Sie brauchte nicht lange auf der Türschwelle zu warten, bis jemand sich dem Türschloss annahm. Und die Person entpuppte sich tatsächlich als ihren Freund, der also noch hier war und nicht zwischenzeitlich die Flucht ergriffen hatte. Das war positiv. Sie versuchte aus seinem Gesicht zu lesen, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war, meinte auch, da eine gewisse Erleichterung zu sehen. Auf jeden Fall sah er nicht schlimmer aus als vor ihrem Spaziergang. Aryana trat ein, zog aber leicht eine Augenbraue hoch, als sie seine ersten Worte vernahm, die keine Begrüssung und keinen Zwischenstand beinhalteten. Das klang dann wiederum doch nach einer Flucht. Wenn auch nicht zwingend vor Jetman, sondern vielleicht wirklich nur vor dessen Kind, wie Mitch weiter ausführte. Sie wandte sich ihm zu, legte eine Hand an seine Wange und zog ihn so etwas in ihre Richtung. Hauptsächlich, um ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen zu drücken. "Klar, können wir machen", stimmte sie seinem Vorschlag zu, liess sich eine kleine Anschlussfrage aber trotzdem nicht nehmen, während sie bereits ihr Handy aus der Jeanstasche zog. "Bei euch alles gut..?", forschte sie nach und musterte Mitch nochmal kritisch. Er sah wie bereits festgestellt nicht mehr so angespannt aus und Jetman, der nun ebenfalls langsam in den Hauseingang getrottet kam, nickte ihr auch ganz zufrieden zu. Also war keiner fast gestorben und sie hatten definitiv damit begonnen, ihren Frieden wiederherzustellen. Das war nicht nur schön, sondern wirklich sehr gut. "Ich ruf mal ein Taxi", erklärte sie somit, ohne weitere Erklärungen abzuwarten. Sie wählte die Nummer des Taxiunternehmens, welches sie bereits hierher gefahren hatte, erklärte nach einer kurzen Begrüssung ihren Wunsch und legte nach kaum eineinhalb Minuten wieder auf. "In zehn bis zwanzig Minuten sollte jemand da sein", gab sie das Ergebnis des Gesprächs wieder, steckte das Handy weg und blickte dann nochmal abwechselnd in die Gesichter von Mitch und Jetman. "Habt ihr schon einen Plan für Morgen aufgestellt oder wollt ihr euch doch nicht wiedersehen?", fragte sie in die Runde, wobei der zweite Tel ihrer Frage natürlich eher rhetorischer Natur war. Sie ging nicht davon aus, dass das der Fall war, aber mal schauen. Auf jeden Fall wäre das hier leichter zu klären als übers Telefon oder erst Morgen. Sie wusste auch gar nicht, ob Jetman morgen noch was anderes vorhatte oder den Tag ganz für Mitch freigehalten hatte - je nachdem fiel die Programmgestaltung nämlich unterschiedlich aus.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Die kurze Annäherung Aryanas half ein bisschen dabei, mich wieder zu erden. Auch wenn jetzt alles so okay war, wie es hatte werden können, würde mein Kopf noch eine Weile brauchen, um alles zu verdauen, was Jetman mir an den Kopf geworfen hatte. Ich hatte mir vorher schon genug Vorwürfe gemacht, aber er hatte gekonnt noch ein paar mehr addiert. Dinge gesagt, an die ich vorher so noch nicht gedacht hatte. Ich würde das alles also wahrscheinlich auch morgen noch nicht ganz verarbeitet haben, sondern erst, wenn wir uns irgendwann das nächste Mal wiedersahen. Meine Hand streckte sich automatisch mit einer flüchtigen Berührung nach Aryanas Hüfte aus, als sie mich zu sich hinzog und ich dem bereitwillig nachgab. Es war nur ein kurzer Moment der Ruhe, ein kleiner Kuss, aber ihre generelle Anwesenheit beruhigte mein aufgewühltes Inneres ein wenig. "So gut wie es sein kann, denke ich...", beantwortete ich ihre Frage murmelnd und meine Mundwinkel zuckten ein klein wenig nach oben. Die Freundschaft zu Jetman war leider eine weitere Sache, die über Zeit hinweg heilen musste. Das war nicht innerhalb weniger Stunden grade gebogen, das Vertrauen war gebrochen. Mein Blick wanderte unweigerlich zu besagtem Mann, als er sich zu uns gesellte. Solange Aryana den Anruf für unsere Abfahrt erledigte, hielten wir beide den Mund und Jetman lehnte sich zwischenzeitlich locker in den Türrahmen des Wohnzimmers. Auf die nächste Frage der Brünetten hin, fanden meine Augen wieder zu ihm. "Hast du mit Cami irgendwas besprochen..?", hakte ich erst einmal nach. Allein deswegen schon, weil ich nicht wusste wie er überhaupt dazu stand, mich jetzt schon mit seiner Familie aufeinandertreffen zu lassen - die war ihm wie erwähnt schließlich heilig und ich war nüchtern betrachtet ein verräterischer, mordender Ex-Inhaftierter. Ich könnte es also verstehen, wenn er das lieber noch eine Weile verschob. So lange, bis er sicher damit war, dass ich alles ernst meinte, was ich gesagt hatte. Er nickte langsam. "Sie hat ein paar Dinge zu erledigen morgen und ich arbeite bis zum Mittag, aber ihr könnt gerne zum Kaffee und/oder Abendessen vorbeikommen... Open-End." Er unterstrich seine Worte mit einer flüchtigen, ausschweifenden Handbewegung. Mein Blick schwankte zurück zu Aryana und ich versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, was sie dachte. Wenn seine Frau mit von der Partie war, war Elly auch da - ich hatte wirklich nicht per se was gegen sie und morgen war ich sicher auch nicht mehr so unterschwellig aufgewühlt wie jetzt, aber in diesem Moment bereitete mir der Gedanke daran, Kindesfragen standhalten zu müssen, eher Unwohlsein. Die waren immer so ehrlich, furchtbar direkt... und man sollte besser nichts Falsches antworten. "Abendessen..?", machte ich Aryana den mir bevorzugten Vorschlag, bevor ich zurück zu Jetman sah. "Ich bin einfach nicht so der Kuchenesser.", meinte ich mit einem schiefen Lächeln, auch wenn mein Bester wohl gar keine Erklärung brauchte. "Abends noch ewig am Feuer zu sitzen sieht dir ähnlicher, ja.", meinte er nickend, bevor unser beider Augen zurück zu Aryana wanderten.
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Es war gut, dass er ihre Annahme noch wörtlich bestätigte und damit unterstrich, dass sich die ganze Problematik ein Stück weit gelegt hatte. Kaum vollständig natürlich, aber so weit wie sie das in einem Nachmittag hatte tun können. Der erste Schritt war getan und Aryana war sich sehr sicher, dass Mitch weitere folgen lassen würden. Dass die Freundschaft zu Jetman stellvertretend für das stehen würde, was jetzt kommen würde. Jetzt, wo Mitch den Kopf am definitiven und endgültigen Boden des Fasses gestossen hatte - so, dass der einzige verbleibende Weg aufwärts führte, in Richtung Licht und Ausgang und Sonne. Er hatte sich aufgerafft, kratzte alle Kraft zusammen, die er aufbieten konnte, um noch einmal einen Anlauf zu nehmen und diesmal alles richtig zu machen. Er würde es schaffen und sie würde ihm helfen wo sie konnte - und wenn sie nicht mit helfen beschäftigt war, würde sie stolz daneben stehen und ihm tausendmal sagen, dass er das unglaublich toll machte und sie ihn unendlich liebte. Diese Worte mussten gerade noch ein paar Minuten warten, aber ihre Finger strichen zart über seine Wange, als er die Bestätigung ausgesprochen hatte und ihr Gesicht zeigte ein stolzes Lächeln, das einen Vorgeschmack dessen bot, was sie gerade im Herzen fühlte - also abgesehen von der ganz grossen Erleichterung. Jetman schien sich offenbar bereits mit seiner Frau über den weiteren Verlauf dieses mehrtägigen Besuches unterhalten zu haben, wies schien. Also auch darüber, dass sie sie morgen doch schon kennenlernen würden. Sie und Jetmans Tochter, bedeutete das wohl. Aryana war da voll bei Mitchs Vorschlag, nickte diesen umgehend ab, da sie das Abendessen einem ausgedehnten Nachmittag mit Kaffee und Gequassel eindeutig vorzog. Sie wollte keineswegs abweisend oder gar undankbar wirken, aber sie kannte Camila nicht und da die introvertierte Seele der Brünetten sich einfach unglaublich schwer tat mit dem socializen und unbefangenem Smalltalk, hatte sie vielleicht auch ein kleines bisschen Lampenfieber vor dieser Interaktion. Jetmans Frau wirkte wie die perfekte Mutter und Hausfrau / Partnerin - reine Vorurteile, sie kannte sie ja wie schon bemerkt nicht - und Aryana hatte keine Ahnung, über was sie mit ihr reden sollte. Sie hatte gefühlt gar nichts zu bieten, was eine gewöhnliche, gutbürgerliche Amerikanerin interessieren und für gut befinden könnte. Also nein... besser kein ganzer Nachmittag und Abend, sondern erstmal den Ball flach halten, bevor sie wegen Nervositäts-Übelkeit ganz zuhause bleiben musste. Sie und ihre kleine, lächerliche soziale Phobie. Sie einigten sich also auf eine Zeit morgen Abend und Jetman begann schon jetzt damit, ihnen vom ach so tollen Essen, das sie dann erwartete, vorzuschwärmen. Er nannte zwar das geplante Gericht nicht, lobte aber die Kombination von Camis Koch- und seinen Grillkünsten ziemlich hoch in den Himmel. Abgesehen davon wurde nicht mehr viel nennenswertes geredet, bevor sie sich nach draussen begaben, wo nur zwei Minuten später das Taxi vorfuhr. Sie verabschiedeten sich also vorübergehend von Jetman, luden ihre Taschen ins nächste fremde Auto, bevor sie einstiegen und die Adresse ihres vorübergehenden Zuhause nannten. Als der Taxifahrer den Wagen ins Rollen brachte, wanderten Aryanas Augen fast unverzüglich zu Mitch, den sie lächelnd einer offenen Musterung unterzog. Sie fischte nach seinen Fingern, um diese wieder festzuhalten - auch wenn es diesmal viel weniger der Nervosität als der Zufriedenheit zu verschulden war. "Wie fühlst du dich..?", wollte sie leise wissen. Vielleicht wollte er das auch noch nicht hier besprechen, dann würde sie sich mit der Fragerei bis zu ihrem Ziel zurückhalten. Wäre vielleicht sowieso besser. Aber seinen groben Gemütszustand durfte er trotzdem schonmal nennen.
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Aryana war ganz bei mir und ich hatte eigentlich nichts Anderes erwartet. Sinnbildlich hingen für uns beide nun mal noch fette Fragezeichen über Ellys und Camis Kopf. Dunkel konnte ich mich an ein Foto erinnern, das Jetman mir vor ein paar Jahren gezeigt hatte, aber ich würde Camila nie im Leben bewusst wiedererkennen, wenn sie irgendwo an mir vorbeilief. Es war also beschlossene Sache, dass wir morgen gegen Sechs am Abend hier sein würden und es irgendwann zwischen Sechs und Sieben Essen gab - je nachdem, wie Cami mit ihren Nachmittagsplänen zeitlich hinkam. Wahrscheinlich würde Elly nach dem Essen zeitnah ins Bett gebracht werden, es wurde also ein überwiegend kinderfreier Abend. Wunderbar. Wir verabschiedeten uns vorübergehend von dem ehemaligen Soldaten und im Taxi sitzen warf ich noch einen kurzen Blick zurück zum Haus, wo Jetman im selben Moment die Haustür schloss. Erst dabei kam mir eine Frage in den Sinn, die ich ihm gerne gestellt hätte, bevor wir morgen auf der Matte standen: Wusste Camila, was vorgefallen war? Ich hielt es für unwahrscheinlich, weil eine Mutter, die psychische Kriegsfolgen sicher nicht so gut nachvollziehen konnte wir ihr traumatisierter Ehemann, mich noch viel weniger freiwillig in die Nähe ihres Kindes lassen würde. Ich sollte Jetman besser noch danach fragen, bevor wir morgen herkamen. Je nachdem änderte sich schließlich unweigerlich die Heran- oder Umgehungsweise gewisser Themen, auch wenn nicht davon auszugehen war, dass wir uns über Syrien unterhalten würden. Niemand von uns hatte dort eine super Zeit erlebt. Meine Augen lösten sich erst von der Scheibe, als ich Aryanas Finger spürte und sie meinen Blick damit in ihre Richtung dirigierte. Ich erwiderte ihr Lächeln noch etwas zurückhaltend und strich mit dem Daumen über ihren Handrücken, während ich selbst zu eruieren versuchte, wie ich mich fühlte. Mein Kopf schien sich jetzt nach dem Verlassen des Grundstücks zwar langsam wieder etwas entspannen zu wollen, aber das Gespräch und der Tornado in meinem Schädel hallten nach. Ich warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und stellte fest, dass ich beim desinteressierten Blick des Fahrers keine Gründe hatte, die Antwort zu schönigen. "Würdest du nicht meine Hand halten, würde ich mir eine Kippe anzünden." Ich versuchte wirklich weniger zu rauchen, weil der Konsum neben dem Alkohol noch ungesündere Ausmaße angenommen hatte. Mein Körper verlangte trotzdem noch sehr eisern nach den Glimmstängeln und ließ mich das vor allem bei Stress merken. "Ich bin erleichtert, dass er mir die zweite Chance gibt, aber er war ziemlich gnadenlos... und hat mir die Pistole an die Brust gesetzt, die du nicht ziehen kannst." Mit diesen zögernd rausgerückten Worten sah ich wieder aus dem Fenster. Aryana konnte mir nicht sagen, dass ich eine Therapie machen musste, weil sie sonst über alle Berge war. Wir beide wussten, dass sie das nicht durchziehen würde und eine solche Drohung einfach ganz und gar nicht das war, was unsere Beziehung noch brauchen konnte. Jetman hatte aber nichts zu verlieren, weil er sich längst an ein Leben ohne mich gewöhnt hatte. "Wenn ich mir nicht mindestens 'ne Selbsthilfegruppe suche, war's das. Aber lieber wär ihm natürlich richtige Therapie - lässt sich schwer vor ihm verstecken, wie kaputt ich bin.", schloss ich das Bilanzziehen mit einem schweren Seufzen ab. Nach Aryana war er wohl der Mensch, der mich am besten kannte - früher zumindest, weshalb ich jetzt wohl schwer wiederzuerkennen war. Ich war jetzt anders kaputt als früher.
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Das war eine ziemlich aussagekräftige Antwort, mit der sie wahrscheinlich mehr oder weniger hätte rechnen können. Sie würde ihm die Kippe in diesem Moment sogar gönnen, auch wenn sie natürlich nach wie vor nicht begeistert war von seinen Rauchgewohnheiten. War halt nicht gesund und sie fände es schön, wenn er noch eine Weile mit ihr diese Erde bewohnen könnte und nicht plötzlich wegen Lungenkrebs ausfiel. Aber wie dem auch sei, wahrscheinlich war der ganze Stress und die psychische Belastung ihres Lebensstils sowieso weitaus schädlicher für ihre Gesundheit als das Rauchen. "Ich seh schon... Aber ich erlaube dir hiermit, dir später eine anzuzünden", zeigte sie sich gütlich, obwohl ihnen beiden bewusst war, dass er auch dann zur Kippe greifen würde, wenn sie es nicht gutheissen würde. Allerdings redete Mitch noch weiter und ihre Stirn legte sich dabei nachdenklich in Falten, weil sie im ersten Moment nicht drauf kam, was es sein könnte, das Jetman angedroht hatte. Aber klar. Jetman konnte sagen, dass er den Kontakt für immer abbrechen würde, wenn Mitch eine Bedingung nicht erfüllte. Sie konnte das nicht. Beziehungsweise könnte sie es schon tun, aber sie würde sich kaum daran halten, weil sie sich damit am Ende ebenso strafen würde. Und weil sie ihn - offensichtlich - einfach nicht aufgeben wollte oder konnte, was sie tun müsste, wenn sie ihn sitzen liess. Schliesslich redete Mitch aber noch weiter, erklärte, was Jetmans Bedingung war und Aryanas Augen wurden doch ziemlich gross. Eine Therapie oder eine Selbsthilfegruppe..? Sie hatte ihm das schon vorgeschlagen. Und sie würde ziemlich viel darauf verwetten, dass Faye und wahrscheinlich auch Victor ihren Freund schon auf diese Option hingewiesen hatte. Aber er hatte sich bisher sehr dagegen gesträubt und sie hatte es verstanden, weil sie ja selbst nicht einsah, sich einem solchen Seelenklempner anzuvertrauen. Vielleicht hatte sie es aber auch ein kleines bisschen weniger nötig als Mitch... Zumindest auf den ersten Blick. "Das ist... hart", war ihr erster Kommentar dazu und ihre Finger strichen über seine Hand, wo auch ihre Augen mittlerweile lagen. "Aber wenn er meint, dass es hilft - und unter dieser Bedingung - wirst dus wohl trotzdem mal versuchen müssen, oder? Ich gehe nicht davon aus, das du dich so sehr dagegen sträubst, dass du lieber gleich aufgibst?", das war eine eher rhetorische Frage, so wie sie die letzten Wochen erlebt hatte. Mitch würde sehr viel bis alles dafür tun, Jetman als Freund zurück zu gewinnen. Und das konnte sie definitiv gutheissen, denn er brauchte diesen Anker. Eine Bezugsperson abgesehen von ihr. Aber vor allem brauchte er einfach einen besten Freund.
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"Sehr gnädig, danke.", erwiderte ich ironisch. Wahrscheinlich würde ich die Zigarette noch anzünden, bevor wir ins Hotel gingen. Falls Aryana nicht solange warten wollte, konnte sie in der Zwischenzeit auch schon das Einchecken erledigen. Das würde sie mit Sicherheit alleine hinkriegen und es würde ihr den Rauch in der Nase ersparen, der so ziemlich jedem Nichtraucher missfiel. Es kam wenig überraschend für mich, dass die Brünette nicht mit so einer Forderung Jetmans gerechnet hatte. Ich selbst war auch nicht davon ausgegangen, dass er mit sowas um die Ecke kam. Und ja, das war hart - inmitten des unschönen Kontexts verstand ich es trotzdem ein bisschen. Das sollte nicht heißen, dass ich es besonders nett von ihm fand mir einfach ein Ultimatum aufzutischen, aber ich hatte in dieser Sache schlichtweg nichts zu verlieren. Wenn ich ihm so beweisen konnte, dass ich es ernst meinte, dann musste ich dem eine Chance geben. "Ich will nicht behaupten, dass ich mich jetzt plötzlich mit dem Gedanken wohlfühle, mich von Irgendwem therapieren zu lassen..." Völlig egal ob in einer Selbsthilfegruppe - der ich in den ersten hundert Sitzungen nur zuhören würde, um dann bei der 101. Sitzung vielleicht mal minimal an der Oberfläche meiner Traumas zu kratzen - oder einem Therapeuten gegenüber, der sich voll und ganz mir widmete. Mein Kopf war meiner, Zutritt verboten. "...aber aufgeben ist halt nicht mein Ding, wenn es um Menschen geht, die mir wichtig sind. Vielleicht hilfts ja wirklich dabei, mich selber auch wieder mit auf die sehr kurze Liste zu setzen.", murmelte ich vor mich hin und warf zwischendurch einen weiteren Blick nach vorne, nur um sicherzugehen, dass der Taxifahrer seine Ohren weiterhin desinteressiert bei sich behielt. Er hatte noch immer nur den ruhigen Verkehr im Auge, auch wenn er zwangsweise mithörte. Meine Augen wanderten zurück zu Aryana und ich zuckte mit den Schultern. "Faye hat mir in ihrem immer guten Willen die Adresse ihrer Therapeutin gegeben. Ich glaube nicht, dass die mir auch helfen kann", einfach weil Faye und ich zwei völlig verschiedene Personen waren, "aber vielleicht kann die mich zumindest an einen möglicherweise gut passenden Kollegen weiterleiten. Schlimmstenfalls tick' ich aus und gehe wieder.", beendete ich meine Gedanken dazu sarkastisch, wenn auch etwas Wahrheit darin lag. Ich hatte mir oft Gedanken dazu gemacht, seit die jüngere Cooper mich bei unserem Ausflug in diese Richtung zu schubsen versucht hatte. Über unzählige Wochen hinweg war mein Sturkopf jetzt langsam bereit dazu, sich doch ein bisschen Verstand einflößen zu lassen und das Hilfeangebot zu nutzen. Widerwillig und nur unter Druck, aber sei's drum. Wir waren schon ein kurzes Stück auf einer schmalen Straße direkt an der Küstenpromenade entlang gefahren, als der Wagen anhielt. Daraufhin löste ich meine Finger von Aryanas, um dieses Mal dankend den Bezahler zu spielen und anschließend auszusteigen. Es ging kein starker Wind, aber wie so oft am Meer, stand die Luft nie ganz still. Das Gepäck war schnell aus dem Kofferraum geholt und als das Taxi vom Gehweg abfuhr, griff ich erstmal in die seitlich an meinem rechten Oberschenkel liegende Hosentasche.
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So war sie halt - sehr gnädig. Zumindest an ihren guten Tagen, die ja jetzt auch nicht unbedingt der Mehrheit entsprachen. Zumindest bisher nicht, aber Aryana konnte doch stolz behaupten dass es in letzter Zeit etwas besser geworden war. Es war schlicht nicht zu leugnen, dass Mitchs Motivation, endlich final sein Leben in den Griff zu bekommen, auch ihrer Psyche erheblichen Aufschwung bescherte. Aus dem Loch, in welchem sie die Wochen vor dem haltlosen Sturz auf die Fresse gesessen hatten, waren sie definitiv raus. Und zwar insofern, dass sie jetzt wenigstens wieder zusammen und nicht gegeneinander kämpften und das war doch unbeschreiblich viel wert. Was die Therapiesache anging, hatte sich seine Meinung aber offenbar nicht grundlegend gelegt. Wenig überraschend, er war ja auch nicht selbst auf die Idee gekommen, sich irgendwo anzumelden. Und doch schien er sich hier ziemlich gefasst, gewissermassen leicht diesem Schicksal zu ergeben und sich in die ganze Problematik zu schicken. "Vielleicht ists ja wirklich eine gute Idee und hilft dir am Ende tatsächlich. Ich weiss, dass ich die falsche Person bin, um das zu sagen, aber trotzdem - versuchen kann mans und am Ende hast du ganz definitiv mehr zu verlieren, wenn du da nicht hingehst, als wenn dus tust", meinte sie nachdenklich, versuchte sich noch immer eher wage, ihren Mitch in einer Therapie vorzustellen. Das Bild existierte so in ihrem Kopf noch nicht, war entsprechend nicht ganz einfach. Aber Jetman wusste sicherlich, wovon er redete, hatte den Vorschlag kaum grundlos gemacht. Dem Familienvater hatte die Therapie offenbar gutgetan, so wie er als Person wirkte. Gut geerdet, glücklich mit Frau und Kind. Das Kind brauchte Mitch nicht, aber das Glücklich dafür umso mehr... Als er gleich darauf ihre Schwester erwähnte und damit verbunden die Tatsache, dass Faye ihn offenbar ebenfalls schon an eine Therapie verwiesen hatte, entwich Aryana trotz allem ein amüsiertes Lachen. Einfach, weil sie genau das schon erwartet hatte, weil es einfach zu gut zu der jüngeren Cooper passte. Aber auch weil die Vorstellung davon, Mitch und Faye bei der gleichen Therapeutin sitzen zu haben, ebenfalls nicht ganz unlustig war. Auch wenn Mitch das nicht unbedingt geschehen sah und auch Faye kaum geglaubt haben dürfte, dass er dann ernsthaft ihre liebe Mrs White besuchte. "Klingt nach nem Plan. Die haben da sicher auch männliche Psychotherapeuten... irgendjemanden, der selbst mit dir klarkommt", meinte sie, lächelte ihn dabei aufmunternd an und drückte seine Hand mit aller Zuversicht, die sie aufbieten konnte. An ihrem Ziel angekommen, stieg die Brünette schonmal aus dem Wagen, als Mitch noch dabei war, seinen Geldbeutel nach dem Zahlen wieder zu verstauen. Sie betrachtete das Hotel, welches zumindest von aussen ganz gut aussah, einen Augenblick, bis Mitch sich neben ihr einfand und sie zum Eingang gehen konnten. Sie hatte nach all den Jahren in irgendwelchen schäbigen Camps der US-Army wirklich keine hohen Ansprüche an ihre Schlafstätten, würde also nicht besonders schwer sein, diese zu erfüllen. Zudem hatte dieses Hotel allein mit seiner Lage am Meer schon gewonnen. Da Mitch sich die angedrohte Zigarette schon auf dem Weg vom Taxi zum Eingang angezündet hatte, einigten sie sich nach einem kurzen Wortwechsel darauf, dass Aryana schonmal die Zimmerschlüssel abholte, bevor sie sich gemeinsam in ihr Reich begaben. Dadurch konnte er auch wenigstens ein paar Minuten alleine durchatmen - mehr oder weniger, mit dem Glimmstängel zwischen den Lippen - was ihm sicher nicht missfiel. Aryanas Aufgabe an der Rezeption dauerte an die zehn Minuten. Eben solange, bis sie die Zimmerkarte ausgehändigt bekam, ihr Personalausweis kopiert war, die ältere Frau an der Rezeption ihr das Nötigste erklärt hatte und auch sonst das allgemeine Wohlbefinden abgecheckt war. Mrs Lee hiess die nette Dame, schien das hier mit viel Herzblut zu machen, so wie sie mit Aryana redete. Aber ein allzu langes Gespräch hatte die Brünette trotzdem wie immer nicht nötig, weshalb sie sich kurzum bedankte, um Mitch vor dem Eingang abzuholen. Das Zimmer lag im zweiten Stock, auf der Meerseite des Hauses - was bedeutete, dass sie eine tolle Aussicht geniessen konnten. Besonders dann, wenn später die Sonne über dem Meer unterging. Falls sie sich da im Zimmer befinden würden, mal sehen. Jetzt führte sie zuerst ihren lieben Freund in den zweiten Stock, dort zwei Türen den Flur runter zu Zimmer Nummer 206, welches sie mit der Schlüsselkarte entsperrte. Ein wirklich befreiendes Gefühl, für einmal nicht für Easterlin in ein viel zu teures Hotel einzuchecken, dessen Komfort sie so absolut gar nicht brauchen oder geniessen konnten.
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Vielleicht würde mir eine Therapie tatsächlich helfen, ja. Vielleicht aber auch nicht. Es hing wirklich stark davon ab, ob ich am Ende einen Therapeuten fand, der mir sympathisch war und der gleichzeitig sehr zügig herausfand, an welchen Rädchen er in meinem Hirn drehen musste. Wenn sich nicht schnell ein spürbarer Fortschritt dabei entwickelte, brach ich den Mist sicher ab. Ganz gleich ob ich nun am Ende bei einer Frau oder einem Mann in der Therapie landete, musste derjenige zielstrebig und wenig zögerlich vorgehen. Aber das waren Gedanken für später, für heute wollte ich die Sache abhaken. Aryana kreuzte bald wieder auf und ich hielt Ausschau nach einem Mülleimer. Es stand glücklicherweise einer nahe des Eingangs, also drückte ich die Kippe dort am stählernen Rand aus, bevor ich sie wegwarf und meiner Freundin nach drinnen folgte. Der Weg nach oben war zeitnah zurückgelegt und ich trat hinter ihr ins Zimmer ein. Inzwischen waren wir fremde Wände gewohnt, aber ich sah mich trotzdem zuerst kurz um. Während ich ein paar Schritte durch den Raum machte, ließ ich beiläufig die Tasche nahe des Kleiderschranks auf den Boden sinken. Das Zimmer hatte eine angenehme Größe, war recht modern eingerichtet und schön hell, weil die Fenster auf der Balkonseite viel Licht reinließen. Ich sah auch kurz nach draußen, nur um festzustellen, dass der bei Buchung versprochene Meerblick gegeben war, der Balkon eine bequeme Größe hatte und dank seitlichem Blickschutz nicht von anderen Gästen einzusehen war. Der Willkommenskarte neben zwei Gläsern und einer Wasserflasche auf dem kleinen Tisch schenkte ich keine Beachtung - da stand sowieso immer dasselbe drin - und auch das anliegende Bad war mir erstmal egal. Würde kaum völlig verdreckt sein, wenn es hier ansonsten sauber war und ich brauchte da nicht viel Platz. Meine Augen verirrten sich lieber zurück zu der Brünetten und meine Mundwinkel zuckten nach oben. Genug ernste Gedanken für heute. Schon seit heute Morgen war ich innerlich völlig aufgekratzt gewesen und das Schlimmste an dieser Reise war überstanden - Zeit zum Durchatmen. Alle Probleme, die ich hatte, waren gerade sehr weit weg. Hier schwang kein Easterlin die Peitsche, nichts in diesem Hotelzimmer erinnerte mich aktiv an die riesige Last der Schuld und Jetman gab mir eine zweite Chance. All das machte mich zwar nicht postwendend zu einem guten, problemlosen und völlig gesunden Menschen, aber es half mir immens dabei den Fokus endlich mal wieder auf etwas anderes, sehr wichtiges in meinem Leben zu legen: Aryana. Das Lächeln wurde zum Grinsen, kurz bevor ich sie vom Boden pflückte. Ich trug sie mit den Händen an ihren Oberschenkeln vor mir her, stieg dabei aus den nur locker sitzenden Sneakern und anschließend mit den Knien aufs Bett. Dann ließ ich mich nach vorne mit ihr aufs Bett fallen, bedacht darauf mich rechtzeitig abzustützen und sie nicht zu begraben. Bevor mir irgendwelche Proteste hätten zu Ohren kommen können, drückte ich meine Lippen auf ihre und nahm ihr mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss die Luft. Ich nahm mir ganz bewusst alle Zeit der Welt dafür, sie einfach mal richtig zu küssen. Unsere Lippen fanden sich seit dem Ausbleiben heftiger Streits wieder regelmäßiger, aber das verhielt sich ähnlich wie mit dem Rest unserer Beziehung - die Flamme fand nur schleppend zu alter Form und Größe zurück, ich konnte ihr also guten Gewissens mal energisch Luft zufächern. Als sich meine Lippen nach einer Weile langsam von Aryanas gelöst hatten, suchte mein Blick umgehend nach ihrem. Ich distanzierte mich so weit von ihr, dass ich sie bequem ansehen und mustern konnte. Als müsste ich mich daran erinnern, wie sie aus nächster Nähe aussah. "So... jetzt, wo das Wichtigste erledigt ist - was willst du machen?", erkundigte ich mich. Das Grinsen kehrte in mildem Ausmaß zurück, während ich die rechte Hand hob und ihr mit dem Daumen am Kiefer nach vorne strich. Ich hatte der Brünetten die letzten Monate unnötig noch mehr zur Hölle gemacht, als sie das wegen der Arbeit ohnehin schon gewesen waren. Deswegen richtete ich mich gerne etwas mehr nach ihren Wünschen, solange sie mir nicht völlig gegen den Strich gingen.
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Doch, das Zimmer sah eigentlich ganz gut aus und sie war voll und ganz zufrieden mit ihrer Auswahl. Auch Aryana trat zum Fenster um einen näheren Blick aufs Meer zu erhaschen, das mit leichtem Wellengang vor sich hin dümpelte und ihr Lächeln sofort wachsen liess. Sehr toll, diese Aussicht. Fast so toll wie das, was sie sah, als sie sich wieder zu Mitch umdrehte. Ein ebenso breites Grinsen, kurz bevor er sie hochhob und zum Bett rüber trug. Das hatte er schon lange nicht mehr gemacht. Sie hätte es wohl auch eine längere Zeit nicht zugelassen. Aber nun gefiel es ihr wieder. So wie es ihr eben immer gefiel, wenn er seine volle Aufmerksamkeit auf sie richtete. Auch die Brünette schlüpfte aus den Schuhen, bevor er sie auf dem Bett ablegte, liess diese dabei irgendwo unterwegs auf den Boden fallen. Die Matratze war weich und der Bettbezug schmiegte sich seidig an sie, auch wenn sie gerade zu viel Stoff am Körper trug, um das wirklich zu spüren. Sie wäre auch sowieso zu abgelenkt um sich darauf zu konzentrieren, denn Mitch war sofort über ihr und liess gar nicht erst Stille eintreten oder ein Gespräch aufkeimen - seine Lippen sprachen viel lieber eine ganz andere Sprache. Eine, die ihr sehr gut gefiel und die Worte sowieso vorübergehend überflüssig machte. Aryana erwiderte die Küsse mit der gleichen Leidenschaft und kam ganz sicher nicht auf die Idee, sie frühzeitig abzubrechen, auch wenn die Luft - wie immer bei solchen Übungen - schnell knapp wurde. Erfahrungsgemäss überlebten sie das trotzdem beide, also alles gut. Als Mitch sich wieder von ihr löste, blieb ihre linke Hand, die sich inzwischen einen Weg in seine Haare gebahnt hatte, noch etwas dort liegen, strich sanft durch die Strähnen, während sie ihn anlächelte. Was wollte sie denn machen? So ganz sicher war sie sich gerade eigentlich nicht mehr, nachdem er sie aufs Bett befördert und so geküsst hatte. Aber sie mussten wahrscheinlich sowieso nochmal raus, um was zu essen - Hunger war ein nicht so reizendes Gefühl. Also würde diese Nummer hier wohl leider erst später oder morgen in ganzem Ausmass fortgesetzt, da sie sich dafür eigentlich gerne viel Zeit nehmen würde, wenn es sich so toll anbot und sie nicht in Eile waren. Ihre rechte Hand legte sich an seine Brust und malte kleine Kreise, wurde dabei von ihren Augen beobachtet, bis sie sich entschieden hatte und ihn lächelnd wieder anschaute. "Verschiedenes, will ich machen...", war ihre vielsagende Antwort, die von einem schwachen, unschuldigen Grinsen begleitet wurde. "Aber was hältst du davon, wenn wir zuerst nochmal raus gehen und uns ein gutes Take-Away-Restaurant suchen? Vielleicht sogar mit Sushi? Gibts sicher irgendwo hier. Und dann gehen wir zum Strand und suchen uns ein hübsches Plätzchen zum Essen und Runterkommen", lautete ihr Vorschlag, auf dessen Resonanz sie mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht wartete. Sie hatte keine Lust auf ein gut besuchtes Restaurant fürs Abendessen. Hatte sie bekanntlich eigentlich eh nie, auch wenn das Essen vielleicht gut schmeckte und heute war ihre Motivation dafür besonders tief, da sie sich lieber nur auf Mitch und das, was er vielleicht noch erzählen würde, konzentrieren würde. Mal schauen, was sie dann morgen so alles machten tagsüber, aber heute fand sie einen wenig actionreichen Abend zu zweit die absolut verlockendste Option.
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Die angehobenen Mundwinkel hielten sich wacker, während Aryana sich alle Zeit zum Antworten nahm. Ich wartete gerne darauf, wenn sie mir die Zeit mit ihren Berührungen versüßte. Das leichte Streicheln im Haar, die Spuren auf meiner Brust... meine eigenen Augen verloren sich zwischenzeitlich ebenfalls zu jenem Finger, ehe sie sich wieder auf das schöne Gesicht direkt vor mir fokussierten. Es tat gut sie endlich wieder so zu sehen und es bestätigte mich auch darin, dass ich ausnahmsweise die eine oder andere Sache richtig machte. Dass es besser wurde. Alles, inklusive uns beiden. Das ach so unschuldige Grinsen auf Aryanas Lippen war ansteckend, auch wenn es bei mir wohl deutlich weniger Pseudo-Unschuld in sich trug. "Verschiedenes also...", wiederholte ich gespielt nachdenklich, als sie ihren Vorschlag ganz vorgebracht hatte. Ich strich sanft über ihr Kinn und beugte mich noch einmal zu ihren Lippen runter, während meine andere Hand beiläufig am Saum ihres Oberteils und auf der Haut darunter herumspielte. "Dazu brauch ich später mehr Details... klingt so, als würd's eine Weile dauern.", raunte ich ihr mit leicht funkelnden Augen zu, bevor ich einen Kuss auf ihre Lippen hauchte. Natürlich vermisste ich Aryana auch auf dieser intimen Ebene, in letzter Zeit war nur wirklich nicht daran zu denken gewesen. Eher hätten wir uns gegenseitig erwürgt, als miteinander zu schlafen. Was immer sich diesbezüglich genau auf ihrer Wunschliste angestaut hatte - ich würde allzu gerne so viel davon erfüllen, wie mir möglich war. Auch wenn es mich die ganze Nacht wachhielt und wir deswegen morgen das Frühstücksbuffet im Hotel verpassten. Hier gabs sicher Cafés als Alternative. Heute sollte jedoch erstmal noch das Abendessen erfüllt werden und auch diesbezüglich war ein Grinsen angebracht. Von uns beiden würde wohl nur ich ein Reisröllchen-Fanatiker bleiben, aber ich erinnerte mich gut daran, dass Aryana eher fast ein bisschen die Nase gerümpft hatte, als ich diesen Essenswunsch vor langer Zeit das erste Mal offenbart hatte. Ihr Verhältnis zu Sushi war seitdem bei Weitem nicht das Einzige, das sich geändert hatte. "Strand und Sushi klingt ausgezeichnet, das machen wir so.", segnete ich ihren Vorschlag wörtlich ab, obwohl sie mir längst angesehen haben musste, dass ich angetan davon war. Ich setzte den nächsten kurzen Kuss auf ihre Lippen. Einen weiteren und noch einen, bevor ich langsam die nötige Willenskraft dafür aufbringen konnte, nicht einfach hier auf der Matratze mit ihr zu verhungern. Das konnte kein schlimmer Tod sein, wenn die Minuten vorher dafür himmlisch gewesen waren. "...jetzt gleich, sonst wird das heute nichts mehr.", grummelte ich ein winziges bisschen gierig an ihre Lippen, bevor ich mich schweren Herzens von ihr löste und mit einem fast lautlosen Seufzen auf der Bettkante zum Sitzen kam. Ich hob die rechte Hand, um die verrutschten Haarsträhnen wieder nach hinten zu streichen. "Hatten wir die Decke bei dir oder bei mir reingesteckt?" Wir hatten von vornherein ans Meer gewollt - wenn auch nicht unbedingt zum Baden, weil es noch sehr kalt sein musste - und demnach eine Decke irgendwo mit im Gepäck verstaut. Ich wusste nur nicht mehr wo und wollte nicht unnötigerweise falsch das Gepäck danach durchwühlen. Im Anschluss an meine Frage zog ich das Handy aus der Hosentasche, um nachzusehen, ob wir in der Nähe an Sushi kamen. Glücklicherweise schien die Küste ziemlich vollgepackt mit verschiedenen Restaurants, darunter auch asiatische.
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Es war gerade wirklich nicht ganz einfach, sich auf den Hunger und nicht auf ganz andere Dinge zu konzentrieren. Mitch half ebenfalls nicht wesentlich dabei, den Fokus aufs Essen zu setzen. Aber wenn sie nach draussen wollten, mussten sie bald aufbrechen - sonst wäre es am Meer nämlich bereits dunkel und kalt und das wäre schade, wo ihr Vorschlag mit Sushi und Strand doch scheinbar auf Anklang stiess. Trotzdem konnte sie sich natürlich nicht dazu überwinden, die folgenden Küsse auszuschlagen, streckte sich Mitch viel mehr noch entgegen, bis er schliesslich selbst den Schlussstrich zog. Und mit dem was er sagte, hatte er schon Recht. Sie sollten gehen, bevor sie nicht mehr hochkamen. Trotzdem blieb sie noch kurz mit einem schwachen Grinsen liegen, nachdem er sich bereits aufgesetzt hatte. Auch über ihre Lippen glitt ein leises Seufzen, ehe sie sich zur Seite und vom Bett rollte. "Ich glaube bei dir", beantwortete sie die Deckenfrage, während sie wieder in ihre Schuhe stieg und dann dem Bad vor ihrem Ausflug noch einen kurzen Besuch abstattete. Anschliessend fischte sie in ihrem Gepäck nach einer Jacke, welche sie schonmal überzog, schob Geldbeutel, Handy und Zimmerkarte in die Taschen und blickte Mitch prüfend an. Er schien inzwischen auch ein japanisches Take Away geortet zu haben und nachdem Aryana sich einen letzten Kuss abgeholt hatte, hakte sie ihren Arm bei ihm ein und sie konnten sich auf den Weg dorthin machen. Vom Hotel waren es nur zehn Minuten zu Fuss, was sie sehr begrüsste, obwohl sie heute bisher kaum sportlich aktiv gewesen war und theoretisch auch sehr viel weiter hätte gehen können. Aber so langsam war der Hunger schon da - jetzt, wo die Ablenkung fehlte. Entsprechend fiel auch die Sushi-Auswahl aus, die sie wenig später an der Theke des Restaurants tätigten. Aryana war dennoch zuversichtlich, dass sie das alles ohne Probleme runterkriegen würden, so komplett wurde hier doch nicht übertrieben. Sie bezahlten ihre Bestellung und bekamen diese in einer Tüte über die Theke hinweg zugeschoben, woraufhin die Brünette sich bedankte, bevor der Weg in Richtung Strand eingeschlagen wurde. Es hatte ein paar Leute, aber der Frühling war der leichten Ozeanbrise wegen noch nicht sehr warm, weshalb die grösseren Menschenmengen des Sommers noch ausblieben. Auch das konnte Aryana nur gutheissen, fanden sie so doch relativ schnell einen Platz, an dem sie sich ausbreiten konnten und der doch einiges an Privatsphäre versprach, ohne dass sie direkt mit anderen Leuten kuscheln mussten. Wunderbar. Sie wartete, bis Mitch die Decke ausgebreitet hatte, half ihm noch etwas dabei, die Unterlage gerade zu rücken, bevor sie sich darauf niederliess und ungeduldig neben sich auf den Stoff klopfte. Nur falls Mitch nicht verstanden hatte, dass das sein Platz wäre und er sich ebenfalls hinsetzen sollte. Das Meer gab ein paar Meter entfernt in sanften Abständen den Takt des Abends vor und die Sonne glitzerte auf den Wellen genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Noch stand der Sonnenuntergang nicht unmittelbar bevor, sie konnten also noch eine Weile von etwas Tageslicht und Wärme profitieren, was beim Abendessen definitiv von Vorteil war.
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Die zwei Fragezeichen hinsichtlich Essens- und Deckenortung waren bald Geschichte, also ab in die Jacken, Kleinkram einpacken und los. Mit Aryana an einem und mit der eingerollten Decke unter dem anderen Arm war der Weg zum heißbegehrten Sushi bald zurückgelegt. Jetzt wo die Aufregung in mir sich langsam aber sicher ganz gelegt hatte, traute sich auch das zweitrangige Hungergefühl wieder aus seiner Ecke. Seit dem Frühstück hatte es nichts mehr gegeben und das war denkbar zu wenig. Der Magen grummelt demnach schon, als wir mit dem Sushi im Gepäck im Sand ankamen. Der milde Wind spielte mit der Decke, während ich sie ausbreitete, weshalb ich für Aryanas Hilfe in dieser Sache durchaus dankbar war. Ihr konnte es scheinbar auch kaum schnell genug gehen ins Sitzen zu kommen, so wie sie auf der Decke herumklopfte. Ihr Wunsch war mir in meiner ausnahmsweise guten Laune natürlich Befehl, also machte ich es mir neben ihr bequem. Wir versuchten das Essen möglichst geschickt zwischen uns aufzustellen und als alles griffbereit war, lehnte ich mich nur noch einmal für einen flüchtigen Kuss zu Aryana rüber, bevor wir uns übers Essen hermachten. Schon nach der ersten Rolle, die mit Stäbchen den Weg zu meinem Mund zurücklegte, war ich zufrieden mit dem Geschmack. Es war gut und ich hatte nichts daran zu meckern, kam aber nicht ganz an mein Lieblingssushi Zuhause ran. Das machte überhaupt nichts, weil ich hier beim Essen dafür das Meer vor der Nase hatte und das sowieso der ausschlaggebende Punkt war. Nach den ersten drei Happen ließ ich den Kopf für einen Moment in den Nacken kippen und schloss die Augen, um der Atmosphäre die nötige Aufmerksamkeit zu geben. Angenehmes Wellenrauschen, der salzige Geruch in der Nase, die Brise in den Haaren... und die Aussicht, als ich die Augen wieder öffnete. Das Meer vor mir und Aryana neben mir. Ihr Anblick ließ mich unweigerlich erneut lächeln. "Mir war gar nicht bewusst, wie sehr ich das hier gebraucht habe. Ich hätte auf dich hören sollen.", stellte ich beiläufig eher für mich selbst fest, bevor ich weiter aß. Aber klar - so sehr, wie ich in meiner fast ausschließlich negativen Mentalität festgefahren war, hatte mir gar nicht auffallen können, dass Ausflüge mit Aryana nicht anstrengend enden mussten, wenn sie mir solche vorschlug. Das hatte sie schließlich mehr als einmal versucht. Es war auch nicht zu verachten, dass ich Zuhause definitiv Gefahr laufen würde, den Kopf wieder in den Sand stecken zu wollen, wenn dieser mehrtägige Ausflug vorüber war. Denn Zuhause würde alles exakt so sein, wie ich es zurückgelassen hatte. Ich sollte mir unabhängig von der Therapiesuche weitere Gedanken dazu machen, wie ich meinen Kopf vor dem nächsten Absturz bewahren konnte, ohne wieder damit anzufangen, vor den Problemen wegzulaufen. Unerwartet kam mir dazu ein Gedanke, den ich so selbst nicht erwartet hatte. "Ich weiß, dass wir beide nicht der Selfie-Typ sind, aber wir sollten das hier vielleicht trotzdem später noch festhalten... die Bilder, die Faye vor meinem Haftantritt von uns gemacht hat, haben mir hinter Gittern lange geholfen..." Ich zuckte leicht mit den Schultern und kaute zu Beginn meiner Worte noch. Irgendwann hatten die Bilder dann leider in ihrem Dienst versagt, aber das war auch nicht der Punkt. Erinnerungen zum Anfassen - oder Ansehen - zu schaffen, die wir beide miteinander teilten, hätte sicher auch einen Wert für unsere Beziehung. Wir waren schon seit ungefähr zwei Jahren zusammen und auch, wenn ich davon ein Jahr im Knast gesessen hatte, war es ein Unding, dass es kaum Fotos von uns beiden gab. Apropos... mir fiel dazu noch eine andere, hässliche Tatsache ein. "Wir haben zwar offiziell nie ein Datum definiert und wir machen eigentlich auch nie kitschiges Pärchenzeugs... aber es ist irgendwie auch nicht richtig, dass bisher beide unserer Jahrestage scheiße waren... beziehungsweise werden, eben je nachdem...", redete ich weiter und ließ dabei kurz meine Augen nach Aryanas Blick fischen, bevor ich mich weiter dem Essen widmete. Je nachdem wo wir den Tag setzen wollten, war er entweder grob einen Monat her oder erst in einem Monat. Zur Debatte standen da wohl auch nur zwei Zeitpunkte: Entweder der Tag im Krankenhaus, als die Brünette beschlossen hatte mir ein Küsschen zu geben, oder der Tag, an dem ich von jenem Krankenhausaufenthalt nach Syrien zurückgekehrt war und sie am Abend in die Waffenkammer entführt hatte. Spätestens da war ja klar gewesen, dass das nicht bloß ein kurzer Spaß gewesen war, sondern wir auch über die Distanz hinweg aneinander festgehalten hatten und keinem nach Spielen zumute war. Diese beiden Ereignisse lagen ziemlich genau zweieinhalb Monate auseinander, meine Schulter hatte lange gebraucht.
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Mitch tat wie ihm geheissen und so sassen sie sehr bald gemeinsam auf der Decke, die Sushischalen und Sojasauce zwischen sich aufgebaut und die Stäbchen in den Fingern. Die Brünette erwiderte den flüchtigen Kuss vor dem Essen zärtlich, lächelte Mitch nochmal zufrieden an, bevor sie sich die erste Portion in den Mund schob. Das mit den Stäbchen funktionierte heute auch wesentlich besser als noch vor einem Jahr. Sie hatte sich damals auch nicht komplett dämlich angestellt, aber doch war ihr zwischendurch zu ihrer persönlichen Frustration ein Röllchen aus den Stäbchen gerutscht, hatte sich dann komplett aufgelöst und konnte dann wesentlich umständlicher wieder zusammengekratzt werden. Das passierte jetzt eigentlich nicht mehr und da war sie ganz froh drum, das Essen liess sich im Mund einfach besser geniessen als verstreut auf dem Tisch beziehungsweise der Decke. Das Restaurant hatte sie auch nicht enttäuscht und entsprechend wäre es ziemlich schade, die Zutaten letztendlich in den Sand zu kippen. Aryana liess ihren Blick zu Mitch wandern, als dieser die erste Pause einlegte, um die Umgebung und den Moment auf sich wirken zu lassen. Unweigerlich zogen ihre Mundwinkel wieder nach oben und ihre Augen glitten weiter über die Landschaft bis zum Wasser, wo sie zum wiederholten Mal vom Glitzern hypnotisiert hängen blieben. Inzwischen hatte Mitch die Augen wieder aufgemacht und seine Worte zogen ihre Aufmerksamkeit zurück in seine Richtung. "Nicht nur du... Wir beide", murmelte sie eine leise Korrektur vor sich hin, obwohl sie ihm grundsätzlich absolut zustimmte. Aber eben insofern, dass sie beide das hier sehr dringend nötig hatten. Vielleicht war seine psychische Verfassung schlechter als ihre - ziemlich sicher sogar. Aber Aryana war auch nicht dämlich und machte sich vor, dass sie selbst so ganz gesund war oder dass sie dort, wo sie im Moment normalerweise feststeckten, irgendwie gesund oder zumindest nicht noch kranker wurde. Sie hatten beide eine Auszeit gebraucht - und wenn die paar Tage alles waren, was sie kriegen konnten. Die Brünette liess den Blick nochmal nachdenklich übers Meer schweifen, bevor sie die Stäbchen wieder nach einem Reisröllchen ausstreckte. Dem folgten zwei weitere, bis sie erneut von ihrem Freund unterbrochen wurde, der ihre Gedanken auf eine andere Thematik lenkte. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Aber er hatte grundsätzlich Recht - sie hatten kaum Bilder und das war schade. Der schlichte Rahmen auf ihrem Nachttisch, der noch aus der Zeit stammte, in der sie jeden Abend alleine in diesem Bett eingeschlafen war und ihn vermisst hatte, würde eine aktuelleres Abbild ihrer Gesichter sicher auch schätzen. Oder vielleicht auch nicht - der Nostalgie wegen. Trotzdem wären ein paar Bilder schön. In diesem Moment, in dem sie endlich wieder daran glauben konnten, glücklich zu werden. Vielleicht gerade sogar schon sehr glücklich waren, verglichen mit ihren Launen die letzten Wochen und Monate über. "Das ist eine gute Idee, machen wir nachher unbedingt", willigte sie ohne die geringste Widerrede ein, warf ihm ein vorfreudiges Lächeln zu, das gut unterstrich, dass die Pause zu ihren letzten Fotos definitiv lang genug gewesen war, um auch ihre nicht fotogene Persönlichkeit wieder für ein paar Bilder zu begeistern. Wenn sie Glück hatten, würde vielleicht sogar irgendwer halbwegs begabtes in einem günstigen Moment vorbeispazieren, den sie für ein Foto fragen könnten. Selfies würden es auch tun, da war dann einfach weniger von der Gesamtsituation zu erkennen. Seine Gedankengänge waren heute ein ganz schönes Überraschungspaket, wies schien. Sie hätte weder mit der Selfie-Bemerkung gerechnet, noch mit dem, was er wenig später als nächstes ansprach. Jahrestag - allein die Tatsache, dass sie in ganzen zwei Jahren nie ein solches Datum definiert hatten, war wohl überdeutliches Indiz dafür, wie wenig sie sich beide sonst Gedanken darüber machten. Auch wenn er schon wieder Recht hatte. Das war scheisse. "Aber es ist auch irgendwie nicht überraschend, oder? Ein Grossteil unserer Beziehungsdauer war bisher halt auch eher... scheisse für uns", merkte sie nachdenklich an, zuckte dann etwas mit den Schultern und legte die Stäbchen ab, um die Hand stattdessen nach Mitch auszustrecken und ihm einmal über die Schläfe zu streichen und die Finger für einen Moment in seinem Nacken liegen zu lassen. Vor allem um zu verhindern, dass er sich jetzt gleich selbst die Schuld dafür gab und dann wieder in einer mittleren Depression versank. Diese Dinge liessen sich nicht mehr ändern. Aber die Zukunft schon und daran arbeiteten sie hart - Tag für Tag. "Aber ich schlage vor, dass wir unser erstes Küsschen als Datum wählen. Dann kommt der nächste Jahrestag, der überhaupt die Chance hat, gut zu werden, nämlich schneller. Und dann ist unser diesjähriger Jahrestag noch nicht so lange her und wir können das hier noch als zusätzliche nachträgliche Feier nennen. Und nächstes Jahr können wir uns darauf vorbereiten und dann gebührend feiern", schlug sie eine einfache Lösung vor, um gar nicht erst schlechte Laune aufkommen zu lassen.
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Wir beide, ja. Ich nickte Aryanas Bemerkung ohne zu zögern ab, weil es eine unumstößliche Tatsache war, dass sie auch nicht viel Spaß im Leben gehabt hatte, seit sich unsere Wege mit meinem Einzug ins Gefängnis getrennt hatten. Ihre Lebensumstände mochten seitdem überwiegend auf eine andere Art anstrengend gewesen sein als für mich, aber das änderte nichts daran, dass ihr ein Kurzurlaub genauso gut tat. Das Leben konnte niemals nur aus Sushi essend am Meer sitzen bestehen, es sollte aber zumindest ab und zu genau solche Momente enthalten. Momente, an die man sich gerne erinnerte, weil man sie genossen hatte. Weil man sie mit einer Person teilte, die einem wirklich am Herzen lag. Wie's schien würden wir einen dieser Momente nach dem Essen auch festzuhalten versuchen, wenn wir den Auslöser drückten. Meine Mundwinkel formten sich wieder zu einem Lächeln, als Aryana diesem Vorschlag meinerseits zustimmte und ich ihres sah - ich vergaß momentan häufig, dass wir uns eigentlich oft einig waren, wenn wir uns nicht gerade sinnbildlich die Köpfe einschlugen. Es würde sicher immer wieder kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns beiden geben, doch in vielen wichtigen, grundlegenden Dingen waren wir uns trotzdem seit jeher einig. Irgendwie war meine Gewissheit darüber mit all den Streits ins Hintertreffen geraten und das war traurig. Schließlich war das einer der Gründe dafür, warum wir uns ineinander verliebt hatten. Wir würden wahrscheinlich nie die Art Paar werden, die Faye und Victor verkörperten, weil wir beide unheimlich stolz und eigenbrötlerisch veranlagt waren und ich niemals, unter keinen noch so widrigen Umständen, Aryana mit der Intention allein lassen könnte, irgendwann wieder zurückzukommen. Entweder ich ging für immer oder gar nicht, dazwischen gab es für mich nichts. Ich wollte ihr wirklich vertrauen, aber ich vertraute dem Rest des Universums nicht - es hatte mich oft genug eines besseren belehrt. Vielleicht passten wir auch deswegen so gut zueinander. Wir vertrauten anderen Menschen nicht leichtfertig, waren uns aber doch sicher damit, dass wir besser einander als dem guten Willen des Schicksals vertrauen sollten. Das wäre auf jeden Fall ein weiterer guter Grund dafür, warum wir so sehr aneinander festhielten, obwohl unsere Beziehung bisher überwiegend beschissen gelaufen war. "Ja, da ist was dran.", stimmte ich ihr unterschwellig seufzend zu. Es hatte nur wenige schöne Momente für uns gegeben, in den letzten zwei Jahren. Und als könnte Aryana es mittlerweile förmlich riechen, wann ich Gefahr lief mental zurück ins Loch zu rutschen, wirkte sie dem gezielt entgegen und hielt meine Augen dadurch erfolgreich auf ihrem Gesicht. Ich schenkte ihren weiteren Worten demnach mehr Gehör als den überkritischen Gedanken, die versucht waren sich anzuschleichen. Das Küsschen... ich musste unweigerlich grinsen, als ich an jenen Tag im Krankenhaus zurückdachte. "Klingt wie die beste Option für mich.", willigte ich unter der leichten Streicheleinheit ein. Ich neigte den Kopf ein wenig, um einen Kuss an die Innenseite ihres Unterarms zu hauchen. "Glaubst du wir hätten noch viel länger gebraucht, wenn Faye dir nicht gesagt hätte, dass du mich küssen sollst?", fragte ich sie mit anhaltendem Grinsen. Es war jetzt natürlich egal, wie die Dinge wären, wenn die jüngere Cooper sich damals nicht ins Spiel eingebracht hätte, aber ich fand es nicht uninteressant darüber zu reden. Denn bis zu diesem Tag hatten wir beide uns nicht geküsst und ich hätte mich wahrscheinlich noch eine ganze Weile davor gehütet es ohne eindeutige Signale ihrerseits zu versuchen, nachdem Aryana mir in unserem Urlaub in Australien für fast jede unanständige Annäherung eine fette Ohrfeige verpasst hatte. Sehr prägende Momente. Natürlich lag dazwischen viel Zeit, aber sie hatte damals überdeutlich gemacht, dass man sie besser nicht anfasste, wenn sie nicht angefasst werden wollte. Als die Reisröllchen alle vertilgt und ich sehr gut gesättigt war, legte ich die Stäbchen auf der leeren Sushibox ab und schob meine Hand erneut in die Takeaway-Tüte, um der Brünetten einen der beiden Glückskekse zu reichen. Ich fand es zwar lächerlich auf einen Zettel in einer Süßigkeit wirklich ernsthaft etwas zu geben, aber vielleicht stand ja was Witziges drin.
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Das war eben, was passierte, wenn man sich so abhängig voneinander machte, wie es in einer Beziehung so gut wie immer der Fall war. Wenn es einer Person scheisse ging, gings der anderen meist zwangsläufig nicht viel besser. Dazu hatte Mitch einen viel zu grossen Einfluss auf ihre Emotionen und Gefühle und sie auf die seinen. Sie waren ihr gegenseitiges Kryptonit und das war nicht immer nur ein Vorteil. Aber manchmal schon - und es würde besser werden. Vielleicht schon ab jetzt? Vielleicht waren sie schon an dem Wendepunkt angelangt, nach dem sie sich endlich häufiger gegenseitig zum Lachen als zum Verzweifeln brachten. Nachdem die Kopfschmerzen endlich nicht mehr ihrer Beziehung zu verdanken waren. Die Zeit würde es bald zeigen und bis zu ihrem nächsten Jahrestag wäre sowieso alles anders. Scheinbar schien Mitch mit ihrem Datumsvorschlag einverstanden, wie er dazu auch noch wörtlich bestätigte, bevor sie einen zarten Kuss an ihrem Arm spürte, der sie sofort noch etwas mehr lächeln liess. Ihre Finger strichen erneut über seine warme Haut und sie schickte ihm einen kleinen Luftkuss entgegen, bevor sie seine nächste Frage vernahm, die gar nicht so leicht zu beantworten war. Sie hatte sich auch schon Gedanken dazu gemacht. Aber es war wirklich schwer zu sagen. "Ich weiss nicht... Nach Australien war da schon Einiges anders, zwischen uns. Aber ich hätte es wohl nie zugegeben - nichtmal gegenüber mir selbst, weil ich so klar zu wissen glaubte, dass das niemals passieren konnte. Ich brauchte mir also auch nicht den Kopf über irgendwelche hypothetischen Hirngespinste zu zerbrechen", begann sie mit ihrer Analyse, blickte ihn zuerst noch an, bevor ihr Blick etwas abschweiften. Das hatte sie zumindest damals geglaubt, bis die Sache mit seinem Verrat aufgeflogen war. Aber diesen Teil wollte sie nicht aussprechen, das war eindeutig viel zu negativ behaftet. Letztendlich waren die Gefühle, die die Erkenntnis über seine Taten in ihr ausgelöst hatten, aber auch sehr aufschlussreich gewesen. Es hätte sie nie im Leben so sehr getroffen, wenn sie nicht an ihm gehangen hätte. Sie hätte nie im Leben auch nur eine Sekunde gezögert, bevor sie damit zu Ragan gerannt wäre, wenn sie Mitch nicht mehr als nur ein bisschen gemocht hätte. Aber auch das hatte sie sich nicht eingestanden. "Als wir im Helikopter sassen, der uns aus dem Camp geflogen hat... da hab ich mir das erste Mal überhaupt selbst eingestanden, dass ich mit zu vielen Gefühlen an dir hing. Ich habs schon vorher gemerkt, wahrscheinlich, aber sehr effektiv verdrängt bis dahin", redete sie leise weiter, bevor sie endlich zur eigentlichen Antwort auf seine Frage kam. "Fayes Küsschen war ein wirklich guter Vorwand, um herauszufinden, wie du zu allem stehst... Aber das wurde mir erst später bewusst, als der Stein längst ins Rollen geraten ist. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie lange ich noch versucht hätte, alles zu leugnen, um dich und mich zu schützen, die Vernunft walten zu lassen und mich ganz regelkonform zu verhalten. Ich mache das irgendwie massgeblich davon abhängig, was dir im Krankenbett so für Ideen durch den unterbelasteten Kopf gegeistert wären", beendete Aryana ihre Ausschweifung mit einem schiefen Grinsen in seine Richtung. Wenn er sich nämlich auch weiter zusammengerissen hätte und sie ganz geduldig und vernünftig das Gleiche getan hätte, hätte es schon noch eine ganze Weile bis Ewigkeit dauern können. Ganz getreu der sturen Persönlichkeiten, die sie eben waren. Sie war ihrer kleinen Schwester also weiterhin dankbar für den neckischen Wink mit dem Zaunpfahl. Aryana hatte ihre Hand mittlerweile wieder zurückgezogen, um sich nochmal dem Essen zu widmen. Sie legte ihre Stäbchen ebenfalls beiseite und nahm den Glückskeks entgegen, den Mitch ihr reichte, brach ihn zwischen ihren Fingern entzwei und zog das kleine Zettelchen heraus, um zu sehen, was das Universum ihnen mitteilen wollte. "All things are difficult before they are easy", las sie vor, blickte noch einen Moment auf das Papier in ihren Fingern, bevor ihre Augen lächelnd wieder zu Mitch fanden. Davon konnten sie grundsätzlich ein Lied singen, ja. Also vom ersten Teil. Beim before they are easy waren sie bisher leider noch nicht angekommen. Aber vielleicht war das ihr Omen... Jetzt, endlich. Sie schaute auf den Keks in seinen Händen, wartete darauf, was er enthielt. Momentan konnte man immerhin fast jeden philosophischen Spruch irgendwie passend auf ihre Lebenslage auslegen. Mehr oder weniger passend, zumindest. Und den, den sie in den Händen hielt, würde sie auf jeden Fall mit nach Hause nehmen. Vielleicht fand er ja sogar auch einen Platz auf ihrem Nachttisch.
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Obwohl ich zu jenem Zeitpunkt frisch dem Tod von der Schippe gesprungen war und eigentlich alles andere als glücklich hätte sein sollen, erinnerte ich mich gerne daran zurück, wie unsere Hände damals zueinander gefunden hatten. Ja, ohne jeden Zweifel war schon da einiges anders zwischen uns gewesen. Allerdings war mir das schon kurz vorher bewusst geworden - in der Nacht nach meinem Geständnis an Aryana, in der ich stumm vor mich hin heulend wach gelegen hatte, weil ich mich selbst mit diesem Verrat an ihr genauso sehr verletzt hatte, wie die Brünette. Bevor ich mich freiwillig in die Selbstmordaktion gestürzt hatte, was ich zweifelsohne mehr für sie als für mich getan hatte. Ich hatte es ein bisschen deswegen getan, weil ich die Aussicht auf den Tod durch den Feind als weniger schlimm eingestuft hatte, als jahrelang eingebuchtet zu werden. Der immense Wunsch danach Aryana zu beweisen, dass ich die Freundschaft zu ihr nicht nur gespielt hatte und sie mir wirklich etwas bedeutete, war aber noch wesentlich stärker gewesen. Sie hatte schon da schwerer gewogen als ich selbst, so wie sie das jetzt immer noch tat. Aber das hätte ich ihr nicht so gesagt. Ähnlich wie sie mir nicht gesagt hatte, dass sie schon da mit zu vielen Gefühlen an mir gehangen hatte. Weil wir sowas beide nicht aussprachen und nicht wahrhaben wollten. "Es wäre am Ende wohl wirklich davon abhängig gewesen...", stimmte ich ihr den Kopf leicht hin und her wiegend zu. "...und davon, wie du dich verhalten hättest, wenn du mich nicht geküsst hättest. Dass du mir nicht abgeneigt bist wusste ich schon in Australien, aber deine Ohrfeigen haben sich ziemlich eingebrannt. Keine Frau hat mir so oft eine gescheuert wie du.", meinte ich durchaus amüsiert von dieser Tatsache. Damals hatte sie sich noch sehr geziert sich einfach fallen zu lassen, obwohl sie sich betrunken liebend gerne auf meinen Schoß geschwungen hatte. Der Alkohol hatte damals an die Oberfläche befördert, was eigentlich weiter hätte schlummern sollen. "Vielleicht hätte ichs beim Abschied im Krankenhaus versucht. Das wäre noch beschisseneres Timing gewesen, aber ich hätte dich auch ohne die Küsse davor nur sehr ungern gehen lassen. Ich glaube das einzige, was mich zu dem Zeitpunkt noch davon abgehalten hat, war die Angst davor, dich dadurch zu verlieren." Ich zuckte mit den Schultern. Eine reine Hypothese. Vielleicht wäre es mehr aus Eifersucht passiert als aus dem Wissen, dass ich mich in sie verliebt hatte, weil ich den Gedanken nicht ertragen hätte, dass sie sich in meiner Abwesenheit stattdessen mit Irgendwem anders auf dem Wachturm unterhielt. Das war genauso dämlich wie die Eifersucht auf Noah, aber dagegen kam ich nicht an. Ich hatte mich selbst nach unserer unmissverständlichen Annäherung im Krankenhaus während meiner Erholungspause oft mit eifersüchtigen Gedanken geplagt, obwohl es bei Aryana dafür keine Gründe gab. Das Ergebnis wäre jedenfalls dasselbe gewesen - wir hätten zueinander gefunden. Früher oder später. Der Glückskeks der Brünetten meinte es heute scheinbar sehr ernst und ich zog die Augenbrauen leicht nach oben, während sie mir den Text vorließ. Wenn man mich fragte, dann waren die Dinge jetzt schon lange genug verdammt schwierig und anstrengend. Die Leichtigkeit des Lebens sollte also bitte mal in die Gänge kommen, ich erwartete sie sehnlichst. Ich sagte aber erstmal nichts dazu und knackte stattdessen meinen eigenen Keks. As soon as you trust yourself, you'll know how to live. "Es sollte verboten werden, Keksen eine besserwisserische Weisheit zu geben.", meinte ich trocken humorvoll und schüttelte dabei langsam den Kopf. Ich schob mir die erste Kekshälfte mit der anderen Hand in den Mund, kurz darauf die zweite, während ich den blöden Zettel förmlich mit meinen Augen durchbohrte. Es gefiel mir schlichtweg nicht, dass mir dieser zufällige Spruch unter die Nase rieb, wie wenig ich mir selbst über den Weg traute. Aber wieso sollte ich das auch? Ich hatte mir selbst schon unzählige Male Dolche in den Rücken oder in die Brust gestochen, ohne es währenddessen zu merken. Und jetzt saß ich hier, mühsam die daraus resultierten Wunden flickend... Als der Keks aufgegessen war, zog ich mein Handy aus der Hosentasche. Ganz gleich wie sehr mich dieser blöde Spruch triggerte, würde er mit aufs erste Selfie kommen - eben aus genau diesem Grund. Ich würde ihn mir öfter ansehen müssen, um ihn nicht mehr als Angriff, sondern als guten Ratschlag zu werten. Danach konnte ich ihn dann immer noch trotzig im Sand begraben, auf dem ersten von mindestens zwei bis drei Fotos würde er verewigt bleiben.
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Tja, dass liess sich jetzt nur noch sehr schwer beurteilen. Die Sache war doch erstens schon zwei Jahre her und zweitens waren diese Gedankenspiele sehr hypothetisch. Wer wusste schon was anders gekommen wäre, wenn jemand damals etwas anderes gesagt oder sich einmal anders bewegt oder anders geatmet hätte? Wie man sah, hatte es halt echt nicht mehr als eine Kleinigkeit gebraucht, einen Kieselstein, der einen ganzen Berg ins Rollen gebracht hatte. Wie dieses kleine Küsschen eben. Ein Küsschen war in ihrer Welt zwar nicht unbedingt eine Kleinigkeit - schon gar nicht eines wie das von damals - aber eigentlich hatte Faye ja auch nicht zwangsläufig davon gesprochen. Man hätte die Worte ihrer kleinen Schwester auch anders interpretieren können, sie hätte ihre Lippen nur ganz flüchtig an Mitch's Wange hauchen können und vielleicht wäre die Sache dann etwas anders ausgegangen. Wenn auch wohl nur für kurze Zeit. War ja nicht so, als wären die Gefühle nicht trotzdem da gewesen. Die Sympathien, die Mitch scheinbar schon wesentlich früher wahrgenommen hatte als sie selbst, wenn er nun von Australien redete. Kurz hob Aryana eine Augenbraue an, um ihn etwas überrascht anzuschauen, allerdings brauchte ihr Kopf nicht allzu lange, um seine Worte zu deuten. Wäre sie ganz abgeneigt gewesen, hätte sie im Urlaub nicht mehr als einmal ziemlich freiwillig mit ihm gekuschelt. Klar, in der Nacht in der Wüste war das hauptsächlich der Kälte zu verschulden gewesen. Aber selbst da hätten sie höchstwahrscheinlich auch überlebt, wenn sie sich nicht in den Armen gelegen hätten. Ausserdem hatte sie betrunken auf seinem Schoss gesessen. Hier kam wohl der Spruch mit Betrunkenen und Wahrheit wieder bestens zum Zug... Und der andere gleich mit - der mit was sich liebt, neckt sich und so, bezüglich der Ohrfeigen. Aryana grinste bei der Erinnerung schwach in sich hinein. Gut, dass Mitch nie auf die Idee gekommen war, ihre Ohrfeigen ernsthaft als Gefahr zu sehen oder aus einem anderen Grund damit zur Polizei zu rennen. Ging wahrscheinlich unter häuslicher Gewalt, wenn auch selten eine dieser Ohrfeigen tatsächlich ernst gemeint gewesen war. Meist waren sie viel mehr die direkte Resonanz auf irgendeinen dummen Spruch oder seine etwas zu freche Art, die mal wieder in die Schranken gewiesen werden musste. Mitch war wohl einsichtig genug, um das ebenfalls so zu sehen. Ihr Grinsen wurde zu einem sanften Lächeln, als er ihr erklärte, warum er sich damals noch so lange wie möglich zurückgehalten hatte. "Ja... ging mir wohl ebenso. Die Angst, die Gefühle zuzulassen, mich so verletzlich zu machen, dich zu verlieren, und uns damit letztendlich beide kaputtzumachen... es gab halt etwas zu viele Gründe, die vehement dagegen gesprochen haben", stimmte sie ihm noch leise zu. Den Worten folgte ein schwaches Schulterzucken und eine kurze Pause. "Aber egal wie oft ich mir darüber Gedanken gemacht habe... ich komme jedes Mal zum Schluss, dass ich immer wieder das Gleiche tun würde. Dass ich es noch nie bereut habe, dir den Kuss auf die Lippen und nicht nur irgendwo auf deinen Handrücken gesetzt zu haben. Weil ich keine Ahnung habe, was ich ohne dich getan hätte oder tun würde", das hatte sie ihm schon oft in dieser oder ähnlicher Ausführung erklärt, also dass sie ihn nicht bereute, dass sie sich immer und immer wieder für ihn entscheiden würde. Aber Aryana wusste, dass sie mit solchen Worten nur jedes Mal ein bisschen an dem Stein kratzte, der seine Unsicherheiten, seine Schuld, seinen Hass auf sich selbst ausmachte. Doch selbst das kleinste Kratzen würde den Stein irgendwann zum Einsturz bringen, wenn sie es nur immer und immer wieder machte. Wenn sich jedes Mal ein paar Krümel vom Felsen lösten, wurde er irgendwann zu Staub. Mit diesem Stein würde es genauso gehen, daran hielt sie fest. Aryana beobachtete Mitchs Finger dabei, wie sie den Keks brachen und das Zettelchen hervorzogen. Das Zettelchen mit einer ganz persönlichen Weisheit, nur für ihn. Wirklich interessant wie ein Glückskeks wissen konnte, was sie ganz sicher nicht hören wollten. Trotzdem lächelte sie leicht, während sie sich ihren Keks ebenfalls in den Mund steckte. Mal schauen, wie sehr er sich die Worte zu Herzen nehmen konnte. Und wie sehr sich die Wahrheit auf ihrem Spruch auch im zweiten Teilsatz bestätigen würde. Irgendwann musste es ja soweit sein und wenn das nicht nächstens passierte, verlor sie leider wirklich den Glauben daran und damit auch den Glauben an sämtliche Glückskekse. Das Thema wurde für einen Moment aus ihren Gedanken verdrängt, als Mitch das Handy zückte. Sie wusste natürlich sofort, was er damit sagen wollte, steckte ihr Zettelchen in die Hosentasche und räumte die leere Verpackung ihres Abendessen zur Seite, um sich etwas näher zu Mitch setzen zu können. Aryana legte den linken Arm um ihn, kuschelte zumindest fürs erste Foto ihren Kopf an seine Schulter und lächelte in die Kamera. Mitch packte sein Zettelchen tatsächlich mit aufs erste Bild, was sie direkt noch etwas mehr lächeln liess. Es folgten noch zwei, drei weitere Bilder mit nicht allzu kreativen Posen, aber die brauchte es von ihr aus auch nicht. Hauptsache Bilder. Als die Brünette aber die nächste Spaziergängerin erblickte, die mit ihrem Labradoodle den Strand entlang schlenderte, sprang sie mit den Worten "noch eins fürs Album" und einem flüchtigen Kuss auf Mitchs Wange auf die Füsse, um zu der Frau hinzugehen. Die Frage nach dem Foto fühlte sich zwar ziemlich schräg an, aber die junge Spaziergängerin willigte glücklicherweise sofort freudig ein und schien das nicht halb so seltsam zu finden, wie sie selbst. Die Frau schnappte sich Aryanas Handy und wartete darauf, dass die Brünette wieder bei ihrem Freund angekommen war, sich zurück auf die Decke pflanzte, was Sekunden später auch geschah.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Oh und wie viele gute Gründe es gegeben hatte, warum wir beide nichts miteinander hätten anfangen sollen. Wahrscheinlich hatte es mehr triftige Gründe gegen als für unsere Beziehung gegeben. Offensichtlich hatte uns das dennoch nicht davon abgehalten und ich würde an dieser Entscheidung genauso wenig etwas ändern wollen, wie die Brünette - auch wenn ich diese Aussage ihrerseits wie so oft nur teilweise verstand. Ich liebte sie dafür, dass sie in mir immer das Gute zu sehen versuchte. Selbst nach all den Zeiten, in denen ich nur meine hässlichen Dämonen präsentiert hatte. Trotzdem hatte ich ihr viel Leid zugetragen, das sie ohne mich nicht hätte durchmachen müssen... andererseits war es wohl tatsächlich fragwürdig, was aus Aryana geworden wäre, wenn sie sich nicht dem Mitwissen meines Verrates beschuldigt hätte. Vielleicht wäre sie noch immer in der Army, vielleicht wäre sie aber auch längst in Syrien gestorben. So oder so - ich war dankbar dafür, dass sie sich für das Leben an meiner Seite entschieden hatte, obwohl das von Anfang an aller Voraussicht nach nur turbulent werden konnte. Ohne sie hätte ich zum jetzigen Zeitpunkt absolut sicher schon das Zeitliche hinter den Gefängnisgittern gesegnet. Ich beugte mich zu ihr rüber und hielt kurz vor ihren Lippen inne. "Da sind wir schon zu zweit.", bestätigtet ich ihr das, was sie längst wusste und setzte anschließend einen sanften Kuss an ihre Lippen. Ein kurzes Lächeln später ging es dann auch schon an die angekündigten Fotos. Es waren für ein junges Paar typische Selfies, auch wenn sie für uns beide alles andere als normal waren. Ich blickte Aryana einen kurzen Moment lang nach, als sie von der Decke gesprungen war und schüttelte mehr für mich selbst den Kopf, als sie die Strandbesucherin um ihre Hilfe bat. Das Lächeln auf meinen Lippen hielt sich auch bei ihrer Rückkehr noch und ich warf der Unbekannten einen flüchtigen Blick zu, bevor es an die Fotos ging. Das erste war wohl verwackelt, weil der noch junge Hund an der zuvor lockeren Leine plötzlich neugierig in unsere Richtung zog. Es bedurfte also eines kurzen Kommandos seitens seiner Besitzerin, bevor er artig hechelnd neben ihr im Sand Platz nahm und wir unser Foto bekamen. Die Spaziergängerin hatte mehrere gemacht und gab Aryana das Handy quasi zur Qualitätskontrolle zurück. Ich warf ebenfalls einen prüfenden Blick auf das Display und war völlig zufrieden mit der Ausbeute, wir bedankten uns also gleich darauf bei der jungen Frau. Sie wünschte uns anschließend noch einen schönen Abend, was ich zurückgab, und dann bekam der Hund auch schon die Erlaubnis für weitere Abenteuer. Er sprang vorfreudig bellend auf und sie zogen weiter ihrer Wege. Ich sah dem kleinen Energiebündel mit dem gekräuselten Fell von all seiner Lebensfreude amüsiert nach. "Willst du Haustiere? Irgendwann, wenn wir gelernt haben, uns um uns selbst zu kümmern und wissen, wie wir leben wollen?" Nach all den ernsten Worten vorhin bediente ich mich bei diesen Sätzen wieder etwas Sarkasmus. Auch wenn Kinder wohl nie auf unserem Plan stehen würden und wir demnach nicht zwingend gute Vorbilder werden mussten, sollten wir dringend lernen, wie wir am besten miteinander funktionierten - wir waren jetzt endlich mal dabei, das Schritt für Schritt rauszufinden. Wenn wir Easterlin hinter uns hatten, stellte sich zwangsweise weiterhin die Frage, wie wir unser Leben überhaupt leben wollten. Ob wir hier wohnen bleiben wollten, ob wir erstmal alle Zelte abbrachen und eine Weile mit Gelegenheitsjobs die Welt bereisten, oder ob wir mit einem Wohnwagen durch die Staaten zogen... uns standen eben wirklich viele Optionen offen und wir hatten uns noch auf gar nichts geeinigt. Auch nicht auf Haustiere, die zu Beginn unserer erkämpften Freiheit sicher nicht bei uns einziehen würden, weil ich die neue Bewegungsfreiheit erst einmal ohne jegliche Verpflichtungen genießen wollte. Aber irgendwann später wäre die Möglichkeit vielleicht da. Während Aryanas Antwort abwartete, nahm ich den Zettel von der Decke und legte ihn unweit davon in den Sand, nur um ihn darunter zu begraben. Vielleicht fand ihn irgendwann Jemand anders, der den Satz genauso wenig lesen wollte wie ich.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Das war schön zu hören, auch wenn Aryana die Worte natürlich auch von Mitch nicht zum ersten Mal zu Ohren bekam. Sie hatten sich schon ein paar Mal darüber unterhalten und waren immer zum gleichen Ergebnis gekommen: Sie waren ihr gegenseitiges Schicksal. Nicht immer ganz leicht zu tragen, aber doch für genau nur sie bestimmt. Sie waren füreinander gemacht, auch wenn sie noch nicht herausgefunden hatten, wie sie langfristig am besten miteinander harmonierten. Trotzdem waren sie besser zusammen als es jeder für sich je sein könnte. Allein in der Wüste, allein in der Einsamkeit, allein zwischen all den Verlusten. Die Brünette erwiderte den sanften Kuss ebenso zärtlich, trug das sanfte Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht wiedergab, mit in die folgenden Fotos. Zuerst wurden die paar Selfies abgehakt und dann die Fotos ihrer doch sehr motivierten freiwilligen Helferin. Glücklicherweise schien sie sich ganz gut auszukennen mit richtigen Winkeln und was es halt so brauchte für ein schönes Bild, denn Aryana hatte absolut gar nichts am Ergebnis auszusetzen und bedankte sich entsprechend auch vollkommen zufrieden, bevor ihre Blickte ebenfalls einen Moment an dem kleinen Hund hängen blieben, der fröhlich mit seiner Besitzerin davondackelte. Süss. Das Lächeln hatte sich ziemlich hartnäckig in ihre Mundwinkel gegraben, als Mitch ihr eine Frage stellte, über die sie tatsächlich noch nie nachgedacht hatte. Sie antwortete auch nicht direkt, sondern schaute dem Tierchen noch einen Moment lang nach, bevor sie sich losreissen und Mitch zuwenden konnte. "Ich weiss nicht... Irgendwie hab ich mir die Frage noch nie gestellt, weils ja... dazu sollten wir uns wohl erstmal in einer stabilen Lebenssituation wiederfinden, hm? Bestenfalls eine, in der wir nicht ständig verreisen müssen", erwähnte sie mit schwacher Ironie das Offensichtliche. "Aber ja, wenn wir mit uns selbst und unserem Leben klar kommen - warum nicht? Sofern wir ihm ein gutes Leben bieten können, kann ich mir schon vorstellen, dass ein solches Haustier sehr viel zurückgeben kann... Was meinst du?", zeigte die Brünette sich gar nicht so abgeneigt gegenüber der Idee. Nur wenn er auch wollte natürlich. Und mal schauen was sie sagen würde, wenn es dann tatsächlich ernst wurde. Momentan war Stabilität in ihrem Leben ja leider ein dezentes Fremdwort. Aryana streckte sich Mitch erneut für einen zärtlichen Kuss entgegen, den sie ein kleines bisschen in die Länge zog, bevor sie sich kurzerhand mehr oder weniger quer über seinen Schoss legte. Es war ihr nicht entgangen, wie Mitch seinen Zettel dezent unauffällig im Sand begraben hatte und sie war damit nicht ganz einverstanden. Besonders nicht angesichts der Worte, die darauf geschrieben waren. Sie wollte nicht, dass er die Message einmal las und dann wieder verdrängte. Denn das war ein Teil der Sache, die sie immer und immer wieder durchkauten, etwas, womit er so sehr kämpfte - schon so lange. Denn das Hauptproblem war schon lange vor allem Mitch gegen Mitch. Er, der sich selbst vergeben sollte. Er, der sich selbst vertrauen sollte. Er, der sich selbst lieben sollte. Ihre Hand fand die Stelle, an der er vorhin gebuddelt hatte, vergrub sich suchend im Sand, um den kleinen Zettel wieder zu bergen. Als sie das Stück Papier zu greifen bekam, zog sie es rasch aus dem Sand und drehte sich damit auf den Rücken, blieb dabei aber auf Mitchs Schoss liegen. Sie lächelte ihn an, als ob sie genau wüsste, dass er damit nicht einverstanden war. Tat sie ja - trotzdem faltete sie den Zettel sorgfältig zweimal, bevor sie ihn behutsam in Mitchs Hosentasche schob. "Der ist für dich. Ich möchte nicht, dass du ihn hier vergisst...", murmelte sie eine Erklärung vor sich hin, die fröhlich ignorierte, dass er den Zettel nicht vergessen hätte und es ihm wahrscheinlich auch etwas egal sein dürfte, was sie tatsächlich von seiner Aktion hielt. Tja. Jetzt musste er sich eben mindestens noch einmal mit dem Spruch befassen. Aryanas Hand hatte sich derweil unter seine locker sitzende, offene Jacke verzogen, strich sanft seine Seite auf und ab, während sie ihn einfach anschaute, noch immer mit dem gleichen seichten Lächeln auf den Lippen. Er sollte besser gar nicht erst auf die Idee kommen, ihr das jetzt böse zu nehmen.
This is your life, it's do or die, the sun may never rise again, so be the light the vision. This is your life, it's slipping by, you try to run but fall again, you get back up that's living.
Ein stabiles Leben mit planbarem Rhythmus war unabdingbar für die Anschaffung eines Haustiers, da waren wie uns einig. Es wäre sehr unverantwortlich sich ein Tier anzuschaffen, nur weil man glaubte, es würde das Leben für einen selbst leichter erträglich machen. Natürlich freute ein Hund sich beispielsweise immer über liebevolle Streicheleinheiten - die unter Umständen auch dem Herrchen halfen - aber die waren leider nicht einmal die halbe Miete. Daneben standen noch Kosten für Futter, Tierarztrechnungen und -Besuche, tägliche Spaziergänge auch bei Schlechtwetter, bei Welpen noch massenhaft konsequente Erziehung… die Liste war lang und zeitintensiv. Gerade ein Hund sollte nicht leichtfertig angeschafft werden. Katzen beispielsweise waren im direkten Vergleich deutlich selbstorientierter veranlagt, aber auch die brauchten Pflege. "Seh ich auch so…", bestätigte ich nickend. "Wenn sich's später irgendwann passend in unser Leben einfügt, spricht nicht viel dagegen, denke ich." Dass ich Tiere an sich generell gerne mochte, brauchte ich Aryana gegenüber nicht mehr zu erwähnen. Ich hatte mich schon damals während unseres Urlaubs in Australien sehr für die hüpfenden Kangurus und Koalas begeistert. Man konnte sagen ich mochte fast alles, was Pelz hatte. Ich verstand zuerst nicht, was die Brünette vor hatte, als sie sich plötzlich einfach über mich schmiss. Es machte erst Klick, als sie anfing im Sand zu wühlen. Diese Aktion ihrerseits hatte unweigerlich ein genervtes Augenrollen zufolge, das sie kaum bemerkt haben dürfte, weil sie in diesem Moment noch zu sehr mit Zettel suchen beschäftigt war. Meine Augen folgten dem kleinen Stück Papier, während sie es in meine Hosentasche schob und als sich unsere Blick anschließend trafen, dürfte meiner ein ganz klares 'Musste das jetzt sein?' kommunizieren. Ich wusste wieso Aryana das tat, aber das hieß nicht zwangsläufig, dass mir das auch gefallen musste. "Der Keks hätte ja auch nicht zufällig jedem anderen Kunden in die Hände fallen können.", erwiderte ich trocken mit einem kaum sichtbaren Kopfschütteln, ehe ich einen Moment lang zur Seite wegsah. War jetzt leider dumm gelaufen, dass der Glückskeks so gut zu meiner Situation passte. Hätte ich nicht einfach einen schrecklich allgemein formulierten kriegen können? Sowas wie Du wirst im nächsten Jahr eine große Entscheidung fällen, oder sowas? Irgendwas, das sich zwangsweise erfüllen musste, weil man ja ständig irgendwelche Entscheidungen traf und die sich im Nachhinein immer als schwerwiegender herausstellen konnten, als man zuerst angenommen hatte... Ich konnte den missmutigen Gedanken nicht lange effektiv nachgehen, weil mich das leichte Streicheln dabei ebenso irritierte, wie das Gefühl von ihr angesehen zu werden. Meine Augen suchte deshalb nach meinem kurzen, inneren Exkurs von Bockigkeit wieder nach Aryanas Gesicht. Ich seufzte leise und hob die rechte Hand, ohne den Blick von ihren großen, dunkel schimmernden Augen zu nehmen. "Es ist wirklich fies, dass du ganz genau weißt, wie sehr du mich manipulieren kannst.", grummelte ich nur noch semi-bockig zu ihr runter, strich mit dem Daumen dabei seitlich an ihrem Hals hinab und verengte ein bisschen die Augen, die noch unterschwellig kampflustig funkelten. Ganz gleich wie sehr mein innerer Sturkopf das gerne wollte, konnte ich es ihr einfach nicht ernsthaft übel nehmen. Dafür hatte Aryana mich viel zu lange nicht mehr so von unten herauf angesehen, auf meinem Schoß gelegen... dass sie nun wieder aktiv meine Nähe suchte war zu schön, um es mir selbst kaputt zu machen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈