Auch Richards Angst war sehr leicht nachvollziehbar und ich würde sie ihm weiß Gott nicht vorhalten, auch wenn er mich zugegeben unerwartet deswegen extra nochmal zum Anhalten brachte. Es hing wirklich viel davon ab, wie er den Abend nun hinter sich bringen würde. Was genau passieren würde, wenn er tatsächlich rückfällig werden sollte, das wusste ich nicht - aber was Gutes konnte es nicht sein. Es würde schon so seine triftigen Gründe haben, warum Sabin so viel daran zu liegen schien, dass der Engländer wieder auf die Beine kam. Auch unabhängig davon, dass die beiden gute Freunde waren. Eben auf kriminell-geschäftlicher Basis, welche die beiden auch zwangsweise mit dem gruseligen Amerikaner verband. Ob mir auch eine Strafe blühen würde, wenn Richard die Sache jetzt verkackte, weil ich an seiner Therapie beteiligt war? Ich wischte die Frage so schnell wieder aus meinem Schädel, wie sie auch gekommen war. Machte mir jeden Tag über genug Sorgen und Gedanken, wollte mir den Abend damit jetzt nicht auch noch kaputt machen. Reichte schon, dass die etwas lästige Überzeugungsarbeit bezüglich des Kunstfanatikers mich hier auf Trapp hielt. "Ja und das versteh ich auch. Es ist nur...", ich redete erstmal nicht weiter, weil wir Gesellschaft bekamen, die das Gespräch hier einfach nichts anging. Auch, wenn das bei vielen Menschen heutzutage anders war, hatte ich noch gesunden Respekt vor Privatsphäre. Zumindest nüchtern. Während Richard sich neben mir doch merklich verkrampfte wandte ich mich Paolo zu und begrüßte ihn gewohnt auf Spanisch. Es folgte knapper Smalltalk alias 'schön dich wiederzusehen', aber das war es dann auch schon. Ich musste ihn mit dem Feuerzeug nämlich genauso enttäuschen wie Richard, auch wenn ich durchaus das eine oder andere Mal darüber nachgedacht hatte wieder damit anzufangen, seit die kriminelle Pest in Havanna eingefallen war. An Lungenkrebs zu sterben war dann aber doch nicht verlockend genug. Gab sicher bessere Methoden für Suizid, die weniger schmerzhaft und langwierig waren. Außerdem wollte ich auch eigentlich noch gar nicht abkratzen, sondern feiern. Ich sah dem Barkeeper nur einen kurzen Moment lang nach, dann wandte ich mich mit einem kaum sichtbaren Kopfschütteln wieder dem Engländer in meiner direkten Nähe zu. Kurzzeitig musste ich noch überlegen, was ich eigentlich hatte sagen wollen. "Ewig in Angst zu leben ist langfristig nicht wirklich die bessere Option, wollte ich sagen. Und der Barbesuch ist im Gegensatz dazu nur heute potenziell anstrengend für dich. Einmal Augen zu und durch, hm?" Das war zwar nicht ganz der Wortlaut, den ich vorhin hatte nutzen wollen, aber ich denke es war dennoch ersichtlich worauf ich hinaus wollte. Die vorher angestrebte, philosophischere Variante wollte mir in ihrem genauen Wortlaut leider nicht noch einmal einfallen. "Außerdem ist das eine gute Bar. Ich komm hier normalerweise oft her, das heißt was. Ich bin wählerisch... nüchtern zumindest.", versuchte ich mit einem eher stumpfen Witz die Mundwinkel des Dunkelhaarigen etwas anzuheben, obwohl ich das im Moment für ziemlich unmöglich hielt. Einen Versuch war's trotzdem wert. Ich nickte seitlich mit dem Kopf in Richtung Eingang und setzte mich wieder in Bewegung, um endlich nach drinnen zu gehen. Es empfing mich das selbe Ambiente wie immer - ein für Havanna verhältnismäßig modernes Interieur, weil es die Bar noch gar nicht so lange gab. Das Licht angenehm gedimmt, um alkoholisierte Gehirne nicht mit hellem Licht zu irritieren und eine angenehme Atmosphäre für Annäherungsversuche zu schaffen. Eine kleine, recht mittige Fläche war frei von Stühlen und Tischen, weil ja doch immer ein paar Leute das Bedürfnis hatten zu tanzen. Ab und an schmiss ich mich da selbst gern mit hinein. Bisher war noch nicht viel los, aber wir waren auch verhältnismäßig früh hier. War vermutlich ganz gut so, dann konnte der junge Mann in meinem Schlepptau sich langsam an die Gesellschaft gewöhnen. "Wo willst du sitzen?", fragte ich ihn und drehte mich wieder halb zu ihm um. Was das anging hatte ich kein Problem damit mich ihm erstmal anzupassen. Wenn er lieber in einer Ecke etwas abseits des Party-Epizentrums sitzen wollte, dann konnten wir das gerne so machen. Ich war erstmal froh über den Alkohol, der ganz gleich wo wir uns nun letzten Endes hinsetzten, zeitnah meine Kehle runterfließen konnte. Das Problem an guten Bars war immer, dass ich mich nur schwer für einen bestimmten Cocktail entscheiden konnte. War deswegen nicht selten so, das ich was das anging nur eine Richtung vorgab und mich überraschen ließ. Wie gesagt - gute Überraschungen waren willkommen.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Etwas anderes blieb mir letztlich ja auch gar nicht übrig, oder? Schließlich machte Sammy nicht unbedingt den Eindruck, als würde er sich durch meine Quengelei beeinflussen lassen, nachgeben und mit mir nach Hause zurückkehren. Also nickte ich auf seine sicher nur rhetorische Frage hin leicht mit dem Kopf, holte noch einmal tief Luft und folgte ihm dann ins Innere der Bar. Dort wehte mir schon eine angenehm kühle, aber nicht zu kalte Brise um die Ohren noch bevor ich die Türschwelle überhaupt gänzlich passiert hatte und ich ordnete diese sofort einer für Lokalitäten auf dieser Insel dringend zu empfehlenden Klimaanlage zu. Ich kannte das aus Norwegen noch recht gut - in Cosmas Bar war es trotz eisigen Außentemperaturen manchmal ziemlich warm und stickig geworden, je mehr Leute sich über den Abend verteilt dazu entschieden hatten, der Smith and Wesson einen Besuch abzustatten. Regelmäßiges Lüften war da ein Muss, wie zwischenzeitiges vor die Tür gehen zum Atmen im Übrigen auch. Ich wollte also gar nicht wissen, wie warm es hier auf Kuba in vergleichbaren Lokalen werden würde, wenn sich erst einmal ein paar Menschen versammelt hatten. Vermutlich würde man eher an einem Hitzetod, als an einer Alkoholvergiftung sterben. Unterbewusst gab ich der Bar deshalb wohl schon ein kleines Plus auf der Karte für Sympathiepunkte, auch wenn mich das natürlich noch nicht vollends überzeugt hatte, dass das hier heute kein absolut katastrophaler Abend werden würde. Nachdem wir also im Inneren angelangt waren, ließ ich den Blick erst einmal unruhig schweifen, um mir eine Übersicht der aktuellen Lage zu verschaffen. Noch waren wirklich nicht viele Gäste anwesend und ich erhaschte bereits den ein oder anderen Tisch etwas Abseits des bereits bestehenden Geschehens, den ich auf Sammys Frage hin auch direkt ansteuerte. Kurz nachdem ich mit dem Finger in die entsprechende Richtung gezeigt und ein "Da drüben...", gemurmelt hatte. Ich schob mich also an ein paar jungen Männern vorbei, die auf dem Weg zum angepeilten Zielobjekt lagen und war froh, schon bald am Tisch angekommen endlich wieder atmen zu können. Mein Körper schien sich seit Betreten der Bar wieder angespannt zu haben und sich bis jetzt auch nicht mehr so wirklich entspannen zu wollen. Außerdem hatte ich auf dem Weg zum Tisch unterbewusst die Luft angehalten, nur um sie jetzt leise pfeifend wieder auszustoßen. Vermutlich, um so wenig wie möglich aufzufallen - was ich mir davon jetzt konkret erhoffte, war allerdings unklar. Jedenfalls machte ich drei Kreuze, als ich meinen Hintern auf einer an der Wand montierten Bank parken und mich kurz darauf schon hinter der Getränkekarte verstecken konnte. Ich ging jetzt einfach mal davon aus, dass es auch mir heute erlaubt sein würde, ein oder zwei Cocktails, ein Bier oder Wein zu trinken, weil ich sonst sehr wahrscheinlich wirklich die erstbeste Chance ergreifen würde, zu türmen. Etwa wenn Sammy kurz zur Toilette musste oder sich Drinks direkt an der Bar und nicht von einem der Kellner ordern würde. Es war für mich nur ziemlich schwierig, etwas auf der Karte zu entziffern, denn die war - welch Überraschung -, natürlich auf spanisch. Es brauchte mich in meinem angespannten Zustand bestimmt an die zwei Minuten, bis ich realisierte, dass mir keines der Bezeichnungen auch nur irgendwas sagte und die Beschreibungen nur wenig Erklärung lieferten, weil ich sie ganz einfach nicht verstand. Ich seufzte also erneut ziemlich resigniert und ließ das laminierte Kärtchen auf den Tisch fallen. "Ich glaube... ich nehme einfach ein Wasser.", gab ich mich geschlagen, ohne von der Hilfe des mehr oder weniger Kubaners und seinen Sprachkenntnissen Gebrauch zu machen. Ehrlich gesagt verdrängte ich in dem Moment aber auch, dass Samuele der spanischen Sprache mächtig war, weil wir uns natürlich immer auf Englisch unterhielten. Sicher käme ich damit gerade bei der jüngeren Generation auch schon wirklich weit, aber darauf wetten, dass mich hier jemand verstand, würde ich auch nicht. Ich hatte seit meiner Ankunft auf Kuba - wie Sam schon treffend formuliert hatte - noch nicht wirklich viel von der Stadt gesehen, konnte deshalb überhaupt nicht beurteilen, wie offen und was für eine Art von Menschen die Einheimischen allgemein waren. All das würde ich wohl nachholen, wenn ich den heutigen Abend tatsächlich überleben würde, was ich zum aktuellen Zeitpunkt jedoch bezweifelte. Ich fühlte mich jetzt schon alles andere als wohl und das, obwohl noch nicht besonders viele Menschen in der Bar waren, die mich optisch wohl durchaus angesprochen hätte, wenn ich nicht gerade kurz vor einem milden Herzinfarkt durch Überforderung stehen würde.
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Es dauerte nicht lange, bis der junge Mann sich für einen in seinen Augen guten Sitzplatz entschieden hatte. Ich nickte schwach und folgte ihm dann kurzum zu jenem Tisch, ließ mich dort mit ein klein wenig Abstand zu Richard auf die Bank an der Wand fallen. Einfach deswegen, weil ich gerne zumindest ein bisschen was von der Gesellschaft sehen wollte, wenn ich schon mal hier war, und das so am einfachsten ging ohne den Kopf langfristig unangenehm verdrehen zu müssen. Dennoch war ich bedacht darauf ein bisschen Platz zwischen uns beiden zu lassen, weil der Engländer neben mir doch insgesamt sehr angespannt und aufgewühlt wirkte. Zwar kannte er mich gut, aber er sah wirklich so aus, als bräuchte er gerade etwas mehr Platz und das allein schon, um irgendwie halbwegs normal atmen zu können. Also einfach ein bisschen Abstand halten in der Hoffnung, dass er sich nach ein paar Minuten halbwegs akklimatisiert hatte. Vorerst versteckte er sich aber viel mehr hinter der Getränkekarte und versuchte sie zu lesen. Im ersten Moment dachte ich selbst auch gar nicht daran, dass die wie vermutlich fast überall in Kuba auf Spanisch war, weil ich mir die Karte nur noch selten ansah. Das hier war eher keine dem Tourismus schon richtig bekannte Bar, da war eine zusätzliche Spalte in Englisch an den meisten Tagen ganz einfach nicht notwendig und sollte das ja mal zu einem Problem führen, dann sprach auch der Barkeeper zumindest mehr als nur Bruchstücke Englisch. Ich selbst hatte es mit der Kenntnis von drei verschiedenen Sprachen hier nie schwer, obwohl ich nur selten Gelegenheiten dazu fand mal Italienisch zu sprechen. Außer mit Sabin, wenn wir uns am Telefon oder in der Bar unterhielten, weil Richard da ja nicht mit von der Partie war und dementsprechend auch kein Englisch notwendig war. Das war so einer der ganz wenigen positiven Aspekte am Kontakt mit dem älteren Italiener. Nach einer kleinen Weile hatte der Dunkelhaarige neben mir die Karte aber noch immer nicht weggelegt und so wendete ich doch den Blick von den wenigen Anwesenden ab, um stattdessen zu ihm zu sehen. Nur kurz musterte ich sein Gesicht, dann fiel mein Blick auf die Getränkekarte und just in diesem Moment legte er sie mit einem wenig begeisterten Seufzen weg. Sagte mir, dass er ein Wasser nehmen würde und klang dabei aber nicht so, als würde er auch wirklich nur ein Wasser wollen. Ich begann unweigerlich wieder zu lächeln und suchte nach Richards Blick. "Klingt aber nicht so, als würdest du wirklich eins wollen.", fasste ich meinen vorherigen Gedanken für ihn in Worte, klang dabei vollkommen ruhig und entspannt. Einfach deshalb, weil das mein Gemütszustand war - daran änderte auch seine nach wie vor ziemlich pessimistische Einstellung dem Abend gegenüber nichts. Oder zumindest noch nicht. Ob sich das im Verlauf ändern würde, wenn er wirklich durchgehend so ein Gesicht machte, blieb wohl abzuwarten. "Ich kann dir die Karte auch übersetzen, wenn du sie nicht verstehst... oder du sagst mir, was du in etwa willst und ich such was Passendes raus.", machte ich ihm mit einem schwachen Schulterzucken zwei Vorschläge zur Lösung dieses offenbar vorhandenen Problems. Zumindest konnte ich für meinen Teil mir seine Reaktion nicht anders als durch die Sprachbarriere erklären. Wobei es vielleicht auch an dieser Stelle seiner mangelnden Motivation zuzuschreiben sein könnte. Er einfach keine Lust hatte sich darüber Gedanken zu machen, was er am ehesten trinken wollte oder er einfach aufgrund seiner negativen Einstellung nichts fand, was ihm auch nur irgendwie in den Kram passte. Vorerst legte ich meine Arme locker nach vorne auf dem Tisch ab und legte die Hände ineinander.
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Er konnte mir die Karte übersetzen, schon klar, aber wollte ich das denn überhaupt? War es wirklich sinnvoll, zu versuchen, sich mit Alkohol den Abend ein Stück weit erträglicher zu trinken? Wenn es nach meinem Herzen ging, dann ja. In jedem Fall. Ich wollte damit einfach gerne das unangenehme Gefühl in meiner Magengegend loswerden und wieder richtig durchatmen können. Mein Kopf sagte mir jedoch, dass es einmal angefangen nicht bei nur einem Drink bleiben würde und mich beschlich das ungute Gefühl, dass das den Weg für einen sehr viel katastrophaleren Ausgang des Abends ebnen würde. Ich schüttelte also schwach den Kopf und schob die Getränkekarte zum Unterstreichen der nachfolgenden Worte noch etwas weiter von mir weg. "Danke... ich komm' vielleicht darauf zurück, aber im Augenblick... würde ich tatsächlich gerne nur ein Wasser haben.", antwortete ich verhältnismäßig ruhig, ohne des Blick des jungen Mannes neben mir zu erwidern. Stattdessen sah ich runter auf meine Hände, die ich über der Karte ineinandergelegt hatte. Normalerweise würde ich zu einem guten Whiskey oder einem Rum nicht nein sagen und ja, es wäre wohl gelogen, zu behaupten, dass ich gerade absolut keine Lust auf ein alkoholisches Getränk hatte, wo es doch augenscheinlich nur ein Wort dafür brauchte, aber es war meiner Meinung nach das Beste. Man musste das Schicksal ja nicht herausfordern und ein Unheil provozieren. Es dauerte dann insgesamt auch nicht mehr lange, bis einer der Barkeeper zu uns an den Tisch kam und sich kurz mit Sam auf Spanisch unterhielt. Ich schaltete in der Zeit geistig wohl einfach etwas ab und ließ den Blick gedankenverloren durch die Bar gleiten, bis die Frage an mich gerichtet wurde, was ich denn gerne trinken wollen würde. Ich gab mein Wasser als Bestellung auf und erntete dafür sogleich einen etwas irritierten Blick. Vermutlich kam es nicht besonders oft vor, dass ein Gast etwas Wasser bestellte, noch bevor er etwas Alkoholisches zu sich genommen hatte, aber da ich noch während ich sprach wieder auf die Karte stierte, zog der junge Bursche in adretter Kleidung ab, noch bevor ich den Blick hatte auffangen können. Besagtes Glas Wasser und der Cocktail des Italieners an meiner Seite wurde uns schon kurze Zeit später an den Tisch geliefert und von da an schien sich auch das Innere der Bar langsam aber stetig zu füllen. Es zogen sicher anderthalb bis zwei Stunden ins Land, in denen Samuele immer mal wieder versuchte, meine Stimmung etwas anzuheben, bis besagter junger Mann irgendwann aufstand und in Richtung der Toiletten verschwand. Ich konnte es mir natürlich auch eingebildet haben, vermutete aber, dass er sich einfach nur deshalb etwas zurückziehen wollte, weil meine miese Laune nun doch langsam abfärbte. Grundsätzlich war der Abgang also schon nachvollziehbar, wenn er gerne weiterhin etwas Spaß haben wollte, aber trotzdem verfluchte ich ihn dafür, mich inmitten von wirklich vielen, absolut fremden Menschen einfach alleine zu lassen. Es war inzwischen nämlich mächtig voll geworden - so voll, dass die Sicht auf die Türen zur Toilette komplett blockiert war und man von der Bar insgesamt auch nur noch den Schopf des hochgewachsenen Barkeepers erhaschen konnte. Ich war zwar nach wie vor nicht besonders begeistert davon, den Abend und vermutlich auch noch einen Teil der Nacht hier in der Bar zu verbringen, war seit der Ankunft aber doch merklich ruhiger geworden. Grund dafür war zum einen Samueles Nähe und zum anderen die Unterhaltung mit ihm gewesen. Dieser Fortschritt verpuffte jedoch schlagartig wieder, als besagter junger Mann nach zehn Minuten noch immer nicht an den Tisch zurückgekehrt war. Automatisch begann ich, auf dem Polster der Sitzbank hin und her zu rutschen, bis ich es nach insgesamt zwanzig Minuten dann nicht mehr aushielt und aufstand. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ebenfalls die Toiletten aufzusuchen, um zu schauen, ob es Sam gutging oder ihm etwas zugestoßen war, aber dieses Vorhaben löste sich spontan in Luft auf, als ich vor einer scheinbar undurchdringbaren Wand aus tanzenden Menschen stand. Normalerweise wäre es für mich kein Problem gewesen mich an diesen einfach vorbeizuschieben, um mein Ziel zu erreichen, aber jetzt ließ es mich verkrampft innehalten. Ich versuchte von der kleinen safe zone rund um den Tisch aus, über die Köpfe der Menschen hinwegzusehen, merkte aber schnell, dass mich das leider kein Bisschen weiterbringen würde. Also biss ich irgendwann die Zähne zusammen, als die Sorge um Samuele größer wurde und meine Angst vor Eindringlingen in meiner Komfortzone damit in den Schatten rückte. Mit gesenktem Haupt trat ich also in die Menge und wurde prompt von ein paar Menschen um mich herum angestoßen. Automatisch verkrampfte ich mich also wieder und sah dadurch aus, als würde ich über heiße Kohlen laufen, als ich den vermeintlich richtigen Weg in Richtung Sanitärräume einschlug. Raus kam ich am anderen Ende der Bad jedoch nicht vor den Toiletten, so wie ich das ursprünglich geplant hatte, sondern nahe der Bar, wo ich den Typen von vorhin wiedererkannte, der sich bei Sam und mir nach einem Feuer erkundigt hatte. Ich atmete hörbar aus und flüchtete mich förmlich zu ihm an den Tresen, weil es im vorderen Bereich des Lokals leider keinen Spot gab, an dem ich mich in Sicherheit wissen konnte. Und da ich den Mann, der sich schätzungsweise in meinem Alter bewegte, zumindest schon einmal gesehen hatte, war mir seine Gesellschaft gleich um ein Vielfaches lieber, als die der umstehenden Gäste. Paolo - den Namen hatte ich im Gespräch zwischen meiner Begleitung und ihm vorhin aufgeschnappt -, erkannte mich ebenfalls wieder und kam zu mir, als er ein offensichtlich schwules Pärchen zu Ende bedient hatte. Er richtete ein paar spanische Worte an mich, wechselte dann aber freundlicherweise zu Englisch über, als ich ihm unsicher auf jener Sprache beichtete, dass ich mich leider nicht zu den Einheimischen zählen konnte. Anschließend bot er mir etwas zu Trinken an und unter der Prämisse, dass ich mich gerade wirklich alleingelassen fühlte, schien mir ein wenig Nervengift eigentlich gar nicht mehr so verkehrt zu sein. Ich würde es auch ganz sicher bei einem einzigen Drink belassen, hoffte ich doch wirklich inständig darauf, dass Sam bald wieder zurückkehren würde. Aber wäre es dann nicht eigentlich sinnvoller gewesen einfach am Platz sitzen zu bleiben? Was wäre, wenn er just in diesem Augenblick wieder an den Tisch kam und ich plötzlich nicht mehr da war? Im Nachhinein war es wohl in vielerlei Hinsicht keine gute Idee gewesen, mich durch die Masse zu kämpfen, nur um an der Bar schließlich zu stranden, aber ich bezweifelte wirklich stark, dass ich an den Tisch zurückfinden würde. Und selbst wenn, standen die Chancen schlecht, dass dieser noch frei war und sich nicht jemand einfach dorthin gesetzt hatte, wo Platz zum Sitzen im Augenblick doch relativ rar gesät war.
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Gut, dann eben erst einmal ein Wasser für den werten Herrn. War mir auch recht, ich würde ihn hier nicht auf Biegen und Brechen zu irgendwas Anderem überreden. Es dauerte wie gewohnt zu dieser Stunde nicht wirklich lange, bis wir dann auch zu unseren Getränken kamen und anstoßen konnten, was mit einem Wasser doch verhältnismäßig merkwürdig war. Davon ließ ich für meinen Teil mich jedoch nicht irritieren und versuchte auch daraufhin noch wirklich lange, das beste aus der Situation zu machen. Versuchte mich wirklich nicht vom Pessimismus des Engländers anstecken zu lassen, während er doch zumindest ein kleines bisschen entspannter wurde. Viel mehr aber halt leider auch nicht. Nicht mehr jede Sekunde knapp vorm Hyperventilieren zu stehen war einfach nicht genug, um sowas wie Partystimmung aufkommen zu lassen. Vielleicht war das egoistisch und womöglich erhoffte ich mir von diesem Abend ganz allgemein einfach viel zu viel. Aber nur, weil Richard sich daran gewöhnt hatte wie im Käfig eingesperrt zu leben, musste das nicht auch für mich gelten. Ich hatte kein Drogenproblem und musste trotzdem mit unter diesem ganzen Mist leiden, obwohl ich mich nie dazu bereit erklärt und auch so gar nichts mit der Sache zu tun hatte. Seine Laune wollte sich einfach nicht bessern und so stand ich schließlich mit einem hörbar genervten Seufzen und einem leichten Augenrollen auf, um mich zumindest mal für ein paar Minuten aus seiner negativen Aura zu flüchten. Eigentlich wirklich nur mit der Intention dabei auch meine Blase zu entleeren, weil ich schon den zweiten Cocktail beinahe leer hatte. Der kleine Rest, der noch für mich bestimmt in jenem Glas vor sich hin schwamm und weiterhin auf dem Tisch bei Richard herumstand, geriet allerdings sehr schnell in Vergessenheit, als ich ein mir sehr bekanntes Gesicht antraf. Ich wollte die Toiletten nach einem langen Blick in den Spiegel über einem der Waschbecken gerade wieder verlassen, als ich im Türrahmen beinahe mit Javier zusammenstieß. Er war oft hier in der Bar - hauptsächlich deswegen, weil sich Drogen an unterdrückte Nicht-Heteros sehr viel leichter verkaufen ließen und er hier mehr Anklang fand. Ich bediente mich wirklich nur noch selten Mal an einer seiner Pillen, weil ich einfach nicht mehr das Gefühl hatte das zum Feiern und locker werden noch zu brauchen. Ich hatte mich längst selbst gefunden, brauchte diese Unterstützung nicht mehr. Aber ich unterhielt mich dennoch sicher an die zehn Minuten mit ihm und er war wirklich ein kleines Verkaufsgenie. Merkte natürlich, dass meine Laune hier drin schon deutlich besser gewesen war und irgendwo der Schuh drückte. Außerdem kannte ich seinen Stoff eben auch gut, konnte Dosierung und Wirkung wirklich einschätzen und stürzte mich somit nicht komplett ins Blaue, als ich ihm eine der Ecstasy Pillen abnahm. Schlucken tat ich aber nur eine halbe, allein schon des Alkohols wegen. Danach geriet der Engländer, der sicher immer noch auf mich wartete, ziemlich bald in Vergessenheit. Javier war einfach die weit angenehmere Form der Unterhaltung und er brachte meine abgesackten Mundwinkel schon wieder nach oben, bevor die Wirkung der geschluckten Droge sich nach etwa einer halben Stunde anzukündigen begann. Ich war mit dem jungen Kubaner nach draußen gegangen, weil er Eine hatte rauchen wollen und fühlte mich wie so oft im ersten Augenblick noch etwas komisch. Gerade nach längerer Abstinenz zeigte sich das kurze, flaue Anfangsgefühl wieder stärker. Jenes verflüchtigte sich aber fast ebenso schnell, wie es gekommen war und ließ einen herrlich gut gelaunten Samuele zurück. Ich knüpfte schon nüchtern immer gerne neue Kontakte, war einfach ein offener Mensch, aber auf MDMA erreichte ich was das anging immer ein ganz neues Level. Wäre am liebsten sofort Jedermanns bester Freund und sprach fast wahllos fremde Leute an - bevorzugt aber doch immer welche, die mir optisch gut gefielen. War wohl einfach so im Hirn verankert. So oder so trieb ich mich in den noch folgenden zwei Stunden weiß Gott wo überall rum. Stand mal draußen vor der Bar und ließ mich zum Rauchen überreden, dann wieder schmiss ich mich im herrlich belebenden Klang der Musik in die tanzende Menge, ein paar Minuten später ließ ich mich von der nächsten neuen Bekanntschaft schon wieder nach draußen verschleppen. Nippte mal hier und mal da an Getränken, die meinen Körper nur zusätzlich noch mehr belasteten. Das würde ich aber erst morgen irgendwann merken, wenn der Kater klingelte. Bis dahin hieß es mich einfach auszutoben und Spaß zu haben. Irgendwo in der Zwischenzeit die zweite Hälfte der Pille in einem Zungenkuss an eine europäische Touristin loszuwerden, die wirklich ein Hingucker war. Trotzdem würde ich sie bei dem unkontrollierten Mischkonsum bis morgen sicher wieder vergessen haben. Daran änderten auch die paar Minuten an Küssen nichts, in denen ich letztlich von Javier wieder unterbrochen wurde. Während die Blondine noch mit dem Arm an meinem Hals hing, verkündete er mir ganz stolz für heute alles losgeworden und nun selbst auch auf den Trip eingestiegen zu sein. Das musste natürlich gebührend gefeiert werden, weshalb wir uns mit dem Blondchen im Gepäck eine kleine Weile ziemlich angeregt auf der Tanzfläche vergnügten. Jedoch förderte das ungemein meinen sowieso konsequent vorhandenen Durst und so schleppten wir uns verschwitzt an die Bar. Ich lehnte mich nur kurz an die Theke, während wir auf unsere Getränke warteten und sah so ziemlich am anderen Ende dann Richard sitzen. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, das ich eigentlich gar nicht allein hier war und sowas wie einen Job vernachlässigt hatte. Allerdings ließ ich mich auch davon nicht wirklich beirren, weil der Engländer mich nicht zu sehen schien. Ich trank die Hälfte der Cola - ja, Koffein auch noch mit rein, konnte ja auf keinen Fall schaden... - aus und ließ den Rest dann mit einer kurzen Verabschiedung bei Javier und der Europäerin zurück. Ersterer wirkte im ersten Moment zwar verwirrt, aber lang hielt das bestimmt nicht an, weil er hier ohnehin bekannt war wie ein bunter Hund und absolut keine Probleme mit dem allein sein kriegen würde. Außerdem hatte die junge Frau auch kein Problem damit sich ihm genauso an den Hals zu schmeißen wie mir vorher. Ich schlängelte mich ein Stück weit zurück in die Menge, nur um möglichst unbemerkt von hinten an Richard herantreten zu können. Das Grinsen auf meinen Lippen hätte kaum breiter sein können, als ich ziemlich dicht leicht seitlich links hinter ihm zum Stehen kam. Meine rechte Hand nach ihm ausstreckte und sie ziemlich beiläufig an seinem Rücken unter den Stoff des Hemds schob, als wäre das sowas wie normal für uns beide. Mein aufgeputschtes Hirn machte da gerade keine Unterschiede und wollte auch gern zu Richard mehr Nähe als üblich aufbauen. Ich näherte mich sehr zielstrebig mit den Lippen seinem Ohr. "Na, Herr Professor... krieg ich jetzt eine Nachhilfestunde?", raunte ich ihm ein paar verschmitzte Worte sehr nah an die Ohrmuschel. Nicht, als würde ich wirklich Nachhilfe brauchen, hatte ich mich doch innerhalb meines ersten Jahres auf der kubanischen Insel mit weiß Gott wem alles im Bett rumgetrieben. Aber Rollenspiele waren einfach eine nette Abwechslung und ich würde mir auch ganz bestimmt Mühe für eine gute Note geben.
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Eingangs hatte ich lediglich mit der Hüfte gegen den Tresen gelehnt dagestanden und an meinem Getränk genippt, weil ich insgeheim doch irgendwie gehofft hatte, Sam an der Bar über den Weg zu laufen. Selbst wenn er sich willentlich von mir abgekapselt hatte, würde ich ihn auf kurz oder lang ziemlich sicher hier antreffen - eben dann, wenn der Durst ihn langsam ans Wasserloch trieb. Dies setzte natürlich voraus, dass dem jungen Mann tatsächlich nichts passiert war, was ich zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht ausschließen konnte. Paolo war es, der mir dahingehend die Angst nahm, als er auf meine Frage hin, ob er Samuele gesehen hatte, bestätigte, dass er ihn aus den Toiletten hatte kommen sehen. Daraufhin sah ich erst ihn ein wenig verwundert an, dann aber wanderte mein Blick zu den Türen der Sanitäranlage. Scheinbar machte es einen wirklich großen Unterschied, ob man vor oder hinter dem Tresen stand, denn ich sah nicht mehr, als die Körper einer tanzenden Meute, was mich leise seufzen ließ. Es kränkte mich um ehrlich zu sein ein bisschen, dass meine Begleitung sich offensichtlich einfach aus dem Staub gemacht hatte, ohne mir Bescheid zu geben, aber hatte ich wirklich das Recht, ihm das anzukreiden? Eher nicht. Der Italiener hatte in der letzten Zeit ziemlich viel für mich geopfert - ob nun freiwillig oder nicht spielte dabei keine große Rolle - und ein bisschen Spaß zum Ausgleich sollte ihm ja auch vergönnt sein. Aber konnte er mir das nicht einfach sagen? À la 'Ich würde gerne ein bisschen tanzen oder trinken, wenn was ist findest du mich... wo auch immer.' Musste er mich wirklich einfach zurücklassen, wie zu viel gewordener Ballast? Erneut seufzte ich, aber jetzt, wo ich wusste, dass er scheinbar noch hier und am leben war, konnte ich mich immerhin wieder ein kleines bisschen entspannen. Allerdings würde ich trotzdem nicht zu meinem alten Platz zurückkehren und so bezog ich einen der unweit entfernten Barhocker, um es mir etwas bequemer zu machen. Mein Handy, welches ich seit Neustem wieder ohne große Kontrollen bei mir führen und benutzen durfte, legte ich vor mich neben das Cocktailglas. Für den Fall der Fälle, dass sich Sammy irgendwann im Laufe des Abends dann doch noch einmal dazu entschied, sich bei mir zu melden. Etwa dann, wenn ihm auffiel, dass ich nicht mehr an unserem Platz saß oder er sich Zuhause ins Gedächtnis rief, dass er vorhin nicht alleine diese Bar hier betreten hatte. Jedenfalls wurde aus den paar Minuten schnell ein paar Stunden, in denen ich mich immer mal wieder mit dem Barkeeper unterhielt. Meist nur über irgendetwas Belangloses und das auch nur, wenn ich einen weiteren Drink bestellte. Nach etwas mehr als zwei Stunden hatte ich dann bereits meinen dritten Drink vernichtet und so langsam stieg mir der Alkohol auch etwas zu Kopf. Ich merkte, wie ich im Verhältnis zur Ankunft in der Bar deutlich lockerer wurde. Reden tat ich trotzdem nicht viel, sondern verbrachte die meiste Zeit damit, die laute Musik auszublenden und meine Gedanken beisammen zu halten. Denn wie ich bereits geahnt hatte, schweiften die zunehmend in eine sehr gefährliche Richtung ab, je mehr Promille ich intus hatte. Der ausschlaggebende Grund dafür war wohl der hier kaum geahndete Drogenkonsum, der sich nur dann übersehen ließ, wenn man beidseitig erblindet war. Und je länger ich meine Mitmenschen dabei beobachtete, wie sie sich Pillen einschmissen oder hinter dem Tresen ein paar Lines zogen, desto unruhiger wurde ich. Verspürte plötzlich doch wieder den Drang, mich dem ebenfalls hingeben zu müssen und wäre mir nicht irgendwann das Herz vor Schreck in die Hose gerutscht, hätte der Abend wie erwartet ein wirklich böses Ende genommen. Bevor ich jedoch dazu kam, mich einer der Gruppen anzuschließen, die ziemlich fleißig irgendwelches Zeugs konsumierten - machten wir uns nichts vor, ab einem gewissen Grad war es Junkies teilweise wirklich egal, wem sie welche Drogen für Umme zusteckten, ich hätte also noch nicht einmal etwas für den Stoff zahlen müssen -, schlich sich ein Mann an mich heran, den ich für jeden erdenklichen Typen gehalten hätte, aber ganz bestimmt nicht für Samuele. Ich verkrampfte mich schlagartig wieder, als ich eine Hand an meinem Rücken spürte, die sich zu allem Überfluss auch noch unter den Stoff meines Hemdes schob. Dort dann über meine Haut und damit verbunden über einige meiner - psychischen, wie auch physischen - Narben strich. Es war trotz der Klimaanlage noch recht warm hier drin und dennoch lief mir ein eiskalter Schauer den Rücken runter. Für den Bruchteil einer Sekunde vermochte ich mich nicht zu bewegen, bis der Italiener mir auch noch ein paar sehr eindeutige Worte ans Ohr raunte, bei denen mir schließlich die Sicherungen durchbrannten. Ich sprang wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl, um mich zu dem Mann umzudrehen, der es wagte, mir ohne meine Erlaubnis derart nahe zu kommen, während ich jenen in der gleichen Bewegung mit den Armen von mir stieß. Sammy stolperte daraufhin einen Schritt rückwärts und rammte damit einen hinter ihm tanzenden Gast, der ihn daraufhin entrüstet anpöbelte. In der Zwischenzeit realisierte ich dann auch, dass es Sams Hand gewesen sein musste, weil er als einziger nah genug bei mir gestanden hatte. Der Rest der Anwesenden hatte mich aufgrund meines zurückhaltenden Auftretens nämlich in Ruhe gelassen und war mir aus dem Weg gegangen. Nicht zuletzt auch auf Bitte des Barkeepers hin. Mir stand die Empörung, aber auch die Angst buchstäblich ins Gesicht geschrieben, als ich meine Begleitung fassungslos ansah. "Sam! Verdammt, was soll das...?!", fragte ich entsetzt und mit nur brüchiger Stimme, weil durch die Berührung meiner Narben auf dem Rücken gerade Bilder vor meinem inneren Auge aufblitzen, die ich in den letzten Tagen eigentlich recht erfolgreich in einer Box unter dem Bett meines Unterbewusstseins geschoben hatte. Ich hatte sie erfolgreich verdrängt und plötzlich waren sie wieder da - hervorgerufen ausgerechnet von dem Mann, der mir dabei geholfen hatte, über sie hinwegzukommen. Dass ich auf seine Frage, die er mir süffisant ins Ohr geraunt hatte, nicht antwortete war wohl selbstredend, hatte ich aktuell definitiv kein Interesse daran, ihm Nachhilfestunden zu geben. Stattdessen fragte ich mich viel eher, was plötzlich in ihn gefahren war, dass er es für eine gute Idee hielt, sich derart an mich heranzuschmeißen. Hatte er zu tief ins Glas geschaut? Oder fing ich vielleicht plötzlich an, den Alkohol nicht mehr zu vertragen und halluzinierte? Irgendwas stimmte hier jedenfalls ganz und gar nicht.
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Hatte ich eigentlich eine Chance auf einen anderen Ausgang als diesen hier gehabt? Würde ich die ganze Sache nüchtern betrachten vermutlich nicht. Weil ich aber von nüchtern gerade sehr weit entfernt war und ungefähr gar nichts mehr rational sah, hatte ich mir wohl tatsächlich Hoffnung auf zumindest einen kleinen Flirt gemacht. War schon ein bisschen fies, wenn man nichts als ein bisschen Wärme und Liebe verschenken wollte, der oder die Auserwählte aber nichts davon haben wollte - in diesem Fall dann der verklemmte Engländer, der mich nun eigentlich wirklich lange genug kannte, um zu wissen, dass ich nicht mal einer Fliege was zu leide tun konnte. Ich versuchte noch eher sie aus dem Fenster zu scheuchen, als sie an der Scheibe zu zerklatschen. Machte aber in meinen Augen auch einfach wirklich hässliche Flecken. Da verschonte ich lieber das Insektenleben und ersparte mir im selben Zug die aufwendige Wischerei. Aber wie auch immer - erstmal musste ich mich jetzt mit einem mir fremden Bargast auseinandersetzen, der unweigerlich unsanft mit mir in Berührung kam, als Richard mich von sich wegstieß. Entweder war er ein engstirniger Hetero, der sich durch meine Avancen hier irgendwie in seiner Männlichkeit beirrt fühlte, oder... er war vielleicht einfach nur sauer, weil sein weißes Shirt jetzt Flecken hatte, die womöglich nicht mehr rausgingen. Ich fühlte mich kurzzeitig beinahe wie in der Luft zerrissen, fauchte jener mich von der einen und Richard gleichzeitig von der anderen Seite an. Ich zog einen Moment lang überfordert die Augenbrauen hoch, weil doch beide Stimmen in meinem Hirn gerade noch wesentlich angepisster klangen, als das im nüchternen Zustand der Fall gewesen wäre. Ich nahm einfach ausnahmslos alles deutlich intensiver war als gewöhnlich, leider nicht nur die positiven Dinge. Deshalb wollte ich der Pattsituation gerne entrinnen und wandte mich zuerst kurz dem verärgerten Weißshirt zu. Entschuldigte mich überschwänglich und versicherte ihm seinen neuen Drink zu zahlen, wenn er sich noch einen holen wollte. Das schien seinen Zorn auf mich zumindest zu mildern und er grummelte nur noch kurzzeitig irgendwas vor sich hin, das ich nicht verstand. Und es interessierte mich auch eigentlich nicht, lag das einst angepeilte Objekt der Begierde doch in anderer Richtung. Also wandte ich mich wieder voll und ganz Richard zu, biss mir grinsend auf die Unterlippe und fühlte mich selbst nach dieser sehr eindeutigen, ja sogar richtig anschuldigenden Abfuhr noch nicht in meinem Spiel schachmatt gesetzt. Er wäre schließlich nicht der erste, der sich zuerst noch ein bisschen schüchtern geziert und sich dann ja doch noch auf mich eingelassen hatte. Nur war sein Fall mit sämtlichen anderen zuvor realistisch betrachtet absolut nicht vergleichbar, woran ich wiederum nicht im entferntesten dachte. Ich hatte wirklich keine anderen Absichten, als ihm ein bisschen was Gutes zu tun. Ihm ein gutes Gefühl zu geben. Musste sich dabei ja gar nicht um Sex oder Ähnliches handeln - auch, wenn sich das angesichts der Wohnsituation natürlich angeboten hätte, aber gut -, ein paar Küsse würden mir auch reichen. Von mir aus auch nur ein bisschen Flirterei, ich machte das gerne. Genoss das ganze Drumherum am Ende genauso sehr wie den eigentlichen Akt, weil sowas auf hohem Niveau einfach unsagbar reizvoll sein und eine elektrisierende Atmosphäre schaffen konnte. Während Paolo hinter der Bar eine Augenbraue hochzog und nicht zum ersten Mal hier drin über so manche meiner Taten den Kopf schüttelte, machte ich wieder einen Schritt auf den Dunkelhaarigen mit der Brandnarbe im Gesicht zu. Ich kam ihm nicht so nah wie vorher, aber da war trotzdem weniger als ein halber Meter Platz zwischen uns. "Ach Richard... du weißt doch, dass ich dir nichts tue... ich meine, ich kann nicht mal 'ner Fliege was zu leide tun. Ich will einfach nur...", ich streckte wieder die Hände nach ihm aus. Legte sie dieses Mal aber nur sehr locker um seine Unterarme mit dem Ziel, meine Finger bis zu seinen Händen nach unten rutschen zu lassen. "...dass du dich mal wieder gut fühlst. Und ich kann dir dabei helfen.", wollte ich ihm mit einem angetanen Seufzen am Ende und nur mehr lächelnd vermitteln, dass ich nun wirklich nichts Böses im Schilde führte. Lebte weiter in meiner kleinen, aber feinen Parallelwelt, die vielleicht nichts mit Halluzinationen, aber mit geweiteten Pupillen und ziemlich verschobener Wahrnehmung zu tun hatte. Vielleicht hatte ich auch einfach nur ein ungutes Helfersyndrom, dass unter Drogen gerne mehr Mitspracherechte haben wollte. War am Ende auch egal. Fakt war, dass er in mir einen wirklich guten Therapeuten hätte. Ich konnte in absolut jeglicher Hinsicht einfühlsam und rücksichtsvoll sein, passte mich auf Wunsch gerne meinem Partner an. Im Moment scheiterte das Ganze aber wohl allein schon daran, dass ich mich nicht davon beirren lassen wollte, dass mein urplötzlicher Flirtversuch aus dem Nichts Richard offenbar an sich schon zu viel war.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Wäre ich vor Schock nicht förmlich an Ort und Stelle festgewachsen, dann hätte ich die Gunst der Stunde sicher genutzt, um Reißaus zu nehmen. Sammy war nämlich für einige Augenblicke ausreichend damit beschäftigt, die Konsequenzen seines Anrempelns einer anderen Person zu tragen, sodass es vermutlich gar nicht aufgefallen wäre, wenn ich mit ein paar Schritten in der Menschenmenge verschwunden wäre und mir den Weg nach draußen gebahnt hätte. Allerdings konnte ich mich gerade genau gar nicht bewegen und sah demnach tatenlos zu, wie der Italiener den verärgerten Gast zu beschwichtigen versuchte, nur um sich mir kurz darauf erneut anzubiedern. Als wäre ich gerade nicht deutlich genug damit gewesen, ihn unsanft von mir wegzustoßen, um eine gewisse Distanz zwischen uns zu wahren. Dass es nicht gerade förderlich für meine Laune, meinen Gemütszustand im Allgemeinen war, als er mir erneut zu nahe kam, obwohl ich ihm deutlich aufgezeigt hatte, dass ich das nicht wollte, war unnötig zu erwähnen, oder? Und so wurde ich nun auch Samuele gegenüber panisch, nur ließ sich aus meiner aktuellen Position kein Schritt mehr nach hinten machen. Ich stieß mit dem Rücken bei dem Versuch nur unsanft gegen die Kante vom Tresen, was mich normalerweise vermutlich leise hätte fluchen lassen. Aber im Augenblick war ich noch nicht einmal dazu fähig, verstand ich einfach nicht, was in den jungen Mann gefahren war, der noch vor wenigen Stunden so verständnisvoll und fürsorglich gewesen war. Mir den nötigen Platz einräumte, den ich aktuell noch immer zu brauchen schien und als Sam vor mir schließlich zum Stehen kam, weil ich ihm nicht mehr ausweichen konnte, dämmerte mir langsam, was es mit dem plötzlichen Sinneswechsel auf sich hatte. Intuitiv hatte ich erst einmal daran gedacht, dass es eventuell so etwas wie ein Test war. Er hatte ja selbst noch behauptet, dass Sabin ihm aufgetragen hatte, mich auf Herz und Nieren zu testen. Wenn man mich fragte, dann gehörte dazu auch der Umgang mit Situationen wie diesen hier. Gut, vielleicht musste ich mich im Alltag nicht mit besonders vielen Schwulen herumschlagen, die sich mir aufdrängen wollten, aber es ging da vermutlich mehr um die Reaktion auf Stresssituation. Und nichts anderes war Samueles Versuch, mir an die Wäsche zu gehen, für mich. Purer Stress. Und wenn man mich fragte, dann war ich absolut noch nicht wieder bereit dazu, auf die Menschheit losgelassen zu werden, denn ich wünschte mir gerade nichts weiter, als ein schwarzes Loch, welches sich unter mir auftat, um mich in den Abgrund zu saugen, damit ich dieser Situation hier entfliegen konnte. Aber zurück zu meiner Vermutung. Ich hatte im Gesicht des überschwänglich gut gelaunten Italieners nach Anzeichen dafür gesucht, dass er mich einfach nur auf den Arm nehmen wollte. Sich einen geschmacklosen Witz auf meine Kosten erlaubte, weil Sabin ihm das aufgetragen hatte. Anzeichen für einen Scherz fand ich zwar nicht, dafür aber etwas anderes, sehr Aufschlussreiches. Natürlicherweise waren die Pupillen eines Menschen in der Dunkelheit oder bei gedimmten Licht - wie hier in der Bar - geweitet, was so ziemliches jedes kleine Kind wusste, das in der Schule für fünf Minuten aufgepasst hatte. Allerdings sah man immer noch ein gutes Stück der Iris, was bei dem Konsum von Drogen wie etwa MDMA, LDS oder Kokain nicht mehr der Fall war. Und als diese Erkenntnis Licht ins Dunkeln brachte, wäre ich glatt ein weiteres Mal fast vom Glauben abgefallen. Es war schon mehr als nur ironisch, dass sich ausgerechnet der Mann mit Drogen die Sinne benebelte, der eigentlich dafür abgestellt worden war, darauf aufzupassen, dass ich genau so etwas eben nicht tat. Sam konnte wohl von Glück reden, dass sich meine Gedanken gerade mal wieder ziemlich überschlugen, denn grundsätzlich hätte ich auch an diesem Punkt die Gunst der Stunde nutzen können. Erst recht, weil ich inzwischen auch nicht mehr wirklich nüchtern war und wie bereits erwähnt ebenfalls überlegt hatte, mir etwas einzuschmeißen. Einzig und allein die Wut auf den Italiener, die sich überschlagenen Gefühle hielten mich davon ab, seinen geistesabwesenden Zustand schamlos auszunutzen. Es verging bestimmt eine ganze Minuten, in denen ich besagten jungen Mann weiterhin absolut entsetzt angestarrt und seine Hände gehalten hatte. Letzteres aber auch nur deshalb, weil mein Hirn noch nicht den notwendigen Befehl durch meine Nervenbahnen geleitet hatte, mich die Hände wütend wegschlagen zu lassen. "Spinnst du?", fauchte ich Sam nach einer schier unendlich langen Zeit mit dünner Stimme an und ballte die Hände zu Fäusten. "Wie kannst du... ich meine... ich hab... hör'... bitte auf damit.", versuchte ich es ein weiteres Mal und klang dieses Mal hörbar verzweifelt. Ich konnte überhaupt nicht in Worte fassen, wie enttäuscht ich gerade eigentlich war. Auf was für einen Rollercoaster der Gefühle mich der Mann eigentlich gerade schickte. Wie sehr er mein Vertrauen missbraucht hatte und wie schwer es mir fiel, bei all den unschönen Erinnerungen nicht gleich in Tränen auszubrechen. Der Sinn stand mir definitiv danach, aber es war wie damals im Hotel. Agnolo hatte mir schnell gezeigt, dass ich die Kraft, die ich fürs Vergießen von Tränen verschwendete, anderswo besser gebrauchen konnte. Deshalb war ich auch schon sehr bald absolut still gewesen, wenn er zu mir gekommen war und es schien, als würde mein Körper in diesem Augenblick genau so zurückschalten, wie an den deutlich weniger sonnigen Tagen damals in Norwegen. Was eigentlich nichts als stumme Akzeptanz dessen war, was auch immer Sam plötzlich mit mir vorhatte, konnte auf Außenstehende allerdings auch ganz anders wirken. Auch wenn Zustimmung in meinen Augen anders aussah - weniger so, als würde ich gleich Jemanden schlagen wollen, wobei sich die Spannung aus meinen Händen längst gelöst hatte -, konnte man schon meinen, dass es mich reizte, diese Dominanzspielchen mit dem Brünetten zu spielen, auch wenn es das im Augenblick ganz und gar nicht tat. Es mich viel mehr nur daran erinnerte, wie hilflos ich damals gewesen war, als ich gefesselt das traumatisierende Schicksal über mich hatte ergehen lassen müssen. Ich konnte überhaupt nicht beschreiben, was für ein Gefühl das war, als mein Körper zurück in diesen Abwehrmechanismus schaltete, der mich nunmehr nur noch verzweifelt und kein bisschen geschockt mehr aussehen ließ.
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Regelmäßig ein bisschen. Hier und da mal ein wenig zu spinnen war aber auch gar nicht so schlimm, oder? Normalerweise zumindest nicht, war hier und da leicht übertriebene Lebensfreude und Euphorie doch einfach nur angenehm belebend. Da konnte man schon mal des nachts ein paar Dinge anstellen, die man mit Vernunft besser hätte sein lassen. Allerdings war die Art von Spinnerei, die ich Richard gerade antat, wohl von anderer, weniger guter Sorte. Obwohl der junge Mann mich förmlich anfauchte, ließ er mit diesen Worten nur wieder ein leichtes Grinsen auf meinen Lippen auftauchen. "Manchmal.", war auch meine einzige Antwort dazu, die vermutlich eher nur wenig bis gar nicht beruhigend für den Engländer sein dürfte. Er wollte sich eben leider auch immer noch nicht entspannen, wollte sich einfach nicht von mir um den Finger wickeln lassen. Zumindest fielen die Reaktionen auf meine Annäherungsversuche für gewöhnlich ganz anders aus und das war vermutlich auch der einzige Grund dafür, dass ich zu begreifen begann, dass er von dem kleinen Spielchen hier nichts wissen wollte. Dass er so gar kein Interesse an der Anbandelei hatte und er es vermutlich ziemlich ernst meinte, dass ich damit aufhören sollte. Zwar wusste ich von dem Trauma und dass ihn das natürlich auch nicht so bald loslassen würde, aber wenn er mir nicht vertrauen wollte, wem denn dann? Wollte er allein sterben? Vielleicht schon. Hatte das inzwischen womöglich einfach akzeptiert und hatte deshalb auch gar nicht vor, seiner Angst zu entrinnen. Oder er hielt mich einfach nicht für fähig dazu ihm was das anging ein bisschen bei der Therapie zu helfen, obwohl er mich inzwischen eigentlich gut genug kennen müsste. Wissen musste, dass ich in seinem Bekanntenkreis so ziemlich der letzte Mensch war, der einem anderen mutwillig wehtat. Vielleicht stand ihm auch was Gedanken in dieser Richtung anging einfach seine Panik im Weg. Ich seufzte niedergeschlagen und ließ zumindest mit der linken Hand von der seinen ab, weil ich den Drink des Idioten bezahlen musste, der sich sein Shirt von mir hatte ruinieren lassen. Zog meinen Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche und gab Paolo wie immer, wenn ich entweder betrunken oder anderweitig drauf war, etwas zu viel Trinkgeld. Er scheiterte auch dieses Mal daran, mir etwas davon zurückgeben zu wollen, weil ich mich schnell wieder dem Dunkelhaarigen an meiner anderen Hand zuwendete, kaum war der Geldbeutel zurück an seinem Platz. "Ist schon gut, dann eben nicht.", lächelte ich ihm zu, obwohl ich diese Niederlage eigentlich noch immer nur ungern akzeptieren wollte. Aber wirklich etwas übrig bleiben tat mir nicht. Erstens war ich Niemand, der andere gerne förmlich dazu nötigte mit ins Bett zu hüpfen - war normalerweise auch nicht mal theoretisch notwendig - und zweitens machte das so auch gar keinen Spaß. In meinen Augen musste man schon wirklich ziemlich krank im Schädel sein, um Gefallen daran zu finden, eine andere Person dermaßen auf sexueller Ebene auszubeuten, zu foltern und zu traumatisieren. Ich würde mein ganzes Leben über nicht mehr froh werden, wenn ich mich für solches Leid verantwortlich machen müsste. "Aber lass mich dir wenigstens was anderes Schönes zeigen... zum wieder gutmachen.", bat ich ihn darum, mir trotzdem weiter sein Vertrauen zu schenken. Sein Handgelenk hing nur mehr locker in meiner Hand und ich versuchte meine Finger behutsam mit seinen zu verschränken. Einfach nur als Symbol dafür, dass er mich nicht von sich zu stoßen brauchte und ich ihm wirklich nur gerne hatte ein bisschen helfen wollen. Vielleicht war der Ansatz dazu ein ziemlich falscher gewesen, aber das würde mir vermutlich frühestens morgen klar werden, wenn ich den Rausch hinter mir hatte. Oder eben gar nicht, falls ich mich nur noch wenig bis gar nicht an den Abend erinnern sollte. Ich machte zwei kleine Schritte in Richtung Ausgang, zog dabei aber nicht wirklich an der Hand des Engländers. Blieb sogar noch einmal stehen, um mich ihm erneut halb mit dem Körper zuzuwenden und ihn breit lächelnd anzusehen. "Ich lass meine Hände jetzt auch bei mir, versprochen.", schob ich noch ein kleines Versprechen ein, das unter Drogeneinfluss ganz allgemein etwas schwerer einzuhalten war. Ich war Menschen einfach gerne nahe und das auf jeder Ebene, was sich unter Einsatz von Nervengift und Co gleich noch viel stärker auswirkte. Aber gut, ich würde mich schon am Riemen reißen können. Seine Hand hing noch in meiner und ich wüsste wohl nicht, was ich noch tun sollte, wenn er sie mir jetzt entriss und sagte, dass er mich heute nicht mehr sehen wollte. Konnte ich's dann überhaupt wieder gut machen? Ich hatte ihm ja wirklich nichts Böses gewollt - führte auch jetzt nicht mehr im Schilde, als einen kleinen, vollkommen keuschen Ausflug zu einem meiner Lieblingsplätze in der Stadt. Nur konnte er das nicht wissen, mir nicht in den Kopf sehen. Wenn ich ihn also wirklich sehr erschreckt hatte mit der wenig überdachten Spontan-Aktion, dann... tja, musste sich wohl mein nüchternes Hirn irgendwann später Gedanken darüber machen.
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Wider erwarten schien Samuele meiner Bitte dieses Mal auch tatsächlich nachzukommen, denn er startete keinen erneuten Versuch, mir näher auf die Pelle zu rücken. Schien endlich auch in seinem Rausch begriffen zu haben, dass ich es alles andere als willkommen hieß, wie er mich hier bedrängte. Einengte und eine beinahe verheilte Narbe wieder aufriss, um mit seinem Verhalten Salz in die Wunde zu streuen. Es war nicht so, als hielt ich es für vollkommen ausgeschlossen, jemals wieder ein normales Leben inklusive Sex zu führen und ja, vielleicht hätte ich mich unter ganz anderen Umständen auch auf einen kleinen Flirt mit dem Italiener eingelassen, weil wieso auch nicht? Sammy war jetzt nicht unbedingt das, was ich als hässlich titulieren würde und hatte zudem eine wirklich angenehme Persönlichkeit. Zumindest wenn er nüchtern war. Unter Alkohol- und Drogeneinfluss sah das Ganze dann doch irgendwie anders aus und mein Vertrauen, welches ich in ihn gesetzt hatte, war in seinen Grundfesten erschüttert. Deshalb hatte ich eigentlich auch kein besonders großes Interesse daran, mir von Samuele etwas zeigen zu lassen, auch wenn er mir versicherte, dass ich keine erneuten Berührungen seinerseits zu befürchten hatte. Vom Händchenhalten mal abgesehen, aber das war in meinen Augen noch das geringste übel. Zwar hätte ich seine Hand nach wie vor gerne weggeschlagen - und als er sich Paolo wegen des Drinks für den Idioten zuwandte auch die passende Möglichkeit dazu gehabt -, nur brachte ich es ja doch nicht fertig, mich zu bewegen. Hatte einfach viel zu große Angst vor möglichen Konsequenzen und starrte deshalb nur wortlos auf meine Füße. Sagte auch nichts weiter, in der Hoffnung, dass sich das schwarze Loch doch noch unter mir auftun würde. Selbstverständlich passierte aber nichts dergleichen und so stand ich kurze Zeit später noch immer an den Tresen gepresst und Sams Hand haltend da. Und es war seltsam. Mehr als das, wenn ich ehrlich sein sollte, denn ich hatte so viele Fragen, die allesamt unbeantwortet bleiben würden, weil ich es mich einfach nicht traute, sie auszusprechen. Trotzdem hätte ich wirklich gerne gewusst, was plötzlich in ihn gefahren war. Ob ich wirklich derart unausstehlich war, dass man sich mit Drogen das Leben temporär etwas aufhübschen musste? Und warum hatte er sich unbedingt an mich heranschmeißen wollen? Gab es hier in der Bar nicht unzählige gutaussehende Männer? Musste er ausgerechnet mich schocken, obwohl er wusste, dass ich hinsichtlich dieses Themas äußerst empfindlich reagierte? Ich würde diese dumme Idee seinerseits wirklich gerne auf den Konsum von was auch immer er sich eingeschmissen hatte schieben, aber ich konnte es nicht. Egal, wie sehr ich es versuchte, ihm nicht böse zu sein. Ich war es und das nicht zu knapp. Deshalb setzte ich mich auch nur äußerst zögerlich in Bewegung, als er in Richtung Ausgang aufbrach, weil ich tief im Inneren immer noch panische Angst davor hatte, was er mit mir anstellen würde. Ich wollte gerne glauben, dass ich mir keine Sorgen mehr machen müsste, dass er mich ohne meine Erlaubnis berührte, aber der aktuellen Umstände wegen fiel mir das nicht gerade leicht. Ich folgte Sammy nur widerwillig an der Vielzahl von tanzenden Menschen vorbei zur Eingangstür und als wir die Schwelle passierten, griff ich automatisch an meine Hosentasche, um zu überprüfen, ob das Handy noch da war. Ich hatte es vorhin bei meinem Aufbruch an die Bar eingesteckt, weil ich scheinbar bereits geahnt hatte, dass ich nicht wieder zurückkommen würde und jetzt spielte ich gerade mit dem Gedanken, Sabin möglichst unauffällig kontaktieren zu wollen. Er sollte doch bitte kommen und dem Ganzen hier ein Ende setzen. Sollte sehen, dass es eine absolut beschissene Idee gewesen war, mich mit Samuele ins Nachtleben Kubas eintauchen zu lassen, weil ich einem Nervenzusammenbruch inzwischen sehr nahe war. Zwar schwieg ich nach außen weiterhin bis wir nach draußen an die verhältnismäßig kühle Nachtluft getreten waren, aber in meinem Inneren ging es drunter und drüber. Es ließ sich überhaupt nicht in Worte fassen, was mir gerade alles durch den Kopf ging und ich war froh, dass mir die frische Luft zumindest ein bisschen dabei half, die Gedanken aufzuklaren. Andernfalls hätte ich heute vermutlich keinen Mucks mehr von mir gegeben, weil mir jedes Wort im Hals steckengeblieben wäre. "Warum... machst du das?", brachte ich nach einer ewig langen Zeit eine dünn gehauchte Frage hervor und ich war mir nicht sicher, ob diese durch die Musik, welche hinter uns aus der Bar bis auf die Straße dröhnte, überhaupt zu hören gewesen war. Meinen Blick anheben tat ich dabei allerdings noch immer nicht, fehlte mir dafür weiterhin der Mut. Und das, obwohl der Alkohol inzwischen seine Wirkung entfaltet hatte. Mich etwas lockerer hatte werden lassen, auch wenn man es mir nicht ansehen mochte. Aber wären die paar Drinks nicht gewesen, säße ich schon längst weinend in einer Ecke, um Alles und Jeden, inklusive mein eigenes Leben zu verfluchen. So war ich - bedauerlicherweise - noch dazu in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen und Sammy geradewegs ins Verderben zu folgen.
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Gefühlt zogen erstmal drei Jahre, vier Monate, zwei Wochen und fünf Tage ins Land, bis Richard sich endlich dafür entschieden hatte, mir auf meinem kleinen Ausflug zu folgen. Als er sich dann aber schließlich in Bewegung setzte begann ich unweigerlich ein weiteres Mal vor mich hin zu strahlen und nahm ihn an der Hand mit nach draußen, führte ihn zwischen all den anderen Leuten hindurch. Das hatte wohl zumindest den Vorteil, das er etwas weniger Körperkontakt ausgesetzt war, weil ich ihm den Weg etwas frei machte. Auch, wenn es sich sicherlich trotzdem nicht ganz vermeiden ließ. Draußen angekommen nahm ich dann einen hörbaren, sehr tiefen Atemzug, weil mir selber da drin was die Wärme anging doch deutlich zu warm war. Das hatte Ecstasy ganz besonders in Kombination mit Alkohol eben so an sich und da tat es gut, jetzt wieder angenehm temperierte Luft mit genug Sauerstoff zu inhalieren. Da konnte eben auch die Klimaanlage nur sehr bedingt Abhilfe schaffen, wenn die Bude erst einmal ordentlich voll war. Ich kam draußen aber gar nicht erst zum Stehen. Sah mich nur beiläufig nochmal nach Javier um, während mir Richards Stimme ans Ohr drang. Mein Kopf brauchte einen Moment, um beides richtig voneinander zu trennen und zu sortieren. Jedenfalls war kein Javier in Sichtweite und was die Frage des Engländers anging, war ich im ersten Moment selbst etwas aufgeschmissen. Ich hatte ja gar nicht wirklich darüber nachgedacht, sondern es einfach nur getan. "Hmmm...", war also meine erste, wenig taugliche Antwort darauf, während wir uns in absolut gemütlichem Tempo von der Bar weg bewegten. Mein Gesichtsausdruck passte sich mit kurzzeitig nachdenklich zusammengezogenen Brauen bestens meiner verbalen Erstreaktion an. Schließlich zuckte ich nach einigen Sekunden ganz leicht mit den Schultern und hob den Blick wieder von den Pflastersteinen der Innenstadt an, um zu dem Dunkelhaarigen rüberzusehen. Dass er in der Zwischenzeit an seinem Handy gewesen war, hatte ich nicht einmal mitgeschnitten, glich meine Aufmerksamkeitsspanne aktuell doch eher einem ziemlichen Tunnelblick. "Ich hab nicht wirklich vorher drüber nachgedacht.", stellte ich erst einmal fest, was im Grunde eigentlich schon relativ offensichtlich durch meine Denkpause war. "Aber ich... du wirkst immer so traurig und einsam, Richard. Vielleicht zeigst du das nach außen alles nicht mehr so sehr wie als du grade erst bei mir eingezogen warst und es ist bestimmt besser geworden seitdem..." Er wohnte jetzt wirklich schon eine halbe Ewigkeit bei mir, wo ich gerade so drüber nachdachte. War schon irgendwie alles immer noch sehr verrückt. "...aber ich glaube, dass du's trotzdem noch bist, weil du die Vergangenheit nicht so einfach loslassen kannst. Weil das ganz, ganz tief in dir drinsteckt..." Meine Stimmlage passte absolut nicht zur eigentlichen Ernsthaftigkeit des Themas, summte ich doch so leicht vor mich hin, dass es wirklich unbeschwert klang. Auch war die Linie, die ich mit Richard an der Hand ging, nicht ganz gerade. Zumindest extrem unkontrolliertes Taumeln oder gar Stolpern blieb ihm aber erspart. "Ich seh's nicht gerne, wenn Jemand traurig ist, den ich mag. Vielleicht... wollte ich einfach, dass du zumindest nicht mehr so einsam bist. Und... dass du dich mal wieder gut fühlst. Die Narben schrecken nicht jeden Mann ab, weißt du.", redete ich einfach so weiter vor mich hin, wie mir die Gedanken in den vernebelten Sinn kamen. Es war ja nicht so, als würde ich mir nüchtern nie Gedanken darüber machen, wie es ihm ging. Schließlich wohnte er bei mir und er war ein Freund geworden, wenn auch einer der etwas besonderen Sorte. Ich wollte, dass es ihm endlich wieder gut ging. Dass er auch mal wieder ein bisschen Spaß am Leben hatte, so wie ich grade. Außerdem war ich auch wirklich schon lange über den Punkt hinweg, dass ich die auffällige Brandnarbe in seinem Gesicht noch gruselig oder gar angsteinflößend fand. Sie gehörte zu ihm und sie störte mich nicht. Verheilte auch von Woche zu Woche immer noch ein bisschen mehr, was ich gut sehen konnte, wenn wir auf dem Sofa unweit voneinander entfernt saßen - obgleich sie wohl nie ganz verschwinden würde. "Ich wollte dir keine Angst machen.", hängte ich zu guter Letzt noch an, dass ich damit wirklich keine bösen Absichten verfolgt hatte und warf ihm ein weiteres, aufrichtiges Lächeln zu, waren meine Mundwinkel doch quasi einfach wie oben fest getackert. Zwar war das Licht der Straßenlaternen irgendwie ein bisschen zu hell für meinen Geschmack, aber solange ich nicht direkt hineinsah, war das nicht schlimm. Irgendwie ließ ich den Aspekt, dass ich betrunken und/oder high auf welcher Droge auch immer ausnahmslos jedes Mal ziemlich anhänglich wurde, gerade vollkommen außen vor. Zog es nicht mal in Betracht, dass ich selber vielleicht auch ein bisschen einsam war und auch gerne mal wieder etwas Nähe spüren wollte. Warum dafür dann allerdings ausgerechnet der traumatisierte Engländer herhalten sollte, blieb mir selbst aber so oder so wohl auch ein Rätsel.
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Darüber nachgedacht hatte er offensichtlich nicht, nein. Andernfalls hätte mir der sonst so überlegt handelnde Italiener nicht so einen Riesenschrecken eingejagt, der mir trotz der frischen Luft noch immer ziemlich tief in den Knochen saß. In Anbetracht der Tatsache, dass ich mit dem Verantwortlichen allen Übels noch immer unterwegs war und mich nicht wie gewohnt in mein Schneckenhaus zurückziehen konnte, um das Ganze in Ruhe verarbeiten zu können, würde es wohl auch noch eine kleine Ewigkeit brauchen, bis ich über den Schreck hinweg war. Realisierte, dass Sammy mir nun wirklich nichts Böses wollte, obwohl ich das im Augenblick wirklich ganz anders sah. Für diese Auffassung spielten jedoch ziemlich viele Faktoren zusammen, von denen sich einige morgen schon wieder in Luft aufgelöst haben würden. Der Alkohol beispielsweise – oder aber das Adrenalin, welches mein Körper als Reaktion auf die Berührungen meiner Narben ganz fleißig ausgeschüttet hatte. Vielleicht fiel es mir im Anschluss an eine ausgiebige Ruhephase dann auch leichter, nachvollziehen zu können, was genau Samuele eigentlich meinte, als er mich als noch immer traurig und einsam titulierte. Ich verspürte in der letzten Zeit eigentlich weniger das Gefühl von Traurigkeit und wirklich einsam war ich mit ihm an meiner Seite ja nun auch nicht. Außerdem hatte ich auch noch Sabin – und Cosma ganz bestimmt auch, wenn ich mich denn irgendwann mal wieder bei ihr melden würde. Klar, das war nicht einmal im Ansatz mit einer Beziehung zu vergleichen – worauf er sicher hinauswollte –, aber dafür war ich ja auch noch nie wirklich der Typ gewesen. Bevorzugte es doch nach wie vor, mein eigener Herr zu sein, der sich vor niemanden rechtfertigen musste, selbst wenn ein Mann an meiner Seite den ein oder anderen Vorteil versprach. In meinen Augen war es nur leider so, dass die Nachteile doch deutlich überwiegten und nach der Sache mit Agnolo schien ich sogar noch ein Stück weit bindungsphobischer geworden zu sein. Vielleicht hatte Sammy Recht und ich würde all das ganz anders sehen, wenn ich dem Ganzen eine Chance gab. Mich über meine Angst stellte, erneut an einen so gefährlichen Mann geraten zu können und zumindest versuchte, wieder etwas Glück und Freude in mein Leben zu lassen. Außerdem hatte ich so etwas wie eine ernsthafte Beziehung bis dato ja auch noch gar nicht so richtig ausprobiert. Die ein oder andere Jugendliebe war da natürlich schon gewesen, aber diese war nicht zuletzt dem Zeitmangel während des Studiums zum Opfer gefallen. Ein anderer Verflossener hatte mich schon frühzeitig für verrückt erklärt und das Weite gesucht. Seitdem war ich auf deutlich entspanntere Bettgeschichten umgestiegen und damit eigentlich ganz zufrieden gewesen. Bis zu dem unheilvollen Tag, an dem ein Anhänger der italienischen Mafia herausgefunden hatte, dass ich ihn nach Strich und Faden verarschte. Natürlich war eine Bestrafung dahingehend nur angemessen gewesen, gar keine Frage – schließlich ließ ich mich auch nur äußerst ungerne an der Nase herumführen – aber die Konsequenzen, die ich zu tragen hatte, waren heftig. Ich konnte zwar von Glück reden, überhaupt lebend aus der Geschichte herausgekommen zu sein, nur stellte ich mir in letzter Zeit nicht selten die Frage, ob der Tod nicht vielleicht doch der langfristig bessere und weniger schmerzhafte Ausweg gewesen wäre. Ich hätte die Knarre, nachdem ich sie auf Agnolos verboten gutaussehendes Gesicht gerichtet hatte, zudem an meinen eigenen Schädel halten und abdrücken sollen. Natürlich erst, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass auch wirklich sämtliches Leben aus dem Körper des Italieners gewichen war, um ihm auch ja nicht die Genugtuung zu geben, noch miterleben zu dürfen, dass er es wirklich geschafft hatte, mich mit seiner Aktion in den Freitod zu treiben. Jedenfalls war der Zug jetzt ohnehin abgefahren – ich war inzwischen längst wieder zu feige, mir einfach das Leben zu nehmen und musste für mich jetzt den besten Weg finden, mit Alledem einigermaßen klarzukommen. Ob Sammy hierfür vielleicht der erste Schritt in die richtige Richtung war? Gute Frage, möglich wäre das sicherlich, aber sicher sagen konnte ich es nicht. Vor allem im aktuellen Augenblick nicht. Da war sowieso alles furchtbar und blöd. Ich trottete vorsichtigen Schrittes mit dem Italiener an meiner Hand weiter die Straße entlang, das Handy hatte ich schon längst wieder los- und damit tiefer in die Hosentasche rutschen lassen. Zählte nunmehr nachdenklich die Fugen zwischen den Pflastersteinen unter unseren Füßen, während ich mir eine passende Antwort überlegte. Dass ich dabei anfing, die Hand meiner Begleitung etwas fester zu drücken, fiel mir dabei nicht auf. „Und was hast du gemacht? Wo warst du? Wenn du… mir nur helfen wolltest, warum bist du einfach abgehauen?“, formulierte ich die nächsten Fragen, die mir plötzlich durch den Kopf schossen. Die ich mir weder jetzt, noch morgen früh erklären können würde, weil es einfach nicht mit den vorherigen Worten des jungen Mannes zusammenpasste. Und bis wir wo auch immer angekommen waren, dürfte wohl ausreichend Zeit vergehen, dass er mir auch darauf noch Antworten geben konnte. Ach ja… wo liefen wir denn jetzt eigentlich genau hin?
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Mein Blick wanderte gen Himmel und das war angesichts meines beschwipsten Zustands mindestens meine zweitschlechteste Idee in der heutigen Nacht. Denn der Blick nach oben ließ mich nach zwei, drei Schritten einen ziemlichen Rechtsdrall entwickeln und es war ein kleines Wunder, dass ich das merkte, bevor wir den Laternenpfahl auf der rechten Seite küssen mussten. Wobei ich selbst darüber vermutlich nur gelacht hätte. Weniger witzig war da Richards Frage, über die ich ein weiteres Mal erst kurzzeitig nachdenken musste. Dass ich ihm helfen wollte und trotzdem eine Zeit lang weg gewesen war - wie spät war es überhaupt? - passte schließlich nicht so gut zusammen. Aber so lang war das gar nicht gewesen, oder? Kam mir zumindest nicht so vor. "Wie... lang war ich denn weg? Wie spät ist es?", fragte ich einfach drauf los, obwohl ich auch einfach zum Handy in meiner Hosentasche hätte greifen können. So weit dachte ich gerade nicht und außerdem wusste der Dunkelhaarige ganz bestimmt ohnehin, wie spät es war. Sonst hätte er sich nicht darüber beschwert, dass ich ihn allein gelassen hatte... oder? Da der Engländer seine Frage aber nicht von meiner Gegenfrage beantwortet bekam, setzte ich kurz darauf erneut zum Reden an, ohne seine Antwort überhaupt erst abzuwarten. "Ich hab einen alten Freund getroffen... Javier. Ein ganz witziger Typ... ein bisschen aufgedreht.", summte ich vor mich her und begann Richards Hand, die nach wie vor in meiner lag, etwas beschwingter beim Gehen mitzunehmen. So, wie ich den Kubaner schilderte, war das eigentlich nicht ganz richtig. So tickte er zwar, wenn er so drauf war wie ich gerade auch, aber ansonsten war er eher der nachdenkliche Typ Mensch. Wobei ich auch zugeben musste, dass ich ihn nur selten nüchtern irgendwo sah und mich auch nie gezielt nüchtern mit ihm traf. Es war immer nett, wenn wir uns irgendwo bei unseren gängigen Clubs und Bars über den Weg liefen, weil wir uns nun doch schon etwas länger kannten, aber wir waren eigentlich nicht sowas wie sehr enge Freunde. Im Grunde war er einfach nur der zuverlässigste Dealer, den ich in Havanna kannte und von dem ich wusste, dass er menschlich okay war, obwohl er illegale Substanzen vertickte. Zumindest hatte er in meiner Anwesenheit bisher nichts getan, das mich vom Gegenteil überzeugen würde. "Ich hab einfach nicht auf die Uhr geguckt... wir haben uns unterhalten, dann sind wir ein bisschen raus, dann wieder rein... und dann wieder raus... und dann hab ich die andere Hälfte an irgendeine schöne Blondine weitergegeben... und dann sind wir wieder rein und ich hab dich gesehen.", was ihm immer noch nicht wirklich erklärte, warum ich ihn allein gelassen hatte. Es dauerte aber ein paar Sekunden, bis ich das merkte und nochmal den Mund aufmachte. "Du warst so schlecht gelaunt... und ich bin eigentlich so ein positiver Mensch. Ich musste kurz weg, es war mir einfach zu viel. Und ich wollte gar nicht weg bleiben, sondern eigentlich nach ein paar Minuten wieder zurückkommen... aber ich musste einfach mal durchatmen, Richard. Ständig wird mir gesagt Samuele tu dies... Samuele tu das... kann ja sein, dass ich mir die Scheiße selbst eingebrockt habe, als ich zu neugierig war und ich hab dich ja auch ganz gern bei mir inzwischen. Ist nur trotzdem oft... anstrengend, kein eigenes Leben mehr zu haben. Da dachte ich, ich könnte zumindest heute mal durchatmen... ", redete ich ein weiteres Mal eher planlos vor mich hin, während ich den Engländer tiefer in ein etwas älteres Stadtviertel abseits der Innenstadt führte. Mein Ziel war ein altes Fabrikgebäude, das schon seit Jahren mehr oder weniger leer stand. Gearbeitet wurde da jedenfalls nicht mehr und ich wollte aufs Dach. Ich war da gerade in meiner Anfangszeit hier in Havanna öfter mal gewesen, weil der Ausblick einfach schön war und man da seine Ruhe hatte. Deswegen war ich da in den letzten Wochen auch manchmal nach der Arbeit noch herum gesessen, um nicht sofort nach Hause zu müssen, sondern noch ein paar Minuten durchatmen zu können. "Ich wollte dich nicht allein lassen. Tut mir leid.", entschuldigte ich mich doch lieber noch, weil mich das schlechte Gewissen langsam einholte. Es war ja auch gar nicht meine Absicht gewesen ihn allein zu lassen. Ich hatte ihn wohl nur schlicht und ergreifend mit dem Stoff sehr gezielt vergessen wollen. Wollte zumindest für ein paar Stunden mal nicht an ihn, an Sabin oder gar Hunter denken müssen, der mir aufs Dach steigen würde, sobald ich auch nur einen falschen Mucks machte... was wiederum die Frage aufwarf, weshalb ich unkontrollierten Drogenkonsum in Richards Gegenwart für eine gute Idee hielt. Blieb wohl zu hoffen, dass da nur Sabin so richtig auf dem aktuellen Stand war sich der Amerikaner nicht mehr dafür interessierte, als er unbedingt musste. Aber machen wir uns da mal nichts vor - Drogen hatten bisher nur selten Jemanden schlauer werden lassen. Kreativer vielleicht, aber das war's dann auch schon. Wäre für mich eben leider auch nichts Neues, im Rausch Dummheiten anzustellen.
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Wie lange er weg war? Das wusste er nicht? Eigentlich sollte es mich nicht überraschen, dass er vollkommen zeitlos durch die Bar geirrt zu sein schien - war bei mir ja auch regelmäßig der Fall gewesen - und doch konnte ich über seine Aussage nur leicht den Kopf schütteln. Vielleicht tat ich das aber auch nur, weil ich absolut nicht nachvollziehen konnte, wie er noch immer derart gut gelaunt sein konnte, gab es dafür doch momentan meines Erachtens nach keinen Anlass. Gut, den hatte es bei mir um ehrlich zu sein aber auch am Anfang des Abends nicht gegeben, was die durchgehend miese Stimmung meinerseits erklären dürfte. Und die schien laut Samuele auch der ausschlaggebende Grund dafür gewesen zu sein, dass er sich kurzerhand dazu entschieden hatte, für deutlich länger, als lediglich fünf Minuten auf Toilette zu verschwinden. Wundern tat mich seine Antwort, die erst in Anschluss an eine ganze Menge Müll brauchbare Informationen für mich bereithielt, nicht, aber verletzen tat sie trotzdem. Es war nur logisch, dass er als eigentlich lebensfroher Mensch nach so langer Zeit, die wir inzwischen aufeinander hockten, irgendwann durchdrehte, aber man hätte das anders klären können, da war ich mir sicher. Er hätte mir zumindest nicht auf diese Art und Weise auf die Nase binden müssen, dass ihm das Zusammenleben mit mir Einiges abverlangte, auch wenn ich das nüchtern - im wahrsten Sinne des Wortes - betrachtet natürlich selbst nur allzu gut wusste. Außerdem musste er sich wegen mir auch nicht gleich an irgendwelche Drogen verlieren, nachdem er bereits die ein oder anderen nicht ausschließlich positiven Erfahrungen mit den gefährlichen Substanzen gesammelt hatte. Zwar würde ich mich davor hüten, ihm dahingehend eine Standpauke zu halten, weil das ganz einfach seine eigene Sache war, aber dass ich mich dadurch nur noch schlechter fühlte, lag wohl nahe, oder? "Du hättest... mit Sabin reden können. Ich... weiß, dass das alles irgendwie... schwierig ist. Das ich schwierig bin, aber... keine Ahnung. Das tat irgendwie weh gerade.", versuchte ich Sammy an meinen Gedankengängen teilhaben und ihn damit gleichzeitig wissen zu lassen, dass er mich mit seinen vorangegangenen Worten gerade durchaus verletzt hatte. Beabsichtigt war das bestimmt nicht gewesen, änderte aber leider trotzdem nichts daran, dass ich mich nun noch schlechter als sowieso schon fühlte. Ich betonte jedenfalls auch noch einmal ausdrücklich, was ohnehin schon offensichtlich gewesen war. Nämlich, dass Samuele in Hinsicht auf meine Unterbringung lieber direkt mit seinem älteren Landsmann in Kontakt trat, weil ich nur wenig Produktives dazu hätte beitragen können. Wir vertraten eine ähnliche Meinung und waren uns einig, dass ich so bald wie möglich in meine eigenen vier Wände zurückkehren sollte, aber Sabin würde dahingehend wohl trotzdem noch das letzte Wort haben. Das Gespräch mit ihm zu suchen wäre also deutlich sinnvoller gewesen, als mit mir darüber zu reden. Aber gut, auch der Zug war inzwischen abgefahren und ich musste mich mit dem aktuellen Umstand irgendwie arrangieren. Mich damit abfinden, das Sam vor mir hatte flüchten wollen und außerdem überlegen, was das für mich jetzt eigentlich bedeutete. Was für Konsequenzen ich daraus jetzt eigentlich zog und wie ich künftig damit umgehen würde. Nahm ich die Kritik vielleicht einfach nur zur Kenntnis? Versuchte ich eventuell, künftig etwas besser zu machen, um das weitere Zusammenleben nicht noch schwieriger für den jungen Mann zu gestalten? Ehrlich gesagt... keine Ahnung. Mein Kopf war von jetzt auf gleich wieder ziemlich leer und Sammys unbeschwerte Art half mir nicht gerade dabei, dagegen etwas zu unternehmen. Es irritierte mich einfach, wie sorglos er die Straße entlangspazierte, unsere Hände baumeln ließ und seine Antworten flötete, als würden wir uns hier gerade über das Wetter und nicht irgendeinen ernsten Mist unterhalten. Etwas dagegen sagen tat ich aber nicht, weil ich ganz einfach nicht schon wieder der Buhmann sein wollte. Stattdessen hob ich das erste Mal, seit wir die Bar verlassen hatten, endlich wieder den Kopf an, um den jungen Mann neben mir direkt anzusehen. Mir dann auch die Umgebung einmal zu Gemüte zu führen, weil ich bis dato überhaupt nicht mitgeschnitten hatte, wohin mich Samuele eigentlich führte. So viel zum Thema Wege merken. "Ich... es... es tut mir auch leid, Sam. Ich weiß nicht... es... fällt mir einfach schwer, wieder ein normales Leben zu führen. Aber das sollte trotzdem kein Grund sein, warum ich es anderen schwerer mache, als es das eigentlich sein müsste.", murmelte ich nach einer Zeit des Schweigens nur noch nachdenklich in seine Richtung, blieb stehen und zwang den jungen, reichlich beschwipst wirkenden Mann dadurch ebenfalls anzuhalten. Ich wollte mich einfach kurz umsehen, hatte gänzlich die Orientierung verloren und wusste so langsam wirklich nicht mehr, wo wir waren. Das führte mich wiederum zu meiner nächsten Frage, die ich ziemlich bald an meine vorangegangenen Worte anknüpfte. "Wo... sind wir eigentlich? Was machen wir hier?", meiner Stimmlage war zu entnehmen, was ich von der nur beding vorhandenen Zivilisation nahe des verlassenen Gebäudes eigentlich hielt. So richtig wohlfühlen tat ich mich ehrlich gesagt nicht. Gerade nach der Aktion des jungen Mannes nicht, von der ich noch nicht so recht wusste, ob er das alles nur geplant hatte oder mir wirklich nichts Böses wollte.
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Mit Sabin reden? Vielleicht an sich gar kein so schlechter Ansatz, aber um ehrlich zu sein erhoffte ich mir davon nur wenig bis tendenziell eher gar keinen Erfolg. Einfach deswegen, weil der Italiener mit Richards Therapie relativ egoistisch seinen eigenen Problemen nachging. Natürlich war der Engländer trotzdem ein Freund für ihn, aber wir alle hier wussten sehr gut, dass es auch geschäftlich eine immense Rolle spielte, ob er wieder auf die Beine kam oder erneut einknickte. Es hatte ja auch so seine Gründe, warum Richard nicht mehr bei Sabin seiner Therapie nachging, funktionierte das doch augenscheinlich nicht. Außerdem hatte der Italiener einfach wahnsinnig viel um die Ohren, war auch bei unseren Treffen im Café nicht selten aus Zeitdruck eher kurz angebunden und wollte die Dinge nur schnell über die Bühne bringen. Mal noch ein paar Worte über Richard wechseln, nachdem der geschäftliche Teil zwecks Schmugglerei abgehakt war und danach verschwand er dann zügig wieder. Ich wagte also doch ziemlich stark zu bezweifeln, dass er sich auch nur einen einzigen Tag lang eine Auszeit nehmen, mir Richard abnehmen würde und das auch noch zeitlich so getaktet, dass ich an jenem Tag frei hatte. Dennoch... "Die Wahrheit tut leider manchmal weh... auch, wenn sie das nicht soll. Das wollte ich nicht.", seufzte ich und zuckte mit den Schultern. "Und Sabin hat immer so viel zu tun und manchmal kommt er ja auch vorbei und holt dich ab... ich weiß nicht.", gab ich mich was das anbelangte nicht so überzeugt, weil mir seine nicht selten angespannte Art in meiner Gegenwart einfach nicht gerade Offenheit für noch mehr zeitraubende Aktivitäten suggerierte. Vielleicht irrte ich mich da auch, aber ich wollte auch keine schlechte Laune seinerseits provozieren oder mich gar unbeliebt bei ihm machen. Wir bewegten uns gerade auf einem angenehmen Level, soweit es eben möglich war und das wollte ich mir nicht selbst kaputt machen. Ich war in diesem ganzen Konzept eben traurigerweise nur die kleine Raupe am Boden, die den Dreck wegmachte, während die anderen mehr oder weniger fröhlich als Schmetterlinge irgendwo über meinem Kopf rumflogen. Die bildliche Vorstellung war ziemlich schräg, ließ mich aber doch gleich wieder vor mich hin grinsen. Bei Richards Entschuldigung hingegen sanken meine Mundwinkel etwas ab und bildeten nur mehr ein versonnenes Lächeln, als ich seinen Blick suchte. "Ich bin dir nicht böse.", ließ ich ihn zu allererst einmal wissen, dass ich nicht wirklich eine Entschuldigung von ihm erwartete. War ja nicht so als wäre er immer glücklich mit der Situation und als würde er sich einfach nur gerne wie die Made im Speckmantel bei mir herumtreiben. Er hatte sich das genauso wenig ausgesucht wie ich auch, war sich nur noch nicht sicher wie er aus der Situation erfolgreich rauskommen sollte. "Weißt du denn immer noch nicht, was du mal machen möchtest? So beruflich, meine ich.", stellte ich ihm eine Frage. Natürlich war die nicht ganz einfach und einen kompletten beruflichen Neustart auf Kuba hinzulegen, wenn man Europa gewohnt war, war sicherlich auch nicht leicht. Aber er hatte da oben doch sowas wie Rang und Namen gehabt... das konnte nicht komplett nutzlos sein. "Wie wär's denn, wenn du... deine eigene Kunstschule aufmachst? Das ist vielleicht nicht das gleiche, wie eine Universität... aber da könntest du wenigstens machen, was dir gefällt. Vielleicht setz' ich mich dann ja auch mal in den Unterricht.", träumte ich so vor mich hin. Wusste nicht, inwiefern ich diesen vermutlich nicht zu einhundert Prozent ernst gemeinten Vorschlag nüchtern auch noch gutheißen würde, aber es klang im ersten Moment schon schön. Ich hatte eigentlich auch gerne mal irgendwann mein eigenes Café aufmachen wollen, aber in dieser Planung sah ich mich aktuell meilenweit von der amerikanisch-italienischen Mafia zurück gezogen. Apropos zurückziehen - der Dunkelhaarige brachte mich zum innehalten, als er stehen blieb. Meine Augen fanden wieder die seinen und er wirkte nicht wirklich begeistert davon, dass ich ihn irgendwo hin schleppte. Zumindest nicht, wenn es sich dabei um ein Viertel wie dieses handelte. Ob er wirklich noch immer Angst vor mir hatte? "Wir gehen aufs Dach. Ich bin hier öfter mal... ist nicht einsturzgefährdet oder so, nur leer. Man kann fast die ganze Stadt sehen... und das Meer auch.", redete ich ein weiteres Mal etwas wirr bis vorfreudig. Deutete dabei auch mit der freien Hand auf das Fabrikgebäude, das nicht mehr weit weg war. Mir erschien es wohl irgendwie wichtig zu erwähnen, dass er keine Angst davor haben musste, dass wir durchs Dach fielen, weil es doch so einige verlassene Häuser in Havanna gab, die sehr mit Vorsicht zu genießen waren. Die Halle war alt, wurde aber zwischendurch renoviert und noch ein drittes Stockwerk draufgepackt, soweit ich wusste. Leider hatte sich die Investition offenbar nicht für den Eigentümer gelohnt, der bis jetzt noch versuchte stattdessen einen Mieter zu finden oder wieder zu verkaufen.
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Meiner Meinung nach waren das alles ziemlich billige Ausreden. Es war schließlich nicht so, als stünde bei den beiden eine enge Freundschaft oder dergleichen auf dem Spiel, wegen der sich Sammy Sabin gegenüber irgendwie zurückhalten musste. Natürlich wusste ich, dass seine Aussagen auch ein Körnchen Wahrheit enthielten, weil der ältere Italiener im Moment nun mal wirklich viel um die Ohren hatte. Das kommunizierte er mir ja selbst regelmäßig, wenn wir uns auf ein Wort oder zwei mal zusammensetzten. Nichtsdestotrotz war ich inzwischen wieder auf einem einigermaßen guten Level angekommen. Solange mich Sabin nicht direkt mit in die Drogenküche nehmen würde, wo all das verführerische Meth nur so darauf wartete, konsumiert zu werden, stellte es kein Problem dar, mich für einen Tag oder auch zwei mitzunehmen. Sam hätte mich zu einem entsprechenden Gespräch auch hinzuziehen können, um mich seinem Landsmann bestätigen zu lassen, dass das auch in meinem Sinne war, aber nun gut. Ändern konnte man es jetzt nun mal nicht mehr und so musste ich mit dem Wissen Leben, dass ich mit meiner Präsenz mal wieder ein Menschenleben erheblich beeinträchtigte. Normalerweise ging mir sowas ja herzlich am Arsch vorbei, störte mich nicht, aber wenn es um den zart besaiteten jungen Mann an meiner Hand ging, dann scheinbar irgendwie doch. Es war nicht so, als hätte Samuele seit Tag eins nur lachend neben mir gehockt und mich mit seiner fröhlichen Art berieselt. Gerade zu Anfangszeiten war sein eigentlich sehr freundliches und aufgeschlossenes Gemüt nicht wirklich zum Vorschein gekommen, aber inzwischen hatte ich es kennen und auch lieben gelernt. Es lag deshalb eigentlich nur nahe, dass ich nicht wollte, dass er wegen mir derart unglücklich wurde, um Drogen als den letzten Weg raus aus dem Trott zu sehen. Ich nahm mir deshalb vor, zu versuchen, seine Worte nicht als direkte Kritik an meiner Person zu sehen, sondern sie anderweitig zur Kenntnis zu nehmen. Sie mir zu Herzen zu nehmen und in Zukunft einfach zu berücksichtigen. Vielleicht wirkte das ja präventiv gegen Situationen wie diesen hier, in der Samuele und ich mit einer beträchtlichen Menge Alkohol im Blut irgendwo am Arsch der Welt kurz davor standen, auf ein Dach zu klettern. Es erleichterte mich nach den weniger zufriedenstellenden Worten des jungen Mannes dann aber doch, dass er mir zumindest nicht böse war. Mir keinen Strick aus Vergangenem drehen würde und ganz der fürsorgliche Italiener, der er nun mal war, versuchte er mir auch jetzt noch, weiterhin wieder in die gerade Spur zu finden. Und das, obwohl er gedanklich gerade fernab der Realität sein dürfte - zumindest, wenn ich an meine Zeit im Rausch zurückdachte. Ich wusste natürlich nicht, was genau Sammy sich jetzt eigentlich eingeschmissen hatte. War gut möglich, dass er sich mit dem Zeug nicht ganz so weit ins Aus schoss, wie ich es mit dem Meth getan hatte. Hätte der Konsum noch länger angehalten, wären vermutlich nicht nur psychische Schäden geblieben und im Nachhinein betrachtet war ich wirklich froh darüber, die Kurve gerade noch einmal gekriegt zu haben. So mehr oder weniger zumindest, hätte jedenfalls schlimmer ausgehen können, so viel stand fest. Leider musste ich den Italiener mit einem Kopfschütteln enttäuschen. Ich hatte mir bis dato noch keine genauen Gedanken darüber gemacht, welche Ziele ich mir hier auf Kuba gerne stecken würde, aber grundsätzlich würde es sicherlich wieder etwas mit Kunst zutun haben. Schließlich war Havanna an sich schon ein riesigen Kunstwerk - nicht auszudenken, was für verborgene Schätze sich in den Museen und Universitäten des Landes versteckten. Aber auch die eigene Kunstschule klang nach einer guten Idee, wobei ich dafür sehr sicher nicht die Zeit haben würde, wenn ich erst einmal wieder zum Kochen von Drogen eingebunden worden war. "Ich... weiß es ehrlich gesagt noch nicht genau. Kunstschule klingt gut, aber ist zu zeitintensiv. Vielleicht versuche ich es erst einmal, an die Uni zu gehen... Mal sehen, was Vahagn aus meinen Papieren machen kann.", murmelte ich nachdenklich vor mich hin und wandte den Blick wieder auf den Boden ab. Jetzt, wo ich auch wusste, was Sam mit mir vorhatte, fiel es mir etwas leichter, weiterhin langsam neben ihm herzutrotten. Was Vahagn anging, musste ich wohl aber noch ein paar Tage warten, bis die junge Frau wieder im Lande war. Sabin hatte mir beiläufig und auch nur knapp geschildert, dass es wohl zu Komplikationen gekommen war und sie deshalb gemeinsam mit Hunter nach Russland geflogen waren. Papiere waren für mich hier auf Kuba jedoch unabdingbar, wenn ich tatsächlich wieder einer zum Teil legalen Arbeit nachgehen wollte. Schließlich würde ich nicht noch einmal von null anfangen wollen, wo ich doch eigentlich ein Meister vom Fach war. Nein, dafür hatte ich weder die Zeit, noch die Lust und hinsichtlich der sprachlichen Barriere an Universitäten war ich sowieso fein raus, wurden Fächer wie Kunst und Geschichte doch in der Regel sowieso auf Englisch unterrichtet. Vielleicht entschied ich mich aber auch noch einmal für etwas ganz anderes, aber was, das wusste ich jetzt noch nicht. Ich würde erst einmal wieder lernen müssen, einen geregelten Tagesablauf auf die Kette zu kriegen. Dann ging es ans Drogen kochen und was danach kam, würde ich dann sehen. Bis dahin folgte ich meinem Mitbewohner jedoch mit noch immer etwas zögerlichen Schritten rauf aufs Dach, wo mich der Ausblick selbst mit nicht ganz so klarem Kopf ziemlich erstaunte. Gelogen hatte Sammy dahingehend auf jeden Fall nicht. Sehen tat man von hier oben wirklich alles und bei Nacht wirkte es gleich um ein Vielfaches schöner. Vor allem der Mond, der sich auf dem Meer unweit von hier widerspiegelte, während in unserem Rücken bunte Lichter aus Havannas Nachtleben die Dunkelheit erleuchteten.
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Na gut, dann keine Kunstschule. Wäre aber witzig gewesen, sich in einen seiner Kurse zu schleichen und ihn dann so ganz unauffällig von der letzten Reihe aus dabei zu beobachten, ob er denn seine Arbeit auch gut machte. Als könnte ich das wirklich beurteilen, so als vollkommener Kunst-Neuling. Bis auf van Gogh war das Gebiet für mich noch immer totales Neuland und vielleicht hätte ich ja auch wirklich was im Kurs mitnehmen können. Es wäre gar nicht so verkehrt auch ein bisschen was darüber zu wissen, wo Richard doch immer so gerne darüber redete und ich fast nie irgendwas Produktives dazu sagen konnte, weil ich nun mal einfach keinen blassen Schimmer davon hatte. War nicht so als würde dadurch eine Barriere zwischen uns entstehen, aber es war sicher nicht schön, dass er Niemanden hatte, mit dem er sich ein bisschen über Kunst unterhalten konnte. Außerdem war Bildung eigentlich nie verkehrt, auch wenn man die Kunst im normalen Alltag eher nicht brauchte. "Schade... sich in die Universität zu schleichen wird wahrscheinlich schwieriger.", gab ich schief grinsend reichlich gut gelaunt meinen Senf dazu ab. War so natürlich nicht ganz ernst gemeint und entsprach vielleicht auch gar nicht der Wahrheit. Ich hatte noch keinen einzigen Fuß in Havannas Universität gesetzt und dementsprechend hatte ich auch keinen Schimmer davon, ob ich mich nicht vielleicht ganz unauffällig als Schüler getarnt ins Gebäude schummeln konnte. Ob da überhaupt irgendwo Securitys standen, oder der Weg im Grunde komplett frei war. Sollte Letzteres der Fall sein reichten bestimmt meine Aktentasche und ein etwas jugendlicherer Kleidungsstil zur Tarnung aus. Aber die Sache mit den Papieren blieb ja ohnehin noch abzuwarten, vielleicht löste sich dieser kleine Traum noch zwangsweise in Luft auf. Das war wohl so einer der Haken als geflüchteter Krimineller. Man war zwar irgendwie noch man selbst, irgendwie aber auch nicht. "Wie ist eigentlich dein Deckname?", fragte ich ihn schließlich neugierig. Würde wohl kaum der Gleiche wie vorher sein. Ob er offiziell immer noch Engländer war? Vielleicht hatte er ein ganz neues Heimatland verschrieben bekommen, ich hatte mir seine Pässe aus nicht vorhandenen Gründen dafür schließlich noch nie angesehen. Wobei man verhältnismäßig eher helle Haut wohl kaum irgendeinem Staat im heißen Süden zuordnen konnte. Apropos Teint - da fiel mir auch wieder ein, dass ich ihn mal an einen ruhigen Strand entführen wollte. Selbst, wenn er nicht so der Naturbursche war und vielleicht auch nicht mit mir baden gehen wollte, hatte er da mal seine Ruhe abseits vom Alltag und dem Stadtlärm. Da musste ich aber wohl erstmal Sabin um Autorisierung bitten, wäre dafür doch ein kurzer Trip mit dem Auto - in dem Fall dann Taxi, weil ich keines besaß - notwendig. Oder vielleicht kam er einfach mit? Ein bisschen am Strand liegen täte dem gestressten Italiener sicher auch gut. Es war glücklicherweise gar nicht schwer hoch aufs Dach zu kommen. Es gab auf der Rückseite des Gebäudes außen eine schmale Treppe, die sich auch in meinem Zustand noch gut erklimmen ließ. Auch, wenn wir mit ziemlicher Sicherheit länger brauchten als im nüchternen Zustand, betraten wir schließlich das flache Dach und hier oben schien die Luft irgendwie immer ein bisschen frischer zu sein. Vielleicht lag das an den ganzen alten Oldtimern, die täglich durch Havannas Straßen fuhren und mit den hohen Abgaswerten sicherlich eher nicht positiv zur Umwelt beitrugen. Aber sie hatten eben einfach ihren Charme und ohne die alten Kisten würde hier wirklich was fehlen. Nerven tat es manchmal trotzdem, wenn Jemand mit extra lauter Klapperkiste nachts am Haus vorbeifuhr und mich damit aufweckte. "Und, gefällt's dir?", fragte ich glücklich vor mich hin lächelnd nach und warf Richard einen kurzen Blick zu, als ich nahe an den Rand des Dachs trat. Es war lediglich durch eine nicht allzu hohe, etwas dickere Mauer begrenzt und ich konnte mich bequem mit den Händen darauf abstützten, um mit geschlossenen Augen einen weiteren tiefen Atemzug zu nehmen. Wendete mich dabei dem Meer zu, das ganz leise vor sich hin rauschte und am Hafen an das betonierte Ufer schlug, wenn man genau hinhörte. Der Ausblick war ein kleines Stück Freiheit. "Ich bin gern hier oben. Die Luft ist irgendwie so schön klar... und gestört wird man auch nie.", murmelte ich den Moment genießend vor mich hin, während ich mich mit dem Oberkörper ein wenig über die Brüstung lehnte. Ich glaubte zu wissen, dass jeder Mensch so Momente im Leben hatte, in denen er einfach mal gerne allein war und stumm vor sich hin denken konnte, ohne dabei gestört zu werden. Zumindest ging es mir manchmal so. Ich konnte es jedem nur empfehlen, wenn er das Gefühl hatte mal raus zu müssen. Oft bedurfte es da keinen tagelangen Reisen. Ein paar Stunden irgendwo zu sitzen, wo man sich vom Rest der Welt etwas abgeschirmt fühlte, konnte schon vollkommen zum neue Kraft tanken ausreichen.
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Na ja, ganz so schwer war es nicht, sich in eine Universität zu schleichen, wenn ich ehrlich sein sollte. Sammys jugendliches Aussehen spielte ihm dahingehend zwar in die Karten, aber selbst wenn er älter oder ein wenig mitgenommen ausgesehen hätte, wäre er unter den zahlreichen anderen seltsamen Gestalten kaum bis gar nicht aufgefallen. Solange er sich nicht spontan dazu entschied, es sich mit dem Sicherheitsdienst zu verscherzen oder anderweitig negativ aufzufallen, versteht sich. In der Regel nutzten Erstere zur Identifizierung des Störenfrieds dann nämlich den Studentenausweis und spätestens, wenn er diesen nicht vorzeigen konnte, würde er in hohem Bogen vom Unigelände fliegen. Aber gut, bis es wirklich so weit sein würde, dass Sammy sich in eine meiner Vorlesungen schleichen konnte, würde wohl noch eine ganze Weile ins Land ziehen. Mit den Papieren alleine war es schließlich nicht getan. Trotzdem ließ mich der Gedanke daran ebenfalls ein kleines bisschen schmunzeln - das erste Mal seit Anfang des Abends, wohlgemerkt. Es dauerte nicht lange, bis ich mich von diesem unsagbar schönen Anblick der Stadt losgesagt hatte, weil Samuele schon bald wieder meine Aufmerksamkeit auf sich zog, als er über das Flachdach an die etwa hüfthohe Mauer herantrat. Ich persönlich hielt ja alleine schon von dieser ganzen 'bei Nacht über die Dächer der Stadt turnen'-Geschichte nicht besonders viel, aber angetrunken und zudem noch beeinflusst von irgendwelchen anderen Substanzen derart nah an einen potenziellen Abgrund zu treten, ließ mich leicht panisch werden. Ich selbst stand deshalb gute zwei, drei Meter weit von Sammy weg, für den es bloß einen Ausrutscher oder einen Stoß gebraucht hätte, um ihn kopfüber in den Tod stürzen zu lassen. Mit besorgten Gesichtsausdruck bohrte sich mein Blick in seinen Rücken, als ich nach einiger Zeit ein paar Schritte auf ihn zumachte. Nur vorsichtig, langsam, weil mir grundsätzlich immer dann ein Malheur passierte, wenn ich gerade besonders fokussiert darauf war, ein solches zu vermeiden. "Eventuell... solltest du nicht ganz so nah... na ja, da stehen.", äußerte ich meine Bedenken dahingehend und streckte schon bald meine Hand nach seinem Arm aus. Ohne groß darüber nachzudenken, musste ich gestehen, aber vielleicht war das ja auch besser so. Ich wollte scheinbar einfach sichergehen, dass ich zumindest noch die Möglichkeit hatte, zu versuchen, ihm zu helfen, falls etwas passieren sollte. Zwar würde ich aller Wahrscheinlichkeit nach mit ihm zusammen in die Tiefe stürzen, aber für mein Gewissen machte das dann nicht wirklich einen Unterschied. Jedenfalls sah ich Sammy nicht direkt an, als ich ihn seitlich hinter ihm stehend am Arm hielt, sondern ließ meinen Blick etwas unruhig wieder auf über die Skyline wandern. Versuchte mit ein paar wenigen Atemzügen wieder den Kopf frei zu kriegen, was dieses Mal auch erstaunlich gut funktionierte. Schon nach drei Mal Durchatmen war ich wieder einigermaßen klar im Kopf - so klar, wie ich das nach einigen Drinks noch sein konnte - und fühlte mich bereit, die Frage des Italieners zu beantworten, die inzwischen sicher an die fünf, wenn nicht sogar zehn Minuten zurücklag. "Mein Decknamen...", murmelte ich nachdenklich und sah vom Meer auf die halbhohe Mauer hinunter, die uns als einzige Sicherheitsmaßnahme vor dem Fall bewahrte. Grummelte dann ein leises Hmmm... vor mich hin, bei dem ich zudem die Augenbrauen nachdenklich zusammenzog. Ich musste tatsächlich einen Moment lang überlegen, welcher Deckname eigentlich an mich vergeben worden war, weil ich ihn bis dato eigentlich nie gebraucht hatte. "Gute Frage eigentlich...", gestand ich schließlich, dass ich absolut keine Ahnung hatte und mir dringend mal den gefälschten Pass ansehen sollte. Bei einer Kontrolle kam es schließlich nie gut, wenn man noch nicht einmal seinen eigenen Namen kannte, auch wenn diese aktuell noch verhältnismäßig selten waren. "Ich glaube... Sean... Sean irgendwas." Dieses Mal war ich es, der ein wenig zu grinsen anfing, aber es war auch vollkommen absurd, seinen Namen zu vergessen. Natürlich ging es hierbei nicht um meine echte Identität, witzig fand ich es aber trotzdem. Und nachdem ich erst einmal zugelassen hatte, dass meine Mundwinkel in die Höhe zuckten, verzeichnete ich einen signifikanten Anstieg meiner Laune, was ich nach dem Riesenschrecken in der Bar definitiv nicht mehr für realistisch gehalten hatte. "Und ja, es... ist wirklich schön hier oben. Hätte ich nicht gedacht.", gestand ich nach einer kurzen Pause, dass ich ehrlich gesagt nicht davon ausgegangen war, dass ich den Aufenthalt hier oben genießen können würde. Aber trotzdem tat ich es irgendwie. Zwar war ich grundsätzlich noch immer etwas angespannt, konnte aber nicht festmachen, ob das wirklich noch an dem Vorfall in der Bar lag oder ich einfach besorgt darum war, dass wir hier und heute tatsächlich noch einen Abgang über die hüfthohe Mauer machen würden.
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Ich sollte nicht so nah an den Rand gehen? Ich konnte nicht anders, als leise aufzulachen. Richard zeigte mir immer öfter, wie sehr er der Sorte auf Nummer sicher angehörte und vermutlich könnten wir beide was das anging kaum unterschiedlicher sein. Natürlich war Sicherheit in manchen Lebensbereichen schon essentiell. Wenn es um sowas wie Arbeit oder Finanzen ging beispielsweise. Ich für meinen Teil wollte das Polster auf meinem Konto nicht missen, weswegen Sabin mir ja auch den finanziellen Ausgleich für den Engländer zusteckte, solange der noch bei mir wohnte. Aber hin und wieder mal ein kleines bisschen am Rand des Wahnsinns zu tanzen war einfach witzig und wahnsinnig unterhaltsam. Sich selbst mal für ein paar Stunden nur wenig ernst nehmen war manchmal nämlich gar nicht so verkehrt. Gut, vielleicht sollte man dabei nicht unbedingt Ecstasy mit Alkohol mischen, aber es war ja nicht so, als würde ich das noch regelmäßig machen. Nur selten mal, wenn mir spontan der Sinn danach stand. Man konnte auch nüchtern mal etwas über die Stränge schlagen, dagegen war in meinen Augen gar nichts einzuwenden. Zumal ich das bisschen über die Brüstung lehnen auch wirklich nicht als ernsthafte Gefahr wahrnahm. Ich drehte Richard den Kopf zu, musterte grinsend seine Gesichtszüge. "Okay, Dad...", neckte ich ihn feixend, konnte mir das einfach nicht verkneifen. "Ich bin die Mauer auch schon betrunken entlang gelaufen. So gefährlich kann das hier gar nicht sein." Ich schüttelte noch immer grinsend den Kopf, sah dann wieder nach vorne zum Meer. Zugegeben war das mit dem auf der Mauer balancieren nicht allein gewesen und Jemand hatte mich tendenziell leicht nach innen ziehend am Handgelenk festgehalten, aber hätte ich eine starke Schwankung hingelegt, hätte mich das sehr wahrscheinlich trotzdem nicht vor dem Absturz bewahrt. Aber auch, wenn ich heute hier nicht jeden Moment in die Tiefe stürzen würde, durfte er mich liebend gerne am Arm festhalten. So große Angst hatte er dann nämlich wahrscheinlich nicht mehr. Oder zumindest hoffte ich das. Ich wollte schließlich nicht, dass unsere Freundschaft an meiner unüberlegten Aktion scheiterte. Ich richtete mich also schließlich wieder zu richtigem Stand auf und drehte mich um, um mich stattdessen locker mit der Hüfte an die Mauer zu lehnen, damit unser kleiner Professor hier nicht noch eine weitere Panikattacke erleiden musste. Richard schien von seinem Decknamen tatsächlich keine Ahnung zu haben. Nachdem er hier auf Kuba noch nicht wirklich gelebt hatte, sondern ziemlich viel eingesperrt gewesen war, war das wohl auch nachvollziehbar. Ich konnte trotzdem nicht anders, als ein weiteres Mal leise zu lachen. Sean irgendwas. War wohl kein seltener Vorname und würde allein deshalb vermutlich nicht wirklich gleich auf den ersten Blick aufsehen erregen. Ich war auch froh darüber, dass er sich nun doch darüber freute mit mir hier hoch gekommen zu sein, obwohl ihm die Skepsis vorhin noch recht deutlich anzusehen war. Die kleine Überraschung als Wiedergutmachung schien mir geglückt zu sein und das war für den Moment auch alles, was mein Gewissen brauchte. "Also gut, Mr. Sean Irgendwas...", setzte ich grinsend in künstlich hochtrabendem Tonfall an und stieß mich dann mit einer lockeren Bewegung von der Mauer ab. "...wie wär's mit einem kleinen Tanz unter kubanischem Sternenhimmel?", ich streckte die Hand aus, hielt sie ihm jedoch bloß hin und bediente mich nicht wieder ungefragt daran. "Es muss auch kein Tango oder Salsa sein.", hängte ich grinsend noch ein paar Worte mehr an und legte den Kopf leicht schief. Zwar erfreuten sich hier auf Kuba flottere Tänze durchaus großer Beliebtheit und passten auch einfach besser zu den bunten Tänzerkostümen, die man fast täglich irgendwo auf der Straße sah, aber es war vermutlich ohnehin besser für uns zwei, wenn hier keiner den anderen wild herumzuwirbeln versuchte. Am Ende würde mir dabei vermutlich nur schlecht werden und mir stand nun wirklich der Sinn danach, mich heute Nacht noch zu übergeben, wenn es doch eigentlich vermeidbar war. Aber so ein kleines bisschen tanzen war doch eigentlich nicht verkehrt oder? Vermutlich sah Richard auch das wieder ganz anders als ich, weil man sich dabei doch zwangsweise immer ein bisschen näher kam. Also womöglich überschritt ich da schon wieder seine Komfortzone, aber deswegen fragte ich dieses Mal ja auch vorher. Noch so eine unschöne Szene wie in der Bar wollte ich nicht unbedingt provozieren, ließ es sich doch ganz einfach durch vorheriges Fragen vermeiden. Auch, wenn mir mir der Korb im Fall der Fälle jetzt natürlich auch nicht besser gefallen würde, als vorhin. Aber ich blieb zumindest halbwegs optimistisch was das anging, bis ich ein klares Nein von ihm hören würde.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Was? Wie hatte er mich gerade genannt? ... Dad? Die Irritation darüber stand mir buchstäblich ins Gesicht geschrieben, als ich Samuele mit leicht schief gelegtem Kopf ansah. Nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen diese Titulierung einzuwenden hatte, aber aktuell war sie meines Erachtens nach nicht angebracht. Ich machte mir einfach Sorgen, ihm könne etwas zustoßen und hieß es deshalb alles andere als gut, dass er sich auf diese Art und Weise über mich lustig zu machen schien. Auch das war zwar vermutlich nur wenig bis gar nicht beabsichtigt, ließ meine nach oben zuckenden Mundwinkel aber doch schnell wieder absacken. Trotzdem war ich froh, als sich der junge Mann wenig später von der Mauer abwandte, um sich stattdessen mir zuzuwenden. Nunmehr bloß noch mit der Hüfte gegen den Steinbau lehnte und mich ansah. "Du solltest es trotzdem nicht provozieren.", kam ich noch einmal auf die Geschichte zu sprechen, dass er scheinbar schon stark alkoholisiert die Mauer entlangspaziert war, weil ich das Ganze vorerst unkommentiert hatte stehenlassen. Nur weil ihm damals nichts passiert war und er scheinbar großes Glück hatte, garantierte mir das nur leider nicht, dass es heute genauso glimpflich ausgehen würde und unnötige Risiken wollte ich dahingehend lieber nicht eingehen. Ich war selbst auch nur noch bedingt zurechnungsfähig und sicher nicht in der Lage, jetzt noch mit einem Schwerverletzten oder Toten umzugehen. Sam tat uns also beiden einen Gefallen damit, dass er sich etwas vom Rande des Daches zurückzog und seine Aufmerksamkeit bald schon wieder mir galt. Seine folgenden Worten ließen mich ihn aber noch um einiges schräger ansehen, als ich das nach der unangebrachten Titulierung sowieso schon getan hatte. Erst sagte ich - wie so oft - nichts. Musterte schweigsam die Gesichtszüge meines Gegenübers, um darin nach Anzeichen zu suchen, dass er mich mit seiner Frage nur aufziehen wollte. Tanzen? Hier und jetzt? Ich konnte doch gar nicht tanzen und an der Tatsache hatte der Alkohol in meinem Blut ganz bestimmt auch nichts geändert. Ich hielt es deshalb eigentlich für keine so gute Idee, die Hand zu nehmen, die er mir entgegenstreckte, aber als Sam mir noch einmal versicherte, dass es kein ausgefallener Tanz wie eben Tango oder Samba sein musste, konnte ich ein leises Lachen nicht mehr unterdrücken. Dann aber schüttelte ich entschlossen den Kopf. "Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist.", murmelte ich nachdenklich und sah den Italiener vor mir aus unsicheren Augen an. Anschließend wanderte der Blick kurz an ihm vorbei über die Stadt, bevor er auf meinen Füßen letztlich wieder zum Erliegen kam. Aber wieso eigentlich nicht? Samuele war sicher auch kein geborener Tänzer und ein paar Schritte vor und zurück würden wir ja wohl noch irgendwie hinkriegen, oder? Zwar fehlte mir die Musik ein bisschen und wirklich trauen, Sammys Hand zu nehmen, tat ich mich noch nicht, aber es war mit Sicherheit der erste Schritte in die richtige Richtung, denn im Grunde genommen hatte der junge Mann schon Recht. Ich hatte ihm bis dato eigentlich blind vertraut, weshalb ich von seinem Ausrutscher umso geschockter gewesen war, also wieso sollte ich ihm nicht einfach mal das Steuer überlassen? Ich hatte in den letzten Wochen wirklich genug Zeit damit vertan, mich in meinem Schneckenhaus zu verkriechen und wusste prinzipiell auch, dass ich so niemals wieder ein ansatzweise unbeschwertes Leben führen konnte, weil ich mir einfach grundsätzlich selbst im Weg stand. Ohne jemanden, der mir da an die Hand nahm und mir den richtigen Pfad aufzeigte, würde ich also mit ziemlicher Sicherheit alleine und unzufrieden sterben. Was konnte also schon schiefgehen, wenn ich mich dazu entschied, einfach gegen den Trott und das Loch, in das ich zunehmend zu versinken drohte, anzugehen? Mehr, als dass ich final auf die Fresse fallen würde, konnte eigentlich nicht passieren. Es fiel mir zwar unheimlich schwer, den inneren Schweinehund zu überwinden, aber letztlich griff ich doch - wenn auch reichlich zögerlich - nach der Hand meines gutaussehenden Mitbewohners. "Aber...", setzte ich zum Revidieren meiner vorherigen Worte an. Rang mir dann ein schwaches Lächeln ab und fuhr fort: "Lass es uns wenigstens versuchen. Vielleicht schlummern ja Profitänzer in uns.", mutmaßte ich und trat wieder einen Schritt näher, auch wenn ich es definitiv bevorzugen würde, wenn wir uns zum Tanzen etwas mehr mittig des Daches drapierten. Und wie lief das jetzt? Welcher Fuß kam zuerst? Wir würden einander aber nicht umherwirbeln... oder?
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #