all die Menschen auf dem Schlachtfeld, die sie nicht hatte retten können. Sie hatte über eine lange Zeit lernen müssen, dass diese Leute nicht wegen ihr gestorben waren, dass es eben nicht ihre Schuld war, obwohl jemand anderes sie vielleicht hätte retten können. Die Verbindung zwischen Ryatt und dem Tod der Frau war sicherlich enger und persönlicher als das bei ihr der Fall gewesen war. Bestimmt war sie auch sehr viel schmerzhafter und wahrscheinlich war genau das der Grund, weshalb er sich nicht von den Schuldgefühlen lossagen konnte. Aber sie waren nicht an dem Punkt im Gespräch, an dem sie zu diesem Thema Psychologin spielen sollte. Er hatte ihr ja noch gar keine Geschichte dazu erzählt, sie konnte also nur spekulieren. Und ausserdem machte der fehlende Wortlaut seiner Antwort klar, dass er gerade überhaupt nicht mit ihr darüber reden wollte und sich auch nicht weiter ausführen würde. Lieber stellte er erstmal klar, dass Victor nicht nur wegen ihr, sondern eben auch wegen ihm fast abgekratzt wäre. Mochte stimmen. Aber ohne sie hätten Ryatt und Victor sich nie kennengelernt und ohne sie hätte Seans Familie todsicher nie Victors Namen in den Mund genommen. Sie schwieg dazu, wobei ihr Blick aber trotzdem verriet, dass sie an ihrer ursprünglichen Meinung festhielt. Wie gesagt aber kein Wettkampf, den sie gewinnen wollte. Sie fand es wesentlich schöner, zu hören, dass ihm scheinbar ausreichend bewusst war, dass sie ihn für Vergangenes nicht verurteilte. Das war für sie viel wichtiger als wer genau nun wie viel Schuld an was auch immer trug. "Ich... find' schön, dass du's versuchst. Wirklich. Ich schätze das... Auch wenn die Umstände und die Themen schwierig sind und das Gespräch nicht angenehm und der Abend wahrscheinlich schöner geendet hätte, wenn ich vor einer Stunde gegangen wäre und mich jetzt höchstens alleine mit diesen Problemen auseinandersetzen müsste", Faye schaute ihn erneut kurz an, um den Inhalt ihrer Worte zu unterstreichen. Denn sie konnte sich schon vorstellen, dass das alles für Ryatt möglicherweise sogar noch schwieriger war als für sie. Zumindest all die Teile, die mit seiner Person zu tun hatten. Seinen Gefühlen, seinen Bedürfnissen... Darum wollte sie ihm das auch gesagt haben. Zwischen all der Scheisse zumindest mal irgendwo deponieren. Auf seine Gefühle angesprochen, wurde nämlich gleich wieder sehr deutlich, wie wenig er sich eigentlich wirklich mit ihr über sein Innenleben unterhalten wollte. Er tat es trotzdem und dafür gab es bestimmt auch noch andere Gründe als nur, dass er sie nicht ganz aussperren wollte und versuchte, sich ihr zuliebe etwas zu öffnen. Die Antwort klang wenig überraschend nämlich schwer problematisch. Nachvollziehbar, aber Emotionen waren ein ziemlich essenzieller Teil ihrer Menschlichkeit. Wenn er nicht wusste, wie er mit sehr vielen davon umgehen sollte, versprach das in sich schon sehr viel Schmerz und Frustration. Unterstrich er gerade damit, dass er die Worte nichtmal aussprechen konnte, ohne direkt im Anschluss den restlichen Whiskey runterzukippen. Sie versuchte ihn noch anzuschauen, als er ihr Gesicht musterte, aber als er weitersprach, gab sie dem Drang, den Blick wieder auf ihre Teetasse zu senken, nach. Dass sie anders funktionierten, war offensichtlich. Aber sie hatte ihm nie offiziell erzählt, dass sie schlechte Erfahrungen mit körperlicher Nähe gemacht hatte. Das waren nämlich die Dinge, über die sie nicht reden konnte. Und ein nicht so kleiner Teil der Begründung, warum sie sich auch mit ihm nicht einfach gehen lassen konnte. Weil sie einmal zu oft die Erfahrung gemacht hatte, dass Männer sie gerne auf ihren Körper reduzierten, während sie als Person ihnen grundsätzlich egal war. Sie wollte Ryatt nichts dergleichen unterstellen, sonst würde sie sicher nicht mitten in der Nacht alleine mit ihm in einer Bar sitzen. Aber es liess sich schwer leugnen, dass sie Angst hatte, es würde sich in eine falsche Richtung entwickeln, wenn sie mehr körperliche Intimität zuliesse. "Ich verstehe die Logik dahinter grundsätzlich schon... Aber ja, wie du schon sagtest, dreht mein Hirn diesbezüglich eher in die entgegengesetzte Richtung... Vielleicht habe ich tatsächlich mehr Angst vor körperlicher Nähe als davor, mich einer Person emotional zu öffnen...", murmelte sie nachdenklich in Richtung ihrer Tasse, hob dabei langsam die Schultern. Sie würde nie im Leben auf die Idee kommen, sich von jemandem auszuziehen zu lassen, wenn diese Person nicht vorher schon von den Narben wüsste. Und wenn sie von den Narben erzählte, musste sie auch von Syrien erzählen. Und damit wäre irgendwie auch die Frage verbunden, warum zur Hölle ausgerechnet sie in den Krieg gezogen war. Und die andere Frage - was denn aus ihrem Freund geworden war, der mit ihr aus den Hügeln gerettet wurde. Und warum er denn nicht bei ihr war, wenn sie doch trotz allem noch immer zusammen waren. Warum sie sich überhaupt von jemand anderem die Kleider vom Körper pflücken liess. Keine dieser Fragen wollte sie nackt beantworten müssen, wenn es eigentlich um etwas ganz anderes gegangen wäre. Also kam das für sie nicht wirklich in Frage. Wies aussah eher schlechte Voraussetzungen für sie beide... Leider wurde das Gespräch auch im weiteren Verlauf nicht einfacher, weshalb Faye letztendlich eine lange Pause brauchte, bis sie etwas auf seine Ausführungen erwidern konnte. Wenn er also finden würde, was er suchte, würde er sich von ihr abkapseln, oder wie musste sie das interpretieren? War das nicht ein fetter Punkt mehr, der absolut gegen mehr körperliche Nähe sprach? Wenn er sie dann sitzen lassen würde, würde sie das nämlich richtig schwer verkraften. Aber auch abgesehen von dieser Zeile, wusste sie nicht, was sie mit seinen Worten anfangen sollte. Ob sie die indirekten Fragen jetzt beantworten musste oder sollte oder was er darauf hören wollte. Sie hob nochmal die Tasse an die Lippen, um einen weiteren Schluck zu nehmen, bevor das Getränk komplett kalt wurde. "Worauf möchtest du denn am dringendsten eine Antwort..? Ich weiss nicht, ob ich dir auf alles eine Erklärung bieten kann, aber ich könnte es versuchen...", bot sie ihm zumindest eine einzige Auskunft an. Sie war natürlich auch bereit, mehr als nur ein Fragezeichen zu klären, aber lieber nicht zwanzig aufs Mal. Sie war sich sowieso sehr sicher, dass was auch immer er darauf erwidern würde, nur sehr schwer oder gar nicht beantwortet werden konnte. Sie verstand ja selbst 50% ihrer Gemütsschwankungen nicht.
"Und warum denkst du, dass er diese Freundschaft akzeptieren wird?" Die Frage kam wie aus der Pistole geschossen, kaum hatte Faye mir geantwortet. Schon vorher hatte mir das auf der Zunge gelegen. Die Brünette kannte ihren Freund sehr gut und auch schon lange, also sollte sie in meinen Augen schon irgendeinen triftigen Grund dafür kennen, zu glauben, dass er ihr den Kontakt zu mir lassen würde. Natürlich war Kontrolle des Partners in einer Beziehung grundsätzlich eher nicht so in Ordnung - es war aber trotzdem völlig legitim, offen zu kommunizieren, dass man die Beziehung durch gewisse Menschen im Freundeskreis als gestört empfand. Denn wahrscheinlich würde es sich für den hochgewachsenen Kerl ganz genau so anfühlen. Faye durfte mich dabei aber gerne korrigieren, wenn sie eine gut fundierte Argumentation vorlegte, warum Victor anders denken und fühlen sollte. Die Brünette neben mir wusste es trotz meiner nur semi-guten Ausführung des Öffnens zu schätzen, dass ich immerhin versuchte, mir diesbezüglich einen Ruck zu geben. Es ließ mich müde lächeln. Wären die Themen und damit auch mein Leben nicht exakt so auslaugend, wie es im Augenblick der Fall war, würde ich nicht so hier mit ihr sitzen, sondern die Zurückweisung einfach genauso wie im Club wieder hinter ein Lächeln packen und sagen, dass alles völlig in Ordnung war, dass es mich nicht störte. Aber das tat es und ich konnte nicht exakt benennen, wieso das so war. Es würde doch sowieso enden, bevor irgendwas angefangen hatte - wieso also daran aufhängen? Auch die kurze Erwiderung ihres Blickes gab mir darauf keine Antwort. "Wäre nicht gefühlt alles in meinem Leben irgendwie anstrengend, würde ich nicht so hier sitzen.", stellte ich mit einem Seufzen und einem Blick auf das leere Glas fest, bevor ich es losließ und mich zurück an die Rückenlehne sinken ließ. Mein Kopf kippte in den Nacken und ich machte für einen Moment die Augen zu. "Wenn's nicht heute passiert wäre, dann eben wann anders... macht am Ende keinen Unterschied.", stellte ich mehr für mich selber fest, wollte aber gleichzeitig klarstellen, dass ich Faye keine Schuld an der jetzigen Situation gab. Zu Küssen und Umarmungen gehörten immer noch zwei Menschen und ich war von uns beiden am Ende wahrscheinlich sogar der psychisch labilere. Zumindest momentan. Ich schwieg für etwa zehn Sekunden, bevor ich den Mund wieder aufmachte. "Falls dir irgendwas schon länger auf der Zunge oder Seele brennt, spuck's am besten jetzt aus... so tief wie heute wird die Mauer in meinem Schädel in deiner Gegenwart wahrscheinlich nicht so schnell wieder fallen.", grummelte ich etwas undeutlich vor mich hin, was Ausdruck meiner Selbstkritik war. Ich vermied Situationen wie diese hier normalerweise grundsätzlich, weil ich diese Mental Breakdowns gewöhnlich sehr viel lieber alleine durchlebte. Entweder war ich aktuell einfach noch verzweifelter, als ich gedacht hatte, oder Faye hatte einen besonders guten Draht zu mir. Möglicherweise beides. Ich schien heute nicht die Willenskraft dafür aufbringen zu können, die Mauer zumindest noch für die Dauer ihres Aufenthalts in der Bar oben zu halten. Egal was heute hier noch ausgesprochen wurde, hatte ich jetzt gefühlt ohnehin schon zu viel gesagt. Ich würde jeden einzigen Satz morgen bereuen und mich dafür verteufeln, Faye an meinem völlig konfusen Inneren teilhaben zu lassen. Sobald ich morgen aufwachte und die Mauer damit von selbst wieder auf voller Höhe stand, würde die Reue kommen. Danach ließ ich meinen Kopf in ihre Richtung kippen und sah Faye aus dem Augenwinkel heraus an. Und wie machte sie das? Wie sie bekam sie diese naive Hoffnung hin, mit der sie scheinbar instinktiv zu wissen glaubte, dass die Menschen ihr Gutes wollten und ihre emotionalen Schwachpunkte nicht gegen sie verwendeten? Müsste das Leben sie nicht eher das Gegenteil gelehrt haben? Ich wünschte unser beider Köpfe wären zwei verschiedene Stücke Kuchen, damit wir jeweils eine Hälfte an den anderen geben konnten. Sie könnte ein bisschen was von meiner ungehemmten physischen Seite haben und sie gab mir was von ihrer emotionalen Offenheit. Die zierliche Brünette bestätigte mir nur so halb, dass sie mit körperlicher Annäherung ein Problem hatte, aber eigentlich reichte mir das. Ich antwortete jedoch nichts darauf, weil nachzuhaken sehr sicher sehr unangebracht war, also hörte ich ihr stattdessen einfach weiter zu. Tja, was wollte ich am dringendsten wissen? Ungefähr alles. Allein in diesem Gespräch waren gefühlt auch schon 5 neue Fragen in meinem Schädel aufgetaucht. Wie zur Hölle sollte ich mich also für eine davon entscheiden? Tief durchatmend dachte ich darüber nach, richtete den Blick dabei kurzzeitig wieder in Richtung Decke. "Warum hältst du dich so an mir fest? Ist das nur, weil du grundsätzlich keine Verluste erträgst oder weil du glaubst, dass ich ohne dich wieder auf die Schnauze fliege? Schließlich ist das alles hier für dich noch komplizierter, als für mich...", entschied ich mich und hob den Kopf letztendlich von der Lehne an, um Faye anzusehen. Natürlich war ich unschlüssig darüber, mit dieser Frage wirklich die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Wir beide hatten ein paar Gemeinsamkeiten und vielleicht verstanden wir einander in mancher Hinsicht besser, als andere es konnten. Trotzdem waren wir in vielen Dingen gleichzeitig unheimlich verschieden und auch, wenn ich der Brünetten bisher nichts Spezifisches über mein Trauma erzählt hatte, glaubte ich schon, dass sie eigentlich wusste, dass ich sehr kaputt und vor allem kompliziert war. Natürlich konnte man fast alles reparieren - diesen Weg mit mir zu gehen würde für sie als sehr emotionalen Menschen aber anstrengender werden, als einen völlig zugefrorenen Gipfel zu erklimmen. Faye hatte schon eine andere Person - und sich selbst - zu reparieren. Sie tat sich keinen Gefallen damit, mir helfen zu wollen. Sah sie das nicht oder verdrängte sie das einfach wegen der stärkeren Verlustängste?
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Da hatte ihm wohl etwas ordentlich auf die Nieren gedrückt, so schnell wie diese Frage kam und dafür erntete er einen etwas irritierten Blick. Kurz zuckte sogar ihr Mundwinkel und ihre rechte Augenbraue ein winziges bisschen nach oben. Die Thematik war natürlich nicht lustig, aber die Art, wie er diese Frage gestellt hatte, amüsierte sie wenigstens für ein paar Sekunden doch ein klein wenig. Weil sie eine leichte Vermutung hatte, was er damit zu bezwecken versuchte. Vielleicht glaubte er, ihr damit final vor Augen führen zu können, dass sie beide sich den Weg ganz genau so lange teilen konnten, wie Victor weg war. Er sagte es nicht direkt, aber natürlich wollte er genau darauf hinaus. Sie hatten schon einmal darüber geredet und sie wusste ja, wie sicher Ryatt sich darin war, dass sie auch auf freundschaftlicher Basis absolut keine Zukunft hatten. "Weil ich mit ihm reden kann und er mir… vertraut?", begann sie mit ihrer Erklärung, das kurze Lächeln war längst wieder aus ihrem Gesicht verflogen und das letzte Wort betonte sie fast etwas unsicher, obwohl sie sich darin eigentlich sicher sein sollte. Würde Victor ihr nicht vertrauen, hätte er sie schon allein deswegen nicht hier zurücklassen können. "Und aus dem gleichen Grund, aus dem er mir vor seinem Abschied gesagt hat, dass ich während seiner Abwesenheit seiner Meinung nach nicht in Einsamkeit und Kälte versinken müsste. Weil er weiss, dass niemand jemals seinen Platz einnehmen wird. Weil er nicht eifersüchtig ist und weil er weiss, dass ich mich immer, immer, immer für ihn entscheiden würde", ihre Stimme war etwas leiser geworden, während sie sprach. Die Gedanken hatten etwas nostalgisches. Vor allem aber war es schwierig, sich beim Reden nicht zu tief in den Gefühlen und Erinnerungen zu verlieren. Nicht direkt wieder kopfüber in Wehmut und Vermissen zu tauchen. Vorhin war sie noch ein bisschen wütend auf ihn gewesen. Dann war das schlechte Gewissen wegen dem Kuss dazugekommen. Und jetzt, wenn sie von ihm redete, war es wieder nur die unendliche, pure Sehnsucht, war es wieder viel leichter, daran festzuhalten, dass sie und Victor eine Zukunft hatten. Und trotzdem: "Same.", war ihre trockene Reaktion auf seine nächste Feststellung und sie hob kurz ihre Teetasse, als müsste man auf diesen wundervollen Umstand auch noch anstossen. Auf ihre verdammt komplizierten Leben und alles, was ihnen Tag für Tag zu schaffen machte. Leider war sein Glas bereits leer, weshalb es bei einem Schluck Tee für sie und einer leeren Runde für ihn blieb, bevor sie die Tasse zurück auf den Tisch stellte und langsam nickte. War ja nicht das erste Mal, dass sie beide sich dezent angeschlagen über ihre psychischen Schäden unterhielten. Diesbezüglich bekam sie heute aber mehr Raum zugesprochen als üblicherweise und Faye zog nochmal die Augenbrauen hoch und musterte Ryatt ein paar Sekunden. Erstmal ging sie nicht auf seine Erlaubnis ein, aber gut möglich, dass sie noch darauf zurückkommen würde. Es gab eben auch nicht zu wenige Frage, die sich ihr im Bezug auf seine Person stellten, die sie aber üblicherweise für sich behielt. Normalerweise war sie eher der Typ Mensch der wartete, bis jemand von sich aus erzählte - vielleicht musste sie bei Ryatt aber einfach nachfragen, wenn sie jemals eine Antwort haben wollte. Sie würde es sich noch für ein paar Minuten überlegen. Gerade musste sie sowieso erstmal Ryatts Neugier stillen, die mit einer Frage und einer Hypothese zum Ausdruck kam. Und wie erwartet war die Frage keine einfache und sie konnte sich ordentlich den Kopf über ihre Erklärung zerbrechen. Denn tatsächlich hatte sie sich diese Frage selbst noch nie gestellt, obwohl sie das eigentlich hätte tun können. Weil ich will war aber wahrscheinlich keine plausible Begründung und so musterte sie nachdenklich die Tischplatte, begann unbewusst wieder damit, ihre Unterlippe zu malträtieren. Tja, Faye. Warum? Warum liess sie ihn nicht einfach ziehen? Ihr fielen direkt mehrere Gründe ein, aber irgendwie war sie sich nicht sicher, diese aussprechen zu wollen. Andererseits würde Ryatt auch merken, wenn sie ihn anlog. Und sie hatte ihm die Antwort mehr oder weniger versprochen - so nachträglich betrachtet ziemlich dumm, bevor sie die Frage überhaupt gekannt hatte. "Erstens weil ich dich mag. Seit Anfang. Ich glaube, du hast das Herz am rechten Fleck und ich geniesse die Zeit mit dir. Weil es Spass macht und ich mich wohl fühle und weil du auch einen Knacks hast und ich mich dadurch vielleicht ein bisschen weniger wie der psychische Krüppel fühle, der einmal zu oft der Klapse entschlüpft ist. Zweitens ja - weil ich nicht loslassen kann und will, wenn ich für einmal nicht dazu gezwungen werde. Und drittens... Nein, ich glaube nicht, dass du ohne mich wieder auf die Schnauze fliegst. Zumindest nicht mehr, ganz am Anfang war das vielleicht so. Aber... Aber ja... Der Gedanke, dich einfach zurückzulassen, obwohl ich weiss, dass du... dass es dir auch nicht gut geht, dass du auch einsam bist... Das widerstrebt mir und meiner Natur vielleicht etwas zu sehr... Versteh das jetzt bitte nicht falsch, ich fühle mich nicht für dich und deine... emotionale Heilung, oder was auch immer verantwortlich" - oder vielleicht schon - "aber... du kennst ja die Ausmasse meines Helfersyndroms. Möglich, dass das hier auch involviert ist...", das war dezent untertrieben. Aber so stockend, wie sie die Worte formuliert hatte, war schon gut rauszuhören, dass sie nichts davon wirklich sagen wollte. Es klang einfach so falsch und wenn sie Pech hatte, fühlte sich Ryatt - nicht ganz ungerechtfertigt - einfach nur bemuttert von ihr. Denn leider klang dieses Argument wirklich stark danach, als würde sie ihm nicht zutrauen, selbst wieder ganz auf die Beine zu kommen. Dabei gings ihr überhaupt nicht darum. Ihr Problem war nicht Ryatt, sondern sie selbst. Ihr elender Drang, allen zu helfen und nicht mit dem Gedanken klarzukommen, dass er vielleicht einfach alleine blieb, sein Leben lang keine tiefen Freundschaften mehr knüpfen würde, weil er es nicht schaffte, die Verletzungen der Vergangenheit zu verarbeiten. Weil er einfach jede und jeden von sich schob, der oder die ihm zu nahe kam. Faye blickte ihn nur sehr vorsichtig, unsicher an, um zu sehen, wie richtig oder falsch er den Inhalt ihrer Worte aufnahm. Sie hätte es besser einfach nicht gesagt. Scheiss auf versprochene Erklärung, sie hätte es auch einfach bei der Hälfte belassen können...
Musste sie sich das noch fragen oder wusste sie das? Wahrscheinlich letzteres, so lange wie die beiden ihr Leben schon gemeinsam bestritten. Letzteres zumindest mehr oder weniger. Würde Victor seiner Freundin nicht vertrauen, hätte er die Beziehung stattdessen vielleicht eher beendet oder wäre gar nicht erst gegangen. Er würde bei dem offenen Beziehungsmodell allerdings eher nicht mich gedacht haben. Er hatte damals noch gar nicht wissen können, dass Faye und ich uns noch einmal über den Weg liefen und dann beschlossen, lieber erstmal nicht alleine weitergehen zu wollen. Vielleicht war er grundsätzlich kein eifersüchtiger Typ, weil er Faye aus tiefstem Herzen vertraute und wusste, dass er ihre erste Wahl war. "Hast du ihm überhaupt jemals einen Grund gegeben, eifersüchtig zu sein?", fragte ich meinen Gedanken folgend nach. Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass diese Frage wieder ziemlich taktlos war. Denn falls es so sein sollte, war auch das sicher kein angenehmes Thema und ich hätte ganz einfach vorsichtiger nachfragen können, statt einen derartig direkten Tonfall zu wählen. Tja, Zug schon wieder abgefahren, da hatte die Neugier gesiegt. Aber wenn sie eine richtige Eifersuchtssituation noch gar nicht durch hatten, könnte sie auch nicht wirklich wissen ob er eifersüchtig sein würde, oder? Ich dachte über dieses ganze Konstrukt viel zu detailliert nach. Es ging mich im Grund nämlich auch gar nichts an, schließlich war Victor nicht mein Freund, sondern Fayes. Möglicherweise fing der Alkohol in meinem Körper gerade damit an, an meiner Beherrschung diesbezüglich herumzuschrauben. Hatte ich schließlich schon oft deutlich besser hinbekommen. Faye erinnerte mich dank unser beider misslicher Situationen daran, dass mein Glas leer war und ich dachte kurz daran, er schon wieder voll zu machen. Eigentlich wusste ich es aber besser, also hielt ich mich zumindest für den Moment zurück und lauschte lieber ihrer Antwort zu meiner Frage. Im ersten Teil war die eigentlich ganz schön und ließ mir die Mundwinkel zumindest ein kleines bisschen nach oben zucken. Ich war mir zwar weniger sicher damit, das Herz an der richtigen Stelle sitzen zu haben, als das bei Faye offensichtlich der Fall war, aber es war trotzdem schön zu hören. Es freute mich, dass sie den überwiegenden Anteil unserer gemeinsamen Zeit so unbeschwert genießen konnte, wie ich das auch tat. Trotzdem bekamen diese Worte leider einen bitteren Nachgeschmack, als sie weitersprach. Denn was sie nach dem 'zwei Krüppel vereint'-Part noch alles loswurde, klang in meinen Ohren deutlich weniger angenehm. Dementsprechend wandelte sich meine Gesichtszüge zu einem zunehmend kritischer werdenden Ausdruck, nachdem ich die Augen wieder von Faye abgewendet und stattdessen ebenfalls auf die Tischplatte geklebt hatte. Vielleicht hielt ich einfach viel zu krampfhaft daran fest, dass ich bei der Army so viele lange Jahre zu den Männern gehört hatte, die anderen den Weg wiesen und immer wussten, was zu tun war. Vielleicht sollte ich wenigstens mal versuchen, mir ein kleines bisschen helfen zu lassen, statt stur darauf zu beharren, Nichts und Niemanden zu brauchen. Wie gut hatte das denn funktioniert, seit ich aus der Army geflogen war? Ich hatte mein Geld für viele idiotische Dinge aus dem Fenster geworfen, nur um kurzzeitig das Gefühl zu erlangen, atmen zu können. Was hatte ich jetzt noch davon? Ich war pleite gegangen, beinahe im Gefängnis gelandet und hatte zu verantworten, dass Faye - und ihr Freund, der mich ehrlicherweise aber sehr viel weniger kümmerte - ein weiteres beschissenes Trauma auf ihrem Konto verbuchen konnte. Ich bereute alles davon und trotzdem sträubte mein dummes Hirn sich weiterhin absolut vehement dagegen, einen anderen Weg einzuschlagen. Oder vielleicht doch nicht - war ich noch bei Faye, weil ich insgeheim doch wollte, dass sie mir hin und wieder unter die Arme griff? Es wäre nicht das erste Mal, dass mein eigener Kopf mir einen Streich spielte, nur um mich mittels meines Unterbewusstseins am Ende doch in die eigentlich richtige Richtung zu schubsen. Das Denken wurde langsam aber sicher so anstrengend, das ich einen nur sehr leisen, aber trotzdem gequälten Laut von mir gab, bevor ich mich nach vorne auf den Tisch stützte und das Gesicht in den Händen vergrub. "Ich wünschte wirklich, ich könnte nur Gutes darin sehen, dass ich dir nicht egal bin.", gab ich einen Bruchteil meiner Gedanken gegen die Handflächen nuschelnd preis, bevor ich mir mit ordentlich Druck über das angespannte Gesicht rieb, obwohl ich mir deutlich lieber gleich die Haut und die Haare vom Kopf gezogen hätte, nur um danach mein unbrauchbares Gehirn loszuwerden. Faye war seit erstem die lange Person, die sich aufrichtig so sehr für mich und mein Wohlergehen interessierte, dass sie nicht wollte, dass ich ging. Gleichzeitig hatte ich aber nichts Besseres zu tun, als mir und auch ihr Gründe dafür zu suchen, warum sie das bleiben lassen sollte. Es würde schon jetzt ein bisschen weh tun, wenn sie ging... aber immer noch weniger als in ein paar Wochen oder Monaten - wann auch immer ihr potenziell einen Strich durch ihre Rechnung machender Freund zurückkam. Ich wollte diesen Schmerz nicht fühlen müssen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Er wollte sich scheinbar nicht so leicht zufrieden geben mit ihrer Antwort, wie sie sich das vorgestellt hatte. Natürlich waren sie und Victor noch nie in einer vergleichbaren Situation gewesen und sie hatte keine Ahnung, wie er wirklich auf die Überraschung reagieren würde. Und ja, wenn er gar nicht damit klar kam, würde sie den Kontakt zu Ryatt abbrechen müssen. Weil sie in einem solchen Fall dann doch ziemlich leicht Prioritäten setzen konnte und sie auf keinen Fall riskieren würde, Victor nochmal von sich zu stossen, wenn sie ihn schon endlich zurück bekam. Aber vielleicht würde es ja gar nicht so schlimm werden, wenn sie die Situation gut erklären konnte. Sie würde mal ganz optimistisch behaupten, sie und Victor wären doch recht gut darin, zusammen über Gefühle zu reden und Missverständnisse zu klären. Vielleicht heulte sie dabei tendenziell jedes Mal los und vielleicht war es unangenehm, aber sie taten es trotzdem. Also gab es doch Hoffnung, dass das funktionieren würde, oder? In ihrem Kopf schon. Auch wenn es heute Abend eindeutig komplizierter geworden war, als sie es sich gewünscht hatte und genau das einer der guten Gründe gewesen war, weshalb sie Ryatt nicht hätte küssen sollen. Die nächste Frage erwischte sie leider wieder etwas unangenehm. Eigentlich hatte sie sofort mit Nein antworten wollen, weil sie nie einem anderen Mann nachgeschaut hatte, seit sie Victor kannte. Sie hatte auch nie wirklich enge Freundschaften zu anderen Männer gepflegt, seit sie zusammen waren. Nur halt die auf der Arbeit, aber ihre männlichen Kollegen traf sie in der Freizeit eigentlich nie. Sie mochte sie sehr gerne und die meisten waren schwer in Ordnung, aber dass sie sich auf der Arbeit gut verstanden, war dann auch das höchste der Gefühle. Folglich war da nie ein Grund zur Eifersucht gewesen. Bis auf die eine, beschissene Situation, irgendwann in Syrien... Aber war Victor da wirklich eifersüchtig gewesen? Vor allem einfach enttäuscht. Und angeekelt. Er hatte Zeit gebraucht, damit umzugehen und einen Weg zu finden, sie trotzdem zu lieben. Aber rational betrachtet, hätte da eigentlich keine Eifersucht mitspielen sollen - es hatte nicht eine einzige Sekunde gegeben, in der sie wirklich lieber mit dem alten Lieutenant als mit Victor Zeit verbracht hätte. Fakt war jedoch trotzdem, dass sie es nicht wusste. "Ich... ich weiss nicht... vielleicht einmal...", antwortete sie sehr zögerlich und ohne ihn anzuschauen, hob nochmal etwas hilflos die Schultern. "Aber Ryatt, das… das ist nicht dein Problem. Ich weiss, dass du mir damit vielleicht nur die Unmöglichkeit dieser Freundschaft aufzeigen willst, aber lass das bitte meine Sorge zu gegebener Zeit sein...", vielleicht war das nicht ganz wahr und nicht ganz nur ihr Problem, weil die Auswirkungen ihn auch betreffen würden. Aber er behauptete ja eh, keine Hoffnungen diesbezüglich zu haben. Also ja... Hauptsächlich ihr Problem. Ungleich dem Rest ihrer Unterhaltung, die Ryatt offensichtlich auch nicht genoss. Er wirkte angestrengt, müde. Aber das war tatsächlich eine gefasstere Reaktion, als sie erwartet hatte. Sie hatte mit Wut gerechnet, weil sie so dachte und dann auch noch die Frechheit besass, es auszusprechen. Aber dem war nicht so und grundsätzlich konnte sie das definitiv gutheissen und war froh darum. Auch wenn ihr die Worte, die er dazu von sich gab, nicht wirklich gefielen. „Was siehst du daran denn alles als problematisch?“, sie sprach noch immer leise, hob den Blick jedoch wieder etwas an, auch wenn er sie noch nicht anschaute. Sie glaubte ja, einen Teil seiner Antwort schon zu kennen. Aber wenn er tatsächlich sagte, was sie erwartete, hatte sie eine ziemlich klare Rückmeldung. Mal sehen. Für den Moment beliess sie es bei der einen Frage und wartete auf seine Argumentation.
Faye dachte länger über diese Frage nach, als gut für sie sein konnte. Wenn sie sich das erst fragen musste und es nicht wusste, was das an und für sich schon problematisch. Letzten Endes schien die Brünette sich auch nicht zu einhundert Prozent sicher mit ihrer Antwort zu sein, aber ich hängte mich eher daran auf, dass sie es ausschließlich als ihr eigenes Problem deklarierte. Das war es spätestens dann nicht mehr, wenn mich giftige Eifersuchtsblicke ihres Liebsten trafen, sollte ich sie jemals wieder an ihrer eigenen Türschwelle in seinem Beisein abholen. "Ich versuch's.", war alles, was ich am Ende dazu sagte. Wirklich überzeugt klang ich dabei jedoch nicht und ich bemühte mich auch nicht darum, das zu verstecken. Denn in Kombination mit der ganzen restlichen Thematik war es grundsätzlich schwierig, einfach darüber hinwegzusehen, wie sehr das sehr wohl zu meinem Problem werden könnte. Selbst wenn ich mich vollkommen platonisch verhielt, würde es die Beziehung zu Faye verändern, wenn Victor diese Verbindung nicht guthieß. Spätestens dann würde es mich von der zierlichen Brünetten wegtreiben, sofern sie mich nicht von sich aus abschob - wenn ich mich übermäßig verbiegen müsste, um noch irgendwie in ihr Leben zu passen, konnte ich mir das eben auch sparen. Ich hatte kein Problem damit, mich gegenüber Frauen, mit denen ich irgendwann mal was gehabt hatte, wieder so zu verhalten, als wäre das niemals passiert. Es war quasi meine Paradedisziplin, weil ich andernfalls bei der Army einfach riesige Probleme bekommen hätte. Hier draußen war das aber auch nochmal irgendwie was anderes, auch wenn ich grundsätzlich nicht vor hatte, Victor von Fayes Seite zu verdrängen. Mir blieb nur die Freundschaft später möglicherweise andersartig zu akzeptieren, oder zu verschwinden. Ihre folgende Frage zu beantworten, war gar nicht so einfach, weil ich überhaupt nicht wusste, wo ich mit meinen fünftausend Haken an der Sache anfangen sollte. Trotzdem war einer der wohl wichtigste. "Naja... unabhängig der sowieso schon komplizierten Umstände...", begann ich und streckte dann doch langsam die Finger wieder nach der Flasche aus, obwohl ich den Alkohol bereits durch meinen Körper wabern spürte. War jetzt auch schon egal, oder? Viel unangenehmer konnte das Gespräch kaum noch werden. "...ist es einfach gefährlich für dich. Emotional, meine ich... ich kann dir jetzt schon Brief und Siegel darauf geben, dass ich ab morgen mindestens eine Woche jeden Kontakt zu dir vermeiden werde, solange er sich umgehen lässt, nur weil ich dieses Gespräch bereuen werde. Ich weiß, dass ich... mit ein paar Dingen sicherlich Hilfe brauchen könnte und dass es auch sinnvoll wäre, sie anzunehmen... und trotzdem sträubt sich alles in mir dagegen. Mein dummer Schädel zieht mich fast immer gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen... und das ist nicht gut für Leute, die mir nahe stehen. Einer der guten Gründe, meinen Eltern fernzubleiben...", je länger ich sprach, desto mehr wurde meine anfangs noch klare Stimme zu einem Murmeln. Ich schraubte die Flasche wieder zu. "Ich bin ein emotionaler Blutsauger und du kannst das nicht gebrauchen. Auch wenn du immer sagst, dass man keine schützende Hand über dich legen soll und du deine eigenen Entscheidungen treffen kannst… naja, ist die hier”, ich deutete mit der freien Hand beiläufig auf mich selbst, “eigentlich keine, die ich dir gerne selbst überlasse. Deswegen will ich nicht, dass diese Freundschaft ewig hält. Irgendwann werd' ich dir weh tun, auch wenn ich das eigentlich wirklich nicht möchte… und dann hab ich wieder diesen… emotionalen Schmerz, auf den ich einfach gerne verzichten würde.” Mit kritisch nach unten gezogenen Augenbrauen griff ich nach dem Glas und nahm den nächsten Schluck, vermied Fayes Blick inzwischen gänzlich und gedachte auch nicht, das zeitnah wieder zu ändern. Der Brünetten gegenüber hatte ich das eigentlich nie aussprechen wollen, aber nun - hier saß ich, zumindestens einen Teil all meiner Gedanken vor ihr auf dem Tisch ausbreitend. Was Faye mit all diesen Worten am Ende machte, war ihre Sache.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Würde dann wohl auch beim Versuch bleiben, so wie er das aussprach. Aber Faye sagte nichts mehr dazu. Es war naheliegend, dass sie hier sowieso gegen eine Wand reden würde und das brauchten sie beide nicht. Also sortierte sie das bei den Themen ein, in denen sie sich nicht einig werden würden, und ging weiter zum nächsten Punkt dieses, wie immer sehr anstrengenden Seelen-Auskotzens. Es war also gefährlich für sie, wenn er ihr nicht egal war. Dem konnte sie erfahrungsgemäss zustimmen, ja. Aber da war eben kein Schalter in ihrem Kopf, den sie umlegen konnte, damit er ihr eben doch plötzlich egal war. Pures Wunschdenken. Sie könnten ihre Freundschaft schon jetzt beenden, ja. Aber dazu fehlte ihr der Willen, weil es jetzt eben auch schon weh tun würde und sie dann nur noch einsamer sein würde. Sie dachte nach, während Ryatt wieder zum Whiskey griff. Möglicherweise keine so gute Idee... Sie meinte sich zu erinnern, dass er auch nicht unendlich viel trinken konnte, ohne die betäubende Wirkung zu spüren. Aber sie konnte ihm schlecht auch noch in diesem Belangen reinreden, also behielt sie ihre Bedenken für sich. Ryatt war erwachsen und er trank nicht zum ersten Mal Alkohol, da brauchte es kein mahnendes Veto von ihr als Expertin. Ausserdem waren ihre Gehirnkapazitäten schon beim nächsten Satz, den sie in ihrem Kopf hin und her drehen musste. Mindestens eine Woche keinen Kontakt... wundervolles Problemlöseverhalten. Wie im Bilderbuch. "Gibt es irgendwas, das dir helfen würde, damit du das Reden hinterher nicht so sehr bereuen musst? Irgendwas, das ich tun kann?", fragte sie möglichst pragmatisch nach, im Versuch, diesem scheinbar fest verankerten Verhalten eine Alternative zu bieten. Würde es helfen, wenn sie ihm auch irgendwas von sich erzählte? Wenn die Offenheit auf beiden Seiten mindestens gleich gross, lieber bei ihr noch etwas grösser wäre? Sie war sich nicht sicher und breitete diesen Lösungsansatz lieber nicht schon vorsorglich in ihren Köpfen aus. Vielleicht würde es eh nichts helfen. Er hatte immerhin auch noch gar nichts wirklich gefragt. Oder sie hatte die Fragen geschickt umgangen, beziehungsweise viel zu knapp beantwortet, um nicht darüber reden zu müssen. Auch möglich. Ryatt schien das mit dem Hilfe annehmen offensichtlich als altbekanntes Problem mitzuschleppen, wobei Faye auch hier ganz schwach den Kopf schüttelte. "Angenommen, du brauchst wirklich Hilfe - würde es dann nicht Sinn machen, dir von mir helfen zu lassen..? Nachdem du meine Hilfe immerhin schonmal mehr oder weniger freiwillig angenommen hast, weil ich sie dir ziemlich hartnäckig aufgeschwätzt habe. Vorausgesetzt es sind Dinge, bei denen ich dir überhaupt auch helfen kann, natürlich...", fragte sie im Versuch, ihn mit Logik zu überzeugen. Sollte aber auch nicht heissen, dass sie sich nochmal so stark aufdrängen würde wie damals. Das war ein physischer Notfall gewesen, noch dazu lebensgefährlich und beides triggerte bekanntlich nochmal ganz andere Regionen ihres Gehirns. Was die Psyche anbelangte, konnte sie niemanden zwingen, sich helfen zu lassen. Sie konnte den sinnbildlichen Druckverband schon anlegen, aber wenn er ihn nicht wollte, würde er sich einfach woanders aufschneiden zum Ausbluten. Oder den Stoff wieder von der Wunde reissen. Vielleicht machte sie das bei sich auch, indem sie ihn nicht gehen lassen wollte und konnte. Ihn als emotionalen Blutsauger. Er hätte es nichtmal ansprechen müssen, denn Faye fühlte sich auch ohne entsprechenden Hinweis sofort wieder bevormundet. Als wäre sie nicht fähig, die Gefahren abzuschätzen. Als hätte sie sich kein einziges Mal Gedanken darüber gemacht. "Es wird sowieso wehtun... Was ist in dieser Hinsicht der Vorteil davon, eine Freundschaft nicht ewig halten zu lassen? Sind wir nicht schon lange zu tief drin, um über sowas zu diskutieren?", hatten sie darüber nicht sogar schon diskutiert? In ähnlichen Wortlauten, weil das ebenfalls zu den unlösbaren Streitfällen gehörte? Sie wurde langsam wieder müde. Traurig, dass ihr Bett so weit weg war. Faye massierte sich kurz die Stirn, während ihr der Geruch von Whiskey in die Nase stieg. "Was ist denn dein Vorschlag, Ryatt? Wie möchtest du weitermachen? Willst du lieber, dass du mir egal bist und ich dir nicht mehr schreiben und dich nicht mehr anrufen werde, nachdem du mich eine Woche ignoriert hast?", sie wollte den Kontakt nicht abbrechen, das hatte sie jetzt schon ein paar Mal gesagt. Aber wenn er das besser fand, würde sie es akzeptieren und ihn ziehen lassen müssen. Dann würde sie dieses Gespräch als ihr Letztes abschliessen müssen. Sie wusste nicht, ob sie das hinkriegen würde... Aber sie müsste es versuchen.
Wahrscheinlich hätte ich mit einer derartigen Frage rechnen müssen. Schon bevor ich überhaupt darüber nachgedacht hatte, schüttelte ich stumm den Kopf. Was sollte es da schon geben? Ganz gleich wie sie es versuchen würde, brachte mir das langfristig dann doch irgendwie gar nichts. Schließlich funktionierte das so dann wahrscheinlich nur mit ihr und half mir nicht beim Rest meiner sowieso noch kaum vorhandenen Sozialkontakte. “Keine Ahnung, glaube nicht… sonst wär mir im Lauf der Jahre irgendwann wahrscheinlich schon mal was in den Sinn gekommen.”, ich zuckte inzwischen teilnahmslos wirkend mit den Schultern. Ehrlicherweise dachte ich aber auch gar nicht erst richtig intensiv über ihre Fayes Frage nach, weil ich ganz einfach nicht wollte, dass sie irgendeine noch so simple Methode fand, um mein kindisches Fluchtverhalten zu unterbinden. Ich kam langsam am Punkt stumpfsinniger Sturheit an, wobei der Alkohol ganz bestimmt keinen guten Nebeneffekt hatte. Freiwillig? Ich kam nicht umhin leise in mich hinein zu schnauben. Wäre meine Flucht aus dem Krankenhaus alleine zu Fuß nicht zum Scheitern verurteilt gewesen, hätte ich ihre Hilfe nicht angenommen. Auch nach der fast tödlich verlaufenen Sache in der Werkstatt wäre ich eigentlich lieber abgekratzt, wäre da nicht ein Vögelchen gewesen, dass mir gezwitschert hätte, dass ich stattdessen auch einfach Sean verpfeifen könnte. “Ja, natürlich würde das Sinn machen, aber ist dir nie aufgefallen, wie verflucht unwohl ich mich damit fühle?” Trockener Sarkasmus, der absolut unangebracht war. Schließlich verdankte ich ihr noch immer meine verlängerte Frist hier auf der Erde. Aber eigentlich war die ganze Diskussion hier schon wieder vollkommen umsonst. Wir wussten doch beide, wie sie enden würde - relativ ungeklärt und unschön. Das war eigentlich jedes Mal so, wenn wir uns mit Irgendetwas uneinig waren, es endete nur nicht immer gleich hässlich. Gerade standen die Chancen für einen milden Ausgang der Dinge leider nicht unbedingt günstig. Es wurde auf jeden Fall nicht besser, als Faye weitersprach. Sie wollte sich einfach chronisch gerne in Schwierigkeiten bringen, oder? Wollte es einfach nicht sehen, nicht verstehen. Ich hatte noch nicht geantwortet, als sie noch mehr Worte anhängte. Dabei drehte ich den Kopf erstmals wieder in ihre Richtung und für ein paar Sekunden sah ich sie einfach nur stumm an. Meine Augen spiegelten eine schwammige Mischung aus Verzweiflung und völliger Gleichgültigkeit wieder, der in mir tobende Sturm war schwer zu verheimlichen. Ich wollte, dass mir das alles hier vollkommen egal war. Dass es mir nicht in der Brust stach, wenn ich der zierlichen Brünetten einfach nur zu sagen versuchte, dass ich kein geeigneter Wegpartner war. Auch nicht als rein platonischer Freund. Ich merkte, wie mein Puls sich beschleunigte und das Adrenalin durch meinen Körper beförderte, während ich den Kopf zurück in Ausgangsposition kippen ließ und in den Whiskey sah. "Jetzt tut's halt schon irgendwie noch weniger weh als erst in ein paar Wochen, Monaten oder in einem Jahr... es ist ja nicht so, als würde dein Freund wenigstens mal ansatzweise andeuten, wann er seinen Arsch wieder hierher schiebt." Ich klang deutlich kühler als vorher und nahm den nächsten Schluck. Was war denn, wenn Victor erst in einem halben Jahr wiederkam? Oder noch später? Bis dahin würde ich noch mehr an Faye hängen und ich wollte das ganz einfach nicht - hatte Angst davor. "Aber könnte ich dir sagen, dass du gehen sollst, hätte ich's längst getan.", verneinte ich, sie jetzt und hier loswerden zu wollen. Wahrscheinlich wäre es eigentlich gut für uns beide. Wenn wir die Sache mit einem so furchtbaren Gespräch wie diesem beendeten, dann konnten wir vielleicht beide leichter Lebwohl sagen. Nur wollte ich das offensichtlich genauso sehr, wie ich es nicht wollte. Wunderbar, wirklich. Ich wünschte mir in diesem Moment zum x-ten Mal in meinem Leben, dieses absolut nichtsnutzige Herz in meiner Brust endgültig entfernen zu lassen. Es lähmte mich schon wieder mit unangenehmem Druck in der Magengegend, der gefühlt sekündlich stärker wurde. "Also hey, was solls..." Ich stand auf, als wäre hier irgendwas auch nur im Ansatz geklärt worden, obwohl definitiv das Gegenteil der Fall war. Weglaufen und Wegstoßen funktionierten sonst auch immer, versuchen konnte man's ja mal. Das Glas und die Flasche zog ich aber natürlich mit vom Tisch, als ich zum Gehen ansetzte, weil diese Form der Ablenkung gerade gefühlt überlebenswichtig war. "...lass mich dich umbringen, du wirst nicht die Erste und wohl auch nicht die Letzte sein.", vollendete ich den Satz während der ersten zwei Schritte wegwärts. Da wars wieder. Das Trauma, das ich etwas zu sehr auf absolut alles in meinem Leben projizierte. Auch wenn ich in diesem Moment nicht davon sprach, Faye wortwörtlich dem Tod zu weihen. Von Innen heraus starb es sich meiner Meinung nach ohnehin am qualvollsten. Sie sollte rennen, verdammt nochmal. Warum fehlte ihr dieser Instinkt? Und warum fehlte mir noch immer die Stärke dafür, mich diesem erdrückenden Schutt auf meinem Brustkorb zu stellen?
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Ryatt wehrte sich weiter vehement dagegen, sich von ihr unterstützen zu lassen. Zumindest mit dem, was er bewusst nach aussen zeigte. Wie es in ihm drin aussah, konnte sie nur erahnen… und sie erahnte viel. Die Anzahl Hypothesen, die sie zu seiner Person bereits aufgestellt hatte, konnte kaum mehr gesund sein. Hypothesen und Vermutungen führten zu einem verfälschten Bild, das sie nicht haben wollte. Sie wollte Ryatt so kennen, wie er sich ihr anvertraute, aber das ging nicht, wenn er ständig über die Hälfte seiner Persönlichkeit vor ihr versteckte. Und zwar sehr offensichtlich versteckte, denn er gab sich keine Mühe dabei, sie glauben zu lassen, dass das, was sie bereits wusste, annähernd alles war, was es zu erzählen gab. Faye atmete erneut müde durch, als er sie wieder anschaute. Zumindest für einen Moment erwiderte sie seinen unruhigen Blick, dann drehte sie den Kopf wieder nach unten. Blickte auf den Tisch, ihre Hände und den Tee, wo ihre Augen auch über die nächsten Minuten unverändert hängen blieben. Sie liess einfach stumm zu, wie Ryatt sich aufregte, weil sie nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. Er hatte selbst keine Lösung und wusste genauso wenig, wie sie von hier aus weitermachen sollten, ohne sich an irgendeinem Punkt wahrscheinlich gegenseitig ein Messer in die Brust zu stechen. Seiner Meinung nach konnten sie bis dahin lediglich noch aushandeln, wie genau die Klinge beschaffen sein sollte. Ob sie lang oder kurz war, mit Widerhaken versehen oder glatt, stumpf oder scharf, glühend aus dem Feuer oder eisig kalt, ob sie direkt ins Herz oder zwei Zentimeter daneben stechen sollte. Grossartig. Und Victor hatte seine Gründe, warum er kein Datum für seine Rückkehr festlegen konnte. Wenn Ryatt rational darüber nachdenken würde, würde ihm das auch auffallen… Aber es war nicht ganz unverständlich, dass er das nicht tat und dass er vielleicht auch sowas wie Wut oder Ärger gegenüber Victor verspürte. Instinktiv wäre es ihr ein Anliegen, das zu bereinigen und ihren Freund in ein besseres Licht zu rücken, aber sie war nicht dumm genug, das in diesem Moment zu versuchen, wo die ganze Situation gerade dezent unschön überkochte. Ryatt stand auf und redete fröhlich weiter und schwenkte dabei den Alkohol vor sich hin, der massgebend dafür mitverantwortlich sein dürfte, warum sie hier auf dieser Ebene diskutierten. Zu sagen, sie fühle sich nicht mehr wirklich wohl nach seinem letzten Satz, war wohl untertrieben. Aber jetzt weglaufen war auch keine Option, sonst würde sie ihn womöglich wirklich nie wiedersehen. Sie hasste ungeklärte Streits, war immer und überall Typ Versöhnung, bevor man sich verabschiedete und durch die Tür trat. Ausserdem beschlich sie langsam das Gefühl, dass er eigentlich tatsächlich reden wollte. Vielleicht getrübte Wahrnehmung ihrerseits, vielleicht Verleugnung oder Unterdrückung seiner eigenen Bedürfnisse seinerseits. Warum sonst betonte er hier ständig mal mehr, mal weniger subtil, dass er die Frau umgebracht hatte, die er geliebt hatte? Möglich, dass sein Verstand absolut nicht reden wollte, aber sein Unterbewusstsein schien die Sache eindeutig loswerden zu wollen. Und was hatte sie hier noch für Optionen? Mit der Diskussion kamen sie nicht weiter. Sie musste also einen anderen Weg einschlagen. Das Risiko bestand und war nicht gerade gering, dass sie jetzt die falsche Abzweigung nahm und alles in noch mehr Drama und einem grossen Knall endete. Aber viel zu verlieren hatten sie heute Nacht nüchtern betrachtet auch nicht mehr. «Warum ist sie gestorben?», Faye stellte die Frage klar, aber verhältnismässig ruhig, weil sie die Stimmung nicht noch weiter aufheizen musste. Diesmal schob sie keine Option wie du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst, hinterher. Das würde er schon selbst bestimmen. Aber sie brauchte irgendwas und Faye war nicht dafür geschaffen, jetzt ebenfalls aufzustehen und mit ihm zu streiten. Darum blieb sie sitzen, die maximal noch lauwarme Teetasse zwischen beide Hände geklemmt und blickte ihn abwartend an. Eigentlich war diese direkte Konfrontation absolut nicht ihre Art und sie wartete lieber darauf, dass jemand von sich aus erzählte. Oder akzeptierte stumm, wenn dies eben nicht passierte. Aber das funktionierte mit Ryatt nicht. Er redete nicht, liess sie aber spüren, dass etwas im Raum war. Sprach es immer wieder an und betonte gleichzeitig, dass das nicht ihre Zuständigkeit war. So wie sie ihn erlebte, war er in sich nämlich ganz genauso widersprüchlich wie sie, die seine Nähe suchte, obwohl sie sagte, dass das falsch war…
Vielleicht war mir auch so übel, weil ich zu schnell trank und der Alkohol mir die Magenschleimhaut reizte. Aber das wäre zu einfach, um der Wahrheit zu entsprechen und ich wusste, dass sich das anders anfühlen würde. Es fühlte sich nicht so an, als müsste ich gleich erbrechen, sondern eher so, als hätte mein ganzer Körper den immensen Drang sich komplett von innen nach außen umzustülpen. Das Gefühl nahm zu, als Faye hinter mir eine Frage stellte, die ich wahrscheinlich selbst zu verantworten hatte. Ich hatte sie provoziert und doch war ich mir jetzt nicht sicher, was ich damit anfangen sollte. Es wäre sicher gut für die Brünette, wenn sie die Geschichte kannte. Wenn sie wusste, warum ich sie eigentlich gerne von mir stoßen wollte und sie doch gleichzeitig festhielt, was in sich nicht widersprüchlicher sein könnte. Reichte es, wenn ich oberflächlich daran kratzte? Ich hatte eigentlich wirklich keine Lust darauf, mir die schmerzliche Erinnerung - zusätzlich zu dieser sowieso schon beschissenen Situation - in vollem Ausmaß zuzumuten. Ob der Alkohol meine Nerven schon weit genug betäubte, um mich nicht völlig darin untergehen zu lassen? Was das anging konnte ich nur pokern. Ich hatte den leisen Drang, das Glas in Fayes Richtung zu werfen - nicht um sie zu verletzen, sondern um sie zu verscheuchen, damit sie mich allein versinken ließ und sich selbst rechtzeitig aus dem Treibsand flüchtete. Aber das konnte ich nicht, meine Wut galt nicht ihr. "Sie hat mich indirekt vor die Wahl gestellt... sie oder die Army.", setzte ich ganz zu Beginn meines sturzflugmäßigen Abgangs an. Ich hatte mich Faye noch nicht wieder zugewendet, sondern trollte mich mit verlangsamten Schritten bis zur Bar - nicht als wäre ich vorher besonders schnell gegangen. "Wir hätten beides haben können, wenn sie nur noch ein bisschen gewartet hätte." Ich schob die Flasche und auch das Glas auf die Theke und sah so lange in den Whiskey, wie der damalige Streit hinsichtlich dieses Ultimatums in meinem Kopf widerhallte. Dann schüttelte ich den Kopf. "Aber ich kann verstehen, dass sie die Geduld verloren hat… ich hab ihr selten gezeigt, wie wichtig sie mir wirklich war, obwohl wir da schon mehrere Monate… sowas wie zusammen waren. In meiner Position konnte ich eben nicht überall rumrennen und das einfach öffentlich machen.” Das war aber auch nur die Hälfte von dem Gewicht, das ihr auf die Seele gedrückt hatte. Wenn ich ihr wenigstens abseits davon gezeigt hätte, wie sehr sie mir am Herzen gelegen hatte, wäre die ganze Sache niemals so ausgeartet. “Sie sollte nur noch vier Monate warten. Ihr Vertrag wäre ausgelaufen und bis dahin wäre ich dank meiner Beförderung sowieso nicht mehr im richtig aktiven Dienst, sondern nur noch hier in den Staaten gewesen, wo es dann Niemanden mehr interessiert hätte. Wir haben uns tagelang gestritten deswegen… und es ist so auffällig geworden, dass ich sie versetzen musste. Ich hatte keine andere Wahl, sonst hätte ich… vielleicht alles verloren, wofür ich gearbeitet habe.” Das war kurz vor meiner letzten Beförderung gewesen und jetzt hatte ich trotzdem nichts mehr von dem, was ich zu retten versucht hatte. Das war auch der Hauptgrund dafür, warum ich bis jetzt in Frage stellte, ob ich mich damals richtig entschieden hatte. Es hätte meine Karriere stark ins Straucheln gebracht, hätte ich die Beziehung zu ihr zugegeben und auch dann wäre die Versetzung zwangsweise passiert. Womöglich wäre ich sogar degradiert worden. Es hätte in jedem Fall eine Konsequenz gehabt, die ich nicht zu tragen bereit gewesen war. Ich hatte unendlich lange und hart dafür gearbeitet, so weit zu kommen, wie hätte ich all das wegwerfen sollen? Wie hätte ich sie weiterhin lieben sollen, wenn sie mir die Essenz meines Lebens geraubt hätte? Ich kroch förmlich auf den am nächsten stehenden Barhocker und drehte ihn so, dass ich mich mit dem Rücken an der Kante des Tresens anlehnen konnte - das Glas natürlich allzeit bereit in der Hand haltend. Ich sah nur kurz zu Faye, die ein paar Meter entfernt saß. Es fiel mir über diese etwas größere Distanz merklich leichter, darüber zu reden, obwohl ich dadurch etwas lauter sprechen musste. Trotzdem fiel mein Blick zügig zurück ins Glas, weil mich der Alkohol auf keinen Fall verurteilte. “Der Kontakt war für einige Tage ziemlich abgebrochen, bis sie… bis sie darum gebeten hat, mich kontaktieren zu lassen, weil sie… im Sterben lag. Sie hat im Einsatz was abbekommen… die Bauchwunde hatte sich schlimm entzündet…” Als ich merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, hob ich das Glas, um sie wegtrinken. Zumindest vorübergehend half das ganz gut. Nach dem Schluck sah ich noch eine ganze Weile schweigend ins Glas. "Ich durfte sie besuchen, aber ich… ich konnte ihr nicht mal dann sagen, dass ich sie liebe. Ich weiß nicht wieso, aber ich konnte einfach nicht." Nun wurde ich doch etwas leiser, ohne es zu merken. Es fühlte sich immer noch nicht richtig an, all das auszusprechen. Es tat weh und zerriss mir die Brust zum tausendsten Mal. Trotzdem weinte ich nicht - eine weitere gefühlsmäßige Blockade in meinem Kopf. Zumindest nicht, solange ich am Glas nippen konnte.
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Tatsächlich bestätigte sich ihr Verdacht betreffend seines Redebedarfs augenscheinlich... Ryatt sagte es natürlich nicht direkt, aber er wirbelte auch nicht zu ihr rum, um sie wütend anzufunkeln, weil sie es auch nur gewagt hatte, zu fragen. Ganz analog seiner Bemerkung von vor ein paar Minuten, in der er mitgeteilt hatte, dass seine Zunge wohl nicht allzu bald wieder so locker sitzen dürfte wie heute. Zuerst lauschte Faye einfach nur angespannt, beobachtete Ryatt akribisch bei jedem Schritt und jeder Regung. Konnte sie ja gut tun, solange er sie so gut wie keines Blickes würdigte. Je länger er redete, umso unruhiger wurde sie jedoch, krallte ihre Fingernägel in die Handflächen und malträtierte schon wieder ihre Unterlippe mit ihren Zähnen. Sie merkte gar nicht, dass auch ihr rechtes Bein unter dem Tisch nervös wippte, in der dunklen Vorahnung des weiteren Verlaufs seiner Geschichte. Sie wusste ja, dass die Frau gestorben war, es konnte also nur hässlich ausgehen. Und trotzdem war sie nicht gefasst auf das Ende, denn natürlich war dieses grausam. Und sie bereute augenblicklich, seinen Andeutungen gefolgt zu sein, senkte den Blick und verzog das Gesicht. Sie hätte einfach nicht fragen sollen, verdammt. Nicht, wenn sie sich doch hätte ausrechnen können, dass sie am Ende hier auf der Bank sass und sich absolut beschissen fühlte, all das wieder aufgewühlt zu haben. Sie sass hier und konnte ganz genau gar nichts tun, weil sie nicht aufstehen konnte, um Ryatt zu umarmen. So weit hatte sie nicht überlegt. Aber das war es, was sie sehr dringend tun wollte, weil es genau das war, was sie jeweils am allerdringendsten nötig hatte, wenn sie weinte, am Boden zerstört und traurig war. Wenn der Schmerz eines Traumas aufkochte und sie erdrückte. Aber das mit der Umarmung hatten sie vorhin gehabt, das war keine gute Idee. Nur was sonst? Sie konnte ihn doch nicht einfach so komplett geknickt an der Bar hängen lassen, während sie ihm vom Schiff aus gut zuredete und hoffte, dass es bald besser wurde! Mal wieder ein perfekter Moment, um die ungeklärte, komische Situation zwischen ihnen zu hassen. Zumal sich das mit dem gut zureden auch eindeutig schwieriger gestaltete, als ihr lieb war. Was sollte sie sagen? Dass die Frau bestimmt gespürt hatte, dass er sie geliebt hatte, auch wenn er es nicht hatte sagen können? Das waren leere Worte, denn Faye hatte nicht die geringste Chance, das irgendwie zu beurteilen. Ausserdem hatte Ryatt auch gesagt, dass er ihr damals eben nicht wirklich viel Liebe gezeigt hatte. Nüchtern betrachtet war es also genauso gut möglich, dass die Frau im traurigen Glauben gestorben war, dass ihre Liebe nie auch nur in die Nähe von Ausgeglichen gekommen war. Dass sie keinen blassen Schimmer von dem gehabt hatte, was sie mit Ryatts Herz anstellen konnte und würde. Faye war natürlich klar, dass er die Geschichte gerade in Kurz-Kurz-Fassung offenbart hatte. Aber in dieser Version fand sie auf jeden Fall wesentlich weniger Schuld an der Tragödie bei Ryatt, als er selbst sie sich zuschrieb. Vielleicht war sie gestorben, weil sie mit dem Kopf nicht bei der Sache gewesen war - wegen ihm. Aber das hätte auch an einer schlechten Nachricht aus der Heimat liegen können. An einem heftigen Streit vor dem Einsatz. Oder an irgendeiner anderen, x-beliebigen, unnormalen Belastung. Es hätte an Pech liegen können. Wahrscheinlich hatte es an Pech gelegen... "Am Ende ist sie also irgendwie aus genau dem Grund gestorben, aus dem die Army offiziell die Liebe verbietet... Nicht wegen dir.", waren die ersten Worten, die letztendlich nach vielleicht etwas zu langer Stille über Fayes Lippen wanderten. Gerade laut genug, dass er sie verstehen konnte, klangen die zwei Sätze wie eine neutrale Feststellung. Noch immer unsicher darin, wie sie sich überhaupt verhalten sollte, hier auf ihrer Bank, in sicherer Entfernung. "Aber ja. Ich verstehe, warum du dir die Schuld gibst. Ist die gleiche Problematik wie bei mir und Victor und der Begegnung mit Seans Familie... Viel zu persönlich, um dran zu glauben, dass sie ihr Schicksal selbst gewählt hat... Dass es einfach nur an der Grausamkeit dieser Welt und der skrupellosen Menschheit liegt...", redete sie, noch immer in Gedanken versunken, weiter, weil sie die anderen Worte keineswegs so stehen lassen wollte. Auch hier wäre es nämlich wieder so wundervoll widersprüchlich, wenn sie ihm einreden wollte, sich nicht für sowas zu verurteilen, während sie eigentlich bestens wusste und bewiesen hatte, dass sie das absolut genauso tun würde an seiner Stelle. "Willst du... irgendwas von ihr erzählen? Von euch?", klopfte Faye vorsichtig an die nächste Tür, hob dabei den Blick wieder an, um die Gemütslage schon vor seinen Worten zu erkennen. Sie rechnete eher nicht damit, dass er den Schlüssel auch hier nochmal auf Öffnen drehte, aber wenn doch, würde sie wohl eintreten. Momentan kannte sie immerhin noch nichtmal den Namen der Frau, die in seinem Kopf herumgeisterte wie ein Schatten, den er niemals loswurde. Sie hatte eine Menge Fragen, nicht nur zu diesem Thema, sondern natürlich auch zum Rest der Geschichte. Denn offenbar hingen nichtmal der Tod seiner Geliebten und die Verbrennung seines Beins unmittelbar zusammen. Das war also maximal erst ein einziger Baustein seiner Geschichte und Persönlichkeit gewesen... Vielleicht einer, der auf einer tieferen Ebene gesessen hatte als die meisten von denen, die sie bisher kennengelernt hatte. Aber auch dieser baute für sich auf anderen auf.
Es war ganz gut, dass Faye einen Moment brauchte, um eine Antwort zu finden. Das gab mir selbst etwas Zeit, um tief durchzuatmen und zu versuchen, wieder aus all den Erinnerungen heraus zu kriechen, auf die ich wirklich ausnahmslos niemals Lust hatte. Doch sie hielten sich hartnäckig und als ich Fayes Gesicht auf der verzweifelten Suche nach einem Tapetenwechsel für meine Gedanken schließlich wieder anvisierte, machte es das eher nicht besser. Auch dann nicht, als sie zu antworten begann. Ja, es hatte einen wirklich verdammt guten Grund, warum man im Krieg keine Liebe suchen sollte. Das hatte ich mir und allen Soldaten, die mich damals gekannt hatten, einwandfrei bewiesen. Sie sollten sich alle ein Beispiel daran nehmen und Liebe gefälligst außerhalb des Schlachtfeldes suchen. Es brachte nur Unglück. Trotzdem würde die Brünette mir die Schuld an alledem nicht so schnell ausreden. Hätte ich Avery nicht versetzt, hätte sie diesen Einsatz nicht mitgemacht. Ich wusste, dass es zu einem gewissen Anteil schlichtweg Pech gewesen war, aber das reichte ganz einfach nicht aus, um die Schuldgefühle zu erdrücken. Sie schrien lauter als alles andere. Lauter als jede Faktenlage und Vernunft. Ich sagte jedoch nichts dazu, weil Faye es eigentlich schon ganz treffend formuliert hatte und ich dem nichts hinzuzufügen hatte. Man sollte sich in der Army nicht verlieben und wenn man es doch tat, flog man fast zwangsweise auf die Schnauze. Es hatte schließlich einen Grund, warum diese auf den ersten Blick etwas zu übergriffige Regel existierte - sie rettete unter Umständen Leben. Nur ließen sich Gefühle leider selten wirklich gut kontrollieren, was nur ein weiterer guter Grund für mich war, die einst bildschöne Frau zu verteufeln. Ich schüttelte fast sofort den Kopf, als Faye indirekt nach weiteren Details fragte. "Nein. Ich will einfach nur, dass sie verschwindet und mich endlich in Ruhe lässt." Nach diesen Worten drehte ich mich demonstrativ der Bar zu, nur um den müden Kopf darauf abzulegen und folglich wie ein Schluck Wasser in der Kurve über der Theke zu hängen. Erst hingen meine Augen noch an dem Glas, das ich rechts von mir abgestellt hatte und weiterhin festhielt, aber ich ließ die Lider kurz darauf einfach mit einem müden Seufzen zufallen. Ich hasste mich dafür, dass ich sie noch immer nicht in Frieden ruhen lassen konnte. Hasste Avery dafür, dass sie mich einfach keine Ruhe finden ließ, obwohl sie ganz bestimmt nicht geplant hatte, an diesem Tag draufzugehen. "Ich weiß, dass Avery es gut gemeint hat… als sie gesagt hat, dass sie weiß, dass ich sie liebe, auch wenn ichs nicht sagen konnte… und dass sie jetzt für immer zu mir gehören wird… aber ich wünschte wirklich, sie hätte es nicht getan." Ich sprach inzwischen undeutlich und ich wusste nicht, ob Faye mich überhaupt noch verstehen konnte - allein schon meiner verkrümelten Körperhaltung wegen. Es war aber auch mehr ein Gedanke an mich selbst, den ich schon unzählige Male verfolgt hatte. Wie sollte ich sie endlich loslassen, wenn das quasi ihr letzter Wunsch gewesen war? Dass sie für immer einen Platz in meinem Herzen hatte, immer ein Teil von mir sein würde? Sie hatte sich bestimmt nicht gewünscht, dass sie zunehmend von meiner ersten richtigen Liebe zu einem wahren Alptraum wurde, aber genau das war längst passiert. Ich wollte sie nicht mehr lieben und ich wollte sie auch nicht hassen. Sie sollte einfach nur ein für alle Mal aus meinem Kopf verschwinden.
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Sie hatte schwer mit dieser Antwort gerechnet und darum reagierte sie darauf ohne Verzögerung mit einem schwachen Nicken, das die Sache für sie auch erledigte. Sie konnte ihn sehr gut verstehen. Auch wenn sie nie in der gleichen Situation gewesen war und es hoffentlich auch nie sein würde. Was wäre, wenn Victor sterben würde, war absolut unvorstellbar für sie und sie wollte auch keine Sekunde darüber nachdenken. Die zwei grausamen gemeinsamen Nahtoterfahrungen hatten absolut gereicht. Und wenn die nicht gereicht hätten, dann sicher die latente, unterschwellige Panik, dass er ihr auf dem Schlachtfeld ganz genau jeden Tag einfach von der Seite geschossen oder gesprengt werden konnte. Sie wusste also nicht, wie es sich anfühlen würde, wenn der Mann, dem ihr ganzes Herz gehörte, ihr entrissen werden würde. Noch viel weniger konnte sie erahnen, wie es wäre, wenn sie ihm davor nie offiziell gesagt hätte, was er ihr bedeutete. Das musste unendlich schmerzhaft sein… Also ja, es war eine Erklärung dafür, warum Ryatt den Gedanken daran, sie irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft ziemlich selbstständig und ohne Zwang wieder aus seinem Leben zu streichen, beruhigend fand. Es war eine Erklärung für vieles. Aber bloss, weil sie jetzt einen ersten flüchtigen Blick hinter diese Tür hatte werfen dürfen, war diese Nacht noch lange nicht gerettet. Sie hatte das Gegenteil damit bewirkt und das demonstrierte Ryatt auch sehr offen damit, dass er sich mehr oder weniger auf die Theke legte und sich dem elend hingab. Viel länger war Sitzenbleiben an ihrer Stelle dann wohl auch nicht mehr ansatzweise angebracht und liess sich in ihrem Kopf auch nicht mehr mit unglücklichen Umständen rechtfertigen, weshalb sie ihre Teetasse stehen liess und sich erhob, um langsamen Schrittes ebenfalls zur Bar zu gehen. Sie entschied sich letztendlich dafür, sich auf dem Barhocker neben ihm niederzulassen – aber auch nur, weil dieser noch immer mit gebührendem Abstand platziert war und theoretisch noch einer dazwischen gepasst hätte. Sie wollte ihm nicht auf die Pelle rücken oder ihm das Gefühl geben, dass sie jetzt herkam, um seine Emotionen noch etwas besser inspizieren zu können. Genau darum schaute sie ihn auch nur kurz an, bevor ihr Blick am Holz der Bar vor ihr hängen blieb. Es hatte sich halt auch nicht richtig angefühlt, ihn weiter aus der Ferne leiden zu lassen. Auch wenn er, nüchtern betrachtet, noch immer genauso allein neben ihr hing. «Was hätte es denn geändert, wenn sie es nicht gesagt hätte..? Hättest du dir dann nicht einfach stattdessen noch viel stärker für immer den Vorwurf gemacht, ihr deine Gefühle nie gezeigt oder mitgeteilt zu haben?», fragte sie, weil sie diese Aussage tatsächlich nicht ganz nachvollziehen konnte. Aber er würde seine Gründe haben, so zu denken und wahrscheinlich hatten die Worte einfach irgendwas mit ihm gemacht, das sie noch nicht verstand. Wie so vieles, weil das Leben nun mal kompliziert und anstrengend war und blieb. Zum Beispiel in so beschissenen Momenten, in denen sie neben einem gebrochenen Mann an einer Bar sass, der ihr gerade sein wohl grösstes und emotional folgenschwerstes Trauma aufgetischt hatte. Und sie konnte nur so dumme Sachen dazu sagen, die nicht mal ansatzweise Heilung versprachen. Grossartig Faye, danke für deine Bemühungen. «Ryatt, kann ich… irgendwas tun, damit du dich zumindest jetzt ein bisschen besser fühlst?», eher nicht. Aber ein Versuch wars wert. Und wenn er ihr sagte, sie solle sich einfach verpissen, dann ja… würde sie das wahrscheinlich nicht tun, weil sie ihn irgendwie schlecht so zurücklassen konnte, oder? Dann würde sie ihn nachhause begleiten müssen. Würde er sicher mega toll finden. Vielleicht hatte er ja eine bessere Idee…
Es wird irgendwie immer kürzer, aber ich wiederhole mich sonst gefühlt tausend Mal... :') _______
Ich hörte Fayes Schritte im Hintergrund, schenkte ihr aber zuerst herzlich wenig Beachtung. Lieber ließ ich mich noch ein bisschen von der wieder aufgerissenen Wunde in meiner Brust betäuben. Es war irgendwie skurril - jedes Mal, wenn ich an sie dachte, setzte zuerst kaum aushaltbarer Schmerz ein. Dann, nach ein paar Minuten, schwelgte ich in so vielen schmerzlichen Erinnerungen, dass ich mich nur noch völlig taub und so gut wie bewegungsunfähig fühlte. Diesen Status hatte ich noch nicht ganz erreicht, aber ich sehnte ihn schon herbei. Erst als Faye wieder ihr Wort an mich richtete, schlug ich die müden Augen auf und sah sie an, wie sie da auf dem Barhocker saß. Beinahe so, als hätte ich sie nicht verstanden. Ich ließ mir auch einige zähe Sekunden Zeit damit, den Mund aufzumachen. "Ich würde mich nicht so dazu verdammt fühlen, sie für immer mit mir rumzuschleppen. Sie vergessen zu wollen… fühlt sich unheimlich falsch an.", grummelte ich, ohne den Kopf wieder von der Theke anzuheben. Mein Blick verfinsterte sich und ich fokussierte erneut das Glas. "Oder ich würde mich vielleicht weniger schlecht fühlen, weil ich es nicht mal fertig gebracht habe, auf die Beerdigung zu gehen…", damit richtete ich mich wieder auf, damit ich den nächsten Schluck machen konnte. Später, wenn ich die Treppenstufen im Wohnheim nach oben taumelte, würde ich den Alkohol bereuen. Oder allerspätestens dann, wenn ich im Bett lag und sich der Raum trotzdem noch drehte. Ob sie irgendwas tun konnte? Ich setzte das Glas ab und dachte kurz darüber nach. Normalerweise machte ich diese Breakdowns alleine durch, da fragte Niemand und bot mir seine Hilfe an. "Ich… weiß nicht… normalerweise fragt keiner.", murmelte ich Richtung Whiskey. Einen Moment später sah ich zu der Brünetten, hing dabei etwas schief auf dem Barhocker. Ich musterte ihre Gesichtszüge, als würde mir das eine Antwort auf ihre Frage geben. Noch immer hielt ich sie für ein bisschen zu gut für die Welt - zu gut für Gesellschaft wie mich. Sie sollte nicht hier bei mir sein, hätte mir gar nicht erst helfen sollen. Genau so blickte ich sie inzwischen auch an: Als wäre es mir lieber, sie würde nicht hier sitzen, sondern einfach ihrer Wege gehen. Aber würde ich mich damit jetzt tatsächlich noch gut fühlen? Faye war, abseits von dem Therapeuten während der Reha damals, die erste Person, der ich auch nur einen Hauch von der ganzen Geschichre erzählt hatte. War das ein Fehler gewesen? Womöglich sollte ich mir darüber erst Gedanken machen, wenn ich wieder nüchtern war.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Schwierig mit traurigen Betrunkenen… x‘D _________
Das war die naheliegendste Antwort, mit der sie ein bisschen gerechnet hatte. Es war nachvollziehbar - aber aus ihrer sicheren Distanz betrachtet nicht nötig. „Aber sie hat dich offenbar geliebt, Ryatt. Auch wenn sie gesagt hat, dass sie für immer ein Teil von dir bleiben wird, wird sie damit kaum gemeint haben, dass du dich ewig mit diesen Reuegedanken quälen sollst. Ich konnte sie zwar leider nie kennenlernen“ - offensichtlich - „aber trotzdem bin ich mir sicher, dass sie dir damit nicht schaden wollte. Was, wenn sie sich einfach nur wünschte, dass du die Erinnerung an die schönen Momente mit ihr im Herzen tragen sollst? Dass sie nicht komplett in Vergessenheit gerät?“, versuchte Faye vorsichtig, Averys Worten eine andere Bedeutung zu geben als die, die er gerade ausgesprochen hatte. Ihre Augen lagen wieder auf dem geknickten Mann neben ihr, der weiterhin ziemlich zerknittert auf der Theke hing. "Es kann doch nicht in ihrem Willen gestanden haben, dass du sie irgendwann nur noch mit Schmerz und Reue und Schuld verbindest... Das wünscht sich doch niemand als Vermächtnis", sie nahm einfach mal an, dass Avery keinen so eifersüchtigen, verbitterten und traurigen Charakter gehabt hatte, dass sie sich gewünscht hätte, Ryatt würde für das, was damals passiert war, den Rest seines Lebens durch die Hölle gehen. Sie glaubte nicht, dass man das einem Menschen, den man liebte, wirklich wünschen konnte. Besonders dann nicht, wenn man selbst im Sterben lag und solche Wünsche und Aussagen nie revidieren könnte. "Du musst sie ja nicht ganz vergessen... Abgesehen davon, dass das sowieso nicht möglich sein dürfte, ist es auch nicht nötig. Ich glaube, es wäre wichtiger, dass du... einen Umgang damit findest und aufhörst, dich damit fertig zu machen... Das kannst du meiner Meinung nach auch, wenn du dir noch immer einen Teil der Schuld an ihrem Tod gibst. Du kannst jetzt nichts mehr ändern und es ist niemandem damit gedient, wenn du dich an diese Schuld klammerst und ewig darunter leidest... weder Avery noch dir", redete sie weiter und gab ihren Gedanken Luft. Das war ziemlich typisch für Faye in Konfrontation mit Menschen, die psychisch gerade dezent am Arsch waren. Sie redete sich den Mund wund im Versuch, irgendwas von sich zu geben, das helfen könnte. Das wusste sie auch und sie war sich meistens nach dem Reden dezent unsicher, ob das jetzt vielleicht gerade wieder zu viel gewesen war und ihr Gesprächspartner innerlich die Augen rollte. Aber die Möglichkeit bestand, dass er aus all ihren Worten vielleicht ein paar passende fischen konnte, die er anwenden wollte und die ihm dann bestenfalls tatsächlich halfen. "Ich will damit nicht sagen, dass das einfach ist oder die beste Lösung sein muss - es ist nur das, was mir dazu einfällt und ich vielleicht selbst schon gesagt bekommen habe...", schob sie zur Sicherheit nach einer kurzen Pause mit einem leisen Seufzen nach. Sie gab einfach offensichtlich unglaublich gerne alle Inputs aus ihren Therapiestunden an ihre nicht so therapiefreudigen Freunde weiter. Das dürfte nämlich alles sein, was sie aktuell für Ryatt tun sollte. Ihm fiel ebenfalls nicht mehr ein und sie sass noch immer hier neben ihm und fühlte sich auf diversen Ebenen schlecht und unwohl. Auch wenn ihr Blick mittlerweile wieder mehrheitlich auf ihm lag, weil auch er die Augen aufgemacht hatte. Eigentlich hatte sie nur auf ihren blöden Bus warten und ein paar Tische putzen wollen... Und dann hatte sie eigentlich nur mal wieder versucht, das zu klären, was zwischen ihnen war und worin sie sich leider so gar nicht einig waren... Und jetzt? Die Tische waren noch immer nicht alle sauber, sie hatten überhaupt gar nichts geklärt, Ryatt war mehr oder weniger betrunken und komplett im Loch, während sie daneben stand und versuchte, ihm ein angerissenes Seil zu reichen, um ihn wieder da raus zu holen. Wäre er nüchtern, würde sie versuchen, ihn von seinem Elend abzulenken. Vielleicht würde sie ihm auch etwas erzählen, das er bisher nicht wusste. Um wieder Ausgleich darin zu schaffen, was sie gegenseitig voneinander wussten, sozusagen. Aber sie war sich nicht sicher, wie aufnahmefähig er überhaupt war und wahrscheinlich würden seine Gedanken trotzdem die ganze Zeit zurück zu Avery wandern. Wenn er sich auf irgendwas anderes konzentrieren könnte, hätte er wahrscheinlich längst gefragt...
Die drehen sich halt leider immer so unangenehm mit sich selber im Kreis... x'D _______
Nein, das hatte Avery sicher nicht gewollt. Ich mochte ihr immer mal wieder einen guten Grund dafür gegeben haben, vorübergehend sauer auf mich zu sein, weil ich mich zweifelsohne nicht immer wie der liebende Freund verhalten hatte, den sie eigentlich verdiente. Sie war mir aber nur selten mal für längere Zeit böse gewesen, was der wohl eindeutigste Beweis ihrer Liebe gewesen war. Schließlich war mir selbst am besten bewusst, wie oft ich tatsächlich ein Gesicht aufsetzte, das ich so eigentlich gar nicht fühlte. Ich tat das instinktiv, um meine wahren Emotionen und Gefühlen zu verbergen, um mich zu schützen. Leider tat das anderen Menschen weh. "Das tue ich nicht. Manchmal denk ich noch gerne an den Moment zurück, in dem alles angefangen hat... aber es ist selten, dass nicht kurz darauf der bittere Beigeschmack nachkommt.", gab ich murmelnd zu, dass ich das leider einfach nicht voneinander zu differenzieren schaffte. Ich hatte die schönen Momente mit ihr damals mehr genossen als alles andere, weshalb ich wirklich versucht hatte ihr deutlich zu machen, dass ich sie nicht für immer vertrösten, sondern nur unsere Beziehung zueinander und den Rest meines Lebens gleichzeitig zu retten versuchte. Das war aber gescheitert und jetzt war es fast unmöglich für mich, das nicht mit dem unfassbar qualvollen Fall meiner eigenen Person zu verbinden. "Und wenn ich das eine nicht ohne das andere haben kann, will ich lieber gar keine Erinnerung." Dass das nicht möglich war, brauchte ich nicht nochmal zu erwähnen. Es war trotzdem das, was ich fühlte. Eine Erfahrung, die sich so tief im Gedächtnis verankert hatte, würde nie mehr verschwinden. Ich konnte die junge Frau nicht einfach aus meinem Kopf streichen, nur weil mir das vielleicht so in den Kram passen würde, aber ich wünschte mir das dennoch mehr als alles andere. Faye sagte das hier alles so leicht, als würde ich mich ganz besonders dumm dabei anstellen, mit der Sache fertig zu werden. Sie meinte es wahrscheinlich nur gut, aber ich schüttelte unbewusst immer wieder langsam den Kopf hin und her. Ohnehin würde wahrscheinlich jeder Versuch eines Lösungsweges, den sie hier und heute vorschlug, am Alkohol scheitern. Wenn sie Glück hatte, dann blieb genug von ihren Worten in meinem beschwipsten Kopf hängen, damit ich mir morgen noch einmal Gedanken darüber machen konnte. Oder vielleicht eher übermorgen, weil die Kopfschmerzen mir ziemlich sicher das verkaterte Hirn zermartern würden. "Wenn's diesen Mittelweg gibt, hab ich ihn offensichtlich noch nicht gefunden.", machte ich eine völlig überflüssige Feststellung und unterstrich sie damit, das Glas in der Hand leicht zu schwenken. Vom Alkohol beeinflusst würde ich den besagten Lösungsweg wohl auch kaum finden, weil mein Kopf mich immer wieder in dieselbe Richtung zurück lotste. Als gäbe es nur diesen einen Weg voll Leid und Einsamkeit für mich, was einfach nicht wahr sein konnte... ich war nicht fehlerfrei, aber selbst für eine verlorene Seele wie mich musste einfach mehr drin sein. Mein Leben sollte nicht mit fast 32 schon aufhören, weil mich der Wille verließ. Ob ich nach diesem furchtbar geendeten Abend - ich ging nämlich jetzt schon nicht mehr davon aus, dass der nochmal irgendwie aufwärts ging - dieses Mal wenigstens den Mut dazu haben würde, mich nochmal einem richtig klärenden Gespräch zu stellen? Wir würden ja doch niemals auf einen Nenner kommen, was uns beide anging, also wozu das Ganze überhaupt noch? Mir lagen die Worte für einen endgültigen Abschied auf der Zunge, als mein Blick zurück zu Faye schwenkte. Trotzdem sagte ich nach ein paar Sekunden etwas anderes. "Du solltest nach Hause gehen, Faye... du tust dir hier grade keinen Gefallen, auch wenn ich deine unermüdliche Hilfe zu schätzen weiß.", seufzte ich, was ziemlich deutlich machte, dass die zierliche Brünette mich gleichzeitig auch mit ihren guten Ratschlägen nervte. Ich wusste längst, dass ich so nicht mehr ewig weitermachen konnte. Dieses Wissen allein reichte jedoch nicht aus, um herauszufinden, wie ich meinen schwer wiegenden Schädel umzukrempeln schaffen konnte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Ja und man kann ihnen die Hälfte nicht sagen, weil sies eh vergessen oder nicht mehr checken... x'D ________
Sie waren mal wieder besonders lösungsorientiert unterwegs und es war nicht unbedingt das erste Mal, dass sie ein solches Gespräch führte und dabei gefühlt gegen eine Wand redete. Nicht nur mit Ryatt, auch mit Mitch war das schon vorgekommen. Und oft genug mit sich selbst in ihrem Kopf. Was übrigens durchaus frustrierend war, weil sie auch nicht mehr tun konnte, als alles zu sagen, was ihr über die Bewältigung solcher Traumaerfahrungen mal beigebracht wurde, beziehungsweise was sie bereits selbst angewendet und was bei ihr funktioniert hatte. Sie verstand es insofern, dass Ryatt offensichtlich schon ewig dagegen ankämpfte und das meiste schon versucht haben könnte, dass es für ihn lächerlich bis schlicht unmöglich klingen dürfte, wenn sie hier ankam und ihm die Lösung mal eben auf dem Silbertablett servierte und das dann auch wirklich funktionierte. Dass er offensichtlich langsam unübersehbar betrunken war, machte Kooperation und Mitdenken sicher auch nicht leichter. "Da gar keine Erinnerung nicht unbedingt realistisch ist, wirst du so aber nie eine Lösung finden und dich für immer im Kreis drehen…", murmelte sie noch ganz nüchtern in Richtung Theke, beliess es dann aber aus genannten Gründen dabei. Sie kamen nicht weiter so und Ryatt wollte ihr auch nicht mehr zuhören. Was in Ordnung war, den Abend aber auf einer dezent unschönen Schiene auslaufen liess, die sie hätten vermeiden sollen... bisschen spät jetzt für solche Gedanken. Ihr Blick blieb an der Bar kleben, auch als Ryatt sich wieder ihr zuwandte, um ein paar Sekunden später das zu sagen, was sie längst bestens wusste. Natürlich sollte sie nach Hause gehen. Sie hätte vor einer Stunde nachhause gehen sollen, bevor sie all das überhaupt heraufbeschwört hatte. Hatte sie aber nicht getan und es war auch nicht so, als würde gleich in den nächsten zehn Minuten ein Bus fahren. Wenn sie mehr als zehn Minuten alleine draussen warten müsste, hätte sie das auch vor einer halben Stunde tun können verdammt. Das hier war ein komplett unnötiges Rundumversagen, das sich etwas zu leicht hätte verhindern lassen. Mit etwas Voraussicht, die sie nicht gehabt hatte, als sie ihrerseits den Kopf auf den Tisch gelegt und Trübsal geblasen hatte. "Ich weiss…", stellte sie schonmal nüchtern für sich fest. Auf den zweiten Teil wusste sie wenig zu sagen, weil es sich gerade sehr sicher nicht so anfühlte, als würde er die Wahrheit sagen. In anderen Momenten schon, aber hier und jetzt wollte er offensichtlich lieber seine Ruhe als ihre unermüdliche Hilfe. "...aber ich habe Angst, dass du dich dann wirklich nicht mehr meldest. Länger als nur diese eine Woche, die du bereits angedroht hast. Und ich wollte das hier nicht provozieren und dich dann damit sitzen lassen...", zu. spät. Sie wusste es ja. Aber auch das war ziemlich typisch für sie, diese Reuegedanken und Entschuldigungen mehr oder weniger unmittelbar nachdem sie den Schaden angerichtet hatte. Victor konnte ein Lied davon singen. "Kommst du wenigstens dann auch auf den nächsten Bus..?", ob es ihre Nerven wirklich nachhaltig beruhigen würde, zu wissen, dass er auf dem Heimweg war und es bestenfalls auch bis ins Wohnheim schaffte, sei dahingestellt, aber versuchen konnte sie es ja. Vielleicht spielte es in der Realität auch weniger eine Rolle, ob er alleine hier an der Bar oder in seinem Bett liegen blieb, als es das in ihrem Kopf tat.
Denen ist ja sowieso auch fast alles was du sagst grundsätzlich egal, weil es ist doch eh alles scheiße und mimimi und lass mich in meinem Trübsal versinken und MEHR MIMIMI… die kriegen auch alles immer direkt in den falschen Hals, einfach aus Prinzip. x'D _____
Tja, ich hätte wohl damals schon ab und zu Alkohol trinken sollen, um den jetzt hässlich gewordenen Erinnerungen vorzubeugen. Ich wusste, dass ich so einen Bullshit nicht denken sollte und trotzdem kam es beinahe regelmäßig vor. Ich konnte mir unendlich oft ausmalen, was ich damals hätte anders machen müssen und doch würde es überhaupt nichts ändern. Es gab keine andere Wahl, als irgendwie damit fertig zu werden und eine bessere Lösung als Alkohol hatte ich bisher nicht gefunden. Könnte vielleicht daran liegen, dass ich es noch nicht allzu oft wirklich effektiv versucht hatte, weil ungefähr alles an der Verarbeitung eines Traumas unangenehm und schmerzhaft war. Wenigstens waren Faye und ich uns aber damit einig, dass sie nicht mehr hier sein sollte. Dabei fand ich es gar nicht per se falsch, dass sie geblieben war… andernfalls hätte ich sie wohl nicht geküsst. Was war, wenn ich das nochmal tat? Was würde sie dann machen? Mich von sich aus endgültig aus ihrem Leben abschieben? Vielleicht sollte ich mir das als Notfallplan zurechtlegen… als letzten Ausweg, mit dem ich mir totsicher alles verbocken konnte. "Ich hab es selbst nicht weniger provoziert als du. Das liegt nicht nur an dir oder an mir, sondern an uns beiden.", meinte ich trocken. Mit Alkohol kam bei mir fast immer auch unweigerlich der Trotz und ab einem gewissen Pegel fing ich absichtlich an, mich zu streiten, nur um meine Ruhe zu kriegen. Ich hatte eigentlich herzlich wenig Lust dazu, jetzt zurück ins Wohnheim zu gehen. Andererseits würde ich aber wohl ungesund viel weitertrinken, wenn die Brünette mich hier alleine zurückließ. Das würde Dylan überhaupt nicht lustig finden - das hier war schließlich nicht meine Bar, auch wenn es sich an den Abenden, an denen der Chef gar nicht auftauchte, manchmal ein bisschen so anfühlte. Meine Augen wanderten zu der Uhr an der Wand hinter der Bar, mein nächster Bus ging in circa 20 Minuten. Glaubte ich zumindest, ich hatte die nächtlichen Abfahrtszeiten relativ fest im Kopf. Wie gut mein Erinnerungsvermögen in diesem Zustand war, mal so dahingestellt. "Dass ich mich nicht melde, kannst du sowieso nicht verhindern. Selbst wenn du mich jetzt noch kontrolliert in den Bus steckst, ist das keine Garantie dafür, dass ich in absehbarer Zeit wieder zum Hörer greife.", vermittelte ich ihr völlig unverblümt, dass es am Ende keinen Unterschied machte, ob sie jetzt noch hier blieb oder nicht. Ob sie auf Nummer Sicher ging, dass ich meinen eigenen Bus erwischte, oder ob sie mich einfach hier zurückließ. Es hing ausschließlich davon ab, wie sehr ich mich am Ende für den heutigen Ausrutscher - nicht auf den Kuss, sondern auf den ganzen Rest bezogen - schämte und wie wichtig es mir war, das zu bereinigen. Ob ich mir diesen unschönen Ausgang der Dinge ausreichend selbst rechtfertigen konnte, oder ob es mich stattdessen völlig zermürbte und die Gegenüberstellung mit dem Problem am Ende die weniger unangenehme Variante war. Wenn Faye sichergehen wollte, dass ich nicht versuchen würde ihr gänzlich auszuweichen, müsste sie so lange an den Fersen kleben, bis ich morgen aufwachte und das würde eher nicht passieren. "Aber schön, wenn du dann Ruhe gibst… und ich bis dahin die blöden Tische fertig kriege…", grummelte ich vor mich hin und kippte den letzten kläglichen Schluck des Bourbons meine Kehle runter. Danach rutschte ich vom Stuhl, wobei ich zweifellos schon nicht mehr ganz nüchtern aussah. Dafür war die ganze Bewegung etwas zu unkoordiniert. Trotzdem ließ ein guter Soldat keine Aufgaben unerledigt zurück und hier standen jetzt wieder eine Tasse und ein Glas herum, während manche Tischplatten noch aufgrund von alkoholischen Flecken klebten. Wie gut ich die noch sauber bekam war wohl auch fraglich, aber sie wischten sich eben trotzdem nicht von selbst ab. Der Lappen lag auch nach wie vor genau da, wo ich ihn vorhin hingelegt hatte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
HÄTTE SICH JA NICHT BETRINKEN MÜSSEN EY... _____________
Diese Aussage würde sie wohl sogar unterschreiben. Wäre der Kuss nicht gewesen, wäre das hier nicht passiert, und den Kuss hatte sie ihrer Meinung nach tatsächlich nicht allein zu verantworten. Sie hatte ihn zwar mit dem Bedürfnis nach Nähe umarmt, aber eigentlich auch mit der Absicht, es bei einer Umarmung zu belassen. Offiziell zumindest. Was er dann daraus gemacht hatte, war nicht zuletzt auch auf seinem Mist gewachsen, da konnte sie ihm gerne ein bisschen Verantwortung abgeben. Sie waren wohl einfach dazu prädestiniert, einander immer wieder in unangenehme, mitunter auch schmerzhafte Situationen zu bringen. Entweder, weil sie sich gegenseitig nicht geben konnten, was ihre Seelen und Körper eigentlich brauchten und forderten, oder weil sie zu oft in den Wunden des anderen herumstocherten - mal mehr, mal weniger unbewusst. Vielleicht waren diese Situationen gut, weil sie Gedankengänge anregten, vielleicht ein bisschen Linderung verschaffen könnten, irgendwann. Aber vielleicht waren sie auch zu viel für sie beide, vielleicht sollten sie in dieser Kombination nichts solches hervorrufen und provozieren. Vielleicht sollte auch Faye irgendwann einsehen, dass sie nicht dazu da war, Ryatts schlecht verheilte Narben aufzukratzen, ihren Balsam auf die wieder offenen Wunden aufzutragen und dann irgendwann davonzutanzen. Vielleicht war ihr Balsam für diese Art von Wunden gar nicht geeignet und Ryatt brauchte eigentlich ein ganz anderes Heilmittel. Oder er wollte gar keines und sie sollte das akzeptieren. Sie würde sich Gedanken dazu machen müssen, so viel stand fest. Aber so wies klang, wurde ihr dafür auch genug Zeit vergönnt, weil Ryatt die Funkstille auch ohne ihr offizielles Einverständnis durchziehen würde. Kam jetzt nicht sonderlich überraschend, er schien über den Punkt hinaus zu sein, an dem er sensibel auf ihre Sorgen einging. Faye verdrehte etwas die Augen, jedoch weiterhin ohne dabei in seine Richtung zu sehen. Erst als er einwilligte, zumindest ungefähr zur gleichen Zeit wie sie den Nachhauseweg anzutreten, kam wieder Bewegung in sie. Weil er ganz bestimmt keine Tische mehr abwischte hier, da sie das sehr viel schneller hinbekam als er. Ausserdem wusste sie auch besser, welche drei Tische denn überhaupt noch schmutzig waren, er hatte ihr ja vorhin wahrscheinlich kaum zugeschaut, als sie mit Saubermachen angefangen hatte. "Ich mach das schon… bring du besser deinen Alkohol weg.", setzte sie ihn trocken über ihre Form der Aufgabenteilung in Kenntnis, nickte zu seiner Flasche und dem leeren Glas und ging mit diesen Worten zum Tisch mit dem Lappen zurück. Sie schnappte sich zuerst ihre Tasche vom Nebentisch und den kalten Lappen, ging mit beidem hinter die Theke zum Spülbecken, um den letzten Schluck Tee den Abfluss runter zu kippen und den Lappen nochmal mit heissem Wasser auszuwaschen. Die Tasse liess sie neben dem Spülbecken stehen und kümmerte sich dann wie angedroht vorerst um die verbliebenen Tische. Als das getan war, blickte sie sich prüfend in der Bar um. "Sonst noch was oder bist du mit dem Rest schon vorhin fertig geworden?", wandte sie sich mit einer sachlichen Frage erst dann wieder an Ryatt. Sie kannte sich leider nicht aus mit den Arbeiten, die in einer Bar nach Feierabend anfielen, konnte also schlecht sagen, ob sie hier fertig waren oder nicht. Aber sie würde sicherlich gleich aufgeklärt werden, sofern er dazu noch in der Lage war.
Nenene, das war schon nötig. Also aus Ryatts Sicht zumindest. XD ______
Da wars schon wieder - Fayes Helfersyndrom. Ungeachtet der Tatsache, dass wir so definitiv schneller fertig werden würden, passte mir das natürlich nicht in den Kram. Aus Prinzip nicht, weil ich in meinen Augen noch nicht so verloren durch die Gegend steuerte, dass ich es nicht hinbekam ein paar Tische selbstständig abzuwischen. Außerdem konnte ich es auch ganz generell nicht leiden, wenn mir meine Arbeit abgenommen wurde. Arbeit, für die ich in diesem Fall sogar bezahlt wurde, obwohl ich sie heute nicht besonders glorreich abschloss. Vielleicht war ich aber auch deswegen so angesäuert, weil die Brünette explizit den Alkohol erwähnte, von dem ich ganz genau wusste, dass ich ihn besser nicht hätte trinken sollen. Oder vielleicht war es auch nur ihr Tonfall oder einfach die Gesamtheit ihrer Aussage und der Situation. Statt einen beleidigten Kommentar abzugeben oder darauf zu beharren, dass ich es selbst machen wollte, atmete ich aber lediglich sehr tief durch und blieb stehen. Ich sah der zierlichen jungen Frau noch einen Moment lang nach, bevor ich mich genervt kopfschüttelnd umdrehte und um die Theke herumging, um meinen Alkohol wegzuräumen. Die Flasche stellte ich zurück an ihren Platz und als Faye mit dem erneut funktionstüchtig gemachten Lappen zu den übrigen Tischen ausflog, kümmerte ich mich abschließend um das Glas und auch ihre abgestellte Tasse. Alles andere Wichtige hatte ich schon vor der von Whiskey geprägten Eskapade erledigt, also waren wir eigentlich bereit zum Abflug, als die Tische fertig abgewischt waren. Trotzdem dachte ich noch kurz darüber nach, bevor ich verneinte. "Nein, müsste alles gewesen sein.", erwiderte ich und war heilfroh darum, die Kasse schon vor diesem Dilemma fertig gemacht zu haben. Der stellenweise dreckige und verklebte Boden fiel glücklicherweise nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, das ließ Dylan von einer Reinigungskraft machen. Unter der Hand versteht sich, weil ihn das deutlich weniger kostete. Die nette Lady wohnte quasi fast nebenan und brauchte den kleinen Nebenverdienst, einmal war ich ihr hier über den Weg gelaufen. Sie hatte die Bar ungewöhnlich später erst eine Stunde vor Öffnung durchgewischt und dabei definitiv mehr Effizienz bewiesen, als ich selbst vorweisen könnte. "Ich muss nur nochmal kurz nach hinten.", kündigte ich mein zeitlich befristetes Verschwinden an, kurz bevor ich den herausnehmbaren Teil aus der Kasse zog, um das Geld nach hinten zu bringen. Dass ausgerechnet hier Jemand einbrach, mochte verhältnismäßig unwahrscheinlich sein, aber die Scheinchen und Münzen mussten zur Sicherheit trotzdem in den Safe. Ich schlurfte also mit dem Geld in den Händen in den Personalbereich und hetzte mich nicht unbedingt damit, es zu verwahren. Das lag auch mitunter daran, dass ich mich beim ersten Versuch mit der Zahlenkombination vertippte. Das wiederum ließ mich grimmig die Augenbrauen nach unten ziehen. Kontrollverlust war doch eigentlich nie mein Ding gewesen, warum strebte ich jetzt so sehr danach? War das irgendein Mist mit umgekehrter Psychologie, den ich einfach nicht verstand? Vielleicht hatte die Busfahrt ein paar Antworten für mich, die ich hier nicht fand. Oder sie bescherte mir noch mehr Fragen, war auch gut möglich. Wieder vorne bei Faye angekommen warf ich ihr nur einen flüchtigen Blick zu, bevor ich die Garderobe ansteuerte. Erst dabei fiel mir wieder die übrig gebliebene Jacke auf, die da jetzt einfach bis morgen Abend hängenbleiben würde, weil ich keine Lust hatte noch ein weiteres Mal nach hinten zu gehen. Stattdessen angelte ich mir meine Baseballjacke - ja, die gabs immer noch, sie war jetzt nur deutlich weniger dreckig als zu meinen Obdachlosen-Zeiten - vom Haken und deponierte Handy, sowie Geldbeutel von den Hosentaschen in die Jackentaschen um, bevor ich den Reisverschluss vorne zuzog. Es mochte kein Winter mehr sein, aber in den frühen Morgenstunden war es eben doch noch ziemlich frisch... was ich vielleicht gar nicht merken würde, weil Alkohol bekanntlich von innen heraus wärmte. Irgendeinen Vorteil musste das Nervengift ja haben.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈