Ehrlich gesagt war ich mir nicht zu einhundert Prozent sicher, ob Cosma mit ihrer Antwort nun Iljah meinte - den sie gar nicht kannte - oder ob sie von einem anderen Mann redete. Ihrem Freund, möglicherweise. Allerdings war das jetzt im ersten Moment auch nicht wirklich relevant, weil es zu so einer Situation zwischen ihr und Iljah ohnehin nie kommen würde und wenn sie von einem anderen Kerl redete, dann schien sie schon ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben. Oder aber sie hatte dafür gesorgt, dass sie gar nicht erst entstanden. Allerdings hatte ich sogar schonmal versucht den Schwarzhaarigen abzustechen - wenn auch nur minder ernsthaft - und trotzdem schien es mir nicht so, als hätte er jetzt mehr Respekt vor mir als vorher. Da war der Gedanke, dass eine Konversation wie die vor meinem Abflug das richten konnte, irgendwie absolut lächerlich. Wahrscheinlich würde es sich also so schnell nicht ändern, dass der Russe mir gegenüber weiterhin den Chef raushängen ließ. Es bräuchte wohl irgendein wirklich wirksames Druckmittel. Ich seufzte leise, stützte mich dann mit dem Ellbogen auf die Lehne neben mir und legte den Kopf an meine Hand. Dann fing ich an das nur noch halbvolle Glas in der anderen Hand ein klein wenig im Kreis zu schwenken. "Sei froh. Ich hab langsam wirklich das Gefühl, dass es einfach daran liegt, dass ich... so viel jünger bin als Iljah und er mich deswegen nicht ernst nimmt." Womöglich war es ja wirklich einfach der nicht geringe Altersunterschied. Vielleicht hatte ich auch einen ungesunden Vaterkomplex, was angesichts meiner Vergangenheit nicht unbedingt unwahrscheinlich war. Selbst wenn würde das aber nichts daran ändern, dass er mich nicht immer wieder übergehen konnte, ohne dass das noch mehr zwischen uns kaputt machen konnte. Von einer gesunden Beziehung waren wir ohnehin meilenweit entfernt und es sollte im besten Fall nicht noch schlimmer werden, als es das jetzt gerade schon war, wo es doch schon einiges zu kitten gab. Inzwischen war ich mir auch nicht mehr so sicher damit, ob ich die Entschuldigung direkt vor dem Abflug wirklich ernst nehmen konnte. Ob es dem jungen Mann wirklich leid tat oder ob er das nur gesagt hatte, um mich zu manipulieren. Damit ich spurte und zügig ins Flugzeug stieg, keinen Ärger mehr machte. Es war wirklich zum wahnsinnig werden. Anyways war mir die Rothaarige bis zu diesem Punkt trotz ihrer recht direkten Art ganz sympathisch. Es schien das ganze Jahr über hier auf der Insel recht warm zu sein, also konnte ich eher nicht darauf hoffen, dass auch meine langen Hosen in naher Zukunft einen Nutzen haben würden. Da kam mir Cosmas Vorschlag doch ganz recht, denn der war gar nicht mal schlecht. Ich war zwar weit entfernt von einer professionellen Schneiderin, aber ein paar Hosenbeine auf gleicher Länge abzuschneiden konnte eigentlich nicht besonders schwer sein. "na wenigstens hab ich in weiser Nicht-Voraussicht einen Bikini eingepackt.", erwiderte ich amüsiert. "Wie lang seid ihr denn jetzt schon hier?", hakte ich weiter nach, weil mich das doch interessierte. "Ich hab ein paar mehr Hosen dabei... also geh ich wohl erstmal spontan unter die Modedesigner und schneid' ein paar Beine ab.", antwortete ich sarkastisch. Ich war in diesem Moment wirklich froh darüber, dass ich bei der jungen Frau für gute Laune zu sorgen schien, weil der erste Eindruck von mir dann zumindest nicht vollkommen schlecht sein konnte. Außerdem tat es wirklich gut zur Abwechslung mal wieder Jemanden lachen zu hören, sei es auch nur ein kurzes Auflachen. Was das Einkaufen neuer Klamotten anging... "Sag das mit dem Shoppen nicht so laut. Wenn ich mal damit anfange, kann ich nicht mehr aufhören.", stellte ich mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen fest, dass das wohl einfach eine meiner Schwächen war und legte auch den Kopf dabei etwas schief. Ich liebte es, neue Klamotten in den Schrank zu packen und sie wenig später dann auch mal zu tragen. Auch wenn es vereinzelt immer wieder Teile in meinen Schrank geschafft hatten, die dann ja doch zu außergewöhnlich waren und nie getragen worden waren. Immerhin würden die Klamotten hier auf Kuba sicher kaum so teuer sein wie in Moskau und wenn ich mich ein bisschen im Zaum hielt, würde es sicherlich nicht gefühlt gleich die Hälfte meiner Ersparnisse auffressen. "Würde sich denn einer von euch beiden freiwillig opfern, mich zu begleiten..?", mein Blick schweifte zwischen Richard und Cosma hin und her. Im Grunde war mir recht egal wer nun mitkommen würde, oder ob sie sich sogar beide für einen Trip in die Stadt begeistern konnten, solange ich nur nicht allein aufbrechen musste und Gefahr lief mich da irgendwo zu verlaufen. "Ich muss auch noch irgendwo Geld wechseln gehen und ich kenn' mich ja kein bisschen aus.", hängte ich nachdenklich noch einen weiteren Haken an. Zwar ließ sich bestimmt eine Bank finden, die das hinbekam, aber ich musste da eben erstmal hinkommen und es wäre schlichtweg einfacher, wenn ich nicht auf eigene Faust allein durch die Straßen Havannas irren musste. Am Ende konnte ich vielleicht nicht mal effektiv nach dem Weg fragen, weil mein Englisch doch einen nicht zu verachtenden, russischen Akzent hatte und ich wusste auch gar nicht, ob die Leute hier überhaupt was anderes als die Landessprache praktizierten. Die Frage danach, ob es hier am Ende der Welt irgendeine fähige Person gab, die mir die Nägel machen konnte, sparte ich mir erstmal noch. Das war jetzt keine lebenswichtige Sache und bei Weitem nicht so relevant wie zum Wetter passende Klamotten, aber ich wollte langfristig schon gerne wissen, ob ich auf Do-It-Yourself umsteigen musste oder mir den Luxus weiterhin gönnen konnte. Wobei es sicherlich so oder so sinnvoller wäre, das erstmal selbst zu erledigen - rein finanziell gesehen. Zumindest so lange, bis ich wusste, wie ich wieder Geld in meinen Geldbeutel bekam. Jetzt erstmal hob ich das Wasserglas an, um auch den Rest noch auszutrinken und danach lehnte ich mich nach vorne zum Couchtisch, um das leere Gefäß dort abzustellen, damit ich es nicht weiter festhalten musste.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Der junge Mann hieß also Iljah. Nicht, dass es jetzt übermäßig wichtig für mich war, wie nah ich mit meinen Ansätzen am eigentlichen Namen des Russen jetzt drangwesen war, aber ich fand es doch deutlich angenehmer, ihn bei Fragen nicht immer nur umschreiben zu müssen, sondern ihn nun auch beim Namen nennen zu können. Ich hatte zwar nicht vor, mich jetzt noch stundenlang mit Irina über Iljah zu unterhalten, aber wer wusste schon, was sich in den nächsten Tagen noch so ergab. Vielleicht schwätzte man beim gemeinsamen Frühstück ja noch ein wenig oder wenn man abends gemeinsam auf der Couch saß. Das würde sich im Laufe der kommenden Tage ja herauskristallisieren, wenn sich Richard für einen weiteren Verbleib der jungen Frau hier in dem Haus aussprach. Aktuell sah ich noch keinen Grund, warum er es nicht tun sollte, schien Irina auch dem Engländer nicht gänzlich unsympathisch zu sein, aber es blieb abzuwarten. Vielleicht legte die Schwarzhaarige auch nur einen guten ersten Eindruck an den Tag und entwickelte sich anschließend mehr und mehr zu einer Tyrannin. Konnte ja sein, ich hoffte es allerdings nicht. So im Gespräch musste ich nämlich feststellen, wie schön es eigentlich war, sich mal wieder zwangslos mit dem gleichen Geschlecht zu unterhalten. Weder hier auf Kuba, noch in Norwegen hatte ich ja besonders viele weibliche Freunde gehabt und Vahagn war einfach ätzend, da schien mir Irina auf den ersten Blick eine angenehme Abwechslung zu sein. Gut, das Gespräch über den Grund ihrer Reise nach Kuba war jetzt vielleicht nicht ganz so schön, aber jeder hier hatte sein Päckchen zu tragen und das ließ sich nun mal nicht unbedingt schönreden. "Wie alt ist Iljah denn?", fragte ich vorsichtig nach, weil ich mir die Frage leider nicht selbst beantworten konnte. Ich hatte lediglich in ein paar Sätzen mal von ihm gehört, hatte aber weder ein Bild, noch wusste ich, was er und Hunter miteinander groß am Hut hatten. Demnach war es naheliegend, dass ich auch nicht wusste, wie alt der junge Mann war, aber zum Vergleich fehlte mir dann auch noch das Alter von Irina. "Und wie alt bist du...?", sprach ich besagte Frage, die mir durch den Kopf gegangen war, auch sogleich in Worten aus. Optisch würde ich die junge Frau vermutlich in meine Altersklasse stecken. 25 oder 26 Jahre vielleicht, nicht unbedingt älter, auch definitiv auch nicht jünger. Allerdings konnte einen das Optische auch ziemlich täuschen, denn Sabin und Sydney sahen für mich auch nicht unbedingt so aus, als würden sie bald die 30 Jahre knacken. Meine Idee bezüglich der langen Hosen schien Irina ganz gut zu gefallen, ließ sie mich doch direkt wissen, dass sie sich alsbald ans Kürzen der Hosenbeine setzen würde. Shoppen tat sie augenscheinlich auch sehr gerne und entlockte mir mit ihrer Reaktion gleich ein noch breiteres Grinsen. Richard schien sich indessen ausklinken zu wollen, weil das nun weniger eine Freizeitaktivität war, der er gerne nachging. Also zog er in die Küche ab und ich vermutete, dass er anfangen würde, zu kochen. Traf sich auch ganz gut, wenn man mich fragte, das Frühstück lag nämlich schon eine ganze Weile zurück und ich verspürte langsam doch wieder einen leichten Hunger. Wie es Irina ging wusste ich allerdings nicht, konnte mir aber vorstellen, dass es ihr nicht anders ging. Ich wusste nicht, ob sie über den Wolken bereits etwas zu sich genommen hatte und ob ihr so kurz nach der Landung überhaupt schon der Sinn nach etwas zu Essen stand. Im Grunde genommen war das aber wohl auch ziemlich egal, denn was auch immer Richard vorbereiten würde, ließ sich sicher auch zu einem späteren Zeitpunkt noch vertilgen. Dann wärmte sie sich das Essen nachher einfach noch mal auf. "Ich denke, dass sich das irgendwie einrichten lässt. Wir müssen eh einkaufen, dann können wir das einfach verbinden.", schlug ich für meine Verhältnisse wirklich ungewohnt zuvorkommend vor, Irinas Geldwechsel- und Shoppingtour einfach mit dem Wocheneinkauf zu verbinden. Als Richard und ich von Sam aus zum Bungalow gefahren waren, hatte der Engländer nur ein paar wirklich notwendige Dinge eingekauft, weil sich viel mehr mit den gepackten Taschen überhaupt nicht tragen ließ. Da wir jetzt aber zu dritt waren, würde das, was wir momentan noch im Kühlschrank und in den Küchenschränken bunkerten, sicherlich nicht mehr lange ausreichen. "Willst du das heute noch machen? Oder willst du erstmal in Ruhe ankommen und wir erledigen das dann morgen? Wir haben hier eine Terrasse mit Waldblick und die eignet sich herrlich dazu, einfach ein bisschen zu entspannen.", richtete ich zwei Fragen und eine Feststellung an die junge Frau neben mir, deutete bei der Erwähnung der Terrasse auch in jene Richtung. Ich müsste sowieso noch mal raus, die Tassen abräumen, die Richard und ich dort hinterlassen hatten. Mir war im Grunde egal, wofür sich die Schwarzhaarige entschied. Inzwischen war ich wieder relativ fit, es galt vielleicht noch den ein oder anderen Kilo anzufuttern, den ich durch das strenge und unfreiwillige Fasten verloren und weggeschwitzt hatte, aber ansonsten ging es mir wieder gut. Ich hatte keine Mangelerscheinung mehr und ausreichend Schlaf hatte die tiefen schwarzen Ringe unter meinen Augen auch schnell eliminiert. Ich war demnach für fast jede Schandtat zu haben, aber auf Irina wartete ziemlich sicher noch der bald einsetzende Jetlag, der sie umhauen würde. Vielleicht war es also keine wirklich gute Idee, wenn wir direkt heute noch aufbrechen würden, sondern das morgen in aller Ruhe in Angriff nahmen.
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Mit der Frage nach dem Alter war schon zu rechnen gewesen und sie war an und für sich auch nicht unangenehm zu beantworten. Ich selbst machte mir ja absolut nichts aus dem Altersunterschied, hatte wohl einfach kein Faible für die Jungs in meinem Alter. Das waren eben nur in seltenen Fällen wirklich schon Männer, sondern eher sehr große Kinder. Würde ich ein Kind wollen, hätte ich längst eins. Schließlich hatte ich ja schon genug Männer ertragen müssen und einer davon hätte sich bestimmt erbarmt. Ich mochte Kinder, war aber definitiv nicht erpicht darauf jetzt schon welche zu kriegen. Vielleicht auch niemals, so angesichts meiner sehr turbulenten Lebensumstände. Ein Kind in die Welt zu setzen war dumm, wenn man ständig auf der Flucht war, auch wenn letzteres hoffentlich jetzt ein Ende hatte - zumal ich auch keine Ahnung hatte, was Iljah von Kindern hielt, weil wir drüber logischerweise noch nie geredet hatten. War bis dato auch vollkommen überflüssig, weil es schlichtweg nicht zur Debatte stand. Da müsste auch erstmal die Kupferkette aus mir rausgenommen werden, die noch gut und gerne 4 Jahre drin bleiben durfte. "Er ist 28... und ich erst 20. Bald 21, aber auf die paar Monate hin oder her ist wohl geschissen.", klärte ich Cosma mit einem Schulterzucken über den Altersunterschied auf. In zwei Monaten hatte ich Geburtstag und es stand wohl noch in den Sternen, wo ich den feiern würde. "Ich kann mit Männern in meinem Alter aber auch einfach nichts anfangen. Die sind so kindisch.", hängte ich noch ein paar Worte an. Zwar hätte es ein 25jähriger Mann ganz sicher auch getan, aber so war es eben nicht gekommen und ich hatte nun wirklich nicht auf Iljahs Alter geachtet, als ich mich in ihn verguckt hatte. Ich hatte einfach eine Schwäche für kantige Kiefer und markante Gesichtszüge im Allgemeinen. Die fand man selten bei Jüngeren. Es waren wohl auch die Ausstrahlung und der eindringliche Blick des Schwarzhaarigen, die mich so anzogen. Weicheier waren eben einfach nichts für mich. Das war wohl auch eine der Schädigungen, die ich aus den letzten Jahren mitgenommen hatte - normal war grundsätzlich ziemlich langweilig und für mehr als einen Tag oder eine Woche eher nicht geeignet. Während Richard sich ausklinkte und vorerst das Weite suchte, zeigte Cosma sich damit einverstanden mich beim Einkaufen und der Geldwechslerei zu unterstützen. Das erleichterte mich ungemein, weil ich wirklich nur ungern alleine hätte losziehen wollen. Allein schon wegen der Sprachbarriere, bei der mir höchstens ein Translator auf dem Handy hätte helfen können. Apropos - eine neue Simkarte musste zweifelsfrei auch noch her, wenn ich meine Rechnung nicht ins Unendliche steigern wollte. Wenn sich all das auch noch mit dem Einkaufen verbinden ließ, umso besser. Dann konnte ich beim Einkaufen gleich mithelfen und mir auch ein, zwei Kleinigkeiten in den Wagen packen, die mir gut schmeckten. Blieb abzuwarten, was sich in einem kubanischen Supermarkt so an Leckereien finden ließ, aber ich war auch mit simplen Gerichten mehr als zufrieden. Hauptsache man wurde satt und bekam beim Essen nicht das Kotzen, alles andere war aktuell eher zweitrangig. "Nein, morgen reicht völlig... ich bin froh, wenn ich heute nicht mehr viel machen muss. Weder hab ich davor, noch auf dem Flug wirklich geschlafen. Ich warte quasi nur auf den Jetlag.", klärte ich die junge Frau darüber auf, dass ich was das anging nun keine zu große Eile sah. Es war vollkommen ausreichend die Erledigungen auf morgen zu schieben, dann konnte ich mit Glück vorher noch etwas Energie tanken. "Die Terrasse klingt gut, ja. Ich geh nur eben mein Glas nochmal voll machen.", willigte ich auch in das Angebot etwas Sonne tanken zu gehen ein. Zwar würde ich ein Auge darauf haben müssen, was mein Kreislauf dazu sagte, damit ich nicht versehentlich in der Sonne einschlief, aber ansonsten konnte es kaum verkehrt sein etwas Vitamin D tanken zu gehen. In Russland bekam man davon eindeutig zu wenig ab. War also bestimmt kein Wunder, dass da viele Leute ziemlich verbittert waren. Andererseits schien die Sonne auf Vahagns Verhalten kaum Einfluss gehabt zu haben. Ich hoffte trotzdem, dass mir die Sonne gut tun würde und stand deswegen auch auf, um mich zuerst um das Wasser zu kümmern. Gerädert ging ich langsamen Schrittes also aus dem Wohnzimmer, um den selben Weg wie Richard einzuschlagen und die Küche zu suchen. Die war schnell gefunden und so hielt ich dort das Glas unter den Wasserhahn der Spüle, um es vollzumachen. Ich schenkte dem Engländer im Vorbeigehen noch ein aufrichtiges Lächeln, bevor ich zurück zu Cosma ging und mit ihr dann weiter auf die sonnige Terrasse.
**Le Sprüng zu le nächste Tag**
Die Zeit zwischen meinem Gespräch mit Vahagn und der tatsächlichen, gestrigen Abreise aus Kuba war ziemlich schnell vergangen. Angesichts der Tatsache, dass ich nicht wirklich weniger gearbeitet hatte als sonst, sondern sogar noch etwas mehr, war das vermutlich auch gar kein Wunder. Hunter hatte nur hochgradig genervt und zähneknirschend akzeptiert, dass ich mit Sydney nach Kanada fliegen und von dort aus weiter in die Staaten pilgern wollte. Auch nur unter der Prämisse, dass ich den Verlust meiner Zeit im Labor vorher reinarbeiten würde. Die USA waren eben einfach eine sehr heikle Sache und so unterstrich der Amerikaner auch unmissverständlich, dass er uns da drüben gewiss nicht wieder aus dem Knast holen würde, sollten sie uns erwischen. Natürlich auch, dass wir tote Leute waren, wenn wir für Strafminderung den Mund aufmachen würden. Es war ihm eigentlich nicht zu verdenken, dass er das extra erwähnte, weil ich eben schonmal gesungen hatte und Sydney war nun mal eine ehemalige Agentin. Ich würde aber lieber hinter Gittern verrecken, als noch einmal die Bullen als Ausweg zu suchen. Allerdings hielt ich unseren vollendeten Plan ohnehin für sehr wasserdicht und deshalb würden wir auch nicht ins Gefängnis müssen. Das Restrisiko blieb, aber ich hielt es für gering genug, um die Auslandsreise durchzuziehen. Außerdem kam es mir etwas zu Gute die Drogen schon vorher reinzuarbeiten, weil ich mir dann auch meine Kohle früher von Hunter - beziehungsweise dem Botenjungen, weil wieso sollte unser Bonze auch selbst seinen Arsch aus der Villa bewegen - kassieren konnte. Die Anzahlung für Vahagn ließ sich so besseren Gewissens bezahle, ohne auf dem letzten Cent herumzukriechen. Allerdings müsste ich doch lügen, um zu sagen, dass die Reise nicht dennoch ein unangenehmes Loch ins Portemonnaie fraß. Trotzdem hatte ich vor Kurzem damit angefangen nach einer Wohnung für Sydney und mich zu suchen, weil ich es schlichtweg nicht länger in dieser schäbigen WG aushielt. Seit den umfassenden Renovierungen ließ es sich dort zwar rein räumlich ganz in Ordnung leben, aber das änderte nun mal absolut nichts daran, dass mir die Schläger von Hunter immer wieder an den Nerven zehrten. Es setzte mich unnötigem Stress aus, den ich schlichtweg nicht haben wollte und den ich über kurz oder lang loswerden musste. Auch meiner Freundin zuliebe, die meine angekratzte Laune danach dann immer ertragen musste. Ich war ganz einfach aus dem Alter raus, wo ich mich aus finanziellen Gründen mit solchen Menschen herumärgern müssen sollte. Dank Richards Wiederaufnahme der Arbeit rückte ein möglicher Auszug glücklicherweise immer näher. Apropos: Mir war im ersten Moment nicht ganz wohl dabei, dass der Engländer Samueles Wohnung verlassen hatte und zurück zu sich nach Hause gezogen war. Gerade jetzt, wo ich nicht mit im Labor sein würde, schien mir das ungünstig. Auch wusste ich nicht, ob es nun gut oder schlecht war, dass Cosma bei ihm war. Dann war er zwar nicht allein, andererseits war die Rothaarige aber als Hunters Freundin vielleicht kein allzu guter Einfluss für den noch auf mental wackligen Beinen stehenden Kunstfanatiker. Trotzdem hatte ich mich dabei nicht eingemischt, sondern stillschweigend sein Verhalten in den letzten Tagen im Labor analysiert. Zwar schien ihn der Streit mit Sam ein bisschen zu kränken, aber er wirkte dennoch nicht labil oder dergleichen, was ich erstmal als etwas Gutes abstempelte. Zur Sicherheit fragte ich jedoch Tauren, ob er hier und da vielleicht mal am Labor vorbeischauen konnte, wenn er zufällig in der Gegend war, während ich mich in den Staaten herumtrieb. Ich wollte nicht, dass Richard etwas Dummes tat und der Norweger hatte kein Problem damit, ab und zu ein paar Minuten dafür zu opfern. Vielleicht war es für die beiden so oder so ganz gut, wenn sie sich ein paar Mal ein bisschen unterhalten konnten. So für die Freundschaft eben. Nachdem Sydney und ich den gefühlt endlosen Flug nach Kanada erfolgreich hinter uns gebracht hatten, ging es unweit vom Flughafen zur privaten Übergabe mit dem Typen, der uns gegen eine gewisse Geldsumme ein Auto mit amerikanischem Kennzeichen zur Verfügung stellte. Letzteres erregte in den Staaten drüben einfach weniger Aufmerksamkeit, als ein kanadischer Mietwagen und das schmälerte das Risiko einer Fahrzeugkontrolle. Wie geplant nahmen wir dann auch eine abgelegene Route über die Landesgrenze, die nicht mehr als eine kaum befahrene, schmale Straße durch ein Farmgebiet etwas abseits von Vancouver war. Es fiel mir dennoch prompt ein Stein vom Herzen, als dort weit und breit keine Bullen zugegen waren und wir völlig ungestört in den Bundesstaat Washington einreisen konnten. Die Autofahrt von der kanadisch-amerikanischen Grenze bis nach Oregon runter dauerte noch einmal gute fünf Stunden, aber dann waren wir nach über einem Tag endlich am Ziel angekommen - ein abgelegenes Motel außerhalb der Stadt Portland, die unser finales Ziel vor unserem morgigen Trip sein sollte. Es war inzwischen gegen 20 Uhr und da konnten wir auf Noah vergebens warten, weil der längst Zuhause war. Glücklicherweise hatten wir scheinbar wenigstens kein absolut verdrecktes Motel erwischt, sondern eines, das zumindest die sanitären Anlagen wirklich sauber hielt. Kein Schimmel an den Fliesenfugen oder andere eklige Begegnungen. Dafür war die Matratze, die wir uns in der Nacht teilten, schon absolut durchgelegen und aufgrund dessen wenig bis gar nicht bequem. Viel mehr konnte man bei dem spottbilligen Preis aber wohl auch nicht erwarten und vermutlich konnten wir froh sein, dass die Matratze keine Löcher hatte und die Bettwäsche wirklich frisch zu sein schien. Immerhin hatte ich beim Schlafen aber wie gewohnt Sydney an meiner Seite, was immerhin dazu beitrug, dass ich ganz gut einschlafen konnte. Dennoch schlief ich etwas unruhig, was vermutlich schlichtweg der fremden Umgebung, der Matratze und der leisen Angst doch noch von den Cops aufgegabelt zu werden zu verschulden war. Ich hatte aber auf dem Flug schon einige Stunden geschlafen, also fühlte ich mich nicht wesentlich mehr gerädert als sonst, als der Wecker klingelte. Für meine Verhältnisse ungewohnt früh, war es doch erst 11.30 Uhr. Wir hatten sehr großzügig geplant, um uns auf der etwa einstündigen Hinfahrt zur Schule des Jungen nicht übermäßig stressen zu müssen. Normalerweise hatte er um 14 Uhr Schluss, also konnte ich mich nach abstellen des Weckers noch einmal ganz gemütlich zu Sydney umdrehen und sie in meine Arme ziehen, um ganz in Ruhe wach zu werden. Ihren Duft einatmen, während mich ihre Haare an der Nase kitzelten und ich ihr ein "Guten Morgen." zumurmelte. "Wie hast du geschlafen?", hängte ich nach ein paar Sekunden noch eine Frage an und küsste sie flüchtig auf den Haaransatz. Vermutlich weniger gut als ich, weil es eben nicht mein Sohn war, um den es bei dieser ganzen Sache ging.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Auch wenn ich mich definitiv noch nicht als wirklich alt titulieren würde, hatte ich doch langsam das Gefühl, dass mir Aktionen wie die Reise nach Kanada nicht mehr ganz so leicht fielen, wie noch vor ein paar Jahren. Der Flug schlauchte mich ungemein und der Gedanke daran, bald schon in die Staaten einzureisen und damit lebenslanger Haft förmlich direkt in die Augen zu sehen, zehrte nur zusätzlich an meinen Nerven. Es half leider auch nicht besonders viel, mir einzureden, dass schon alles gut werden und auch Sabins Nähe wirkte sich dieses Mal nicht übermäßig beruhigend auf meine Wenigkeit aus, weil ich schlichtweg total nervös war. Sowohl wegen der Einreise in ein eigentliches Sperrgebiet für uns zwei, als auch wegen des bevorstehenden Wiedersehens mit meinem Sohn. Denn eines war sicher - einen Rückzieher würden wir jetzt ganz bestimmt nicht mehr machen, wo wir doch nach einer halben Ewigkeit endlich in Kanada gelandet waren und schließlich das Motel in Amerika bezogen hatten. Jetzt unverrichteter Dinge einfach wieder abzuhauen, kam überhaupt nicht in Frage. Außerdem wären wir wohl kaum so weit gekommen, wenn wir irgendetwas ganz gravierend falsch gemacht hätten. Die letzten paar Meter kurz vor dem Ziel würden wir also auch noch hinter uns bringen, Noah war in greifbarer Nähe und trotz der ganzen Umstände dieser Reise freute ich mich auf meinen kleinen Strahlemann. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie er letztlich reagieren würde, wenn er mich sah, aber das spielte für mich vorerst auch nur eine sehr geringe Rolle. Im absoluten Notfall - wenn Noah also permanent unter Aufsicht stand - würde es mir auch schon ausreichen, ihn aus der Ferne eine Weile zu beobachten. Ihn einfach noch mal lachen sehen, mich im Geiste von ihm verabschieden, würde mir schon helfen, mit diesem Kapitel meines Lebens mehr oder weniger abzuschließen, auch wenn ich natürlich gerne noch mal seine weiche Haut unter meiner Hand gespürt hätte. Ihm durch die Haare streichen und noch einen letzten Kuss auf die Wange geben zu können - das war mein eigentliches Ziel, wenn alles nach Plan lief. Bis es jedoch soweit war, galt es noch die Nacht rumzukriegen und das war eine echte Herausforderung. Der Flug hatte mich zwar einiges an Energie gekostet und streng genommen war ich sogar richtig müde, aber sobald ich meine Augen schloss, spielten sich die unterschiedlichsten Szenarien zu dem Vorhaben morgen Mittag in meinen Gedanken ab und raubten mir damit den Schlaf. Von einer möglichen Verhaftung, über ein absolut problemloses Treffen hin zu einer Abweisung seitens Noah spielten sich mir jede Menge Möglichkeiten vor dem inneren Auge ab, wie das Treffen verlaufen könnte. Effektiv kam ich deswegen zu vielleicht maximal fünf Stunden Schlaf, kurz bevor Sabins Wecker klingelte und der Berg von Mann sich zu mir herumdrehte. Meine verschlafene Wenigkeit an sich heranzog und mich damit schon mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen die Augen aufschlagen ließ. Denn egal, wie beschissen ich geschlafen hatte, wie müde und nervös ich letztlich war... ich war auch glücklich, den Schritt mit Sabin an meiner Seite gemacht zu haben. Das Risiko war es vermutlich trotzdem nicht wert, aber das war mir egal. Ich berief mich einfach auf mein Wissen als ehemalige FBI Agentin und hoffte so darauf, den Behörden - und somit ehemaligen Kolleginnen und Kollegen - in Portland damit aus dem Weg gehen zu können, um mich ungestört mit Sabin und Noah in eine ruhige Ecke zu verziehen. Tja und wenn was schiefgehen sollte, hatte sich das Alles sowieso erledigt, machten wir uns da nichts vor. Nach der unruhigen Nacht auf der heruntergekommenen Matratze wollte ich mir am frühen Morgen aber nicht gleich wieder die Laune verderben lassen und schaltete für den Moment alle Gedanken an das Treffen ab, um mich stattdessen einfach auf den Italiener an meiner Seite zu konzentrieren. Ich kuschelte mich noch etwas enger an ihn und atmete den vertrauten Duft ein, der mich daran erinnerte, dass ich in dieser ganzen Sache nicht alleine war. Sabin an meiner Seite zu wissen, schenkte mir unglaublich viel Kraft und ich war wirklich froh darüber, dass er mich zu diesem Schritt bewegt hatte. Es würde mir sicher dabei helfen, positiv in die Zukunft blicken zu können, wenn ich wusste, dass es meinem Sohn gut ging und ich ihm erklärt hatte, dass seine Mama kein per se schlechter Mensch war. Er sich benehmen und etwas aus seinem Leben machen sollte, auch wenn ich mir sicher war, dass er letzteres ganz bestimmt nicht verstehen würde. Schule war schließlich doof und es gab ja viel wichtigeres im Leben, als zu lernen. Irgendwann würde er jedoch verstehen, dass ich es nur gut gemeint hatte und von Nichts eben auch Nichts kam. Da machte ich mir keine großen Gedanken drum, Kilian und ich hatten schließlich viel Wert auf die Erziehung unseres gemeinsamen Kindes gelegt und unterschieden uns in dem Punkt absolut nicht. Ihm lag genauso viel an einer guten Zukunft Noahs, wie mir auch. "Guten Morgen...", murmelte ich müde, während ich mein Gesicht an seiner Brust vergrub. "Na ja, so gut, wie man auf der beschissenen Matratze in einem Land, das einen förmlich hängen sehen möchte, eben schlafen kann.", beantwortete ich im direkten Anschluss leise Sabins Frage. Dann sah ich zu ihm rauf, lächelte und streckte mich nach seinen Lippen aus, die eben noch einen Kuss auf meinen Haaransatz gehaucht hatten. "Und du?", flüsterte ich eine Gegenfrage, während ich einen Arm unter der Decke hervorholte, um die Hand dessen an die Wange des jungen Mannes neben mir zu legen. Dort behutsam über die bärtige Wange und mit dem Daumen über das Tattoo unter seinem Auge zu streicheln. Ich wollte nicht aufstehen, war eigentlich viel zu müde, mich aus dem Bett zu quälen, aber es führte wohl kein Weg daran vorbei, wenn wir pünktlich zum Schulschluss in Portland sein wollten. Es blieb also nicht mehr ganz so viel Zeit, den schönen Moment zu genießen, bevor wir uns anziehen und dann los mussten. Geduscht hatte ich vor unserer Abreise bereits, konnte da also einiges an Zeit einsparen und wenn ich mir das Motel so ansah, war ich eigentlich ganz froh, die Toiletten und Duschen nicht öfter benutzen zu müssen, als das unbedingt nötig war. Inzwischen hatte ich zwar schon Schlimmeres gesehen, konnte aber auf Gemeinschaftsduschen nach wie vor trotzdem ganz gut verzichten.
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Wie erwartet hatte Sydney nicht so verhältnismäßig selig geschlafen wie ich selbst. Zweifelsfrei hatte ich auch schon bessere Nächte hinter mir, aber eben auch deutlich schlimmere. Seit ich damals durch meine legale Flucht nach Norwegen einen kurzzeitig sehr strikten Cut in meinen kriminellen Alltag gesetzt hatte, war ich irgendwie ein bisschen raus aus diesem Lebensstil. Früher war ich meistens gut mit weniger Schlaf ausgekommen und mittlerweile war ich meistens selbst dann müde, wenn ich vermeintlich gut und ausreichend geschlafen hatte. Wahrscheinlich wurde ich einfach alt, da gab es nur wenig dran zu rütteln. Umso schöner war es, noch einen Moment lang mit der Brünetten hier liegenbleiben zu können und in Ruhe wach zu werden. Momente wie der jetzige waren für mich nicht weniger als Gold wert, auch wenn Sydney sich über ihren Schlaf beschwerte. Es war allzu gut nachvollziehbar, dass sie der Umstände wegen nicht gut geschlafen hatte und deshalb lockerte ich einen Arm aus der Umarmung, um stattdessen sanft über ihr dunkles Haar zu streichen. Ich erwiderte das Lächeln auf ihren Lippen von ganz allein, als Sydney schließlich zu mir hochsah und ihre Finger nach meinem Gesicht ausstreckte. Obwohl wir nun schon eine Weile lang zusammen waren saugte ich noch immer jede ihrer Berührungen förmlich auf. Genoss jede einzelne davon, wo sie doch so viel Linderung für mein ansonsten recht stressiges Leben versprachen. Der Hektik, die meinen Alltag bis dato nicht selten beherrscht, etwas den Wind aus den Segeln nahm und mich einen Moment lang einfach durchatmen, entspannen ließ. Gerade vor einem Tag wie dem heutigen, der eine gute Portion Spannung bereithielt, war das nicht weniger als ein Segen. Auch wenn mich das Ganze eben doch deutlich weniger stresste, als das bei Sydney der Fall war. Trotz allem riefen ihre Worte sogar ein schwaches Grinsen hervor. "Ach, daran gewöhnst du dich noch irgendwann... also nicht an schlechte Matratzen, aber ans gejagt werden.", murmelte ich an ihre Lippen, kurz bevor ich sie für einen liebevollen Kuss mit meinen verschloss. Miese Matratzen blieben immer ganz genau das, was sie waren und würde ihr mit Pech immer Rückenschmerzen bescheren. Eine vor dem Staat flüchtige Person zu sein war manchmal nicht schön, aber irgendwann sah man das tatsächlich wesentlich lockerer. So nach mehreren Verfolgungsjagden eben. Der Adrenalinkick blieb immer der Gleiche, aber irgendwann hörte man damit auf, sich schon vor einer vielleicht gefährlich werdenden Situation die wildesten Szenarios auszumalen. Man hatte schlichtweg nichts davon uns machte sich nur unnötig kirre. "Ich hab ganz okay geschlafen. War auf jeden Fall schonmal schlimmer.", stellte ich fest und strich der jungen Frau ein letztes Mal übers Haar, bevor ich mich schließlich von ihr löste und mich langsam zum Sitzen aufrichtete. "Aber meine Schultern werden mich heute sicher noch irgendwann umbringen.", wurde ich dazu noch ein paar Worte mehr los, als ich gerade meinen Schultern kreisen ließ. Dehnte mir im Anschluss noch den Nacken und zog nach einem leisen Seufzen schließlich meine offene Reisetasche in der Nähe des Fußendes über den Boden zu mir hin. Kramte den Kulturbeutel heraus, weil mir irgendwie nicht wohl dabei war den im Badezimmer zu lassen. Ohnehin waren Toilette und Waschbecken alles, was man hier direkt am Zimmer hatte. Deshalb war ich auch am gestrigen Abend schon duschen gegangen. Nur so flüchtig wie möglich war, weil ich auf Gesellschaft dabei eben auch ganz gut verzichten konnte - sofern es sich nicht um Sydney handelte -, aber nötig gewesen war es eben doch. Wenigstens musste ich da dann jetzt nicht noch einmal hin, sondern erledigte meine morgendliche Routine ausnahmsweise ohne unter den Wasserstrahl zu hüpfen. "Ich geh kurz ins Bad.", meldete ich mich überflüssigerweise mit Worten ab, bevor ich das Badezimmer nach einem letzten Blick auf die hübsche Brünette aufsuchte. Es war ausreichend mir nach dem Entleeren meiner Blase die Zähne zu putzen, das Gesicht zu waschen und mir die Haare zu machen. Noch ein kurzer Check ob der Bart auch nirgends merkwürdig von meinem Kiefer abstand, etwas Deo und Parfüm und dann wars das für heute. Nur zur Sicherheit würden wir heute Nacht nicht wieder im selben Motel schlafen, vielleicht war das andere was das anging ja etwas angenehmer. Andernfalls würde ich es mir wohl zweimal überlegen, ob ich mit der nächsten Dusche nicht doch lieber wartete, bis wir zurück auf der sonnigen Insel waren. Wieder im Schlafzimmer angekommen warf ich Syd nur einen kurzen Blick zu, bevor ich mich für frische Klamotten erneut meiner Tasche zuwendete. Als der Kulturbeutel verstaut war, zog ich einen dunkelgrauen Kapuzenpullover und eine schlichte Jeans heraus. Ich hielt es für unauffälliger nicht komplett in schwarz herumzulaufen, im Fall der Fälle war eine Kapuze aber vielleicht ein Lebensretter. Auch die Sonnenbrille, die ich während der gestrigen Autofahrt dauerhaft getragen hatte - so für die Verkehrskameras eben - hakte ich erstmal vorne in den Kragen ein. Es war hier in Oregon bei Weitem nicht so schwülwarm wie in Kuba, sondern eher etwas kühl. Trotzdem sollte der Pullover laut Wettervorhersage vollkommen ausreichend sein und ich würde nur unwahrscheinlich frieren müssen. Als ich die Klamotten anhatte ging ich zu dem dreckigen Fenster rüber und zog den Vorhang bei Seite. Die Sonne schien, wenn auch etwas verhalten und mit ein paar Wolken am Himmel. War in jedem Fall ein guter Tag, um einen Ausflug mit einem Kind zu machen.
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Ob ich mich daran jemals gewöhnen würde war fraglich. Ich befand mich zwar auf dem besten Weg, mein Schicksal als Kriminelle gänzlich zu akzeptieren, aber hier und da erhoffte ich mir dann doch manchmal noch so etwas wie eine Rettung in letzter Sekunde. Inzwischen sowohl für mich, als auch für Sabin, denn den jungen Mann wollte ich nicht mehr missen. Wie genau diese besagte Rettung allerdings aussehen sollte, wusste ich leider nicht, aber ich träumte trotzdem nicht selten davon, mit dem Italiener einfach ein stinknormales Leben zu führen. Mit stinknormalen Jobs zu der stinknormalen Mittelschicht der Gesellschaft zu gehören, die sich über langweilige Hobbys, öde Freunde und fragwürdige Sonntagsaktivitäten definierte. Allerdings war der Zug inzwischen längst abgefahren und ich tat sicher gut daran, das endlich einzusehen. Vielleicht würde ich das nach dem heutigen Tag auch endlich können, wenn ich mich von dem letzten Bisschen meines alten Lebens verabschiedet hatte. "Vermutlich hast du Recht, ja.", stimmte ich ihm im Anschluss an den Kuss nachdenklich zu und zuckte im Liegen ein wenig mit den schmalen Schultern. Er müsste es ja eigentlich am besten wissen, oder? Weil ich die Zeit überhaupt nicht im Blick hatte, war es meiner Meinung nach noch viel zu früh dafür, dass Sabin sich wieder von mir löste, aufstand und kurz darauf auch schon in dem kleinen Bad unseres Motelzimmers verschwand. Ich sah ihm für einen kurzen Moment nur wehleidig nach, ehe auch ich mich dazu entschloss, die müden Knochen munter werden zu lassen und mich aufzusetzen. Ich saß zwar trotzdem noch an die fünf Minuten reglos auf der unbequemen Matratze, ehe ich haareraufend die Beine über die Bettkante schwang und die Füße auf dem abgewetzten Teppichboden absetzte. Es wäre vermutlich gesünder gewesen, nicht unbedingt barfuß das Bett zum umrunden, um an die Tasche mit den frischen Klamotten zu gelangen, aber gut. Der Gedanke, dass ich mich einfach auf die andere Seite hätte rollen können, kam mir erst, als ich auf Sabins Seite des Bettes Platz nahm, um mir so einfacher das frische Paar Socken über die Füße ziehen zu können. Wenig später schlüpfte ich schließlich auch schon in weiße Jeans und tat es Sabin dann gleich, indem ich einen schwarzen Kapuzenpullover schlüpfte, den man wegen seiner Größe vermutlich eher dem Kleiderschrank des Italieners zuordnen würde. Dann steuerte auch ich noch einmal das Bad an und kurz zuvor fragte ich mich, warum Sabin den Kulturbeutel eigentlich schon wieder verstauen wollte. Schließlich befand sich auch mein Deo und meine Zahnbürste in der kleinen Tasche und einer flüchtigen Morgenhygiene wollte auch ich mich gerne noch unterziehen. Also rollte ich nur schwach mit dem Kopf schüttelnd und ein schmales Grinsen auf den Lippen tragend mit den Augen, nahm den Beutel wieder aus der Tasche raus und verschwand daraufhin dann ebenfalls für ein paar Minuten im Bad. Ich spritzte mir dort zuallererst eine Hand voll kaltes Wasser ins Gesicht in der Hoffnung, das mich das ein Stück weit wacher werden ließ oder zumindest den Anschein erweckte, als wäre ich es. Dann bürstete ich mir einmal durch die Haare, band sie anschließend in einem lockeren Pferdeschwanz zusammen und nachdem ich den Toilettengang und das Zähneputzen ebenfalls von der To-Do-Liste streichen konnte, kehrte ich wieder zu dem jungen Mann zurück. Der Kulturbeutel wanderte nun final in die Reisetasche zurück und ich ließ mich zum Schuhe anziehen erneut auf das Bett fallen. Jetzt, wo der Aufbruch unmittelbar bevorstand, kroch mir die Nervosität doch langsam in den Nacken, aber es galt weiterhin, dass ein Rückzieher absolut nicht drin war. "Was denkst du, wie lange wir brauchen werden?", versuchte ich mich mit einer belanglosen Frage abzulenken, auch wenn ich die Antwort eigentlich schon kannte. Wir hatten schließlich jeden einzelnen Stopp unserer Reise akribisch durchgeplant, mir waren die Zeiten also durchaus bewusst. Dennoch half es mir dabei, ein bisschen auf andere Gedanken zu kommen, während ich mir die Schnürsenkel band. Es hielt außerdem all die verschiedenen Szenarien, die ich mir in der Nacht ausgemalt hatte, davon ab, sich vor meinem inneren Auge abzuspielen und so blieb ich noch verhältnismäßig ruhig. Sobald wir uns allerdings auf der Fahrt zu Noahs Schule befanden, könnte ich diese vermutlich nicht mehr so einfach verdrängen. Bis ich das Gesicht meines kleinen Jungens sah die Welt für den Bruchteil einer Sekunde wieder in Ordnung war. Nachdem die Schuhe gebunden waren, sprang ich wieder auf, sammelte das Portemonnaie und auch mein Handy ein, um beides in den Hosentaschen der Jeans zu verstauen. Auf eine Handtasche verzichtete ich heute ganz bewusst, weil es sich damit im Fall der Fälle einfach schlechter flüchten ließ. Ich redete mir zwar weiterhin ein, dass das alles schon gut gehen würde, aber die leisen Zweifel klopften doch zunehmend mehr an, je näher der Schulschluss meines Kleinen rückte.
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Wir würden auf jeden Fall schonmal nicht so lange brauchen, wie wir zum jetzigen Zeitpunkt noch Zeit für die Fahrt übrig hatten. Ich legte meine Armbanduhr noch ums rechte Handgelenk und musterte die Zeiger, als sie gut saß. Eigentlich war ich der Meinung, dass Sydney sehr gut wissen müsste, dass wir noch um die zwei Stunden Zeit hatten, was in etwa doppelt so viel war, wie wir brauchen würden. Womöglich wollte sie einfach nur eine Konversation am Laufen halten, um mehr oder weniger etwas zu tun zu haben. Um ihren Kopf etwas zu beschäftigen, wurde sie jetzt doch sicherlich langsam etwas nervös. Schließlich war das Treffen mit ihrem Sohn nun nicht mehr weit weg, in greifbarer Nähe. In jedem Fall hatten wir noch mehr als genug Zeit, um auf der Hinfahrt irgendwo einen Stopp zum Frühstücken einzulegen. Ich wollte mich nicht unbedingt irgendwo reinsetzen und gemütlich einen Kaffee trinken, aber eines der koffeinhaltigen Getränke für unterwegs und ein belegtes Brötchen wären zumindest schön. Männer mit meinem Muskelumfang hungerten absolut ungern, brauchte mein Körper doch schlichtweg eine gewisse Energiezufuhr, um die Muskeln nicht abzubauen. An und für sich war zu hungern ohnehin grundsätzlich scheiße, davon hatte man ja nichts außer einen nervenden, knurrenden Magen. "Eine Stunde, plus minus ein paar Minuten. Kommt stark auf den Verkehr im Zentrum an, aber der Berufsverkehr sollte uns um die Mittagszeit eigentlich erspart bleiben.", erläuterte ich Syd meine Einschätzung der Lage und zuckte dann leicht mit den breiten Schultern. Ich zog den Ärmel wieder über die Uhr und hob im Anschluss daran die Reisetasche aufs Bett. Checkte noch einmal, ob alles drin war - nicht nur mittels Musterung der Tasche, sondern auch mit einem flüchtigen Blick durchs Zimmer - und zog dann den Reißverschluss zu. Erst danach zog ich meine Schuhe an, die ausnahmsweise durchweg schlichte Sneaker waren. Ich hielt eigentlich nicht mehr so viel von Turnschuhen, seit ich die maßgeschneiderten, italienischen Lederschuhe gewohnt war, aber sie waren halt praktischer für eine potenziell mögliche Flucht und außerdem waren sie das einzige, das zum Rest des Outfits ein stimmiges Bild ergab. Als die Sneaker saßen sammelte ich meinen Geldbeutel und den Auto-, sowie Zimmerschlüssel vom Nachttisch. Es konnte losgehen. "Schaust du mal ob irgendwo auf dem Weg eine Bäckerei liegt? Oder irgendwas anderes frühstückstaugliches?", gab ich diese Aufgabe an meine Co-Pilotin ab, während ich die Zimmertür ansteuerte. Ich ging nach draußen an die frische Luft, die im Vergleich zu Kuba ein wirklich angenehmer Tapetenwechsel war. Als Sydney das Zimmer ebenfalls verlassen hatte, schloss ich die Tür noch ab und drückte ihr dann den Autoschlüssel, sowie die nicht wirklich schwere Tasche in die Hand. Wenn man nicht lange verreiste, brauchte man ja auch nicht viel Zeug, sie dürfte mit dem Tragen auf diese kurze Strecke also weiß Gott keine Probleme haben. "Geh du vielleicht schonmal vor, ich bring' den Schlüssel zurück." Wäre ja unsinnig, wenn sie mir jetzt extra zur Rezeption hinterherlief, obwohl es da nichts für sie zu tun gab. Sollte sie sich ganz in Ruhe schonmal in den Wagen setzen, das kleine bisschen Gepäck verstauen und nach einer Möglichkeit fürs Frühstück suchen, dann war die Zeit in jedem Fall sinnvoller genutzt und sie hatte etwas, womit sie sich in der Zwischenzeit beschäftigen konnte. Ich schenkte der Brünetten noch ein kurzes Lächeln, dann trugen mich meine Füße auch schon weiter zu der zur Hälfte verglasten Eingangstür des Motels. Es saß eine andere Dame als am vorherigen Abend hinter dem nicht besonders hohen Tresen, sah mich mit ihren müden Augen über eine schief sitzende Lesebrille hinweg fragend an. Ich teilte ihr mit, dass wir das Zimmer verlassen hatten und gab ihr den Schlüssel zurück, bezahlt hatten wir gestern schon. Ein kurzer, wörtlicher Abschied und ich machte Kehrt, um zu meiner Freundin aufzuschließen. Es waren nur ein paar Meter bis zum Auto und so ließ ich mich wenig später schon hinters Steuer fallen. Setzte mich kurz zurecht, ehe ich den Gurt anlegte und den Motor anließ. "Schon was gefunden?", hakte ich dann nach, als ich dabei war auszuparken und danach dann den Wagen zurück auf die Bundesstraße lenkte. Sollte Syd bis jetzt noch keinen Laden gefunden haben, der ihr zusagte, hatte sie ja auch noch einige Minuten Zeit, um etwas zu suchen. Bis Portland war es noch der eine oder andere Kilometer und dort angekommen gab es dann sicher genug Auswahl. Ich war auch nicht unbedingt wählerisch, was das anging, sondern wollte einfach nur was im Magen haben. Solange mir das Brötchen nicht gefühlt im Hals stecken blieb, war alles im grünen Bereich. Was warme Speisen anging war mein Gaumen hingegen doch etwas empfindlicher, um nicht zu sagen verwöhnt aus der Zeit, in der ich noch in Geld geschwommen war.
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Eine Stunde, plus minus ein paar Minuten. Genau wie wir besprochen hatten. Ich nickte, nahm Sabins Aussage mit einem leichten Nicken und einem "Okay, alles klar." zur Kenntnis, folgte dem jungen Mann dann nach draußen, nachdem ich es ihm gleichgetan hatte und meinen Blick abschließend noch mal durch das Zimmer hatte wandern lassen. Allerdings erwartete ich nicht wirklich, etwas liegengelassen zu haben, weil wir am gestrigen Abend und auch heute früh nur unmittelbar in der Nähe vom Bett herumgelungert hatten. Die Stühle und der kleine Tisch nahe dem Fenster waren vollkommen unangetastet gewesen, ebenso wie die schäbige Couch in einer der hinteren Ecken des Zimmers. Anderswo als auf oder neben dem Bett - die Nachtschränkchen natürlich mit eingeschlossen - dürfte demnach nichts mehr liegen und selbst wenn, wäre mir das ziemlich egal, solange es weder mein Handy, noch Schlüssel oder das Portemonnaie waren. Letzteres behütete ich seit meiner Flucht jedoch förmlich mit meinem Leben. Zwar stand auf dem Personalausweis und den anderen, wichtigen Karten schon lange nicht mehr mein richtiger Name, aber das Bild ließ doch ziemlich eindeutig darauf schließen, wer ich war und ich hatte keine Lust, den Cops damit eine Spur aus Brotkrummen zu streuen. Denn wenn man einen Ausweis, auf dem mein Bild klebte, in den Staaten fand, dann lag es ja wohl nahe, dass ich mich in Amerika befand und ich konnte gut auf verstärkte polizeiliche Präsenz, sowie strengere Grenzkontrollen verzichten. Aber den Geldbeutel hatte ich am Mann und demnach konnte all das, was ich hier möglicherweise vergessen hatte, gar nicht so wichtig sein. Ich folgte meinem Freund daher mit einem schmalen, unsicher wirkenden Lächeln auf den Lippen nach draußen, nahm Sabin dort dann die Tasche ab und lauschte seiner Anweisung, die zudem eine Bitte inkludierte, aufmerksam. Als er den Schlüssel im Schloss herumgedreht hatte und sich mir wieder zuwendete, nickte ich für ihn gut sichtbar und zückte das Handy. "Bin schon dabei.", versicherte ich dem Italiener, mich schlau zu machen, wo wir auf dem Weg etwas Essbares herbekommen würden, ehe ich ihm die Autoschlüssel abnahm und besagten Wagen mit geschulterter Reisetasche ansteuerte. Auf dem kurzen Weg, den ich über den Parkplatz schlurfte, rief ich auf dem Display schon mal den Browser auf, dann aber blieb ich noch einmal kurz stehen, um mich zu dem Schild des Motels umzudrehen. Ich hatte mir natürlich nicht gemerkt, wie die Absteige hieß, aber um die 'Suche in der Nähe von...'-Option nutzen zu können, brauchte ich irgendeinen Anhaltspunkt. Entweder den Straßennamen oder eben den Namen der Pension, in der wir die Nacht verbracht hatten. Die für Amerika typische, bunte Leuchtreklame sprang mir förmlich ins Auge und so verstaute ich letztlich die Tasche auf der Rückbank des Autos, stieg dann auf der Beifahrerseite ein und begann mit der Suche. Als Sabin kurze Zeit später plötzlich die Tür auf der anderen Seite des Wagens aufzog, zuckte ich erschrocken zusammen, grummelte daraufhin ein konzentrierest "Man, erschreck' mich doch nicht so.", bevor ich meine Suche fortsetzte. Ich hatte hier in der Nähe ein, zwei kleinere Cafés entdeckt, die für ihre Größe erstaunlich viele Köstlichkeiten anboten. Nebst den für Cafés typischen Keksen und Kuchen konnte man auch eine Vielzahl belegter Brötchen, Sandwiches und Pancakes käuflich erwerben. Auf die Frage meines Mitfahrers hin, hielt ich ihm das Handy förmlich unter die Nase. "Die hier sehen ganz gut aus. Das eine ist quasi die Straße runter, das andere liegt auf dem Weg, fünf Kilometer etwa.", kommentierte ich die gefundenen Optionen, wobei es natürlich zahlreiche Bäckereien gab, bei denen man sich für unterwegs etwas mitnehmen konnte. Allerdings kannte ich eines der Cafés, die ich herausgesucht hatte, schon aus der Innenstadt von damals. Ich hatte mir dort auf dem Weg zur Arbeit immer einen Kaffee geholt, weil die Bedienung immer freundlich, kompetent und zuvorkommend, die Preise dafür erschwinglich gewesen waren. Es war allerdings keine bekannte Kette und ich würde schätzen, dass die Lokalität am Rande Portlands das einzige andere Café war, welches durch diese Familie unterhalten wurde. Ich tendierte also stark dazu, den Zwischenstopp dort einzulegen, wobei mir binnen Sekunden einfiel, dass das vielleicht gar keine so gute Idee war. Ich war damals wirklich oft dort gewesen, die Besitzerin würde mich also aller Wahrscheinlichkeit nach erkennen, falls sie, wie durch einen blöden Zufall, heute ausgerechnet in dem Lädchen arbeitete. Das Risiko, dort anzuhalten, um auch nur einen kurzen Blick durch die Ladenscheibe zu werfen, ob dem so war, konnten wir eigentlich nicht eingehen und so ruderte ich dann doch schnell wieder zurück, indem ich weiter suchte. "Vergiss es, ich glaube... das ist zu gefährlich. Ich war damals öfter dort. Nicht in dem Laden, aber... es ist wahrscheinlich, dass die Dame von früher dort eventuell mal aushilft oder allgemein zwischen den zwei Läden pendelt. Ich will das Risiko ehrlich gesagt nicht eingehen.", erklärte ich Sabin meinen Gedankengang, klang dabei etwas gedrückt. Jetzt, wo wir so durch die Straßen Portlands fuhren, würde ich wohl hier und da noch einmal wehleidig an die guten alten Zeiten zurückdenken müssen. Konnte mich gar nicht dagegen wehren, nachdem ich nahezu mein ganzes Leben hier verbracht hatte.
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Dass Sydney sich erschreckte, nur weil ich zu ihr in den Wagen stieg, war schon ein bisschen süß. Zwar war es auch ein klein wenig besorgniserregend, weil das ein ziemlich eindeutiges Zeichen dafür war, dass sie schon jetzt recht nervös und aufgewühlt war, aber ich wollte diese kleine Überreaktion auch nicht überbewerten. Immerhin hatte sie gewusst, dass ich mich gleich hinters Steuer schmeißen würde, es war also nicht so, als wäre das ernsthaft überraschend gekommen. "Soll ich nächstes Mal anklopfen?", stellte ich der Brünetten eine entsprechend sarkastische, doch leicht amüsierte Frage. Schüttelte dann auch ein wenig den Kopf, grinste schmal vor mich hin. Denn ja - ich hatte gute Laune. Vielleicht war das grotesk angesichts der Tatsache, dass wir auf einer ziemlich gefährlichen Reise waren, die mit nur einem falschen Schritt sehr schnell nach hinten losgehen konnte, aber ich fühlte mich das erste Mal seit langem ein bisschen frei. Ich war so sehr im Alltag mit dem Drogenlabor und der Schuldenabzahlung gefangen, dass mir das Tingeln durch die Staaten gerade wirklich wie ein Kurzurlaub vorkam. Zwar war es einer von der Sorte, bei dem ich trotzdem lieber eine Pistole unter dem Sitz zur Sicherheit deponiert hatte, aber es war nicht so, als wäre das früher anders für mich gewesen. Auf Kuba fühlte ich mich im Vergleich zu Italien wirklich sicher. Ich wurde dort nicht gesucht, konnte mich ohne Bedenken frei bewegen und konnte die Bullen auf der Straße ohne Probleme freundlich grüßen, statt sofort die Beine in die Hand nehmen zu müssen. Der hier in der USA angestiegene Gefahrenpegel war für mich also nur semi-interessant, nicht so wichtig. Ich freute mich schlicht und ergreifend darüber, endlich mal wieder etwas anderes sehen und tun zu können, als arbeiten zu gehen. Freute mich auch darauf einen wichtigen Teil von Sydneys Vergangenheit kennenzulernen, obwohl dieser Kontakt nicht von Dauer sein würde. Heute seinen Beginn und auch sein Ende fand. Dennoch wollte ich gerne mehr über das Leben erfahren, dass sie vor mir gehabt hatte. Das Leben, das ich bis zu einem gewissen Grad zerstört hatte, auch wenn ich sie nie darum gebeten hatte sich der Truppe anzuschließen. Als sie drauf und dran gewesen war, uns auf die Schliche zu kommen, hatte sie leider ihr Schicksal besiegelt und Hunter hatte den Laptop zu seinem Vorteil genutzt. Aber genug davon. Syd schien schon Cafés ausfindig gemacht zu haben, revidierte ihren Vorschlag allerdings wenig später. Angesichts ihrer darauffolgenden Erklärung war das aber auch wirklich besser so. In einem Laden aufzutauchen, wo Jemand das eigene Gesicht potenziell auch nur vielleicht erkennen könnte, war ein Risiko, das wir nicht eingehen durften. Andererseits war das auch wieder ein bisschen schade - so der alten Zeiten Willen -, aber es gab Schlimmeres. In den Knast zu wandern zum Beispiel. "Ja, besser nicht.", bestätigte ich die ehemalige Agentin mit einem schwachen Nicken in ihren Worten. Also fuhren wir daraufhin weiter bis zu einem anderen Café, das auf der Strecke lag. Es war etwa auf halber Höhe unserer Strecke ansässig und weil wir bisher noch mehr als nur gut in der Zeit lagen, konnten wir uns dort dann mehr oder weniger Zeit lassen. Wir nahmen uns das Frühstück dennoch nur an der Ladentheke mit, um es danach dann im Auto zu essen, statt uns hinein zu setzen. Zwar war Syd in diesem Café wohl bisher noch nicht gewesen, aber die Welt war kleiner, als man manchmal für möglich hielt. Mir war es dementsprechend deutlich lieber im mehr oder weniger geschützten Wagen auf dem Parkplatz sitzen zu bleiben und dort mit der jungen Frau zu frühstücken. Es gab sicher romantischeres, aber wir waren leider nicht hier um wirklich Urlaub zu machen. Abstriche waren vorprogrammiert gewesen und immerhin schmeckte mir das frische, belegte Brötchen trotzdem ziemlich gut. War wohl auch irgendeine hausgemachte Soße mit drauf, die zweifelsohne einen guten Job machte. Der Kaffee war zwar nicht mehr als mittelklassig, aber auch was das anging war ich schlichtweg etwas verwöhnt. Italiener hatten mit ihren tausend verschiedenen Kaffee-Varianten einfach ein Faible für die dunklen Bohnen, da wurde man irgendwann wählerisch. Bekam es schon so beigebracht. Jedenfalls hatten wir eher gemütlich gegessen, weil es bis dato keinen Grund zur Eile gab. Wir hatten noch immer 47 Minuten Zeit, um an der Schule anzukommen und würden nur noch etwa eine halbe Stunde brauchen, wenn man dem Navigationssystem glauben konnte. Deshalb schlug ich auf dem Rest des Weges auch ein eher gemütliches Tempo beim Fahren an, während die Schule und damit das Treffen - oder Kidnappen, wie man's eben sehen wollte - immer näher rückten. Etwa zehn Minuten, bevor der Schulgong erklingen würde, hielt ich den Wagen dann schließlich auf dem Schulparkplatz an. Atmete daraufhin einmal tief durch und schnallte mich ab, bevor ich zu Sydney rübersah. Ich hob die rechte Hand an, um ihr mit dem Daumen über die Wange zu streichen. "Bereit..? Letzte Möglichkeit, es dir noch anders zu überlegen...", fragte ich leicht gemurmelt, musterte ihre Gesichtszüge. Nicht, dass ich hoffte, dass sie es sich wirklich noch anders überlegte und wir die Flüge umsonst zahlten, aber letzten Endes lag die Entscheidung nun mal bei. Es war ihr Sohn, nicht meiner. Ihre Vergangenheit, nicht meine.
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Ich hätte das Café wirklich wahnsinnig gerne besucht. Noch ein letztes Mal den leckeren Kaffee mit einem hausgemachten Stück Kuchen verputzt, aber leider schmeckte letzterer nicht so gut, als dass ich dafür lebenslange Haft riskieren wollen würde. Sabin schien es da ähnlich zu gehen und somit musste ein anderes auf dem Weg gelegenes Café für das Frühstück auf die Hand her. Das war glücklicherweise auch schnell gefunden und während der Italiener eher ein herzhafteres Frühstück zu bevorzugen schien, genehmigte ich mir eine Blätterteigschnecke mit Marmelade und ein Schokobrötchen. Ausgewogene Ernährung sah zwar etwas anders aus, aber der Zucker half mir dabei, ein wenig zur Ruhe zu kommen, die Nervosität etwas erträglicher zu gestalten. Witzigerweise schien die Glucose bei Erwachsenen nämlich eine ganze andere Wirkung zu erzielen, als das bei Kindern der Fall war, wurden letztere doch meist hyperaktiv und unausstehlich, wenn sie sich mit Süßigkeiten überfressen hatten. Dahingegen bildete ich mir ein, nach dem Verzehr des Gebäcks mehr oder weniger wieder etwas durchatmen zu können, ohne, dass mir der Kloß im Hals dabei die Luft abschnürte. Dennoch spielten sich, wie zuvor von mir vermutet, auf den letzten Meter vor unserem Ziel einige sehr unschöne Szenarien vor meinem inneren Auge ab und ich war froh, als Sabin den Wagen schließlich auf dem Parkplatz vor der Schule hielt. Die Stimme des jungen Mannes drang nur dumpf an mein Ohr, aber sie war vollkommen ausreichend, um mich aus dem Gedankenstrudel zu reißen und mich meine Aufmerksamkeit auf ihn richten zu lassen. Nicht mehr an all die Wenns und Abers zu denken, sondern mich auf die bevorstehende Mission zu fokussieren - nämlich, meinem Sohn noch einen letzten schönen Tag mit seiner Mutter zu bescheren, bevor ich ihm endgültig Lebewohl sagen musste. Ich atmete einmal tief durch und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Schokobrötchen lag mir quer im Magen, als ich meinen Blick suchend über den Schulhof und die Haupteingangstür der Lehranstalt schweifen lief. Aktuell sah man hier und da nur vereinzelt ein paar Kinder, welche sich die freie Stunde zwischen dem letzten und dem nächsten Fach um die Ohren schlugen, sobald der Gong ertönte, wäre hier jedoch die Hölle los. Massen an Kindern würden nach draußen und in die Autos ihrer Eltern oder die bereits wartenden Schulbusse strömen - darunter auch Noah. Noch ein weiterer tiefer Atemzug meinerseits, dann nickte ich dem Italiener auf der Beifahrerseite unsicher lächelnd zu. "Bereit bin ich zwar nicht, aber anders überlegen werde ich es mir auch nicht.", ließ ich ihn schief grinsend wissen, dass wir nicht den ganzen Weg hierher gekommen waren, um jetzt quasi am Ziel angekommen, den Heimweg anzutreten. Glücklicherweise ließ mir der eben angesprochene Gong dann auch bald gar keine Möglichkeit mehr, meine Entscheidung zu überdenken und so sprang ich schließlich aus dem Auto, um wenig später Ausschau nach meinem Nachwuchs zu halten. Dafür machte ich ein paar Schritte auf den Zaun zu, der das Gelände umfasste, um meinen Blick auf den Eingang zu optimieren. Dabei sah ich hin und wieder auch mal nach links, dann nach rechts. Relativ unauffällig, ich wollte nur sicher gehen, dass uns keiner beobachtete. Allgemein versuchte ich, mich nicht besonders auffällig zu verhalten, nicht allzu sehr zu starren und gelassen an die Sprossen gelehnt einfach den Eindruck zu erwecken, als würde ich mein Kind abholen wollen. Prinzipiell tat ich das ja auch, nur war es eben nicht mehr ganz so legal, wie noch vor ein paar Monaten und das war wohl der springende Punkt. Mehr als den ein oder anderen irritierten Blick - vermutlich wegen Sabins Tattoos mitten im Gesicht - einer alten Dame, die das gegenüberliegende Pflegeheim verlassen hatte, zogen wir allerdings nicht auf uns und das ließ mich zusätzlich nur noch etwas mehr entspannen und im Umkehrschluss auch natürlicher wirken. Noah war kein großer Freund von Menschenmassen, allgemein ein eher ruhiger Zeitgenosse und demnach wunderte es mich nicht, dass er als mit einer der letzten das Gebäude verließ. Seine beiden besten Freunde, die zu keiner Geburtstagsparty seit der Einschulung mehr fehlen durften, stets an seiner Seite. Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass meine Knie nicht bereits weich wurden, als ich den dunkelbraunen Schopf meines Sprösslings die drei Treppenstufen voller Enthusiasmus hinunterspringen sah. Auch wenn er dafür noch viel zu weit weg war, bildete ich mir ihn, seine Lache bereits zu hören und für den Bruchteil einer Sekunde umfasste ich zwei Sprossen des Zauns mit den Händen und starrte in der Mitte durch sie hindurch. Nur wenige Sekunden später ermahnte ich mich jedoch dazu, das gefälligst sein zu lassen, wenn ich nicht doch noch einen prüfenden Blick der umstehenden Eltern riskieren wollte. Der Parkplatz leerte sich binnen weniger Minuten fast vollständig und nachdem Noah sich auf der Torschwelle von seinen Freunden verabschiedet hatte, trennten sich ihre Wege. Er musste nach links in Richtung Bushaltestelle - und damit auch in Richtung des Parkplatzes, auf dem wir standen -, während die anderen beiden nach rechts abbogen, um zu Fuß den Heimweg anzutreten. Sie wohnten nicht besonders weit weg von der Schule, ich hatte sie damals, wenn ich tatsächlich mal so etwas wie einen freien Tag gehabt hatte, oft Heim gefahren, nachdem ihre Eltern sie zum Spielen vorbeigebracht hatten. Es fiel mir wahnsinnig schwer, Noah nicht anzustarren. Nicht förmlich vor ihm auf die Knie zu fallen, als er sich für mich in greifbarer Nähe befand, weil ich ihn einfach schrecklich vermisst hatte. Es dürfte inzwischen etwas über ein Jahr her sein, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte und es fühlte sich an, als wäre er in dieser Zeit um fast einen ganzen Kopf gewachsen. Das stimmte so zwar nicht ganz, aber eine Veränderung konnte man ihm schon ansehen. Er hatte irgendwie abgenommen und dass, obwohl an ihm ohnehin kaum etwas dran gewesen war. "Noah?", flüsterte ich, aber der Viertklässler schien mich nicht gehört zu haben. Also räusperte ich mich, vielleicht war der Kloß in meinem Hals auch der Grund dafür gewesen, dass ich so undeutlich gesprochen hatte. Ich sah für vielleicht zwei, maximal drei Sekunden in Sabins Richtung, anschließend aber sofort wieder zurück zu meinem Sohn. "Noah!", rief ich etwas lauter und bewegte damit den etwa 1,35m großen Jungen, sich zu mir - zu uns - umzudrehen. Es schien einen Augenblick zu dauern, bis es bei ihm im Oberstübchen klick machte, dann aber verzog sich der schmale Mund zu dem breitesten Lächeln, dass mein Sohn mir bis dato jemals geschenkt hatte und als er freudestrahlend mit einem langgezogenen 'Mamaaa!' auf mich zugelaufen kam, dabei fast den geschätzt mehrere Kilo schweren Schulrucksack verlor, konnte ich nicht anders, als schließlich doch noch auf die Knie zu fallen. Den zierlichen Körper des Kleinen mit Tränen in den Augen in meine Arme zu schließen und einfach nur an mich zu drücken.
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Sydney scheute sich nicht davor, mir auf meine Frage und meinen Hinweis offen und ehrlich zu antworten. Vermutlich konnte man für diese Art von Wiedersehen mit seinem Kind auch gar nicht wirklich sowas wie bereit sein. Das letzte bisschen Nervosität würde sich nicht legen, ganz gleich wie sehr man sich auch einredete, dass alles gut laufen und nichts weiter passieren würde. Trotzdem war die Brünette sich sicher damit, die Sache jetzt durchziehen zu wollen und ich bestärkte sie darin noch einmal mit einem zuversichtlichen Lächeln. Hängte auch die Worte "Gut, dann los." noch an. Vermittelte ihr damit überflüssigerweise, dass ich die ganze Zeit über bei ihr bleiben und ihr den Rücken freihalten würde. Ich löste meine Hand ganz automatisch von ihrer Wange, als der Gong ertönte und uns damit das unmissverständliche Signal dafür gab, dass es jetzt Zeit wurde auszusteigen. Kurz nach Syd rutschte ich also ebenfalls vom Sitz, um auszusteigen. Ich riegelte den Wagen gar nicht ab, weil wir uns ohnehin nicht weit davon entfernen mussten und ich nur für den Fall, dass uns Irgendwer hier gleich erkennen würde - also Sydney, nicht mich - schnell einsteigen können wollte, ohne auf die Zentralverriegelung warten zu müssen. Ich blieb die ganze Zeit über mit ein wenig Abstand schräg hinter der jungen Frau, während sie schon damit anfing Ausschau nach Noah zu halten. Ich hingegen begann erst einmal damit, mich ein wenig umzusehen und die Umgebung nach ungewollten, zu direkten Blicken oder anderen Gefahrenquellen zu filtern. So viele Eltern und Kinder, wie hier kreuz und quer über den Schulhof und den Parkplatz dackelten, war es aber wohl kein Wunder, dass uns Niemand sonderlich viel Aufmerksamkeit schenkte. Meine Augen wanderten also zu Sydney, die weiterhin nach ihrem Sohn Ausschau hielt, weil er offenbar noch ein wenig auf sich warten ließ. Allerdings leerte sich das Gelände dann auch stetig wieder, weshalb ich mich dann vermehrt - wenn auch weiterhin möglichst unauffällig - erneut umzusehen begann. Je weniger Leute hier herumliefen, desto wahrscheinlich war es nun mal, dass uns Irgendwer ins Auge fasste, der uns besser nicht hätte sehen sollen. Aber es schien tatsächlich alles im grünen Bereich zu bleiben und letztlich schwenkte mein Blick zurück zu Syd, als sie das erste Mal den Namen ihres Sohnes sagte. Unsere Blick trafen sich kurz darauf für ein paar Sekunden und ich schenkte der jungen Frau in etwa dasselbe zuversichtliche, bekräftigende Lächeln wie schon zuvor im Wagen. Also erklang Noahs Name schon bald ein weiteres Mal, diesmal deutlich lauter. Als der Kleine sich im Anschluss daran in unsere Richtung drehte, sah ich ihn dann auch zum ersten Mal bewusst. Erkannte sein Gesicht von den Fotos wieder, obgleich er wie jeder andere Mensch auch von Angesicht zu Angesicht etwas anders aussah, als auf den Bilder im Netz. Das Lächeln auf meinen Lippen wurde unwillkürlich breiter, als ich sah, wie Noah zum Laufschritt ansetze und dabei in etwa das gleiche Funkeln in seinen Augen lag, wie ich es ab und zu in Sydneys sah, wenn sie sich freute. Zugegeben hatte sie momentan nicht allzu oft etwas zu lachen, weswegen ich ihr hier und da einfach kleine Freuden zu machen versuchte. Ich mischte mich gewiss nicht in den Mutter-Sohn-Moment ein, der kaum hätte inniger ausfallen können. Trotzdem ließ es mein Herz ein wenig schwerer, melancholischer werden und ich wandte nach ein paar Sekunden dann doch die Augen ab, um mich noch einmal umzusehen. Nach einigen Sekunden begannen dann die ersten Lehrkräfte mit ihren allzu typischen Aktenkoffern aus dem Gebäude zu schlendern, was mich in Alarmbereitschaft versetzte. Logischerweise steuerten jene nämlich den Parkplatz an, auf dem wir uns nach wie vor befanden und das könnte heikel werden, sollte einer von ihnen Sydney wiedererkennen. Oder eben zumindest zuordnen, dass es nicht normal war, dass Noah von irgendeiner Frau abgeholt wurde. Umso besser war es, dass die Umarmung der beiden langsam ein Ende zu finden schien. Einen Moment lang sah der Junge noch seiner Mutter ins Gesicht, dann aber drehte er den Kopf fragend in meine Richtung und musterte mein Gesicht. War kein Wunder angesichts der Tatsache, dass er mich nicht kannte und ich aber offensichtlich irgendwie an seiner Mutter hing. Ihm mit einem freundlichen Lächeln zu begegnen war für mich selbstverständlich, als er mir gerade heraus die Frage "Wer bist du?" stellte. Ich ging die letzten zwei Schritte auf ihn zu, streckte ihm die im Vergleich zu seiner eigenen ziemlich riesige Hand entgegen. "Ich bin Sabin. Ein guter Freund deiner Mom. Und du?", stellte ich mich ihm vor, während er nur zögerlich nach meiner Hand griff und mir mit einem knappen "Noah." seinen Namen verriet. Natürlich kannte ich seinen Namen schon, aber vielleicht fand er das Ganze hier weniger schräg, wenn er dachte, dass wir uns eben wirklich ganz neu kennenlernten und ich fast genauso wenig über ihn wusste, wie das umgekehrt der Fall war. Auch brauchte er nicht zu wissen, dass ich seine Mutter liebte und ihr neuer Lebensgefährte war. Er würde mich nach dem heutigen Treffen nie wieder sehen und da wäre es vollkommen überflüssig und noch dazu absolut überfordernd für ihn, ihm zu erklären, dass ich wohl sowas wie sein Stiefvater wäre, wenn er bei seiner Mutter statt bei seinem Vater leben würde. "Soll ich dir den Rucksack abnehmen? Sieht schwer aus.", versuchte ich weiter Kontakt aufzubauen, damit ich ihm mit Glück in ein paar Minuten etwas weniger suspekt war. Er zögerte auch dieses Mal, nickte aber schließlich und ließ den Ranzen von seinen schmalen Schultern rutschen, weshalb ich ihn gleich mit einer Hand am Griff packte und quasi vor dem Fall auf den Teer abfing. Daraufhin sah ich noch einmal zu den sich nähernden Lehrern. Noah stand mit dem Rücken zu ihnen, sollte sich im besten Fall nicht mehr umdrehen. Ich suchte also nach Sydneys Blick und bedeutete ihr wiederum mit einem Seitenblick, dass wir uns hier jetzt schleunigst verziehen sollten. Während sie also ihren Sohn zum Gehen und Einsteigen bewegen sollte, drehte ich mich schon zum Wagen um und lud den Schulrucksack im Kofferraum ab, ehe ich das Steuer des Wagens anstrebte.
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Es fiel mir wirklich schwer, mit den Tränen an mich zu halten und Noah nicht förmlich mit meinen Armen zu erdrücken. Ich war einfach nur froh, dass es ihm gutzugehen schien und all die Sorgen, er würde mich hassen und nie mehr wiedersehen wollen, unbegründeter Natur waren. Offensichtlich hatte ich ihm nämlich ebenso doll gefehlt, wie er mir und Kilian schien ihm zumindest auf den ersten Blick auch noch keine wilden Geschichten über meine lange Abwesenheit erzählt zu haben. Das wunderte mich ehrlich gesagt, aber beschweren würde ich mich darüber selbstverständlich nicht. Ich war froh, dass er sich noch immer gerne von mir in den Arm nehmen ließ und am liebsten hätte ich ihn gar nicht mehr losgelassen. Allerdings schien der kleine Wirbelwind noch immer nicht besonders gerne lange umarmt zu werden und versuchte letztlich mich mit seiner kindlichen Kraft von sich zu stoßen. Weil ich eben dieses Vorgehen seitens meines Sohnes schon kannte, wusste ich auch, dass er das absolut nicht böse meinte und distanzierte mich schließlich von ihm. Immer noch bis über beide Ohren glücklich, sah ich Noah lächelnd an und rieb mir präventiv über die Augen, damit sich keine der angesammelten Tränen über meine Wange ergoss und ich mich vor meinem Zwerg rechtfertigen musste, warum ich denn weinte. Auch wenn er nicht dumm war, könnte er das sicher nicht verstehen, schließlich hatte ich bei der Rückkehr vom Dienst - was es in seinen Augen sicherlich gerade war - sonst auch nicht geweint. Es dauerte dann auch gar nicht mehr lange, bis er den freudestrahlenden Blick von mir abwendete und stattdessen mit einem Anflug von Misstrauen zu meiner Begleitung rüber sah und sich prompt danach erkundigte, mit wem ich hier aktuell eigentlich unterwegs war, denn sein Papa war Sabin logischerweise nicht. Bei so ziemlich allen anderen Menschen in meinem Umfeld hätte ich mir genau an diesem Punkt angekommen Sorgen gemacht über mögliche Antworten auf die Frage meines Sohnes, aber dem Italiener vertraute ich inzwischen fast blind. Schließlich hatte er selbst Kinder gehabt und wusste dadurch, wie mit den Heranwachsenden umzugehen war. Er schaffte also die grundlegende Basis einer Konversation mit meinem Sohn, indem er auf seine Frage antwortete und ihn durch eine entsprechende Gegenfrage ins Gespräch verwickelte. Der Tätowierte schien Noah noch nicht ganz geheuer zu sein, aber nachdem ich ihm wörtlich versicherte, dass Sabin ein sehr netter Mann war und er keine Angst vor ihm haben musste, schien er sich in der Nähe des Italieners nicht mehr ganz so unwohl zu fühlen. Ich richtete mich während der Unterhaltung zwischen den beiden wieder auf und inzwischen war ich auch wieder so weit auf der Höhe, dass ich den besorgten Seitenblick meiner Begleitung sofort zu deuten musste. Ich folgte mit meinen Augen denen von Sabin möglichst unauffällig und als die Schar an Lehrern in mein Blickfeld rückte, setzte ich mich unverzüglich in Bewegung. Der Italiener nahm indessen Noah seinen Schulrucksack ab und verstaute ihn bereits im Wagen, sodass wir im Prinzip direkt aufbrechen konnten und das auch möglichst bald tun sollten. "Wir würden gerne einen kleinen Ausflug mit dir machen, mein Schatz, aber du darfst Papa davon später nichts erzählen, okay? Versprichst du mir das?", klärte ich meinen Sohn darüber auf, dass das Treffen hier und heute möglichst unter uns bleiben sollte. Vor allem gerade deswegen, weil man vermutlich früher oder später nach ihm suchen würde, weil er nicht direkt von der Schule nach Hause gekommen war. Ich vermutete daher, dass Kilian schon sehr bald die Polizei einschalten würde und wenn Noah dann direkt plapperte, hätten wir unter Umständen ein Problem. Aber das war nichts, was sich mit einem Eis oder ein bisschen Süßkram als Bestechung nicht regeln ließ. Der kleine Junge nickte daraufhin eifrig und bevor die Lehrer noch näher kamen, zog ich Noah enger an mich und machte mit ihm die zwei Schritte in Richtung Auto, um ihn dort angekommen auf die Rückbank krabbeln zu lassen. Ich selbst stieg ebenfalls im hinteren Teil des Wagens mit ein, blieb dabei aber permanent mit dem Rücken in Richtung der Meute gedreht, damit unter anderem Noahs Klassenlehrerin, die mit von der Partie war, mich nicht erkennen konnte. Sabin ließ mit dem Losfahren dann auch gar nicht lange auf sich warten und nachdem die Situation sich doch etwas unangenehm zugespitzt hatte, entspannte ich mich wieder, als der Wagen auf die Hauptstraße rollte. Fing dann auch an, mich etwas mit meinem Sohn zu unterhalten, wie wir das damals immer getan hatten, wenn ich nach Hause gekommen war. Ich fragte, wie der Schultag war, ob es etwas Neues gab und was der Papa so machte. Letzterer schien sich inzwischen ebenfalls eine neue Lebensgefährtin angelacht zu haben. Anders konnte ich mir jedenfalls die Frau, die morgens immer ganz trockene Brote schmierte nicht erklären. Augenblicklich stellte ich mir die Frage, ob Kilian einfach genauso Glück gehabt hatte bei der Partnersuche wie ich, oder ob es schon während unserer Ehe eine andere Frau gegeben hatte. Im Grunde war das jedoch ziemlich egal und so schüttelte ich den Gedanken schnell wieder ab. Was interessierte mich das noch, der Zug war längst abgefahren und ich war froh, inzwischen einen nicht mehr ganz so spießigen Mann an meiner Seite zu haben. Was die Unternehmung anging, die ich Noah versprochen hatte, würden wir keinem konkreten Plan folgen. Uns gewissermaßen einfach nach dem Kleinen richten, solange er nicht unbedingt im Herzen der Stadt im Park spielen wollte. Schließlich sollte der Abschied jetzt auch keinen großen Knall beinhalten, sondern ich wollte lediglich noch ein letztes Mal einen Tag mit meinem Sohn verbringen. Ob nun auf dem Spielplatz oder am örtlichen See war mir dabei ziemlich egal, solange wir nicht allzu vielen Kameras oder verwunderten Blicken ausgesetzt waren.
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Wahrscheinlich war es nicht besonders schlau, sich auf das Wort eines Kindes verlassen zu wollen. Zwar waren Halbwüchsige nicht selten deutlich ehrlicher und loyaler, als das bei Erwachsenen der Fall war, aber riskant war das trotzdem. In jedem Fall blieb zu hoffen, dass der Kleine zumindest den Mund halten würde, bis wir die kanadische Grenze bereits hinter uns gelassen hatten und quasi schon wieder im Flugzeug saßen. Von da an konnte es uns mehr oder weniger relativ egal sein, wenn Noah seinem Vater doch noch erzählen würde, mit wem er heute unterwegs gewesen war. Gut wäre es natürlich trotzdem nicht, aber es gab bei den Bullen bis dato ziemlich sicher keine Anhaltspunkte dafür, dass Sydney und ich uns nach Kuba verzogen hatten. Wenn doch, dann war es ja ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis wir dort aufgegabelt wurden. Nichtsdestotrotz sah ich diese Angelegenheit bis jetzt nicht zu kritisch und lenkte den Wagen vom Parkplatz. Nicht, ohne dabei die Sonnenbrille wieder aufgesetzt zu haben, die groß genug war, um auch die kleinen Tattoos unter meinen Augenwinkel größtenteils zu verdecken. Allerdings würde das im Endeffekt wohl nicht viel bringen, weil mein tätowierter Hals vorne durch den Pullover ohnehin nicht verschleiert war und meine Identität sehr relativ leicht herausfinden ließ. Zumindest eben in Verbindung mit der unteren Hälfte meines Gesichts. Ich lauschte dem Gespräch auf dem Rücksitz aufmerksam, während ich mich gleichzeitig auf den Verkehrt konzentrierte. Ab und an musste ich doch ein wenig schmunzeln. Nicht nur, weil Boah zwischendurch eine amüsante Antwort gab, sondern auch, weil es irgendwie wahnsinnig angenehm war, mal ganz kurz fast sowas wie ein normales Leben zu haben. Ich machte mir was das anging niemals etwas vor - wusste, dass ich nie mehr zurück in ein stinknormales Leben konnte. Das hieß aber nicht, dass ich mir das nicht manchmal trotzdem wünschte. Mit meinem Familienleben in Italien damals hatte ich wenigstens noch einen kleinen Fetzen Normalität gehabt. Dafür konnte ich mich in Kuba nun zwar freier bewegen als in Europa, aber das machte eine fehlende Familie nicht wett. Also war es einfach schön Sydney und Noah im Rückspiegel zu sehen und zumindest mal kurz das Gefühl zu haben, dass die Welt ein bisschen mehr in Ordnung war als normalerweise. Die Brünette hatte mir vorher schon zwei Anhaltspunkte gegeben, wohin unser Weg uns am ehesten führen würde und ich war froh darüber, dass ihr Sohn sich bald für den See aussprach. Der war zwar zwei, drei Minuten weiter weg als einer der Spielplätze, aber ich sah die Chance auf Konfrontation mit bekannten Gesichtern dort etwas niedriger. Zumindest hinsichtlich anderer Eltern, die seine Mutter aus der Schule kennen könnten. Aber auch das war reine Spekulation. Jedenfalls schienen es die Enten am Teich zu sein, die es dem Kleinen angetan hatten. Füttern wollte er sie. Dass wir kein altes Brot oder Ähnliches dabei hatten schien nicht schlimm zu sein, weil Noah wohl die Rinde des viel zu trockenen Pausenbrotes übrig gelassen hatte. So bekamen die Reste ganz einfach einen neuen Zweck zugeschrieben und ich hielt den Wagen schon wenig später auf dem kleinen Parkplatz nahe des Teiches an. Viele Autos waren hier nicht und auch der erste Blick über die etwas höhere Hecke zwischen dem Parkplatz und dem See verriet mir, dass nicht viele Leute hier waren. Eine kleine Gang aus Rentner mit Rollatoren war aktuell wohl die größte Gefahr und so konnte ich den kleinen Ausflug hier guten Gewissens zulassen. Also ging ich zum Kofferraum, um die Brotbox aus dem Rucksack zu holen und überreichte sie lächelnd Noah, als er mitsamt seiner Mutter ebenfalls ausgestiegen war. Danach schloss ich das Auto ab und ging neben Sydney den kleinen, geschotterten Pfad zum See runter. An der anderen Hand hielt sie den kleinen Jungen. Ich hätte gerne nach der freien Hand direkt neben mir gegriffen oder der hübschen Brünetten beim Gehen einen Arm um die Taille gelegt, ermahnte mich aber dazu es sein zu lassen. Eben um Noah nicht unnötig zu verwirren. Jener schien meine Anwesenheit inzwischen immerhin akzeptiert zu haben und ließ sich in seiner Freude über das Wiedersehen mit seiner Mutter kein bisschen mehr beirren. Obwohl es hier vermeintlich wirklich ruhig war, sah ich mich noch einmal ein wenig um, als wir schließlich das Gewässer erreichten und der Junge damit anfing, das schwimmende Geflügel anzulocken, das noch ein bisschen weiter draußen schwamm. Als die Umgebung gescannt war, warf ich einen prüfenden Blick auf meine Armbanduhr. Die Zeiger im Blick zu halten war wichtig, weil wir schlichtweg nicht ewig Zeit hatten. Sydney hatte gesagt, dass der Schulbus von der Lehreinrichtung bis zur Haltestelle nahe ihres einstigen Zuhauses wegen den zahlreichen Zwischenstopps etwa eine halbe Stunde brauchte. Meistens trödelte der Kleine auf den letzten Metern zu Fuß auch ein bisschen - sei es nun wegen einer Katze, die ihm über den Weg lief oder einer netten alten Dame aus der Nachbarschaft, die das Gespräch suchte -, aber länger als 45 Minuten brauchte er für den gesamten Weg eigentlich nie. Zwar konnten wir diese Zeitspanne sicher ein wenig überziehen, ohne dass uns gleich eine Verfolgungsjagd drohte, aber viel mehr als eineinhalb Stunden würde ich dem Ausflug nicht geben können, ohne dabei unsere Rückreise ernsthaft zu gefährden. Kindesentführung war schlichtweg eines der von der Justiz mit am heikelsten gesehenen Vergehen. Das Entenfüttern war demnach also begrenzt und auch der Weg zu einer Kreuzung nahe Noahs Zuhause musste noch von uns eingeplant werden. Ihn direkt vor dem Haus abzusetzen kam nicht in Frage. So enthusiastisch, wie der Kleine hier gerade unterwegs war, brach es mir schon jetzt beinahe das Herz, ihn in naher Zukunft wieder von seiner Mutter trennen zu müssen. Wie für Amerika nicht unüblich kam auch bald schon ein älterer, etwas schwerer gebauter, bärtiger Mann den Weg zum See runter und schob dabei einen kleinen Eiswagen mit Schirm drüber vor sich her. Vor der Mittagszeit lohnte es sich für den Herren wahrscheinlich nicht hier seine Zelte aufzuschlagen, also kam er erst jetzt leise vor sich hin pfeifend zum See.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Eigentlich hatte ich mir schon fast denken können, dass Noah heute lieber an den See wollte, anstatt das Klettergerüst auf dem Spielplatz unsicher zu machen. Das lag ganz einfach daran, dass das früher schon immer irgendwie zu einem Ritual für ihn geworden war, dass der erste Tag des Wiedersehens definitiv mit Mama an der Hand stattfinden musste. Leider war es nämlich nicht selten vorgekommen, dass ich bereits einen Tag später schon wieder zur Arbeit hatte aufbrechen müssen und dann hatte ich zwar am Spielplatz auf der Bank gesessen und ihm beim Klettern zugesehen, aber die Interaktion miteinander hatte bis auf einen Kuss vor dem Schlafengehen nun mal gefehlt. So stellte der Kleine sicher, wirklich einen ganzen Tag Zeit mit Mama verbracht zu haben und wenn ich dann plötzlich wieder weg musste, dann war das okay. Wenn nicht, dann konnte er am Tag darauf unbeirrt über die Spielplatz huschen und war trotzdem glücklich. Heute war nur leider der Tag, an dem ich ihm beibringen musste, dass ich gar nicht mehr wiederkommen würde. Weder in ein paar Wochen, noch in ein paar Monaten. Ich würde ihn hier bei Kilian zurücklassen und den Kontakt vorerst abbrechen müssen, bis er alt genug war, zu verstehen, in was für eine misslichen Situation sich seine Mutter eigentlich verlaufen hatte. Und zu sagen, dass mir das bereits in Gedanken wahnsinnig schwer fiel, wäre wohl ziemlich untertrieben. Es schnürte mir förmlich die Luft ab, überhaupt auch nur daran zu denken, aber ich wollte in der Zeit, in der Noah bei mir war, kein Trübsal blasen. Der Tag heute sollte schließlich schön werden und ihm als gute Erinnerung an seine Mutter im Gedächtnis bleiben. Ich schob die bedrückenden Gedanken also vorerst beiseite und freute mich auf den gemeinsamen Ausflug an den See. Sabin hatte die Unterhaltung natürlich mitgehört und den entsprechenden Weg eingeschlagen, ohne, dass es weitere Worte meinerseits bedurfte. Wenige Minuten und ein paar Querstraßen zur Schule später waren wir auch schon am Ziel angekommen und Noah konnte es kaum erwarten, aus dem Auto zu springen und loszulaufen. Ich musste den kleinen Wirbelwind am Arm packen, damit er mir nicht auf und davonlief und ermahnte ihn in einem nur semi-ernsten Tonfall, dass er gefälligst auf uns warten sollte. Wir wollten schließlich auch Spaß haben und ein paar Enten füttern. Ich zumindest, wie es da mit Sabin aussah, konnte ich nicht sagen. Der brünette kleine Junge quittierte meine elterliche, natürlich absolut schwachsinnige Aussage nur mit einem Augenrollen, welches er ziemlich sicher von mir hatte. Ich lachte, wartete noch darauf, dass Sabin die Brotdose mit der besagten trockenen Brotkruste hervorgekramt hatte, ehe wir uns anschließend gemeinsam in Bewegung setzten. Mein Sohn war kaum zu halten und voller Begeisterung, als er die ersten Enten auf dem See entdeckte und nach einem Stück Rinde fragte. Diese reichte ich ihm lächelnd an, nur um dann dabei zusehen zu können, wie er die letzten paar Meter bis an den See spurtete und seine gefiederten Freunde sich mit einem angetanen Quaken um das Brot stritten. Auch ich streute ein paar Krümel in das Wasser, als wir zu ihm aufgeschlossen hatten aber laut Noah machte ich als Erwachsene dabei einen schwerwiegenden Fehler, der die Enten so plötzlich verscheucht hatte - ich duckte mich nicht und war den Enten deshalb zu groß, um sich mir zu nähern. Es machte ihnen Angst und wenn ich weiter so versuchen würde, die Tiere zu füttern, bräuchte ich mich nicht wundern, wenn sie kläglich verhungerten. Nachdenklich sah ich erst meinen Sohn, dann die Enten an und duckte mich dann tatsächlich, was prompt zur Folge hatte, dass die Enten nun auch mir wieder etwas näher kamen. Ungläubig - weil ich mir über sowas ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht hatte -, sah ich den wilden Tieren beim Fressen zu und wandte mich erst wieder von dem Antlitz der Enten ab, als Sabin uns auf einen Eiswagen hinwies, der gerade dabei war, auf dem geteerten Weg am See entlang Eis zu verkaufen. Eine Reaktion seitens Noah ließ da nicht lange auf sich warten und er schmiss mich förmlich ins Gras, als er freudestrahlend nach seiner eigenen Geldbörse fragte, in der immer genug Geld für eine Kugel Eis steckte. Allerdings befand sich diese in seinem Rucksack, den wir im Auto zurückgelassen hatten und so wurde schließlich mein Portemonnaie geräubert, das ich kurzerhand aus der hinteren Hosentasche zog. "Möchtest du auch?", richtete ich eine Frage an meine erwachsene Begleitung. Der Gesichtsausdruck sprach nicht viel weniger als Bände, wie glücklich ich gerade war. Von mir aus könnten wir hier noch ewig sitzen, die Enten füttern und all das Geld für Tonnen von Eis rausschmeißen. Es wäre mir wirklich egal, solange Noah nur bei mir war und mich mit seiner Art immer wieder von Neuem begeisterte. Er war inzwischen so groß und selbstständig geworden - so groß und selbstständig, wie er das für ein Kind eben sein konnte - und er würde mir wirklich fehlen. Dass die Zeit, die wir mit ihm hatten, auf das Minimum begrenzt war, was sich rausholen ließ, bevor wir in Schwierigkeiten stecken würden, verdrängte ich unterbewusst wohl auch ein bisschen.
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Eigentlich hätte ich mir mit Sicherheit schon denken können, dass der Ausflug hier zwar schön werden, aber nicht unbedingt unbeschwert enden würde. Deswegen kam mir die Frage danach, ob ich denn auch ein Eis wollte, eigentlich ganz gelegen. Es half mir dabei mich vorübergehend weniger auf die Lage zu fokussieren und mich für den Moment einfach bei dem Zweiergespann aus Mutter und Sohn einzuklinken. Mal für ein paar Minuten die Seele baumeln zu lassen und sei es eben nur mit einer Kugel Eis. Sicherlich war das Eis hier nicht mit italienischem vergleichbar, aber das musste es auch gar nicht sein. Ich sagte allein schon deswegen mit einem Lächeln auf dem Gesicht "Ja." dazu, weil ich der Brünetten die Frage bei ihrem glücklichen Gesichtsausdruck so oder so nicht hätte verneinen können, obwohl sie bestimmt nicht böse gewesen wäre, wenn ich keines hätte essen wollen. Zugegeben war Eis so unweit nach dem Frühstück, das bei mir ohnehin immer erst um die Mittagszeit herum stattfand, auch nicht unbedingt meinen Essgewohnheiten entsprechend, aber sei's drum. Man aß kein Eis, weil man Hunger hatte, sondern weil Süßkram ab und an einfach gut schmeckte. Also trat ich schon bald den letzten Schritt an den Wagen heran, um den Verkäufer eine Kugel Schokoeis abzunehmen und als alle versorgt waren, setzten wir uns auf eine Bank in der Nähe, von der man einen guten Blick auf das Wasser hatte. Weil es sich beim Essen bekanntlich schlecht reden ließ, kehrte für ein paar Minuten ein nicht unangenehmes Schweigen ein, bis die Becher, beziehungsweise die Waffeln dann leer waren. Noah saß zwischen uns und wippte fast ununterbrochen mit den Beinen vor und zurück, was auf der ganzen Bank zu spüren war, aber es störte mich nicht. Ich war wohl der letzte, der ihn hier in seiner Euphorie bremsen würde und so warf ich meinen Becher schließlich in den Mülleimer neben der Bank. Mir waren die Waffeln meistens zu süß, also blieb ich meistens von vornherein bei einem der kleinen Pappbecher. Das Gefieder hatte sich inzwischen wieder in die Mitte des Sees verzogen und da die spontane Futterration schon leer war, kamen sie auch nicht wieder her. Noah versuchte sie noch einmal anzulocken, als er die Eiswaffel verputzt hatte und wieder aufgestanden war, stieß damit aber auf taube Ohren. Die Vögel waren eben nicht blöd und wurden heute nicht zum ersten Mal gefüttert - solange nichts ins Wasser geworfen wurde, blieben sie wo sie waren. Deswegen fiel seine Aufmerksamkeit wenig später auf das alleinstehende Karussell, das ein paar Meter weiter auf einer kleinen Anhöhe stand. Natürlich schlugen Sydney und ich ihm diesen Wunsch nicht aus, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch dachte, dass ich drum rumkommen würde selbst mitzufahren. Zwar war ich recht schwindelfrei, aber für mich gab es trotzdem schöneres, als sich im Kreis zu drehen. Sydney musste sich als erstes mit in das runde Drehgestell ziehen lassen und ich blieb erstmal nur außerhalb stehen, war drauf und dran die beiden anzuschieben, damit sie das nicht selbst machen mussten. Dann aber meldete sich der Kleine zu Wort und sagte, dass ich einsteigen sollte, weil ich doch auch mitfahren müsste. Es überraschte mich ein bisschen, war er bisher doch nicht allzu erpicht auf direkte Interaktion mit mir gewesen, aber ich kam seinem Wunsch natürlich nach ohne mit der Wimper zu zucken. Allein schon wegen der funkelnden Kinderaugen, zu denen sich grundsätzlich schwer nein sagen ließ - auch dann, wenn man das musste. Also ließ ich mich wieder zur anderen Seite des Kindes auf die für Erwachsene eigentlich viel zu kleine Bank am äußeren Rand fallen, bevor ich die Arme ausstreckte, um durch den festen Ankerpunkt in der Mitte Schwung in die Sache zu bringen. Ich steigerte die Drehgeschwindigkeit nicht auf Ultimo, aber eine Weile lang drehten wir uns immer mal wieder etwas langsamer oder auch schneller im Kreis, machte des Schwindels wegen immer wieder ein paar Minuten Pause zwischendurch. Wechselten dabei auch mal die Richtung, woraufhin Noah uns selbst anschubsen wollte. Er tat sich schwer damit, schaffte es aber doch und war danach natürlich unheimlich stolz. Von dem durchweg glücklichen Gesichtsausdruck - den er sich mit seiner Mutter nach wie vor teilte - mal ganz abgesehen. Nach der letzten Runde blieben wir alle noch einige Minuten lang sitzen, ließen nach dem Karussellfahren wieder Ruhe einkehren und Noah erzählte dabei von sich aus noch eine Geschichte aus der Schule. Schließlich trauten wir uns alle dann zurück auf die Füße erst dann warf ich das nächste Mal einen Blick auf meine Armbanduhr, weil ich es in der unbeschwerten Zwischenzeit auf dem Karussell schlichtweg vollkommen vergessen hatte. Was mir das Ziffernblatt dann verriet war auch ganz und gar nicht das, was ich hatte sehen wollen. Ich hatte selbst Spaß daran, mit den beiden hier am See unterwegs zu sein. Freute mich auch darüber, dass Noah sich inzwischen mit mir als Anhängsel hatte anfreunden können und würde es gerne noch länger genießen. Trotzdem ging das nicht. Wenn wir Glück hatten, dann war Sydneys Ex-Mann gerade noch dabei Noahs bekannte Freunde telefonisch abzuklappern oder sich selbst an der Straße auf die Suche zu machen, nur für den Fall, dass der Kleine noch immer mit einer Katze am Straßenrand saß oder was auch immer. Es war aber etwa genauso gut möglich, dass er gerade schon drauf und dran war vor nachvollziehbarer Sorge um seinen Sohn die Cops anzurufen. Ich sah die Uhr einige sehr lange Sekunden an, weil ich mich alles andere als gut damit fühlte, jetzt die unheilvollen Worte aussprechen zu müssen, aber es führte ja doch kein Weg daran vorbei. Also atmete ich schließlich schwer durch, ließ den Arm mit der Uhr wieder sinken und wandte mich an die Brünette. Legte ihr meine Hand auf die Schulter, weil ich wieder seitlich hinter ihr stand und verlangte so nach ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit. "Syd, wir... wir müssen los. Wir sind schon spät dran." Mir gingen die Worte schwer über die Lippen und ich fühlte mich absolut mies dabei. Wollte nicht der Miesepeter sein, der hier allen den Spaß verdarb, aber ich konnte genauso wenig verantworten, dass wir beide jetzt im Knast landeten. Noch dazu nicht im selben Gefängnis und vermutlich nicht einmal im selben Land, weil ich sehr sicher nach Italien ausgeliefert werden würde. Die wollten mich da immer noch gerne lebenslänglich verrotten sehen.
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Die Zeit mit Noah ging meiner Meinung nach viel zu schnell vorbei und wieder einmal wurde ich darin bestätigt, dass man manche Dinge erst dann zu schätzen wusste, wenn sie eben nicht mehr so selbstverständlich waren. Zeit mit seinem Kind zu verbringen, beispielsweise. Es waren wirklich unsagbar schöne Minuten mit Noah und Sabin gewesen, auch wenn ich feststellen musste, dass ich inzwischen Eis nur noch in Maßen vertrug und darauffolgend definitiv nicht in ein Karussell einsteigen sollte. Dafür war ich wohl schlichtweg zu alt und das signalisierte mir mein Körper recht deutlich durch den Anflug leichter Übelkeit und Kopfschmerzen. Allerdings ließ ich mich davon nur wenig bis gar nicht beirren, sondern fokussierte mich vollumfänglich auf meinen Sohn und auf seine Wünsche. Stellte mein eigenes Wohlergehen ziemlich hintenan und das machte sich spätestens dann wirklich gravierend bemerkbar, als ich mich anfangs gar nicht erst zu Sabin umdrehen wollte. Ich wusste, dass es nichts Gutes heißen konnte, wenn er nach den paar wirklich tollen und witzigen Minuten ausschließlich nach meiner - und nicht auch nach Noahs - Aufmerksamkeit verlangte. Demnach wollte ich eigentlich gar nicht hören, was er zu sagen hatte, nur war es wohl meiner Vernunft zu verschulden, dass ich mich unterbewusst schließlich doch zu ihm umdrehte. Kurz darauf teilte der Italiener mir mit, was ich bereits befürchtet hatte - nämlich, dass es langsam an der Zeit war, mich von Noah zu verabschieden. Der kleine Junge flitzte unweit von uns über den Rasen, es ließ sich kaum definieren, was er jagte und warum, aber das war mir egal. Ich sah ihm trotzdem gerne dabei zu und wollte jetzt noch nicht gehen. "Nur... nur noch ein paar Minuten.", bat ich murmelnd um noch ein bisschen mehr Zeit mit meinem Sprössling, obwohl ich wusste, dass das nicht ging. Wir hatten einen strengen getakteten Zeitplan, über den wir schon deutlich hinausgeschlagen hatten, wie mir schmerzlich bewusst wurde, als ich einen kurzen Blick auf das Handydisplay warf. Um mich so abzusichern, dass Sabins Uhr nicht falsch tickte und er unnötig Stress machte, aber bedauerlicherweise hatte der Italiener Recht. Eigentlich hätten wir uns schon längst wieder auf dem Rückweg befinden sollen, es war also allerhöchste Zeit, dass wir aufbrachen. Aber... ich konnte einfach nicht. Ich wollte und konnte nicht und das sah man mir wohl auch deutlich an, als ich mich schließlich gänzlich zu Sabin herumdrehte. "Ich kann nicht, Sabin. Ich... das...", stotterte ich mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme, versuchte irgendwie in Worte zu fassen, was überhaupt keine Rolle spielte. Egal, was ich jetzt sagte und egal, was für Argumente ich jetzt brachte, um die weitere Zeit mit meinem Sohn zu rechtfertigen, es spielte einfach keine Rolle. Wir mussten wirklich los, Noah an der vorher abgesprochenen Kreuzung rauswerfen und ich mich endgültig von ihm verabschieden - ohne wenn und aber. Trotzdem schien der Mutterinstinkt an dieser Stelle durchzuschimmern und ich versuchte, obwohl ich es besser wusste, mehr Zeit mit meinem Sohn bei dem Italiener auszuhandeln. So, als ob es in seiner Verantwortung lag, ob Kilian die Bullen rief und ob die Cops sich auf die Suche nach Noah machen würden. Ich wusste, dass dem nicht so war und trotzdem sah ich den jungen Mann mir gegenüber sichtlich verzweifelt an. Bittend, mich einfach nicht weiter darauf anzusprechen, dass wir eigentlich längst nicht mehr hier, sondern auf dem Weg zurück sein sollten. Noah zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich an der Kreuzung aus dem Auto aussteigen sollte, um nach Hause zu laufen. Damit wir im direkten Anschluss weiter in Richtung der kanadischen Grenze tuckern konnten, um auf halber Strecke dann in einem weiteren Motel anzuhalten und zu rasten. Aber das wollte ich alles nicht hören, wollte es mir nicht gedanklich ausmalen, ich wollte gerne im Hier und Jetzt bleiben. Am See. Mit meinem Sohn. Ich wollte weiter den beschissenen Enten beim Nichtstun zusehen und mir vielleicht noch eine weitere Kugel Eis - dieses Mal allerdings ohne Waffel - mit Noah genehmigen. Aber ich wollte dieses Kapitel meines Lebens nicht mehr abschließen, den Jungen nicht ohne seine Mutter aufwachsen lassen, wo ich doch inzwischen so viel Zeit für ihn übrig hätte. Mich keine Arbeit mehr vereinnahmte und zum ersten Mal seit wirklich, wirklich langer Zeit genoss ich dieses unbeschwerte Leben wieder etwas. Das lag aber - auch wenn das vielleicht fies klang - nicht an Sabin. Zumindest nicht nur. Es lag an... an einfach allem im aktuellen Augenblick. An dem guten Wetter, an dem Mann an meiner Seite, dem Kind, dem See. Es war alles so herrlich unbeschwert und ich wollte im aktuellen Augenblick einfach nicht mehr zurück nach Kuba, sondern hierbleiben. Wohlwissend, dass das nicht möglich war, wandte ich mich demonstrativ von Sabin ab, so als würde er mich einfach ziehen lassen, nur weil ich langsam zu Noah aufschloss und mir dadurch erhoffte, binnen weniger Schritte sei das Leben wieder vollkommen in Ordnung. So ohne Kriminalität, ohne Staatsgesuch nach meiner Wenigkeit, ohne Stress...
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Noch ein paar Minuten? Meine Augenbrauen zogen sich mitleidig zusammen, obgleich mein Mitgefühl für Sydneys Unwillen Aufzubrechen gewiss nicht die Vernunft in meinem Kopf ausradieren konnte. Mir fiel das allein deswegen schon leichter, weil es nun mal nicht mein Sohn war, der hier verlassen werden musste. Ich hatte Noah erst vor Kurzem kennengelernt und auch, wenn er mir mit seiner ganzen Art sympathisch war, fiel es mir logischerweise nicht schwer, ihn nun wieder gehen lassen zu müssen. Ich hatte ihn nicht auf die Welt gebracht und mich verbanden keine 9 Jahre mit ihm. Ich war nicht seine Mutter, nicht sein Vater. Er war ein Kind, das drauf und dran war uns hier in ernsthafte Gefahr schlittern zu lassen, weil es seiner Mutter etwas zu deutlich vor Augen gehalten hatte, dass es sie vermisst hatte und sein Leben gerne weiter mit ihr an der Seite fortführen würde. Das ging aber nicht. Keine zehn millionenschweren Rennpferde würden mich dazu kriegen Sydney hier bei ihrem Sohn in den Staaten zurückzulassen. Nicht, weil ich ihr kein Leben mit Noah wünschte oder weil ich sie ganz einfach für mich haben wollte, sondern weil ich grundsätzlich immer das große Ganze sah. Wenn sie hierblieb, dann würde sie verhaftet werden und daraufhin genauso wenig von ihrem Sohn haben, wie das auch auf Kuba der Fall wäre. Zumindest hegte ich schwere Zweifel daran, dass Kilian den Kleinen freiwillig zu den Besuchen im Gefängnis seiner Mutter bringen würde. Was war also die Folge? Sydney würde singen, um die Gitter hinter sich zu lassen und ich könnte es ihr nicht einmal übel nehmen. Ich würde vermutlich dasselbe tun, wenn es um mein Kind ginge. Trotzdem konnte ich das nicht zulassen. Vielleicht hätte Hunter den Knast durchaus verdient und unter Umständen täte ihm das ganz gut, um mal wieder etwas weniger engstirnig zu denken, aber es gab doch auch einige Mitglieder im Suicide Squad, die in meinen Augen kein Gefängnis verdienten. Cosma zum Beispiel, die sich für meine Begriffe nur in den falschen Mann verliebt hatte. Richard, der manchmal zwar nervig, aber wirklich kein schlechter Mensch war. Tauren hatte ein gutes Herz. Samuele würde es vielleicht gar nicht allzu schlimm treffen, aber auch er verdiente so oder so gewiss keinen Gefängnisaufenthalt. Vahagn war, wenn sie nicht gerade ihre fünf Minuten hatte, eigentlich auch in Ordnung... was ich vielleicht anders sehen würde, wenn ich von ihrer Aktion mit Hunter gegenüber der Geliebten ihres Bruders wüsste. Alles in allem hatte ich aber weiß Gott schon wesentlich schlimmere Menschen getroffen, die weit besser hinter Gitterstäbe gepasst hätten. Mal ganz davon abgesehen, dass ich Sydney Brief und Siegel darauf geben konnte, dass Hunter irgendeinen Weg dazu finden würde, sie mitsamt Noah umlegen zu lassen. Selbst, wenn er hinter Gittern saß. Das würde er nie im Leben einfach so auf sich sitzen lassen. Als Sydney sich doch ernsthaft von mir abwendete, um einfach so zu tun, als säße uns gerade nicht die Zeit im Nacken, schüttelte ich kaum sichtbar den Kopf und schloss sofort wieder zu ihr auf, um sie am Oberarm festzuhalten und sie zum Anhalten zu zwingen. Nicht grob oder gar schmerzhaft, aber doch bestimmt, weil sie mich ansehen sollte. "Du weißt, dass ich dich nicht hierlassen werde, Sydney. Ich verstehe, dass dir das unheimlich schwerfällt... aber ich kann nicht zulassen, dass du uns alle mit ins Verderben nimmst. Noah eingeschlossen." Meine Stimme war ruhig und ich war absolut nicht der Typ Mann, der seine Frau anschrie. Dennoch klang ich sehr eindringlich, verlieh meiner Stimme Nachdruck. Die Brünette musste verstehen, dass wir jetzt schleunigst hier weg mussten. Jetzt oder nie mehr. "Ich will euch nicht eigenhändig zum Auto tragen müssen... also sag ihm, dass wir gehen müssen.", hängte ich auch eine Forderung an, die an eine indirekte Drohung geknüpft war. Noah erfreute sich gerade wohl am Anblick eines bunten Schmetterlings auf einem der blühenden Büsche in der Nähe und ich griff nur zu solchen Worten, weil er eindeutig außer Hörweite war und wir ganz einfach keine Zeit dazu hatten, hier jetzt herum zu diskutieren. Ich meinte das auch nicht böse, zu keiner Zeit. Aber ich war nicht hierher gekommen, um mich mutwillig einbuchten zu lassen. Ich hatte es Sydney ermöglichen wollen, mit ihrer Vergangenheit Frieden zu schließen und nicht aufgrund jener ihre gesamte Zukunft zu versauen. Ihre und auch die unzähliger anderer Menschen, die an dieser Entscheidung hingen.
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Es war ungewöhnlich, dass der Italiener mir gegenüber einen deutlich strengeren Ton anschlug, als er das normalerweise tat und im Normalfall hätte mir das jetzt auch sicher zu denken gegeben. Unterhaltungen zwischen Sabin und mir waren bis dato durchweg konstruktiv geblieben, selbst wenn wir mal unterschiedliche Ansichten vertreten hatten. Damit hoben wir uns definitiv vom Rest des Suicide Squads ab, für den es Gang und Gäbe war, sich durchweg anzuschnauzen, zu beleidigen und rücksichtslos aneinander vorbeizureden. Allerdings war der Großteil davon im Verhältnis zu uns beiden auch noch recht jung, hatten nie wirklich gelernt, was es hieß, Verantwortung zu übernehmen und dass man auch mit weniger schroffen Worten oftmals an sein Ziel gelangte. Gut, auf den Straßen herrschte wohl grundsätzlich ein eher rauer Umgangston und wenn man den einmal drin hatte, bekam man ihn sicher so schnell auch nicht wieder raus, nichtsdestotrotz nervte es manchmal, sich beispielsweise mit Hunter oder Vahagn zu unterhalten, weil man mit sinnvollen, überhaupt nicht böse gemeinten Argumenten bei den beiden auf taube Ohren stieß. Aber ich schweifte ab - der Kernpunkt des Ganzen war jedenfalls, dass sich aus Sabins ungewohnt angespannter Stimme eine letzte Warnung heraushören ließ, bevor er sich - berechtigterweise - dazu gezwungen sah, etwas andere Seiten aufzuziehen, um unser aller Leben vor dem rapiden auf die Fresse fliegen zu bewahren. Dass er es nicht böse meinte, wusste ich und doch nervte es mich tierisch, dass er mich am Arm packte und wieder zu sich herumdrehte, wo ich mich doch noch kurz mit Noah ins Gras hatte setzen wollen. Allerdings ließ die unterschwellige Drohung keine Widerworte zu und so riss ich mich schließlich mit Tränen in den Augen von dem Italiener los. Schluchzte einmal kurz und drehte mich dann zu meinem Sohn um. "Noah!", rief ich und verlangte damit nach seiner Aufmerksamkeit. "Komm' bitte her.", folgte eine direkte Bitte und als hätte ich es geahnt, wusste mein Sohn, dass irgendwas nicht in Ordnung sein konnte. Warum sollte die gerade noch vor Freude strahlende Mama plötzlich weinen, wenn doch nichts passiert war? "Wir müssen langsam gehen, mein Schatz. Papa macht sich sicher Sorgen.", murmelte ich und beugte mich kurzerhand zu ihm herunter. Nur, um mit meinen Händen unter seine Achseln zu greifen und ihn anzuheben, auf den Arm zu nehmen. Zwar wurde er von Jahr zu Jahr immer etwas schwerer, aber bis zum Auto würde ich es problemlos schaffen, Noah zu tragen. Seine kleinen Ärmchen legte er dabei um meinen Hals und strich mir mit beiden Händen über die Wange und durch die Haare. Deutlich unbeholfener, wie Sabin das normalerweise tat, wenn ich traurig war, aber es hatte in etwa trotzdem den selben Effekt. Es beruhigte mich ein wenig, ließ mich andererseits aber zusätzlich nur noch wehleidiger dem Abschied entgegensehen. Ich stiefelte mit meinem Sohn auf den Armen wortlos an meiner Begleitung vorbei und steuerte zielstrebig den Schotterweg an, den wir erst vor gefühlt wenigen Sekunden passiert hatten, um an den See zu gelangen. Das Auto war dann nicht mehr besonders weit entfernt und so wartete ich nur darauf, dass Sabin die Zentralverriegelung betätigte, damit ich Noah auf der Rückbank drapieren und mich wieder zu ihm setzen konnte. Er gähnte, schien allgemein ziemlich müde zu sein, nachdem er sich eben am See so verausgabt hatte und verlangte deswegen nach meinem Arm, an den er sich kuscheln konnte. Ich schnallte erst den Kleinen, dann mich an, bevor ich seiner Bitte nachkam und in der Zwischenzeit hatte auch Sabin sich hinter das Steuer des Wagens fallen lassen, um sich im Folgenden keine Zeit mehr damit zu lassen, von hier zu verschwinden. Der Italiener lenkte den Wagen gerade vom Parkplatz, als ich die Stimme meines Neunjährigen noch ein weiteres Mal vernahm und nach dem, was er da sagte, stand für mich fest eigentlich, dass ich ihn keinesfalls hier in den Staaten zurücklassen konnte. "Du hast mir gefehlt, Mama.", nuschelte er an meinen Arm, den er darauffolgend gar nicht mehr loslassen wollte. Ich... hatte ihm gefehlt. Eindeutiger konnte es doch eigentlich nicht sein, oder? Ich musste nicht studiert haben, um zu wissen, dass ich ihm also weiterhin fehlen würde, wenn ich mich heute aus dem Staub machte und der Gedanke daran, wie er Nacht für Nacht auf meine Rückkehr wartete, ließ mich beinahe wie einen Schlosshund heulen. Es war wohl erneut der Mutterinstinkt, der dagegen ansteuerte, mir vor meinem Kind noch mehr Schwäche einzugestehen, als ich das ohnehin bereits getan hatte und so machte ich nach außen hin einen eher ruhigen, kühlen Eindruck. Dabei kochte ich innerlich förmlich, wusste überhaupt nicht, was ich sagen oder wie ich mich verhalten sollte und je näher wir der verfluchten Kreuzung kamen, desto abstruser wurden meine Gedankengänge. Einfach hierzubleiben kam laut Sabin überhaupt nicht in Frage, war ja auch logisch, würde man uns unerbittlich zu suchen anfangen, wenn es erst einmal Anzeichen dafür gab, das wir in der Stadt waren. Und wenn...? Nein. Eigentlich hätte auch das für mich keine Option sein dürfen, nicht einmal daran denken sollte ich und doch tat ich es. "Hast du Lust, mit Sabin und Mama noch einen Ausflug zu machen?", richtete ich zuallererst eine Frage an den müden Sprössling neben mir auf der Rückbank, noch bevor ich für Sabin verständlich auf den Punkt brachte, dass es überhaupt keine Option mehr für mich war, Noah hierzulassen. Besagter Neunjähriger sah mich aus großen Augen an, argumentierte, dass doch gar keine Ferien seien und er morgen wieder in die Schule müsste. "Ich habe das mit der Schule schon abgesprochen, die paar Tage holen wir Zuhause zusammen wieder auf, okay? Also, was sagst du?" Lügen waren eigentlich nie ein guter Weg, Menschen zu einer Antwort zu bewegen, die man selbst gerne hören wollte und doch schien mir das im Augenblick ziemlich egal zu sein. Wie der Rest mir auch so ziemlich egal war. Wie Kilian sich fühlte beispielsweise, wenn Noah verschwand und nicht mehr aufzufinden war; wie Sabin sich fühlte, wenn ich ihn einfach überging... es spielte für mich gerade keine Rolle, was die anderen fühlten, es ging hier gerade nur um mich. Um mich und meinen Sohn, dem ich zum einen dreist ins Gesicht log, zum anderen auch mit keiner Silbe erwähnte, dass er sehr wahrscheinlich nie wieder in die Schule zurückkehren, seine Freunde und seinen Vater je wiedersehen würde, aber er gab mir mit seinen wenigen Worten genug Hoffnung, zu glauben, dass das einzig Wichtige für ihn seine Mutter war und das, obwohl ich jahrelang nur sporadisch für ihn dagewesen war. Solange er meine Hand halten konnte, war quasi alles in Ordnung. So oder so ähnlich erhoffte ich mir das jedenfalls, als ich mich schließlich zu Sabin drehte. "Fahr' bitte einfach weiter.", wies ich ihn an, die herannahende Kreuzung zu passieren, ohne anzuhalten. Wir würden Noah mit ins Motel nehmen. Mit nach Kuba und in unser neues Leben. Und wenn mich das bei Vahagn einen Aufpreis kostete, dann war ich gerne bereit, diesen auch zu zahlen, solange ich meinen Kleinen dann bei mir hatte. Dass das Ganze mit dem negativen Einfluss auf der sonnigen Karibikinsel schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, davon wollte ich nichts wissen.
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Für den Moment glaubte ich Sydney umgestimmt und zur Vernunft gebracht zu haben. Denn es dauerte nicht lange, bis sie meinen Worten tatsächlich nachkam und den Jungen dazu anwies die Zelte abzubrechen, damit wir gehen konnten. Zwar war ich eigentlich nicht wirklich der Grund dafür warum wir jetzt gehen mussten - schließlich hatten wir den Plan bezüglich dieser Reise gemeinsam gemacht und die Brünette war mit allem davon einverstanden gewesen -, aber ich trug ganz automatisch einen Teil des Schmerzes mit, den die junge Frau gerade so deutlich zum Ausdruck brachte. Es war wohl leider vorprogrammiert gewesen, dass der endgültige Abschied kein schöner werden würde und dass Tränen fließen würden, aber so wirklich mental darauf vorbereitet war ich dann ja doch nicht. Der Anblick versetzte mir einen unangenehmen Stich in der Brust, der mir aufzeigte, dass das alles hier vielleicht doch keine so gute Idee von mir gewesen war. Ich hatte es nur gut gemeint und nur helfen wollen... aber vielleicht wäre es trotzdem besser gewesen weder Sydney, noch Noah diesen Abschiedsschmerz anzutun. Zwar war ein Cut mit der eigenen Vergangenheit eigentlich wichtig, wenn man wusste, dass man nie wieder an jene anknöpfen können würde, aber vielleicht wäre das auch ohne das Treffen irgendwie möglich gewesen. Ich hatte auch meinen Frieden mit meiner eigenen Vergangenheit schließen können, hatte einen mehr oder weniger sauberen Strich darunter gezogen. Allerdings gab es für mich eben auch nichts mehr, das in Italien auf mich warten würde. Außer meiner Einbuchtung und meinem Tod, selbstverständlich. Allein schon der Weg zurück zum Parkplatz ließ mein Herz immer schwerer werden, was dem Anblick der liebenden Mutter und ihrem Sohn zugrunde lag. Man musste wohl ein Monster sein, um die beiden mutwillig auseinanderreißen zu wollen. Dabei war es ja gar nicht so, als würde ich das wollen. Nur wollte ich eben noch viel weniger in den Knast. Ich war nicht schon ein Jahrzehnt lang immer wieder vor den Cops auf der Flucht, um mich jetzt noch schnappen zu lassen. Genauso wenig wollte ich für Sydney oder Noah einen solch üblen Ausgang der Dinge... und trotzdem fühlte ich mich alles andere als gut, als ich den Wagen schließlich vom Parkplatz lenkte, um den Kleinen nahe seines Zuhauses abzusetzen. Ich beobachtete die beiden so oft im Rückspiegel, wie der Verkehr mir das erlaubte. Fiel dann schließlich fast vom Glauben ab, als Sydney doch ernsthaft eine Frage an Noah stellte, die kaum unmissverständlicher hätte sein können. Die junge Frau konnte wohl von Glück reden, dass ich im regen Stadtverkehr gerade keine Möglichkeit dazu hatte, einfach mal eben anzuhalten und sie zu fragen, ob sie noch alle Tassen im Schrank hatte. Selbst mit der Sonnenbrille auf der Nase musste ich in jenem Augenblick aber nicht weniger als entsetzt aussehen. Das wurde auch nicht besser, als sie ihren Sohn mit einer recht dreisten Lüge dazu animierte, der ganzen Sache einzuwilligen. Mal ganz davon abgesehen, dass Sydney nicht einmal in Erwägung zog mich zu fragen, ob das für mich überhaupt in Ordnung ging. Es war eine Sache, sie zu ihrem Sohn zu begleiten und eine vollkommen andere, ihn mit großzuziehen. Überflüssig zu erwähnen, dass es für das Kind schlicht und ergreifend schon jetzt der vorhersehbare Abstieg auf die schiefe Bahn war. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass die Brünette auf dem Rücksitz gerade nicht einmal mehr von A bis nach B denken konnte. Natürlich konnte man versuchen den Kleinen so weit es ging von allem fernzuhalten, was weniger schwer war, wenn wir endlich allein zusammenwohnten. Trotzdem würde er früher oder später mit den falschen Menschen in Berührung kommen. Außerdem war er das perfekte Druckmittel für jede Gelegenheit. Ich konnte schon Hunter in meinem Ohr vor sich hin summen hören, dass er einfach des nachts mal bei mir Zuhause einsteigen und den Kleinen mitnehmen - oder schlimmeres tun - würde, wenn ich nicht spurte. Egal wie man die Sache also drehte oder wendete, es war nie gut für Noah. Langfristig gesehen war es auch sehr sicher nicht gut für Sydneys und meine Nerven, denn es würde früher oder später absolut sicher Probleme geben. Als sie dann sagte, ich solle einfach weiterfahren und den Jungen im Wagen behalten, trat ich unter Beachtung des restlichen Verkehrs - einen Unfall konnten wir weiß Gott jetzt nicht brauchen - aber doch ziemlich stark auf die Bremse und hielt am Straßenrand. Bis dahin hatten wir die Kreuzung noch nicht erreicht, waren aber dennoch schon gefährlich nahe am vermeintlichen Ende des Geschehens. Ich machte den Motor nicht aus, schaltete lediglich in den Leerlauf und drehte mich dann zu den beiden um. "Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren? Wir können nicht...", begann ich noch während ich den Oberkörper drehte zu reden und hielt dann aber inne, als mein Blick auf das Zweiergespann auf dem Rücksitz fiel. Sydneys Augen waren noch immer glasig, während Noah sich an ihren Arm klammerte, als hinge beinahe sein ganzes Leben davon ab. "Du weißt, dass das nicht...", gut ausgehen würde. Nicht gut für Noah war. Dass das eigentlich nicht ging, weil wir ihm und auch uns damit wahrscheinlich keinen Gefallen taten. Langfristig gesehen und die Folgen, die das Ganze haben könnte, betrachtend. Aber aussprechen konnte ich es ja doch nicht. Ich mochte ja kriminell sein und so einige Leichen im Keller haben, aber wenn es eine Sache gab, bei der ich nicht die kalte Seite an mir heraufbeschwören konnte, dann war das Familie. Wie hätte ich Sydney einen so wichtigen Teil ihres Lebens absprechen können, während ich selbst am besten wusste, dass der Verlust eines Kindes so ziemlich der unbarmherzigste Schmerz war, den man emotional überhaupt empfinden konnte? "Verdammte Scheiße nochmal, Syd...", war am Ende alles, was ich noch vor mich hinfluchte, während ich mich wieder zum Steuer umdrehte und dann den Gang einlegte, um loszufahren. Um ein Kind zu entführen, mal ganz trocken betrachtet. "Das darf man nicht sagen.", erreichten mich ein paar leise Worte vom Rücksitz. Ja, da hatte Noah Recht. Genauso, wie man Lügen eigentlich nicht sagen durfte. Aber ich sagte daraufhin nichts, weil ich dafür jetzt schlichtweg keinen Kopf hatte. Ich hatte mich gerade dazu entschieden ein Kind aus den Staaten zu schmuggeln und stand so sehr unter Strom wie schon lange nicht mehr. Immerhin war das eines der wenigen Dinge, die ich in den letzten Jahren tatsächlich noch nicht erlebt hatte und ich hatte wirklich das Gefühl zu alt für Neuland zu sein.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass Sabin meiner Bitte nicht wort- und widerstandslos nachkommen würde, denn in Hinsicht auf einen vorher vereinbarten Plan war der junge Mann schlichtweg ziemlich gewissenhaft. Als er das Auto also am Straßenrand anhielt, lag es mir fern, ihm zu unterstellen, dass er Spaß daran hatte, Noah und mich auseinanderzureißen, aber es wäre für einen reibungslosen Ablauf des ohnehin schon in der Zeit zurückliegenden Plans ganz einfach notwendig gewesen, durchzugreifen. Mir die Leviten zu lesen, um mich dann dazu aufzufordern, den Kleinen endlich an der gottverdammten Kreuzung rauszuschmeißen und mit meiner Vergangenheit abzuschließen. Im ersten Augenblick schien Sabin auch genau das vorzuhaben, aber als er sich am Straßenrand stehend zu uns umdrehte und sah, wie fertig mich alleine der Gedanke an einen möglichen Abschied machte, geriet sein Vorhaben ins Stocken. Seine rein rhetorische Frage ließ ich logischerweise unbeantwortet, weil es meiner Meinung nach überflüssig gewesen wäre, ihn in etwas so Offensichtlichem noch zu bestätigen. Natürlich hatte ich den Verstand verloren, andernfalls würde ich doch wohl kaum so unüberlegt handeln und mich derart von meinen Gefühlen steuern lassen, oder? Ich wusste auch, dass wir das eigentlich nicht bringen konnten, es moralisch absolut verwerflich war, nun auch Kilians und Noahs Leben wissentlich gegen die Wand zu fahren und dass es schlichtweg einfach nicht richtig war. Nichtsdestotrotz hielt ich es im Moment für eine gute Idee, weil ich dadurch zumindest noch ein bisschen mehr Zeit mit meinem Sohn gewonnen hatte, bis ich entweder in den Knast wanderte oder mich einer der Mitglieder des Suicide Squads auf Kuba angekommen einfach abmurksen würde. Ich hielt es für sehr wahrscheinlich, dass es bei Niemanden so richtig gut ankam, wenn Sabin und ich von unserer Reise ein Souvenir in Form eines lebenden Kindes mitbrachten. Sam und Richard würden uns dafür vermutlich am wenigstens den Kopf abreißen wollen, während ich Hunter und Vahagn schon jetzt vor meinem inneren Auge ausrasten sah. Aber... egal. Es war nicht so, als könnten die beiden mich in meiner Entscheidung, meinen Sohn gerne bei mir haben zu wollen, nennenswert beeinflussen. Ich bezweifelte zwar, dass Noah mir so viel mehr Normalität in meinem Leben zurückgeben können würde, aber faktisch wäre es für mich in diesem kriminellen Metier so viel erträglicher, wenn ich einfach mehr Zeit mit dem Jungen hatte. Bis ihm etwas zustoßen würde, natürlich. Dann würde ich mich selbstredend dafür hassen, ihn in die Nähe der schiefen Bahn gebracht zu haben. Es ärgerte mich ja jetzt schon unglaublich, hatte ich mir vor wenigen Minuten in Hinsicht auf seine Zukunft noch das Beste für den Kleinen gewünscht. Tja, so schnell konnte man seine Meinung ändern. Jedenfalls war ich schon drauf und dran gewesen, Sabin anzuschnauzen, dass er nicht den Moralapostel spielen sollte. Er an meiner Stelle vermutlich nicht anders reagiert hätte, wäre es ihm möglich gewesen, seine Tochter zu retten und ich schlichtweg die sich mir bietende Möglichkeit nutzen wollte, da drehte sich der Italiener bereits wieder nach vorne und... fuhr tatsächlich einfach weiter. Wir hatten unweit der Kreuzung angehalten, von der aus Noah eigentlich nach Hause hätte laufen sollen. An der fuhren wir jetzt jedoch vorbei und ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass ich mich zunehmend immer mehr angespannt hatte. Jetzt, wo Sabin den Weg in Richtung des Motels nahe der kanadischen Grenze ansteuerte, schien mir eine unglaubliche Last von den Schultern zu fallen und ich atmete einmal tief durch. Meine nach unten hängenden Mundwinkel formten prompt ein schwaches, aber glückliches Lächeln und ich zog Noah nur noch etwas fester an mich, um ihm einen liebevollen Kuss auf den Haaransatz zu geben. Mit einer Hand strich ich ihm ein paar lose Haarsträhnen aus der Stirn und war alles in allem einfach nur erleichtert, dass ich anstatt einem Waschlappen wie Kilian nun einen wirklich brauchbaren Mann an meiner Seite hatte, der vielleicht ein Stück weit an meinem Verstand zweifelte, aber trotzdem hinter mir stand. Vielleicht nicht voll und ganz, weil es nach wie vor eine absolut bescheuerte Idee war und wir damit zumindest auf den ersten Blick nur Probleme heraufbeschwörten, aber er hielt Wort und ließ mich nicht so einfach hier in den Staaten zurück. Hätte er schließlich tun können, indem er mich an der Kreuzung gleich mit auf die Straße gesetzt hätte. "Danke...", murmelte ich nach einer schier unendlich langen Zeit des Schweigens. Vermutlich würde das nicht einmal im Ansatz wett machen, was ich mit meiner Entscheidung langfristig angestellt hatte, aber Sabin sollte trotzdem wissen, dass er etwas bei mir gut hatte. Dass ich ihm wirklich dankbar war. Zum einen, weil er sich zu dieser blöden Idee hatte hinreißen lassen, mit mir nach Amerika zu kommen und natürlich zum anderen aber eben auch, weil er sich bis auf das vor sich hin fluchen nicht weiter dagegen sträubte, meinen Nachwuchs mit nach Kuba nehmen zu wollen. Jetzt, wo feststand, dass Noah mitkommen würde, sollte ich mir eventuell schon einmal Gedanken darüber machen, wie das Leben auf der Insel sich verändern würde. Was plötzlich alles auf mich - und damit auch zwangsweise auf Sabin - zukommen würde, sobald wir nach dem halbtägigen Flug wieder festen Boden unter den Füßen hatten, denn ein Kind aus der Laune heraus zu entführen war die eine Sache, aber sich im Nachgang darum zu kümmern eine ganz andere. Noah musste schließlich irgendwann wieder in die Schule gehen, die Sprache lernen, neue Freunde finden und von der Pubertät wollte ich gar nicht erst anfangen. Vorausgesetzt, er überlebte bis dahin und lief nicht vorher einem wildgewordenen Hunter in die Arme, dem wir unser Anhängsel höchstwahrscheinlich auch nicht vorenthalten können würden. Mein Gott, was hatte ich mir dabei eigentlich nur gedacht? Und warum hielt mich Sabin nicht davon ab?
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #