Mir wurde von Tag zu Tag langweiliger. Ich verstand wirklich nicht, wie sich ein Teil der Menschheit damit zufrieden geben konnte den ganzen Tag vor dem PC oder vor dem Fernseher zu hocken. Nicht viel mehr zu machen, als sich vom TV-Programm berieseln zu lassen oder ein paar Tasten zu drücken. Damals in meiner frühen Jugend, ja - da hatte ich in der schulfreien Zeit noch manchmal an der in die Jahre gekommenen Konsole oder vor dem Fernseher herumgesessen, aber inzwischen war das wohl einfach nicht mehr wirklich was für mich. Ich verfolgte gern die Nachrichten oder zwischendurch auch mal eine Comedy-Einlage auf dem Bildschirm im Wohnzimmer, aber darüber hinaus lief wirklich überwiegend nur Schrott in der Glotze. Deshalb machte ich das Teil häufig schon nach ein paar Minuten wieder aus und griff stattdessen nach einem Buch oder meinem Laptop. Zumindest die E-Mails der Arbeit konnte ich auch von Zuhause aus beantworten, wenn es etwas dringendes war oder entsprechend Dinge telefonisch an meine Mitarbeiter weiterleiten. Ich sehnte mich wirklich langsam danach wieder arbeiten gehen zu können, weil ich einfach nicht mehr wusste, was ich den lieben langen Tag machen sollte. Natürlich konnte ich mit den Krücken ein bisschen von A nach B humpeln oder auch mal ein kurzes Stück mit Richard nach draußen gehen, aber das dauerte dann eben auch nicht lang. Der Bluterguss an der Schulter zwickte noch immer etwas und auf jener Körperpartie lag nun mal zwangsweise Belastung, wenn man mit Krücken ging. Es entlastete mir also zwar den Fuß, allerdings nicht den zweiten Knackpunkt meiner Verletzungen. War demnach ein ziemlich zweischneidiges Schwert und deshalb war es gut die Bewegung zu Fuß meinerseits weiterhin noch auf ein Minimum zu beschränken. Ich reduzierte auch die Dosis an Schmerzmittel fortwährend ein bisschen - was ich hier und da vielleicht ein bisschen falsch einschätzte und dann doch manchmal noch ein bisschen was nachträglich einwarf -, je nachdem wie sehr mir der Knöchel und die Schulter beim morgendlichen Aufstehen aus dem Bett noch wehtaten. Richard kümmerte sich glücklicherweise auch weiterhin recht gut um den Haushalt und so brauchte ich nicht irgendwo auf halber Strecke meiner Genesung wieder darum fürchten plötzlich im Chaos zu versinken. Sicherlich gab es hier und da Dinge, die ich ein wenig anders gemacht hätte, aber darum ging es ja überhaupt nicht. Ich war mehr als nur ein bisschen dankbar dafür, dass der Engländer sich alledem sehr konsequent annahm. Sich so auch selbst beschäftigt hielt und nicht drohte in sein vorheriges Loch zurückzufallen, obwohl er für ein paar Tage nach dem Treffen mit Tauren ein wenig abwesender als sonst wirkte. War ihm aber wohl kaum zu verübeln. Ich hatte natürlich gefragt wie die Aussprache gelaufen war und der Norweger schien mit seinen Worten wenig zimperlich gewesen zu sein, auch wenn er sich letzten Endes doch dazu entschied dem Dunkelhaarigen seine vorherigen Missetaten zu verzeihen. Solange Richard aber nur darüber nachdachte oder seine Sorge an mich weitertrug, statt es erneut auf ungute Art und Weise in sich hineinzufressen, war alles im grünen Bereich. Er fing sich dahingehend auch wieder und als es meinem Fuß dann doch langsam insoweit wieder gut ging, dass ich vorsichtig auftreten konnte, ohne sofort gefühlte Tode zu sterben, schlug er auch irgendwann vor sich gemeinsam mal seinem Eigenheim anzunehmen, das leider ziemlich unter seinem Drogenexzess gelitten zu haben schien. Ehrlich gesagt erinnerte ich mich daran aber nur noch sehr dunkel, weil ich irgendwie viel zu viel Schiss gehabt hatte, um mir die Umgebung genauer anzusehen, als ich das eine Mal flüchtig dort gewesen war. War ja auch nicht so, als hätte ich eine komplette Roomtour gekriegt, es war lediglich darum gegangen den Entflohenen wieder einzusammeln. Dass alle um mich herum dabei irgendwie mehr als nur ein bisschen angespannt waren und ich auch Sabin damals noch nicht wirklich gut hatte einschätzen können, was etwaiges Aggressionspotenzial und körperliche Ausschreitungen anging, hatte ich mich also lieber mit rasendem Herz im Hintergrund gehalten, statt irgendwie zwischen die Fronten zu geraten oder ein bissen Indoor-Sightseeing zu betreiben. Wie auch immer - jedenfalls konnte ich mit kleinen Pausen hier und da inzwischen wieder ganz gut laufen, auch wenn ich noch immer das Gefühl hatte, dass der Knöchel durch die wochenlange Ruhigstellung ein bisschen steif war und sich an die Bewegung erst wieder gewöhnen musste. Deswegen legte ich, wenn er nach einigen Schritten mehr mal noch zu zwicken anfing, doch lieber zur Sicherheit Pausen ein, um die Bänder nicht zu überstrapazieren. Sabin war so gut und brachte den Engländer und mich jetzt zu dessen Eigenheim - war nicht so, als hätte ich das Taxi nicht gern im Voraus mal für ihn bezahlt, so knapp bei Kasse war ich dann doch noch nicht, aber nun gut -, damit wir die Unordnung dort wieder ins Lot bringen konnten. Dazu war ich gerne bereit, tat Richard die Beschäftigung doch sicherlich genauso gut wie mir selbst und es war auch ein guter Schritt, um mit dem Vergangenen - in diesem Fall wortwörtlich - weiter aufzuräumen. Er würde sich bestimmt in die eine oder andere Situation zurückversetzt sehen und es war wichtig, dass er damit auch räumlich und nicht nur in Hinsicht auf seinen damaligen Mitbewohner abschloss. Schließlich sollte er nicht ewig bei mir wohnen bleiben, also wartete ich geduldig darauf, bis er die Tür aufgeschlossen hatte. Sah mich dabei vor dem Haus etwas um, bevor ich es letztlich hinter dem jungen Mann betrat. Auch im Flur sah ich mich erst einmal kurz etwas um, kam mir das Innere des Hauses wie gesagt doch nur noch flüchtig bekannt vor. Nach einigen Sekunden richtete ich die Augen dann aber schließlich auf den Engländer, sah ihn abwartend an. "Womit fangen wir an?", fragte ich ihn gewohnt entspannt, bevor ich den Blick ein weiteres Mal schweifen ließ. Dieses Mal über die Kommode, die inzwischen etwas Staub gefangen hatte.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Tja, das war eine wirklich ausgezeichnete Frage, auf die ich selbst noch keine so wirkliche Antwort gefunden hatte, weil im Grunde jedes Zimmer - mit Ausnahme des Bade- und des Gästezimmers - dieses Hauses eine einzige Baustelle war. Im Wohnzimmer sah es dabei wohl noch mit am ordentlichsten aus, weil Tauren sich hier verhältnismäßig oft aufgehalten hatte, wenn er dann mal Zuhause und nicht auf der Flucht gewesen war. Aber schon in der Küche fing das Chaos an. Wenn ich das von meiner Position aus richtig sah, dann stand über der Spüle verteilt einiges an Geschirr rum und ich betete förmlich zu Gott, dass auf den etlichen Tellern nichts potenziell Verderbliches serviert worden war. Andererseits hätte man das aber sicherlich bereits gerochen, nachdem der Mist doch schon längere Zeit dagestanden hatte. Ich zuckte auf die Frage Samueles erst einmal nur ein wenig ratlos mit den Schultern, während ich den Hausschlüssel in meine Hosentasche wandern ließ und mich dann nachdenklich am Kopf kratzte. Dabei drehte ich mich kurzzeitig in die eine, dann wieder in die andere Richtung, weil ich dachte, mir dadurch einen schnelleren Überblick über die Sachlage zu verschaffen. Natürlich war das aber nicht ganz so einfach, weshalb ich letzten Endes ein klein wenig resigniert seufzte. "Ich denke, dass im ganzen Haus etwas gemacht werden muss. Ich schau mir erst einmal die Küche an. In der Zwischenzeit könntest du das Wohnzimmer in Angriff nehmen, wenn dir das nicht zu viel ist, versteht sich.", schlug ich schließlich vor, dass der Italiener sich erst einmal dem Zimmer widmen sollte, der wohl am wenigstens unter der Hochphase meines Drogenkonsums gelitten hatte. Ich fand es schon wirklich sehr nett, dass Sam mir überhaupt helfen wollte, wo wir uns im Prinzip doch noch immer nicht wirklich kannten. Da lag es mir fern, seine Gutmütigkeit auszunutzen, indem ich ihm die meiste Arbeit aufhalste und dabei selbst auf der faulen Haut lag. Vor ein paar Wochen, Monaten hätte ich das vielleicht sehr wohl getan, aber mir ging es mittlerweile wieder gut genug, dass einige meiner alten Charaktereigenschaften aus ihrem Loch krochen und Dinge in die eigene Hand zu nehmen, anstatt sie auf andere abzuwälzen war eine davon. Außerdem war es mir mittlerweile ein Stück weit peinlich zu sehen, was ich in der Zeit meiner geistigen Abwesenheit alles vernachlässigt hatte. Da war es mir einfach lieber, wenn ich mich selbst um die Entsorgung oder anderweitige Beseitigung des meisten Drecks kümmerte. Ich wartete daher auch keinerlei Antwort des Italieners ab, sondern setzte mich stattdessen ohne Weiteres in Bewegung, um die Küche anzusteuern. Dort stellte ich zufrieden fest, dass offenbar nur eine einzige Tasse wirklich gar nicht mehr zu retten war und ich stellte mir unnötigerweise die Frage, ob Kaffeerückstände irgendwann einen Flaum entwickelten oder ob die Überreste einer Tütensuppe Nährboden für den Schimmel gewesen waren, kurz bevor ich die Porzellantasse kopfschüttelnd in den Müll wandern ließ. Der Rest des Geschirrs sah hingehen noch einigermaßen in Ordnung aus, sodass ich die Teller problemlos und ohne an einem Würgereiz - der aufgrund gewisser sexueller Orientierung eigentlich kaum vorhanden war - zu verenden in die Spülmaschine räumen konnte, die ich im direkten Anschluss per Knopfdruck dann auch anstellte. Insgesamt wuselte ich sicher eine geschlagene Dreiviertelstunde durch die recht kleine Küche, weil ich mich für die ein oder andere Ecke dann doch an den Putzmitteln bediente, von denen ich immer noch nicht so genau wusste, woher diese eigentlich stammten. Ob der Vorbesitzer sie unter der Spüle zurückgelassen hatte? Ich konnte mich jedenfalls nicht daran erinnern, welches gekauft zu haben und ich bezweifelte, dass Tauren oder gar Vahagn sich die Mühe gemacht hatten. Ich hing gerade noch ein sauberes Küchentuch an den dafür vorgesehenen Haken über der Spüle und war damit dann offiziell zufrieden mit meinem Werk, woraufhin ich schließlich ins Wohnzimmer zurückkehrte. Dort angekommen stützte ich mit einem angestrengten Schnauben die Arme in die Hüften, hatte eigentlich jetzt schon keine Lust mehr, weiter aufzuräumen. Ob high oder nicht, aber Ordnung zu schaffen war nun mal einfach nicht das, was ich in meiner Freizeit am liebsten tat. Das wiederum war schlecht, wenn ich mich im Chaos und Schmutz zumindest nüchtern nur ungerne länger als unbedingt nötig aufhielt, weshalb zumindest mein Loft in Norwegen immer relativ ordentlich und gepflegt gewesen war. Fairerweise musste man wohl aber auch dazu sagen, dass ich ein großer Freund vom kontinuierlichen immer mal ein bisschen aufräumen war, als auf einen Schlag alles erledigen zu müssen. Das konnte einen an schlechten Tagen natürlich ausreichend beschäftigen, negative Gedanken in den Hintergrund rücken lassen, aber für gewöhnlich nervte es mich einfach nur zusätzlich, bei mieser Laune dann auch noch einen gefühlt meterhohen Turm an Geschirr verräumen oder den Wäscheberg sortieren zu müssen. Allerdings hatte ich diese Prinzipien über die Zeit ein wenig vernachlässigt und musste dafür jetzt in den sauren Apfel beißen. Das größte Übel wartete allerdings ja noch auf uns. Primär wohl auf mich, weil ich Sammy ausschließlich darum bitten würde, den blauen Müllsack für mich aufzuhalten, damit ich darin in etwa achtzig Prozent der Einrichtung meines Schlafzimmers versenken konnte. Während meiner Trips hatte ich meine heiligen vier Wände immerhin kaum verlassen und dementsprechend demoliert waren wohl das Bett, die Kleiderschränke und Kommoden. Von der Dekoration in Form von Bildern, Vasen oder Lampen mal ganz zu schweigen. Ich wollte also eigentlich gar nicht wissen, wie es hinter der verschlossenen Tür am Ende des Flures aussah, aber im Bad dürfte bis auf ein paar Staubflusen und den Mülleimer nahe der Toilette nichts zu entsorgen sein. Genauso wenig war das Gästezimmer wirklich dreckig geworden, weil Taurens und Vahagns Sinn für Ordnung nicht irgendwann auf der Strecke geblieben waren. Im Endeffekt führte also kein Weg daran vorbei, meine damalige Höhle des Löwen zu betreten. Ich lehnte mich seitlich mit der Hüfte gegen die Sofalehne, was mich sofort in der Zeit zurück versetzte, als ich meinen ziemlich erfolglosen Fluchtversuch gestartet hatte. Am Ende des Tages hatte ich dann unweit jener Lehne mit einer blutigen Nase und einer aufgeplatzten Lippe auf dem Boden gelegen und außerdem Samuele kennengelernt, den ich inzwischen eigentlich nicht mehr missen wollte. Als jemand, der als einziger mein mittlerweile wohl größtes Geheimnis kannte, war er mir trotz der Tatsache, dass wir uns faktisch noch nicht besonders lange kannten, sehr vertraut. Generell mochte ich seine Art, auch wenn man aus dem gewissenhaften Cafébetreiber sicherlich noch einiges mehr rausholen könnte. Dennoch fand ich Sam grundlegend sehr sympathisch und fühlte mich wohl in seiner Gegenwart. War ihm außerdem unheimlich dankbar für die Bürde, die er auf sich genommen hatte. Gut, das Ganze war nicht unbedingt so richtig freiwillig gewesen, aber er hatte sich meines Erachtens nach mit der Situation arrangiert, auch wenn ich ihm hier und da vielleicht immer noch nicht ganz geheuer war. Aus dem Grund war es mir wohl gleich doppelt unangenehm, mein ehemaliges Schlafzimmer anzusprechen, weil ich eigentlich nicht wollte, dass er sah, in was für einem Chaos ich lange Zeit gelebt hatte. Warf einfach ein noch viel schrägeres Bild auf mich, als er das ohnehin schon von mir hatte, aber grundsätzlich hatte ich wohl nicht wirklich etwas zu verlieren, weshalb ich letztlich leise seufzend mit den schmalen Schultern zuckte. "Schätze, dass das Schlafzimmer der einzige Raum ist, um den ich mich noch kümmern muss. Ich warn' dich schon mal vor... sieht nicht gut aus da drin.", murmelte ich nachdenklich und nickte dann in Richtung der gegenüberliegenden Seite des Hauses, wo sich besagter Raum befand, ehe ich wenige Augenblicke später mit fast schon vorsichtigen Schritten an die Tür heran trat.
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Richard war sich selbst scheinbar nicht so ganz klar darüber, nach welcher Reihenfolge oder nach welchem System er bei der Aufräumaktion vorgehen wollte. Auch dieses Mal wartete ich aber sehr geduldig darauf, dass er mir zumindest eine sehr grobe Anweisung gab, weil mir einfach nicht wirklich wohl dabei wäre mich in seinen vier Wänden ungefragt vollkommen frei zu bewegen. Das wäre in etwa so als wäre er an seinem ersten Tag in meiner Wohnung losgezogen und hätte sämtliche Schränke einfach nur aus Neugier auf den Kopf gestellt. Oder als wäre er unerlaubt noch tiefer in meine Privatsphäre eingedrungen, indem er ungefragt mein Schlafzimmer durchwühlte. Es war nicht so als hätte ich das Gefühl Irgendwas hinter jener Tür verstecken zu müssen, aber das war einfach eine Sache von Respekt, den man einander unter allen Umständen entgegenbringen sollte. Ohne den jeweils anderen zu respektieren kam man schließlich nicht weit, aber bisher hatten Richard und ich damit auch keine Probleme... mehr. An dem Abend, als ich ihm meine Faust ins Gesicht gedonnert hatte, war ich mir deutlich weniger sicher damit gewesen, dass wir beide noch auf einen grünen Zweig kamen. Diesbezüglich hatte ich jetzt aber nichts mehr zu meckern - von dem aufmüpfigen Drogenjunkie war nicht mehr wirklich etwas übrig geblieben und Angst hatte ich auch keine mehr vor ihm. Wir beide hatten also zweifelsfrei auf zwischenmenschlicher Ebene einige Fortschritte miteinander gemacht. Zu Anfang hatte ich absolut nichts mit ihm - oder Sabin, oder Hunter, oder Tauren, oder Cosma, oder wie sie noch alle hießen - zu tun haben wollen und mittlerweile glaubte ich jedoch zu wissen, dass Richard gar nicht so verkehrt war. Jetzt, wo er nicht mehr so nach Drogen lechzte, war recht offensichtlich, dass er was im Kopf hatte und wenn er nicht gerade schlechte Laune hatte, dann ließ sich auch gut mit ihm reden - und wenn es nur irgendein belangloser Mist war, vollkommen egal. Jedenfalls schien meine erste Aufgabe nach kurzer Überlegung des Dunkelhaarigen das Wohnzimmer zu sein. Ich nickte nur einmal schwach und dann war der Engländer selbst auch schon auf dem Weg in die Küche. Einen kurzen Moment lang sah ich ihm noch nach, dann schleppte ich mich in den Wohnbereich und blieb dort erst einmal nahe des Couchtiches stehen. Verschaffte mir einen groben Überblick, aber so viel gab es hier eigentlich gar nicht zu tun. Lag wahrscheinlich daran, dass Richards ehemaliger Mitbewohner noch eine kleine Weile lang hier gelebt hatte, nachdem der Hausherr ausgezogen war. Zwar würde ich wiederum nicht behaupten wollen, dass jener einen ausgeprägten Sinn für Ordnung bewies, aber wenn ich hier nur noch wegwollen würde, dann hätte ich wahrscheinlich wiederum auch nicht besonders viel Lust dazu, nur mehr als das Nötigste zu erledigen. Wenn überhaupt ließ sich das Ganze also maximal oberflächlich von mir beurteilen, während ich Stück für Stück das wenige Zeug einsammelte, das herumlag. Das bedeutete überwiegend lediglich ein bisschen Kram an seinen Platz zurückzuräumen - Fernbedienungen auf den Tisch, Sofakissen wieder ordentlich aufstellen, die Sofadecke noch falten und dann setzte ich mich kurzzeitig auf die Armlehne der Couch, um meinen Fuß zu entlasten. Er tat zwar nicht richtig weh, aber ich ging gerne auf Nummer Sicher, weil ich von den Schmerzmitteln noch immer nicht ganz absah und das mein Urteilsvermögen in dieser Hinsicht durchaus trüben konnte. Als ich dann wieder aufstand räumte ich noch ein schmales Taschenbuch zurück in den Bücherschrank neben dem Fernseher und ging im Anschluss zurück zum Couchtisch. Rückte den Teppich darunter für meinen inneren Monk wieder gerade, weil das einfach blöd aussah und sah dann auf die zwei leeren Chipstüten und die angefangene Packung Kekse runter. Würde wohl alles in den Müll wandern, aber soweit ich das sehen konnte gab es im Raum direkt keinen Eimer. Ich nahm den ganzen Kram also gerade in die Hand, um ihn in die Küche zu tragen, da kam Richard zu mir in den Raum und sah schon zu diesem Zeitpunkt eher nur noch minder motiviert dazu aus, weiterzumachen. Außerdem folgte auch eine Warnung seinerseits, dass das noch anstehende Schlafzimmer im Gegensatz zum Wohnbereich wohl eher weniger Kategorie Zuckerschlecken sein würde. Ich zuckte leicht mit den Schultern, sah ihn neutral an. "Ach, was soll's... ein bisschen Action kann mir kaum schaden.", meinte ich nur ironisch und recht guter Dinge. Natürlich würde ich das Aufräumen von Chaos jetzt nicht unbedingt als nervenaufreibende Action bezeichnen, deshalb auch die Betonung, aber es war wohl Allemal aufregender als wochenlang auf dem Sofa rumzuhängen. Vielleicht auch ein kleiner Schock im ersten Augenblick, aber nun gut. Ich begab mich erstmal noch in die Küche, um dort nach dem Mülleimer nahe der Spüle Ausschau zu halten. Der war maximal halbvoll, als ich die Verpackungen mitsamt übriger Kekse hineinschmiss. Ich hatte ja eine ganze Weile lang selbst zwischen Junkies gepennt und dadurch war mir durchaus bewusst, dass ein Müllsack für den Raum allen Übels ziemlich sicher notwendig sein dürfte. Allerdings war ein gewöhnlicher Müllbeutel nicht gerade widerstandsfähig, was scharfe oder zerbrochene Gegenstände anbelangte, also war der bereits vom Engländer in der Hand gehaltene Müllsack die deutlich bessere Option dafür. Richard war gerade dabei die Tür aufzuschieben, als ich zu ihm aufschloss und... ja, das unschöne Ausmaß der Verwüstung war dann im Grunde schon auf den ersten Blick für mich sichtbar. Der Dunkelhaarige war wohl nicht selten ausgetickt und hatte das am Interieur ausgelassen - das gab im Gegensatz zu einem Menschen nämlich keinen Widerstand -, aber schlechte Emotionskontrolle war für Abhängige nicht gerade ungewöhnlich. Ich atmete einmal etwas tiefer ein und atmete dann seufzend wieder aus, bevor ich zu dem jungen Mann sah. "Soll ich dir helfen, oder willst du allein..?", stellte ich ihm eine halbe Frage, deren Bedeutung aber relativ klar sein dürfte. Es war eben sein Schlafzimmer und es war durchaus möglich, dass er eher nicht wollte, dass ich hier unnötig viele, unschöne Details zu Gesicht bekam. Zumindest nicht noch mehr, als das eben ohnehin schon der Fall war. Ich würde mich also weiterhin ganz nach ihm richten - waren schließlich seine vier Wände und nicht meine.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Ich würde das Aufräumen jetzt eigentlich weniger als Action titulieren. Viel mehr empfand ich es als wirklich nervenaufreibend und alles andere als spaßig, aber es musste nun mal erledigt werden. Dabei war es vermutlich gar nicht mal so schlecht, dass ich durch Samuele begleitet wurde, denn schon der Anblick meines ziemlich demolierten Schlafzimmers ließ mir einen Kloß im Hals anschwellen. Am liebsten hätte ich die Tür einfach wieder zugezogen und das Haus verlassen, aber dass das nicht zur Debatte stand, musste ich wohl nicht noch einmal extra erwähnen, oder? Mir stand es förmlich ins Gesicht geschrieben, wie unangenehm mir das Ganze war, auch wenn ich mich grundlegend nicht dafür schämen musste. Schließlich hatte jeder Mensch sein Päckchen zu tragen und meines war nun mal die Drogensucht gewesen, aus der das ganze Chaos hier in meinem Schlafzimmer letztlich resultierte. Und um einen finalen Schlussstrich unter diese Leidensgeschichte ziehen zu können, war es unumgänglich, dass ich mich nicht nur den psychischen, sondern auch den physischen Trümmerteilen meines Lebens annahm und diese bereinigte. Ich schluckte also etwas schwer, als ich den ersten Schritt in das ziemlich verwüstete Zimmer tat, in dem man kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte, ohne auf Scherben oder zersplittertes Holz zu treten. Gut, dass Samuele und ich festes Schuhwerk besaßen, ha ha. Jedenfalls hielt ich mittig des Raumes ein weiteres Mal inne, um mich einmal im Kreis zu drehen. So wollte ich mir über das Ausmaß der Zerstörung einen groben Überblick verschaffen, aber im Grunde genommen war das vollkommen überflüssig. Es gab kaum noch ein Möbelstück, das von meinen Ausrastern verschont geblieben war und mit einem einzigen Müllsack würden wir hier wohl nicht sehr weit kommen. Ich seufzte - Resigniert, frustriert, demotiviert. "Ich denke, dass so ziemlich alles auf den Schrott wandern wird.", stellte ich mehr für mich selbst fest, als dem Italiener damit auf seine Frage zu antworten. Dann zuckte ich allerdings erneut mit den schmalen Schultern und richtete mein Blick direkt in den von Samuele. "Ich hole das Kehrblech. Hier lässt sich nur das, was zu Bruch gegangen ist, von uns entsorgen.", murmelte ich nachdenklich vor mich hin, während ich zur Schlafzimmertür zurück lief, um mich an Sammy vorbei in den Flur zu schieben. Von dort aus schließlich die Küche anzusteuern, um den Handfeger und das Kehrblech zu organisieren. So konnten wir heute immerhin die Trümmer der insgesamt zwei kaputten Vasen, einigen gerahmten Bildern und der drei kleineren Tischlampen in den Müllsack befördern. Für die beschmierten Wände und das stellenweise in Mitleidenschaft gezogene Laminat musste ich wohl Fachkräfte engagieren, weil ich handwerklich leider so begabt war, wie eine geruchsblinde Maus bei der Futtersuche. Ich wusste zwar, dass ich Sabin dahingehend ganz sicher um Hilfe hätte bitten können, wo er doch vor noch nicht allzu langer Zeit mit Hunters Jungs die Wohngemeinschaft auf Vordermann gebracht hatte, aber dem Italiener sollte auch mal ein wenig Ruhe vergönnt sein. Auch wenn es in den letzten Tagen vor meiner Verlegung in Sammys Obhut hier und da etwas anstrengend mit ihm geworden war, hatte ich ihm viel zu verdanken und wollte ihn im Nachhinein nicht mit solchen belanglosen Kleinigkeiten behelligen. Genauso wenig würde ich Hunters Männer um Hilfe bitten. Zum einen würde es den Amerikaner vermutlich ziemlich gegen den Strich gehen, wenn ich seine Unterstellten als eigene Individuen fragte, ob sie mir behilflich sein könnten und zum anderen wollte ich dieses Gesocks einfach nicht länger in meiner Nähe haben, als das unbedingt nötig war. Meine Erfahrungen mit dem Haufen waren schließlich nicht besonders schön, auch wenn man in dem Punkt natürlich nicht alle über einen Kamm scheren sollte. Ein paar der jungen Männer waren tatsächlich ganz in Ordnung gewesen. Zumindest, soweit ich das mit meinem nach Drogen lechzenden Gehirn hatte beurteilen können. Ich brauchte für die Besorgung der Aufräumutensilien nicht länger als etwa zwei Minuten, um wieder zu Samuele aufzuschließen, der geduldig an der Tür stehend gewartet hatte. Ich passierte den Rahmen und ging dann kurz danach auch schon in die Knie, um die ersten Scherben dem Müll zuzuführen, was mit einem leisen Rascheln und dem darauffolgenden Klirren des Glases einherging. Ich wiederholte dieses Prozedere zwei oder drei Mal, bis ein Großteil der Scherben beseitigt war und ich an ein Bild aus meiner alten Galerie stieß, welches ich mit nach Kuba genommen hatte, als ich noch halbwegs zurechnungsfähig gewesen war. Es handelte sich dabei um ein Gemälde von van Gogh, was in dem Augenblick ironischer nicht hätte sein können. Ich würde mich niemals so weit aus dem Fenster lehnen und meine künstlerischen Fertigkeiten mit denen des renommierteren Künstlers von 1890 vergleichen wollen, aber wir hatten wohl beide in etwa den selben Knacks. Wahnvorstellungen, Depressionen, Alpträume und die Angst, irgendwann wieder alleine leben zu müssen. Einerseits war es natürlich genau das, was ich wollte - meine Freiheit zurück, wo ich doch auch sonst eher wenig von Wohngemeinschaften hielt. Aber inzwischen hatte ich mich einfach ein bisschen zu sehr an ein einen Mitbewohner gewöhnt und wusste ehrlich gesagt auch nicht, ob ich das Leben alleine überhaupt schon wieder gestemmt bekam. Bis es jedoch so weit war, dass ich wieder in meine eigenen vier Wände zurückkehren konnte, würde es wohl sowieso noch dauern und deshalb versuchte ich Gedanken dahingehend fürs Erste zu verdrängen. Nichtsdestotrotz hing ich an dem Bild sicher auch eine Ewigkeit fest, hatte mich sogar zwischenzeitig auf das Bett fallen lassen, welches aufgrund eines weggebrochenen Beines ein bisschen schief stand. Zum Sitzen reichte es aber allemal und so verlor ich mich für einige wenige Sekunden in das Portrait des Künstlers, bevor ich es mit einem leisen Seufzen auf das mittlerweile leicht staubige und ziemlich in Falten liegende Kopfkissen legte. Mein Blick galt kurz darauf wieder dem Italiener, der noch immer etwas unbeteiligt mit dem Müllsack in der Hand nahe der Tür stand und allgemein ein wenig verloren wirkte. "Kennst du die Geschichte von Vincent van Gogh?", fragte ich ihn schließlich und bedeutete ihm mit einem Nicken, neben mir Platz zu nehmen.
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Wirklich eine richtige Antwort auf meine Frage bekam ich von Richard nicht, also sah ich ihm einfach nur nach, als er Besen und Schaufel holen ging. Als er aus meinem Sichtfeld verschwand warf ich noch einmal einen genaueren Blick ins Zimmer. Ich tat es ihm zwar nicht gleich, sondern blieb nahe des Türrahmens stehen, aber auch von hier aus war mehr als deutlich sichtbar, dass er wirklich zu lang und viel zu viel konsumiert haben musste. Allerdings war Crystal wohl auch ganz allgemein nicht gerade eine harmlose Droge und demnach war diese Größenordnung von... Ausschweifungen wohl eher nicht verwunderlich, wenn der Engländer wirklich über etliche Wochen hinweg an der Nadel gehangen hatte. Ich schüttelte für mich selbst ein wenig den Kopf darüber und seufzte leise, kurz bevor Richard wieder bei mir auftauchte und dann auch schon zeitnah damit anfing zumindest einen Bruchteil des Schutts zu beseitigen. Wirklich viel helfen konnte ich dem jungen Mann dabei eher nicht, aber das freute meinen Fuß wiederum ganz bestimmt. Denn ich konnte mich ein wenig in den Türrahmen lehnen - dort stand ich mit Abstand am allerwenigsten im Weg - und dadurch immer mal wieder etwas den Knöchel entlasten. Nicht permanent, weil sich sonst früher oder später natürlich mein anderer Fuß wegen der Belastung durch volles Körpergewicht beschwert hätte, aber eben doch ein bisschen. Der Dunkelhaarige schien mir jetzt nur leider fast so ein bisschen geknickt. Vermutlich war das kein Wunder, weil es wirklich nicht schön war so direkt mit seiner Vergangenheit konfrontiert zu werden und ihm das bestimmt sauer aufstieß. Ich hatte zwar fast immer ein paar gute, einfühlsame und aufbauende Worte parat, aber in diesem Augenblick war wohl selbst ich so ein kleines bisschen sprachlos. Es war schlichtweg eine absolut unangenehme Situation für ihn und ich wollte nun auch nicht mit sowas abgedroschenem wie 'Na aber immerhin hast du's jetzt hinter dir.' oder Ähnlichem kommen. Das wusste er selbst und das half ihm jetzt auch nicht wirklich dabei besser mit dem Chaos klarzukommen. Also hielt ich vorerst einfach die Klappe und hielt ihm wenn nötig die Tüte auf, damit er nicht noch wegen zu geringer Öffnungsspanne was daneben kippte und neu auflesen musste. Das war sicherlich eines der letzten Dinge, die er im Augenblick gebrauchen konnte. Letztlich schien zumindest vom Boden so ziemlich alles beseitigt worden zu sein, das in der Mülltüte Platz finden konnte. Was die Möbel anbelangte würden wir wohl andere Geschütze auffahren müssen - und ja, das wir war bewusst gewählt. Vielleicht war der junge, leicht schräge Mann nicht unbedingt mein bester Freund, aber ich half einfach gern. Nicht jedem, aber eben Leuten, die es in meinen Augen verdienten. Richard gab sich inzwischen wirklich Mühe damit einen brauchbaren Neustart seines Lebens auf die Beine zu stellen und da konnte ich theoretisch helfen. Im Gegensatz zu ihm oder Sabin hatte ich schlichtweg einheimische Connections und es würde locker ausreichen ein oder zwei Anrufe zu tätigen, um einen kleinen Lieferwagen zu beordern, der ihm mitsamt Fahrer und ohne viel Aufwand das Zeug vom Hals schaffen würde. Entweder gegen eine kleine, für den Engländer bestimmt nicht einmal nennenswerte Gebühr oder gegen einen milden, zukünftigen Gefallen. Kuba war im Grunde voll von Kunstliebhabern, wenn man sich die aufwendig gestalteten Fassaden vieler Häuser hier ansah, eines der zahlreichen Museen betrat oder all die Straßenkünstler betrachtete, die sich gerade an den Wochenenden nur so in den Straßen der Hauptstadt tummelten. Vielleicht fand ja einer meiner Kontakte Gefallen an einem kleinen Bild oder Ähnlichem als Gegenleistung, ansonsten taten es sicher auch ein paar wenige Groschen. Die Kubaner waren allesamt sehr hilfsbereit, da würde ich also wirklich meinen Arsch drauf verwetten. Apropos Kunst - Richard hatte sich in der Zwischenzeit aufs Bett sinken lassen und starrte förmlich auf ein Gemälde, das er sicherlich noch von früher - vor Kuba - hatte. Ich war ihm wohl ganz dankbar dafür, dass er mich zu sich aufs Bett orderte, weil ich nicht so recht wusste wohin mit mir. In Eigenregie die Stille zu brechen schien mir nicht richtig zu sein, wo er doch gerade so nachdenklich war und auf seine Frage hin konnte ich lediglich schwach mit dem Kopf schütteln, als ich bereits auf dem Weg zu ihm war. Allerdings setzte ich mich erst einmal unweit von ihm hin, bevor ich meine Antwort noch mit ein paar Worten genauer definierte. "Nein... aber du würdest wohl auch bei jedem anderen Künstler die gleiche Antwort von mir kriegen.", stellte ich seufzend fest, zuckte ein klein wenig mit den Schultern. Es war wohl einfach Fakt, dass ich mich bis dato nie wirklich für Kunst interessiert hatte. Natürlich kannte ich ein paar Namen renommierter Künstler, aber eben nur so die ganze bekannten, die eigentlich sowieso jeder kannte - bei den Namen hörte es dann nämlich auch schon auf. Kunst konnte sicherlich etwas Schönes sein, wenn man sich lang und ausgiebig damit befasste. Nur fehlte mir dafür die Zeit und vor allem die Muse. Ich war ein ruhiger Mensch, aber gerade Kunst war ein so unfassbar breit gefächertes Thema, das gefühlt keinen Anfang und auch kein Ende hatte. Ich war wirklich geduldig, aber ich lernte wohl lieber eine neue Sprache, womit ich dann irgendwann mehr oder weniger fertig war und mich dann einem neuen Projekt widmen konnte, während die Kunst einfach kein Ende finden würde. War wohl nicht so mein Ding.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Es dauerte einen Augenblick, bis Samuele zu einer Antwort ansetzte, was ich persönlich jetzt weniger schlimm fand. Ich hatte es nicht besonders eilig und es war in meinen Augen auch vollkommen nachvollziehbar, dass der junge Mann sich erst einmal hinsetzen wollte, um den noch immer nicht zu einhundert Prozent verheilten Fuß zu entlasten. Bereits auf dem Weg zum Bett signalisierte mir Sammy allerdings mit einem ziemlich deutlichen Kopfschütteln, dass er nichts über van Gogh oder sein Leben wusste und das... überraschte mich nicht. Die Frage war von Anfang an vollkommen überflüssig gewesen, erschien mir aber als eine Art Einleitung ins Gespräch gar nicht so verkehrt. Käme schließlich ziemlich komisch, wenn urplötzlich aus mir herausplatzen würde, wie ähnlich der Künstler und ich uns zumindest auf Grundlage der Erzählungen waren - eine weitere Therapie wegen Wahnvorstellungen wollte ich nämlich ganz gerne vermeiden. So allerdings konnte ich weiter ausholen und gen Ende dann auf den Punkt zu sprechen kommen, der mir eigentlich auf der Seele lag. Das kostete in Summe natürlich etwas mehr Zeit, aber wie ich bereits erwähnte, war ich nicht auf der Flucht und ob wir letztlich noch eine halbe oder dreiviertel Stunde hier sitzen würden war mir persönlich vollkommen egal. Hauptsache ich konnte mir weiterhin den psychischen Druck von der Seele reden, war der junge Mann doch ein wirklich guter Zuhörer. Nachdem wir miteinander gesprochen hatten, ging es mir bis jetzt immer besser und ich hoffte einfach, dass das heute auch der Fall war. Ich wartete also noch Samueles verbale Antwort ab, ehe ich meine Hände auf meinem Schoß ineinander faltete und den Blick, nachdem dieser kurzzeitig den meines aktuellen Mitbewohners gestreift hatte, auf den Boden richtete. "Ich weiß gar nicht so genau, wo ich damit anfangen soll, über ihn zu erzählen. Ein wahnsinnig interessanter Künstler, der bei meinen Schülern aufgrund seiner Geschichte sehr beliebt war.", setzte ich an, merkte jedoch, dass es mich mehr brauchen würde, wie gewohnt mit meinem ganzen Herzen für Kunst, Künstler und deren Epochen zu schwärmen. Gefiel mir nicht, aber eventuell legte sich das ja, wenn ich mich erst einmal - im positiven Sinne - in Rage geredet hatte und mich die Euphorie packte. "Er war Sohn eines Pfarrers, hatte fünf Geschwister und war ursprünglich Verkäufer, der nur ab und an mal gezeichnet hat. Da mich Zahlen persönlich immer ziemlich langweilen, verschone ich dich jetzt auch einfach mal mit den Geburts- und Sterbedaten und komme direkt zum interessanten Teil. Der Kerl... hat zu Lebzeiten kaum eine Mark mit seinen Bildern verdient. Ist das zu glauben? Wenn du jetzt auf einer Kunstauktion van Goghs Bilder siehst, dann sprengen die Preise sämtliche Rahmen von Gut und Böse...", murmelte ich nachdenklich vor mich hin und schüttelte beiläufig ein wenig fassungslos mit dem Kopf. Es war schon nicht mehr normal, wie horrend die Preise für eines von Vincents 864 Gemälden oder eine seiner insgesamt 1000 Zeichnungen waren. Damals hätte der Mann von dem heutigen Geld leben können wie der Kaiser in Frankreich, wo er letztlich auch gestorben war, aber auch er musste erst vor die Hunde gehen, damit jemand auf diese kaputte Seele aufmerksam wurde. Das Leben war manchmal wohl einfach ziemlich grausam. "Jedenfalls... hat er's als Verkäufer nicht lange gemacht. Hielt nicht besonders viel von Heuchelei und auch seine Arbeit als Lehrer und Prediger hat ihn nicht besonders erfüllt, dann fand er irgendwann schließlich zur Kunst. Einer seiner Brüder, Theo, leitete um 1880 eine Kunsthandlung, in der Vincent seine Bilder verkaufen durfte. Wenig erfolgreich, möchte ich dazu sagen, war er damals noch nicht im Ansatz so gut, wie kurz vor seinem Tod, aber das eigentlich Interessante passierte...", ich rieb mir nachdenklich mit einer Hand über das Kind, musste kurzzeitig in mich gehen, um in meinem Oberstübchen nach einer bestimmten Jahreszahl zu kramen. Diese hatte ich erst neulich in einem der Heftchen entdeckt, in dessen Seiten ich meine Nase steckte, wenn ich im Haushalt gerade mal nicht so viel zutun hatte. Immerhin wollte ich was Kunstgeschichte anging weiterhin auf dem neusten Stand sein. Das ganze Wissen durfte um keinen Preis einstauben oder in einer Schublade verrotten. "...im Jahr 1888. Ja, kurz bevor er letztlich starb. Er hatte sich nach einem Streit mit einem guten Freund das Ohr abgeschnitten. Davon hast du sicherlich gehört, oder?" Was für eine Frage. Immerhin hatte van Gogh nur deswegen so großes Aufsehen erregt und konnte sich darauffolgend kaum mehr vor Ärzten retten, die ihm irgendeine skurrile Krankheit diagnostizieren wollten. Dabei war der Kerl einfach nur verrückt gewesen. Schluckte Farbe und war damit irgendwann nicht weniger abhängig gewesen, als ich vom hochgiftigen Methamphetamin. "Tja... er wurde daraufhin per Petition in einem Krankenhaus festgehalten. Die Gesetze damals waren komisch, aber irgendwann schaffte er es raus und zog mehr oder weniger freiwillig in eine Nervenheilanstalt, was man in Fachkreisen als sein Karrierehoch betitelte. Erst in der Klinik malte er die Bilder, die wir heute von ihm kennen. Die roten Weingärten von Arles oder An der schwelle zur Ewigkeit beispielsweise. Und irgendwie... ich weiß nicht... fühle ich mich aktuell wie er. Nicht auf sein künstlerisches Talent bezogen. Das macht ihm so schnell keiner nach, aber manchmal weiß ich auch nicht so genau, wohin eigentlich mit mir. Von der Drogenabhängigkeit und den daraus resultierenden geistigen Leiden mal ganz abgesehen. Mir fehlt zwar kein Ohr, aber dafür eine funktionierende Gesichtshälfte...", brachte ich schließlich ein wenig ironisch auf den Punkt, dass ich die Ähnlichkeit zwischen van Goghs und meiner Persönlichkeit ziemlich erschreckend fand. Natürlich gab es auch noch etliche andere Menschen, Maler, Bildhauer, Handwerker, mit denen ich mich hätte vergleichen können, aber mein Blick war nun mal gerade auf das Gemälde gefallen und da war in mir natürlich gleich wieder der brodelnde Springbrunnen voller Informationen angesprungen, um mich mit unnötigen Informationen aus dem Jahr 1800 zu versorgen. Und hey, es ließ sich nicht abstreiten, dass es nicht auch in Hinsicht auf den Krankheitsverlauf van Goghs Parallelen zu mir gab. "Außerdem liege ich dir aktuell mehr oder weniger genau so auf der Tasche, wie Vincent seinem Bruder damals. Und irgendwie... ach, keine Ahnung. Ich rede schon wieder zu viel Mist.", beendete ich das bis dahin ziemlich einseitige Gespräch ziemlich abrupt, noch bevor ich Samuele überhaupt aktiv die Möglichkeit dazu gegeben hatte, sich diesbezüglich zu äußern, weil ich einfach selbst merkte, dass die Vergleiche irgendwie schwachsinnig waren. Außerdem brachten sie mir nichts und waren noch weniger eine Entschuldigung für mein Verhalten. Was also versuchte ich Sammy damit zu sagen? Wusste ich wohl selbst nicht so genau, aber was ich sagen konnte war, dass es mir trotz allem ein Stückchen besser zu gehen schien. Ein bisschen über Kunstgeschichte zu reden schien also ungeachtet der Vergleiche gutzutun, auch wenn ich von meiner gewohnten Euphorie weiterhin ziemlich weit weg war.
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Ich hätte den Redeschwall vermutlich eigentlich schon ahnen können. Vielleicht rechnete ich einfach deshalb etwas weniger damit, weil ich mich zuvor ja als komplett unwissend geoutet hatte und er daraufhin unter Umständen alles etwas hätte abkürzen können. Das stellte mich schließlich als eher nur minder kunstinteressiert hin, aber es traf wohl der zweite, mögliche, vollkommen gegensätzliche Fall ein. Der Engländer holte stattdessen noch weiter aus und erzählte mir recht ausführlich etwa die halbe Lebensgeschichte Van Goghs, womit ich wiederum aber auch kein Problem hatte. Ich hatte es schließlich nicht eilig, sondern noch den ganzen Tag Zeit und so schenkte ich Richard aufmerksam mein Gehör. Folgte der Geschichte über das eigentlich nicht vorhandene Verkaufstalent, die Unlust zum Predigen, über das Krankenhaus, bis zur freiwilligen Klapseneinweisung und noch darüber hinaus zum eigentlichen Höhepunkt des Künstlerdaseins. Von alledem hatte ich bis dato noch nichts gehört und ich war mir ehrlich gesagt aber auch relativ sicher damit, dass die Erinnerung an diese Informationen nicht besonders lange ihr Dasein in meinem Kopf fristen würde. Nicht, weil es mich nicht interessierte, sondern weil mein Kopf einfach schon wahnsinnig voll mit wirklich wichtigen Dingen war. Es schafften im Grunde wirklich nur noch Daten auf einen langfristigen Speicherplatz in meinem Oberstübchen, die ich entweder brauchte oder für die ich Feuer und Flamme war. Van Gogh gehörte zweifelsfrei in keine dieser beiden Kategorien, aber von der Geschichte mit dem Ohr hatte ich schon gehört, weshalb ich diesbezüglich leicht nickte, während ich Richard weiterhin ansah. Dafür war der Künstler wohl mit Abstand am bekanntesten unter Nicht-Kunstinteressierten, was irgendwie ein bisschen traurig war. Das fehlende Ohr hatte zwar einen blöden Stein hinsichtlich des Krankenhausaufenthalts für ihn ins Rollen gebracht, aber er bestand dennoch aus weit mehr als dieser einen Aktion. Man sollte Menschen nicht nur für eine einzige Tat ihres ganzen Lebens halten, sondern auch dahinter sehen, wenn man sich schon das Maul darüber zerreißen wollte. Ich war aber ohnehin nicht der Typ Mensch für Lästereien oder Schubladendenken, das löste bei mir ziemlich schnell sich aufstellende Nackenhaare aus. Noch trauriger war allerdings, dass er selbst an seinen Gemälden scheinbar nie gute Summen verdient hatte, sondern das erst nach seinen Lebzeiten gekommen war. Das machte sein Leben noch wesentlich weniger lebenswert als ohnehin schon, der Kerl tat mir wirklich leid. Mein Blick war inzwischen etwas nachdenklich auf den Boden abgerutscht und ich sah erst wieder zu dem Engländer neben mir auf, als er doch tatsächlich anfing sich selbst mit dem namhaften Künstler zu vergleichen. Er schien das ernst zu meinen, was sich aus seinen Gesichtszügen doch recht eindeutig erkennen ließ und ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Natürlich, ich hatte die skurrile Geschichte über seine Eltern nicht vergessen und fand das auch immer noch echt gruselig. Also ja, er hatte zweifelsfrei eine Schraube locker und sein Auge für Kunst erstreckte sich in meinen Augen bis in einen Bereich, in den es nicht vordringen sollte. Es ließ sich andererseits jedoch ganz gut ausblenden, jetzt wo er eben nicht mehr auf einem Drogentrip war und ein ganzes Stück weit normaler. Nach wie vor hier und da ein bisschen eigen, aber das war ja nicht schlimm. Es hatte eben jeder so seine eigenen Ticks, davon war ich selbst nicht auszuschließen. Als Richard aber letzten Endes damit abschloss, dass er nur wieder Mist redete, verzogen sich meine Lippen automatisch zu einem recht breiten Lächeln. "Also mal ganz ungeachtet der Tatsache, dass ich nicht verstehen kann, dass man sich freiwillig ein Ohr abschneidet...", beschloss ich mit einem ironischen Witz in das irgendwie sehr ernst gewordene Gespräch einzusteigen und grinste schief. "...redest du keinen Mist, Richard. Es ist gut, wenn du dir von der Seele redest, was dich bedrückt.", stellte ich erst einmal fest, dass ich das anders sah als er. Offenbar belastete ihn seine Situation ja weiterhin und es war gut, wenn er das loswurde. Auch dann, wenn er es über eine Kunstgeschichte einleitete - Hauptsache er fraß es nicht in sich rein. "Und dein Hirn wirst du schon wieder in Gang kriegen, da bin ich optimistisch. Wir können ja jetzt wieder raus und das sogar mehr als vorher, das hilft dir ziemlich sicher. Der kubanische, weiße Sand wirkt Wunder, das kannst du mir glauben.", redete ich optimistisch vor mich hin, fühlte mich dadurch auch selbst mal kurzzeitig in meine schwierige Phase zurückversetzt. Zwar war ich im Gegensatz zu dem Kunstliebhaber lediglich kopftechnisch von dem Stoff abhängig gewesen, aber leicht da rauszukommen war es eben trotzdem nicht gewesen. Ich hatte einmal etliche Stunden stumm unter einer Palme im Sand gesessen und darüber nachgedacht, wie es eigentlich für mich weitergehen sollte. Hatte mir selbst gedanklich ins Gewissen geredet und vielleicht brauchte Richard einfach einen solchen Platz. Irgendeinen Ort in der nahen Umgebung, wo er seine Ruhe haben und einfach mal denken konnte, ohne dabei den Stadtlärm - die vielen Oldtimer stanken in direkter Nähe unangenehm und waren nicht gerade leise unterwegs, auf Dauer waren die also eher weniger charmant - oder viele Menschen um sich herum zu haben. Allerdings konnte der Dunkelhaarige aktuell nicht alleine raus, er musste dabeiralso mindestens mich ertragen. "Und wenn die Strand nicht so zusagt kenn' ich auch etliche andere Ecken. Ich glaub du musst nur mal ein bisschen... in dich gehen, ohne den ganzen Lärm außenrum. Vielleicht sollte ich dich vorher aber mal mit zum Frisör nehmen... deine Haare sind echt lang geworden und auf mein Talent würde ich was das angeht an deiner Stelle nicht setzen.", fügte ich schulterzuckend noch ein paar Worte an. Strand wäre vielleicht aus der Warte gesehen gut, dass ich dann solange Schwimmen oder Surfen gehen konnte - je nach Wetter und Wellengang eben - und dabei trotzdem hin und wieder mal zu ihm rüberschielen konnte, ohne dabei unmittelbar in seiner Nähe zu sein. Auch, was den Frisör anbelangte, tat es ihm sicher gut unter Menschen und damit ein Stück mehr zurück in die Normalität zu kommen. In meiner Berufsfindungsphase hatte ich es tatsächlich auch kurzzeitig in einem Barbershop versucht, aber das hatte mich irgendwie gelangweilt. Dabei hatte ich nicht so freie Hand wie beim Kreieren neuer Kuchensorten oder Gebäckstücke auf der Speisekarte. Wenn der Kunde eine andere Frisur wollte, als ich für ihn am besten hielt, nervte mich das irgendwie. War nicht so, als hätte ich was das anging zwei linke Hände gehabt, aber wenn ich Richard wäre, würde ich mich auf die paar wenigen Wochen Erfahrung meinerseits lieber nicht verlassen. Zwar war schon noch sichtbar, was für eine Frisur der Engländer ursprünglich mal mit sich herumgetragen hatte, aber... puh, heikel. Was die Sache mit dem auf der Tasche liegen anging hatte Sabin dem jungen Mann aber scheinbar etwas verschwiegen. "Außerdem liegst du streng genommen nicht mir auf der Tasche, sondern Sabin... hat er dir das gar nicht gesagt? Als es darum ging dich bei mir einzuquartieren hab ich ihm erklärt, dass ich das finanziell auf Dauer nicht halten kann. Er hat mir im Café immer Beträge zum Ausgleich zugesteckt, wenn wir uns da getroffen haben.", klärte ich Richard was das anging auf, wunderte mich hörbar darüber, dass mein Landsmann ihn darüber nicht in Kenntnis gesetzt hatte. Miete direkt in Havanna war teuer. Ich verdiente zwar gut und irgendwie hätte ich es sicher hinbekommen eine zweite Person zu unterhalten, aber ich hatte ganz einfach mein Erspartes nicht für Jemanden anfassen wollen, den ich nicht einmal kannte. Demnach würde Richard die Kohle an Sabin und nicht an mich abstottern müssen, auch wenn das im Endeffekt wahrscheinlich gar keinen so großen Unterschied machte. Dachte ich jedenfalls. Ich konnte ja nicht wissen, dass der ehemalige Anhang der italienischen Mafia selbst auch schon mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatte. Auch, wenn es eigentlich keine Unsummen waren, die er mir gab. Im Grunde nur Geld fürs Essen und einen Abschlag für den Mehrverbrauch an Strom und Wasser. Wäre zwar nett, wenn mir auch die halbe Miete mitgezahlt werden würde, aber ich traute mich ja doch nicht das Sabin gegenüber anzusprechen.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
So wirklich nachvollziehbar war das in meinen Augen auch nicht, aber wenn man schwerwiegende psychische Probleme hatte, dann hielt man manchmal so einige skurrilen Ideen für total toll, obwohl sie das eigentlich gar nicht waren. Ich sprach da schließlich aus Erfahrung. Hätte ich die Sache mit Agnolo so einfach weggesteckt, dann wäre ich vermutlich auch nicht auf das schräge Brett gekommen, meine gierigen Griffel nach Methamphetaminen auszustrecken, sondern hätte mein Leben einfach vollkommen unbeschwert weitergelebt. Dass ich mich letztlich aber dafür entschieden hatte, mich in die Arme der Drogen zu flüchten, weil ich mir erhoffte, dass diese mir einen Teil der psychischen Last abnehmen würden, war nun auch eher weniger eine gute Idee gewesen. Nichtsdestotrotz hatte ich mich ins Verderben gestürzt und mein Handeln bis zum jetzigen Zeitpunkt auch nie in Frage gestellt. Anders wäre es vielleicht gewesen, wenn mich Sabin nicht aufgelesen und zu diesem Entzug verdonnert hätte, weil ich dann vor meinem Ableben vermutlich nie wieder zu einem normalen und gesunden Denken zurückgefunden hätte. In meiner Blase einfach weiterhin der festen Überzeugung gewesen wäre, dass das Meth die einzige Möglichkeit war, mit meinen seelischen Schmerzen fertig zu werden. Mittlerweile wusste ich, dass dem nicht so war und es einige andere Wege gab, die man mir erst hatte zeigen müssen. Sabin, Tauren und auch Samuele hatten dahingehend ganze Arbeit geleistet und vielleicht hatten van Gogh solche Leute einfach gefehlt. Alleine mit einem unsagbar unangenehmen Druck auf der Brust fertigzuwerden war schlichtweg unmöglich und das wusste ich mittlerweile. Natürlich waren das jetzt alles nur Spekulationen und Mutmaßungen, die mir niemand mehr bestätigen konnte und eventuell war der Kerl auch einfach anderweitig ein bisschen verrückt, aber ich blieb dabei, dass er nicht weniger einen Knacks in der Birne gehabt und sich den Drogen hingegeben hatte, wie ich selbst auch. Was den ironisch angehauchten Einstiegs Samueles anging, zuckten meine Mundwinkel kurzzeitig tatsächlich ein wenig in die Höhe und ich stieß ein halbherziges, eher ersticktes Schnauben aus, ehe ich auf dem Rest seiner Worte noch mein Gehör schenkte, ohne ihn dabei zu unterbrechen. Dabei war mir hier und da schon der Sinn danach gestanden, weil ich ihm gerne widersprochen hätte, aber wirklich erfolgreich wäre ich damit wohl nicht gewesen. Sammys Paradedisziplin war es nämlich, einem derart ins Gewissen zu reden, dass man ihm irgendwann nur noch glauben konnte und sich die Ratschläge zu Herzen nahm, auch wenn sie sich noch so schwachsinnig anhörten. Also versuchte ich den Teil, mich gegen ihn und seine Behauptungen aufzulehnen, zu überspringen, aber so wirklich funktionieren wollte das auch mit den guten Vorsätzen nicht. "Ich fühle mich aber blöd.", widersprach ich ihm, auch wenn es ja ganz offensichtlich doch etwas brachte, weil sich die Schlinge um meinen Hals zumindest ein kleines bisschen lockerte und den Kloß verschwinden ließ. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass ich mich plötzlich mit einem namenhaften Künstler und nicht mit dem Nachbarn aus dem dritten Stock verglich, was wusste ich schon. Der Italiener wäre aber nun mal nicht der, den ich kennen und zu schätzen gelernt hatte, wenn er nach den wenig aufmunternden Worten nicht noch nachlegen würde, um mich auch ja auf andere Gedanken zu bringen. In dem Fall wollte mich Samuele ganz offensichtlich dazu überreden, meinen Kopf buchstäblich mal in den Sand zu stecken. Und zwar in den weißen, kubanischen Sand, welchen es an den unzähligen Ständen nahe der Hauptstadt zuhauf gab. Dort sollte ich einfach mal für eine Weile in mich gehen und mich mittels der dort vorherrschenden Ruhe - wenn man das angenehme Meeresrauschen mal außen vor ließ -, ein bisschen sortieren und wieder zu mir finden. Eine schlechte Idee war das sicher nicht, aber ob ich mich schon bereit dazu fühlte, in meinem Oberstübchen aufzuräumen wusste ich ehrlich gesagt nicht. Hinterher stolperte ich über Dinge, mit denen ich mich noch nicht auseinandersetzen konnte oder wollte und die mich postwendend wieder an den Rand des ziemlich tiefen, schwarzen Lochs bringen würden. Aber im Endeffekt blieb mir wohl kaum etwas anderes übrig, als es darauf ankommen zu lassen, weil ich nicht ewig damit weitermachen konnte, mich vor dem Vergangenen zu verstecken. Ein Versuch war es wohl allemal wert und doch sträubte sich alles in mir dagegen. Trotzdem nickte ich den Vorschlag, beziehungsweise die Vorschläge des Italiener ab, sobald er einen Punkt gesetzt hatte, weil ich einfach der Meinung war, dass Samuele der aktuell noch mit Abstand nüchternste Kopf der Gruppe war, auf dessen Aussagen man durchaus etwas geben konnte. Außerdem war ein Besuch beim Frisur vielleicht tatsächlich gar nicht so schlecht. Just in diesem Moment fiel mir nämlich eine fiel zu lange Strähne meiner Mähne ins Gesicht und nach einem verzweifelten Versuch, sie durch bloßes Pusten aus meinem Sichtfeld zu entfernen, wischte ich sie letztlich doch mit der Hand von der Stirn. "Hey, ich hab gehört, so lange Haare sind aktuell total in.", scherzte mit einem lediglich sehr schmalen Lächeln auf den Lippen, nickte parallel dazu aber. "Aber ja, vermutlich hast du... wie immer Recht mit dem, was du sagst.", fügte ich dann ein paar ernste Worte hinzu und unterstrich diese dann auch wieder mit einem Zucken der Schultern. Meinen Blick hatte ich indes weiter auf den Boden vor meinen Füßen gerichtet, bis mir Samuele mit seinem letzten Atemzug gestand, dass eigentlich gar nicht er derjenige war, auf den die Kosten negativ zurückfielen, sondern Sabin für mich aufkam. Das Wissen ließ mich wiederum beide Augenbrauen anheben und in Sammys Richtung blicken. "Sabin? Echt?", murmelte ich ein wenig ungläubig, weil ich meinte, mich daran zu erinnern, dass er aktuell wohl auch eher weniger in Geld schwamm. Dass er die Unterhaltungskosten meiner Wenigkeit an seinen jüngeren Landsmann abtrat, überraschte mich daher schon ein wenig und sorgte gleichzeitig für ein schlechtes Gewissen. Nicht selten hatte ich ihm gegen das Schienbein getreten, weil ich es scheiße fand, wie er mit mir umsprang, obwohl ich ein erwachsener junger Mann war, und trotzdem schien es für ihn wie selbstverständlich zu sein, für mich zu bürgen, auch wenn er jeden müden Cent natürlich von mir zurückgezahlt bekäme. Ich saß im Verhältnis schließlich nicht gerade auf wenig Geld, hatte ich für die Drogen doch nie etwas ausgeben müssen und auch sonst war ich ihm das nach alledem ganz einfach schuldig. "Gut, dass ich das jetzt weiß. Nein, er hat mir nichts gesagt.", murmelte ich also entsprechend meines schlechten Gewissen mit hörbar nachdenklicher Stimmlage, ehe ich leise seufzte. Dann würde ich mich wohl mal mit dem Italiener an einen Tisch setzen müssen, um mit ihm über die Abrechnung meiner Schulden zu sprechen, hm?
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Ich konnte nicht anders als mit einem schwachen Grinsen die Augen zu verdrehen. Natürlich konnte ich gewissermaßen verstehen, wie unangenehm Richard die ganze Prozedur seines mentalen Heilungsprozesses war, nachdem der körperliche Aspekt bis auf ein paar Kilo zu wenig auf den Rippen erledigt war. Aber er unterschied sich damit in seinem Verlauf wohl von kaum einem anderen Drogenabhängigen. Vielleicht war es was das anging mal an der Zeit, ihm auch mal ein bisschen was über mich zu erzählen, damit er nicht mehr das Gefühl hatte hier mit einem komplett Außenstehenden zu reden, der selber eher Kategorie 'immer diszipliniert und vernünftig' war. Vielleicht war ich im Gegensatz zu ihm nicht aus einem Trauma heraus im Drogenjungel versumpft, aber es machte sicher trotzdem einen Unterschied. "Du siehst das echt alles ein bisschen zu eng, Richard... wir sind im 21. Jahrhundert. Männer dürfen Gefühle und Sorgen teilen, ohne dafür gesteinigt zu werden.", behielt ich den sarkastischen Tonfall bei und grinste schief, als ich seine Schulter mit meiner ein wenig anstieß. Er sollte sich mal locker machen - ich weiß, das sagte sich in einigen Situationen viel leichter, als es getan war, aber er musste es schon auch wollen. "Bei mir bist du da an der richtigen Adresse. Sabin hat mich nicht willkürlich ausgesucht, ich hatte selber 'ne Weile mit Drogen zu tun. Ich kann mich vielleicht nicht mit dir messen was das angeht, aber ich versteh' dich schon. Wenn's dir hilft könnte ich dir ungefähr tausend schräge Geschichten von vor...", ich musste tatsächlich kurz nachdenken, auch wenn das Ganze noch gar nicht so lange her war, "...ungefähr vier bis fünf Jahren erzählen. Meine Selbstfindungsphase sprengt so einige Rahmen, also kann ich dir mit absoluter Sicherheit sagen, dass dir vor mir so ziemlich gar nichts blöd vorkommen muss." Ich zuckte leicht mit den Schultern, grinste noch immer ein wenig vor mich hin. Mir fiel es schon eine Weile nicht mehr schwer darüber zu reden, also hätte ich keine Probleme damit den Engländer daran teilhaben zu lassen. Zwar lag es wohl wirklich an ihm, wie weit wir in diesem Themenfeld herumgraben würden und das eine oder andere würde ich sicher lieber für mich behalten, aber im Großen und Ganzen war ich dahingehend nicht scheu. "Ja, lange Frisuren liegen irgendwie im Trend... sind hier auf Kuba aber echt unpraktisch, zumindest im Sommer. Also schneid' sie lieber ab, bevor's noch wärmer wird.", meinte ich ironisch, ohne das leichte Grinsen einzustellen. War einfach viel zu warm, wenn man eine Langhaarfrisur auf dem Kopf herumschleppte - eigentlich sogar ganzjährig und nicht nur in den paar heißesten Monaten. Im Grunde war es eigentlich das ganze Jahr über sehr heiß, nur regnete es eben in manchen Monaten deutlich mehr, als in anderen. Deswegen hatte ich zumindest die Seiten permanent recht kurz geschnitten. Ganz von den Locken verabschieden wollte ich mich aber nicht, standen sie mir meiner Meinung nach doch wirklich gut. War so wie vieles Andere auch aber wahrscheinlich Geschmackssache. Ich für meinen Teil stand zum Beispiel kein bisschen auf Glatzköpfe, wohingegen es sicher einige Leute gab, die grade das irgendwie anziehend fanden. In meinen Augen sah der menschliche Kopf kahl rasiert aber einfach nur merkwürdig aus. War auch vom Gefühl her wesentlich weniger schön für mich, als wenn ich die Finger zwischen ein paar Haarsträhnen schieben konnte - das war hier und jetzt nur eher nicht relevant. Es ging schließlich darum, womit Richard sich wohlfühlte und nicht was ich... lassen wir das. Dass Sabin für seinen Unterhalt aufkam schien den jungen Mann tatsächlich zu wundern, also hatte der Italiener das bisher wohl noch mit keinem Sterbenswort erwähnt. Waren die beiden nicht eigentlich ziemlich gut Freunde? "Vielleicht wollte er dich nur nicht... damit belasten? Keine Ahnung.", wägte ich ebenso nachdenklich ab wie er, gab aber noch im nächsten Satz preis, dass ich für eine richtig brauchbare Theorie das Verhältnis der beiden zueinander eigentlich viel zu schlecht beurteilen konnte. Ich kannte den Engländer inzwischen zwar etwas besser als zu Anfang, aber den ehemaligen italienischen Mafia-Anhang konnte ich kein Stück einschätzen. Mal fuhr er ziemlich schnell aus der Haut, dann wiederum wirkte er aber recht verständnisvoll und konnte auch die Ruhe selbst sein. Sehr komische Kombination, die mir echt nicht geheuer war. Ich zweifelte ehrlich gesagt auch nach wie vor daran, dass er mir irgendwann etwas von seinem Gewinn abgeben würde, wenn ich den Transport weiterhin erfolgreich über die Bühne brachte. Das glaubte ich wohl erst, wenn ich es sah... wobei er andererseits ja auch ohne zu zögern für Richard blechte, weil er es brauchte. Ich war wirklich zwiespältig, was das anging. "Ihm liegt wirklich viel daran, dass du wieder auf die Beine kommst, oder?", stellte ich dem Dunkelhaarigen neben mir spontan eine Frage, die mir in den Sinn kam. Zumindest erweckte es diesen Anschein für mich. Der Schein konnte trügen, aber Sabin schien nicht wirklich Mühen zu scheuen, um die arme Socke wieder auf die Beine zu kriegen.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Konnte schon sein, aber ich mochte es nun mal ganz einfach nicht, mich anderen Leuten aufzudrängen, die womöglich nicht einmal wissen wollten, wie ich mich fühlte oder was sich aktuell in meiner verkorksten Gedankenwelt abspielte. Samuele machte mir zwar jeden Tag aufs Neue unmissverständlich klar, dass er mir gerne sein Ohr lieh und sich durchaus interessiert an meinen seelischen Schmerzen, beziehungsweise dessen Heilung zeigte. Nichtsdestotrotz war da immer noch diese innere Blockade, die sich nur Stück für Stück lösen wollte. Tat sie im Übrigen auch ein bisschen, als mich der Italiener seitlich mit der Schulter anstieß und dadurch eine verkantete Ecke quietschend nachgab. Ich sah den jungen Mann neben mir etwas irritiert an, bevor ich schließlich ein weiteres Mal seufzte und ein "Ja, ich weiß. Es ist nur..." murmelte und mitten im Satz abbrach. Dann schwieg ich für ein paar Sekunden und wandte den Blick wieder in Richtung Boden ab. "Keine Ahnung. Ich versuche es ja, aber das ist echt nicht so einfach.", stellte ich dann leise fest und sah schließlich etwas bedrückt vom Boden wieder auf das Bild neben mir. Tat damit wirklich alles, um den jungen Mann auf der anderen Seite nicht ansehen zu müssen. Allerdings kam ich da ja doch nicht drum herum, als Samuele mir beichtete, dass er selbst auch schon seine Negativerfahrungen mit Drogen gesammelt hatte. Diese Information überraschte mich nämlich ein wenig, wo er doch den sehr bodenständigen, durchweg korrekten Bilderbuchknaben mimte, der rundum zufrieden mit seinem Leben war. Na ja, zumindest bis er eben Sydney und damit auch den Rest der Verwandtschaft kennengelernt hatte. Ich wagte zwar zu behaupten, dass Sammy sich inzwischen mit seinem Schicksal abgefunden hatte, aber das musste ihn ja noch lange nicht wieder glücklich sein lassen, als wäre nie etwas vorgefallen. Ihm lag der ganze Mist sicherlich immer noch quer im Magen, nur sah er langsam ein, dass er aus der Nummer schlichtweg nicht mehr rauskommen würde. Jedenfalls nicht lebend oder an einem Stück. Aber wie auch immer. In jedem Fall hatte der Italiener mit seinem Geständnis meine Aufmerksamkeit wieder vollkommen auf sich und sein Gesicht gezogen, welches ich kurzzeitig musterte. Darin versuchte ich zu erkennen, ob er mir nur irgendetwas vormachen wollte, sah aber schnell ein, dass ich einfach nur wieder vollkommen unnötig paranoid war. Warum sollte Samuele mich in dem Punkt anlügen und auf welche Art würde es mir schaden, wenn er es doch getan hätte? Mit einem leichten Kopfschütteln verabschiedete ich mich von der überflüssigen Sorge, um sein Angebot, mehr über seine Vergangenheit und persönliche Erfahrungen mit den Drogen zu erfahren anzunehmen. "Puh, zugegeben hast du mich da jetzt tatsächlich neugierig gemacht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ausgerechnet du mal ein Problem mit Drogen gehabt haben sollst.", meinte ich nur und unterstrich die Worte mit dem Anheben beider Augenbrauen, die einen verwunderten Gesichtsausdruck hinterließen. Was die Sache mit den zu langen Haaren anging, hatte er womöglich ebenfalls Recht. In Norwegen war es absolut kein Problem gewesen, sich die Matte lang wachsen zu lassen, weil es durchweg ziemlich kalt war und die Haare - wie von der Natur vorgesehen - verhinderten, dass einem der Nacken starr fror oder Ohrläppchen durch die eisige Kälte abfielen, aber hier auf Kuba war das anders. Ich merkte gerade in der Nacht hin und wieder, dass es ziemlich warm wurde und mir die Strähnen buchstäblich im Gesicht klebten, wenn ich morgens aufwachte. Es wäre also definitiv von Vorteil, wenn sich ein professioneller Friseur mal meinen Haaren annehmen würde, aber was Menschen mit einer Schere in der Hand anging, war ich momentan doch noch irgendwie misstrauisch. Dennoch nickte ich zustimmend, sagte aber nichts weiter, weil Samuele es mit seinen Worten bereits auf den Punkt getroffen hatte. Lange Haare nervten und waren fürchterlich unpraktisch in einem fast gleichbleibend warmen Land. Bevor wir uns also an den Strand begeben oder der junge Mann mich anderswo hin entführen würde, kümmerte ich mich vorab um einen Termin in dem Barbershop um die Ecke. Der junge Mann wohnte ja Gott sei Dank ziemlich zentral, lange Wege mussten wir also nicht in Kauf nehmen. Das hatte ich in Oslo immer fürchterlich schrecklich gefunden. Die Stadt war einfach viel zu groß, als dass man wirklich zentral wohnen konnte, weil ja doch alles irgendwie ziemlich verteilt gewesen war. Dementsprechend wenig Lust hatte ich logischerweise gehabt, mehrere Minuten bis zum nächsten Friseur zu fahren, aber weil ich eine ganze Zeit lang doch wirklich sehr streng auf mein Aussehen geachtet hatte, war mosern in diese Richtung für mich nie in Frage gekommen. Mittlerweile sah das alles etwas anders aus. Mein Gesicht war entstellt, also machte es nur wenig bis kaum einen Unterschied, wie es drum herum aussah. Was natürlich nicht heißen sollte, dass ich meine Körperhygiene grundlegend vernachlässigte, aber seit geraumer Zeit stand der Bart auch mal länger als nur drei Tage und die Haare... na ja, waren auch ziemlich lang gewachsen. "Kann sein.", antwortete ich relativ knapp auf die Vermutung des Italieners, dass sein Landsmann mich nicht mit den finanziellen Aspekten meines unkonventionellen Entzuges belasten wollte, während ich mittendrin steckte. Möglich war das, vielleicht lag Sabin aber auch einfach mehr an mir, als ich mir das bis dato eingestehen wollte oder konnte und es war, als hätte Sammy just in diesem Moment meine Gedanken gelesen, da richtete er eine Frage an mich, die mich eingangs etwas ratlos in die Leere starren ließ. Nach etwa einer halben Minute, die ich schweigsam nach einer passenden Antwort suchte, zuckte ich schließlich wie so oft mit den schmalen Schultern und nickte währenddessen. "Ich schätze schon. Er... braucht mich. Für die Produktion von dem Meth und... vermutlich, weil ich ihm trotz allem als Freund etwas bedeute.", mutmaßte ich unsicher, wobei ich mit gedanklich auf etliche Gespräche mit dem älteren Italiener berief, bei denen er mir immer und immer wieder versucht hatte einzubläuen, dass er mir nicht primär half, damit das Geschäft wieder lief, sondern um mich als seinen Freund wieder auf die Beine zu bekommen und langsam, aber sicher wollte ich ihm das ganz gerne Glauben. Der Option zumindest eine Chance geben, aber überzeugt war ich von der Behaupten deshalb trotzdem noch nicht zu einhundert Prozent. Deshalb äußerte ich mich diesbezüglich auch eher vorsichtig, wollte mich einfach nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, wo Geld doch momentan eigentlich das war, was Sabin am meisten brauchte. Und nicht bloß eine blöde Freundschaft, die ihm im Grunde genommen gar nichts brachte. Ja, wie verstanden uns gut und die Arbeit mit ihm hatte bis zu meiner Entführung durch Agnolo auch wirklich Spaß gemacht, aber ob das ausreichte, um mehrere tausend Euro über die Beziehung zu mir zu stellen? Ich wagte es irgendwie zu bezweifeln.
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Der Versuch allein war ja auch schon eine Menge wert. Der junge Mann musste sich nicht von jetzt auf gleich vollkommen losgelassen darüber unterhalten können. Solange er was das anging auf dem richtigen Pfad blieb und sich nicht plötzlich wieder verschanzte, war alles im grünen Bereich. "Solange du's versuchst und dich nicht wieder verkriechst, ist das ja auch schon viel wert. Es wird irgendwann leichter werden.", bestätigte ich Richard, dass er inzwischen ja schon ganz gut an die Sache ranging und es sicher einfach nur weiterhin etwas Zeit brauchte, bis er mit dem ganzen Thema und dem Drumherum einfacher umgehen konnte. War nun mal so mit traumatischen Erlebnissen - es dauerte schon eine gefühlte Ewigkeit, bis man sie selbst halbwegs akzeptiert und verarbeitet hatte und der nächste, weit schwerer Schritt das Alles auch noch irgendeiner außenstehenden Person anzuvertrauen, war dann auch noch einmal sehr harter Tobak. Wenn man das geschafft hatte verdiente man wirklich eine Auszeichnung, war das doch ein riesiger Meilenstein dafür endlich wieder positiver in die Zukunft blicken zu können. Es schien den Engländer auch tatsächlich zu interessieren - und sehr offensichtlich zu wundern -, dass ich selber mal mit berauschenden Substanzen in Kontakt gekommen war. Allerdings überraschte mich das wiederum eher wenig, weil es nicht viele Leute gab, die mir sowas zutrauten oder gar selbst mit dabei gewesen waren. Allerdings hatte ich nur noch zwei meiner damaligen Freunde aus Trinidad, also war die Anzahl schwindend gering. Wir sahen uns nur selten mal alle paar Monate, es war vielleicht also nur eine Frage der Zeit, bis auch die beiden Kontakte noch zu Bruch gingen. Das wäre für mich durchaus schade, aber manche Dinge konnte man im Laufe der Zeit eben nicht aufhalten. Früher hatten wir alle kaum Geld oder zeitintensive Jobs gehabt, während jetzt alle arbeiteten und ich war nun mal einige Kilometer von Trinidad entfernt, was es nicht leichter machte sich mal zu treffen. "Ja, ich weiß, man würde das nicht grade vermuten. Bis ich 18 war hab ich das Haus meiner Eltern leider kaum verlassen dürfen wegen der ganzen Mafia-Geschichte. Als ich frei war hab ich mich einfach in den ersten Flieger gesetzt, bin auf Kuba gelandet und ich hatte wohl so einiges nachzuholen, nachdem ich vorher kaum Kontakt zur Außenwelt hatte.", holte ich zu Beginn mit einem leichten Schulterzucken erst einmal etwas weiter aus, um Richard ein ganz grobes Bild für die Ursache zu geben. Für gewöhnlich fing man eben nicht aus dem Nichts mit Drogen an, irgendeinen Grund gab es eigentlich immer. Selbst, wenn es nur der unterbewusste Drang danach war seinem eigenen, festgefahrenen Kopf mal für ein paar Stunden zu entfliehen. "Anfangs war's auch nur Alkohol, um mich locker zu kriegen, weil ich echt schüchtern war und ich hier Niemanden kannte. Dadurch hat sich meine Zunge aber ziemlich gelockert und ich hab schnell Freunde gefunden, die... na ja, irgendwie so gut wie alles mal probiert haben, was sie irgendwo auftreiben konnten. Anfangs hab ich mich nur zu Marihuana hinreißen lassen, aber das wurde irgendwann ein bisschen langweilig und es hat mich genervt immer mehr und mehr davon rauchen zu müssen, damit ich überhaupt noch irgendwas merke. Also hab ich auch angefangen mich durchzuprobieren und das hat mir echt krasse, nicht immer nur gute Trips beschert. Aber es gibt wohl einen Nachmittag, den ich nie vergessen werde... wir sind auf 'nem Wochenendtrip zusammen nach Havanna gefahren und hier werden die Strände ja oft von Sicherheitsleuten patrouilliert wegen der vielen Touristen. Wenn du dich am helllichten Tag neben einen gutaussehenden Cop auf eine Bank an der Promenade setzt, nachdem du dir mit einer Bong den Schädel vernebelt hast, weil das eben tagsüber deutlich unauffälliger als LSD und Co ist, ist das schon mal grundlegend eine echt miese Idee. Ich weiß nicht mehr, was ich dem Typen damals alles erzählt hab... ich saß da aber sicher eine Stunde lang und wir haben uns bestens verstanden, nachdem er mir versichert hat wegen dem offensichtlichen Drogenkonsum ein Auge zuzudrücken. Vielleicht hatte er einfach Mitleid, weil mein Spanisch damals noch nicht wirklich gut war und deswegen haben wir wohl hier und da ziemlich aneinander vorbeigeredet. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich dachte er wäre schwul oder bisexuell und er war's aber nicht, also fand er's nicht wirklich lustig, dass ich ihn küssen wollte. Außerdem hat er mich für minderjährig gehalten, was er mir dann irgendwann zwischen dem Handschellen anlegen und dem Abführen aufs Revier an den Kopf geworfen hat. Wirklich übel nehmen kann man ihm das aber nicht, weil ich mit 18, 19 Jahren noch zehn Zentimeter kleiner und der Kiefer auch noch nicht ansatzweise so kantig war wie jetzt." Ich fasste mir ans Kinn, strich mit den Fingern links und rechts dann nach hinten an meinem Kiefer entlang und wieder zurück nach vorne zum Kinn, ehe die Hand zurück in ihre Ausgangsposition sank. "Jedenfalls kam neben dem Drogenkonsum dann auch noch die Belästigung eines Beamten mit ins Protokoll... kurz vor meinem Geburtstag hab ich dann auch weitgehend mit den Drogen aufgehört. Ich hab viele coole Erfahrungen damit gesammelt, aber weiterempfehlen würd' ich's nicht. Ich war durch den wechselnden Konsum zwar nie wirklich körperlich abhängig, aber mein Kopf hat eine ganze Weile gebraucht, um komplett nüchtern klarzukommen. Außerdem sollte man vielleicht nicht ein ganzes Jahr fast ausschließlich auf Drogen Sex haben, weil's danach nüchtern einfach... naja, ganz anders ist.", schloss ich die ganze Geschichte etwas nachdenklich ab, wobei mein eigener Blick auf der Wand gegenüber klebte. Ich hatte durch den Konsum viele schöne, wortwörtlich berauschende Momente gehabt, aber alles in allem würde ich das kein zweites Mal so machen. Grade was den letzten Punkt anging war es wirklich so gar nicht von Vorteil gewesen, hatte ich doch gerade in der Anfangsphase auf Entzug so gut wie keinen Spaß mehr am Sex gehabt, weil ich ihn einfach viel weniger intensiv wahrgenommen hatte und die zusätzliche Anregung meiner Sinne gefehlt hatte. Inzwischen hatte sich das glücklicherweise wieder reguliert, nachdem ich bis auf Alkohol keinerlei Form von Drogen mehr zu mir nahm und ganz einfach einige Zeit verstrichen war, aber eine Zeit lang im Prinzip gar keine Lust auf Sex zu haben, wo ich vorher doch gefühlt alles Attraktive im Bereich des Möglichen festgenagelt hatte, war komisch und ungewohnt gewesen. "Wie auch immer - bleibt wohl zu hoffen, dass das Video von der Aktion damals inzwischen auf keiner Festplatte mehr zu finden ist.", hängte ich zum Schluss noch eine ironische Bemerkung mit leicht schief gelegtem Kopf an. Sah dann etwas peinlich berührt mit einem Grinsen wieder zu dem Engländer, den ich jetzt eine ganze Weile lang nicht mehr angesehen hatte, während ich dem Redeschwall verfallen war. Die Sache mit Sabin... ja, die hatte ich in der Zwischenzeit jetzt schon vergessen, aber eine Vertiefung dieses Themas war wohl auch eher nicht notwendig.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Sam fing derart selbstverständlich an, über seine eigenen Erfahrungen mit den Drogen zu reden, dass es schon fast gruselig war und mich dadurch das ungute Gefühl beschlich, er wollte mir hier bloß eine vorher zurechtgelegte Geschichte auftischen. Um mich aus der Reserve zu locken - damit ich mich ihm weiter öffnete, als Teil der von Sabin und ihm ausgeklügelten Therapie sozusagen -, aber je länger der junge Mann neben mir redete, desto sicherer war ich mir damit, dass er sich das eben nicht nur alles aus dem imaginären Hut zog. Es tatsächlich so passiert war und er nicht nur irgendein Manuskript vor seinem inneren Auge ablas, was mich Samuele wiederum zu gleichen Teilen sichtlich verwundert, geschockt und verwirrt ansehen ließ. Das erste Mal erwischte er mich kalt, als es um seine damalige familiäre Situation ging, die mir zwar bekannt vorkam, aber vermutlich erfolgreich von meinem nach Drogen lechzenden Hirn verdrängt worden war, nachdem ich mich mit Sabin darüber ausgetauscht hatte. War zum damaligen Zeitpunkt einfach keine wirklich relevante Information, half mir aber jetzt dabei, seine darauffolgenden Worte ein bisschen besser zu verstehen. Es war nämlich immer einfacher, etwas nachvollziehen zu können, wenn man die Hintergründe kannte. In Sammys Fall war es wohl die jahrelange Isolation gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, sich den Drogen hinzugeben. Zwar geschah das eher über Umwege und auch nur durch offensichtlich schlechten Einfluss seines damaligen Freundeskreises, aber die angespannten Verhältnisse hatten haarfeine Risse in seiner Psyche hinterlassen, durch die manipulatives Geschwafel ungehindert eindringen und von der naiven Seele Besitz ergreifen konnte. Da konnte man auf kurz oder lang LSD und Marihuana schon mal für eine gute Idee halten, ich kannte das Prozedere ja jetzt inzwischen gut genug und sich in dem Sumpf zu verlieren ging schneller, als einem das lieb war. So genau hinterfragte ich das Ganze aber auch gar nicht wirklich, denn was nach den zerrütteten Familienverhältnissen und exzessiven Partynächten noch folgen sollte, war in meinen Augen sehr viel interessanter und... beunruhigender. Nicht, dass ich mir bis jetzt groß Gedanken über Samueles sexuelle Orientierung gemacht hätte, aber es überraschte mich doch ein wenig, dass er Männern zumindest laut seiner Geschichte - wie viel davon letztlich der Wahrheit entsprach ließ ich jetzt ganz allgemein einfach mal dahingestellt und schenkte ihm kurzzeitig mal meinen Glauben - nicht unbedingt abgeneigt war. Dass musste natürlich nicht zwangsläufig heißen, dass er genau so schwul war wie ich und für Frauen absolut gar nichts übrig hatte, aber grundlegend war das auch überhaupt nicht wichtig. Es ließ mich ihn jetzt so oder so ein Stück weit mit anderen Augen sehen. Nicht zuletzt eben auch deshalb, weil meine jüngsten Erfahrungen mit Schwulen oder Bisexuellen nun mal einfach nicht gerade gut für mich ausgegangen waren und ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass sich gerade vor aufkeimender Angst kein Kloß in meinem Hals bildete. Ich erwischte mich sogar dabei, wie ich vollkommen schwachsinnig ein paar Zentimeter näher an das Gemälde heran- und damit von Sammy wegrutschte, während ich meinen Blick wieder stur vor meine Füße auf den Boden geheftet hatte. "Hört sich ja alles in allem eigentlich ganz witzig an.", versuchte ich mit einem ironischen Kommentar die aufkommenden, negativen Gedanken wieder zu verdrängen, weil ich mir irgendwie dann doch nicht vorstellen konnte, dass der jüngere Italiener mir etwas Böses wollte. Er mochte zwar die gleiche Nationalität haben wie mein Peiniger, aber ich war trotz des übermäßigen Drogenkonsums nicht dumm genug zu glauben, dass die Herkunft etwas damit zutun hatte, ob man nun ein Arschloch war oder nicht, aber irgendwie... war das gerade einfach eine ganz komische Situation, wenn ich ehrlich sein sollte. Es fühlte sich irgendwie nicht richtig an, neben Sam zu sitzen, obwohl ich mir unterbewusst darüber im Klaren war, dass von dem jungen Mann absolut keine Gefahr ausging und nicht jeder Homo- oder Bisexuelle gleich eine Bedrohung für mich darstellte. Und dieses Mantra im Geiste wiederholend atmete ich dann auch einmal ganz tief durch, schloss sogar für einen Moment lang die Augen, ehe ich meinen Sitznachbarn schließlich mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen direkt ansah. Es war ein wenig instabil und meine Mundwinkel zuckten immer mal wieder unsicher, aber ich tat mein Bestes, es aufrecht zu erhalten, um mich dadurch selbst ein wenig zu beruhigen. Schließlich war gerade eben noch alles gut gewesen. Konnte die nahezu unbeschwerte Laune bitte genau so schnell wiederkommen, wie sie durch den winzigen Funken an Unsicherheit verschwunden war? "Die Nacht in einer Zelle zu verbringen war sicherlich nicht gerade angenehm, aber ansonsten... hört sich das Ganze nach etwas an, was ich selbst auch tun würde.", stellte ich wahrheitsgemäß und mit einem Schulterzucken fest, ergänzte damit meinen vorangegangenen Versuch, mich wieder zu entspannen noch um ein paar nicht weniger ironische Worte. Ich war damals zwar durchaus auch ein echter Gentleman, weil das doch mit Abstand die meisten schüchternen Jungs in mein Bett getrieben hatte, aber unter Alkoholeinfluss war mir eine solche Aktion durchaus zuzutrauen gewesen. Ein kleines Detail der Geschichte ließ mich jedoch stutzig werden. "Du wurdest bei deiner Festnahme gefilmt? Oder bei dem Versuch, den Typen zu küssen? Von wem?", fragte ich und hob noch währenddessen fragen eine Augenbraue, ohne weiter auf sein mehr als offensichtliches Outing mir gegenüber einzugehen. Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass ein Großteil der Polizisten zumindest in Norwegen immer eine kleine Kamera am Körper trugen, um eventuelle Auseinandersetzungen zwischen der Justiz und den Kriminellen im Anschluss unter die Lupe nehmen zu können. Da ich bis dato noch auf keine Streife hier in Havanna gestoßen war, konnte ich allerdings nur mutmaßen, dass Kuba es dem deutlich kälteren Land im Norden Europas gleichtat.
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Er fing an so ein kleines bisschen unruhig zu wirken und es brauchte mich einige Zeit, bis ich darauf kam, woran das jetzt genau liegen könnte. Als es dann aber endlich mal Klick machte hätte ich mir gerne mit der Hand an die Stirn geschlagen - zum einen deswegen, weil ich bis zu einem gewissen Grad hätte ahnen können, dass Richard das vielleicht nicht ganz so locker dank jüngster Erfahrungen hinnahm. Zum anderen aber auch, weil ich mich fragte, ob der Engländer mich tatsächlich für eine Bedrohung hielt. Damit wäre er nicht nur der erste Mensch auf diesem Planeten, sondern würde sich Gedanken in dieser Richtung auch vollkommen umsonst machen. Ich konnte eben wirklich ausschließlich verbal ungemütlich werden. Dass ich ihn geboxt hatte war ein instinktiver Reflex gewesen und das tat mir auch immer noch ein bisschen leid. War Schnee von gestern, aber einem anderen Menschen weh zu tun fühlte sich für mich einfach nicht richtig an. Ich hielt den Kunstliebhaber jedoch eigentlich für schlau genug, um solche Gedanken eigenständig nach einer Weile wieder auszumerzen. Er war keine 16 mehr und sollte zumindest ein bisschen Menschenkenntnis haben. Viel brauchte man bei mir davon nicht, weil ich eben nicht der Typ Mensch war, der offiziell lieb und nett tat und hintenrum dann irgendwelche Spielchen trieb. Ich beschloss jedoch mich von seiner aufkommenden Unsicherheit nicht irritieren zu lassen, sondern genauso locker wie schon zuvor mit ihm zu reden. Er würde schon selbst merken, dass er vor mir nun wirklich nichts zu befürchten hatte. Immerhin wohnte er schon eine ganze Weile bei mir und ich hatte ihn in keinster Weise irgendwann Mal in dieser Hinsicht angefasst. Nur geboxt. Versehentlich. Ungewollt. Und mich dann dafür entschuldigt und ihm die Nase gekühlt. "Na ja, es war bis zum Zeitpunkt meiner Ausnüchterung auch echt witzig... nur die Geldstrafe war weniger amüsant. Ist echt ungünstig, wenn man im Grunde keinen Cent übrig hat und ich hätte mir das sowieso nicht vorhandene Geld im Nachhinein echt gern gespart... und die Rückenschmerzen auch. Auf einen Stuhl oder ein Bett hoffst du in einer Zelle auf Kuba nämlich vergeblich.", seufzte ich, wobei ich aber nach wie vor vollkommen entspannt klang. Man machte nun mal Fehler, wenn man jung war und nochmal würde mir das Ganze bestimmt nicht passieren. Eben allein schon wegen des nur noch spärlich vorhandenen Drogenkonsums. Auf Alkohol war ich zwar auch sehr ausgelassen unterwegs, aber ich schaute nur noch selten tief ins Glas. Kontrollverlust hatte mir früher einiges an Ärger eingebracht und den vermied ich jetzt einfach gerne. Was das Video anging konnte ich ihn aber beruhigen. "Beides. Die Anderen fanden das Ganze nämlich mindestens genauso witzig wie du... aber seit ich mein letztes Handy irgendwo verloren hab, hab ich das Video nicht mehr. Kann trotzdem sein, dass meine Freunde von damals das noch bunkern... auch, wenn ich's nicht hoffe. Wobei es andererseits vielleicht ganz unterhaltsam wäre die entsetzten Gesichter der Passanten drumherum nochmal zu sehen. Die Touristen fanden's lustig, aber die Kubaner haben eine Symphonie aus Hand-vor-den-Mund-schlagen, aufgerissenen Augen und entsetzten Ausrufen aufgeführt. Hab ich ihm Rausch damals nicht mal mitgekriegt und hab selbst in Handschellen noch vor mich hin gelacht.", schnaubte ich amüsiert und machte eine flüchtige, unterstreichende Handbewegung. Das war wohl eines der wenigen guten Dinge an Drogenkonsum: Man sah die Dinge einfach nicht ganz so ernst und nahm Manches, das man sonst womöglich nur mit gesenktem Kopf und in den Wangen aufsteigender Hitze ertragen hätte, mit einem Lachen und einem lockeren Spruch hin. Nein, an Selbstbewusstsein hatte es mir während des Drogenkonsums wohl nicht gefehlt und ich hatte sehr viel davon auch behalten. Natürlich sah ich die Umstände nüchtern viel rationaler, aber ich scheute mich auch ohne Drogen jetzt nicht mehr davor Leute anzusprechen, ganz gleich in welchem Zusammenhang. Ich war ein kommunikativer, aufgeschlossener Mensch geworden und das hatte ich wohl mitunter ebenfalls dem Konsum zu verdanken, wenn auch sicherlich nur teilweise. Ohne hätte ich vermutlich einfach nur viel länger gebraucht, um mehr Offenheit zu entwickeln - wohl vor allem auch im sexuellen Bereich. Ich wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass ich mich andernfalls kaum so schnell und so leicht an Männer herangetraut hätte. Frauen flogen mir nicht selten einfach so zu, weil ich allein schon durch meine Arbeit im Café potenziell ständig neue traf. Bei Männern war das gerade hier im konservativen Kuba hingegen etwas anders und weit komplizierter. Die meisten zeigten das gar nicht offen, weil es einfach noch immer ein Stück weit verpönt unter den Einheimischen war. Nachdem nach Kuba einzuwandern auch gar nicht so einfach war - ich war lange illegal hier geblieben, was allerdings kaum Jemanden gekümmert hatte, weil ich mich optisch schlichtweg gut ins Bild einfügte - und sich demnach das sehr altbackene Denken der Gesellschaft hier nur langsam und nicht gerade stetig auflockerte, war voraussichtlich während meiner eigenen Lebensspanne noch kein nennenswerter Fortschritt zu erwarten, würde man mich dazu befragen. Ich wusste zwar noch nicht, ob ich letztlich mit einer Frau oder mit einem Mann an meiner Seite enden würde, aber sollte es letzteres werden, dann sah ich keine Ehe und auch keine Kinder für meine Zukunft kommen. Über 30 wollte ich wirklich keine Kinder mehr - es sei denn es brachte schon eine entsprechende Anzahl an eigenen Lebensjahren mit - und dass sich innerhalb von nur 7 Jahren viel hier tat, wagte ich stark zu bezweifeln. In dem Fall würde es also vermutlich bei einem oder mehreren Hunden bleiben, weil ich eigentlich nicht vor hatte noch ein weiteres Mal das Land zu wechseln. Es gefiel mir hier wirklich, wobei die eher nur wenig vorhandene Akzeptanz von Homosexualität ein unschöner Beigeschmack war.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Ja, so eine Nacht in der Zelle war nicht billig für das, was man letztlich bekam. Kalter Beton, ein Pissoir oder eine Toilette aus Alu und wenn einen die Beamten leiden konnten, dann war das höchste der Gefühle ein dünner Bettbezug, der einen in Norwegens kalten Nächten ungefähr gar nichts brachte. Bis dato war ich noch nie wirklich ernsthaft mit der Justiz in Oslo aneinander gerasselt, aber es war nun mal kein Geheimnis, dass mein Business damals nicht ganz legal gewesen war und die ein oder anderen Behörden hatten durchaus berechtigtes Interesse daran gehabt, mich als Kunstfälscher und Schmuggler hinter Gittern zu sehen. Das hatte vor allem in der Anfangsphase, als ich noch grüner hinter den Ohren gewesen war, als zu dem Zeitpunkt, wo Sabin zu mir in die Galerie gekommen war, oft zur Folge gehabt, dass man mich alle paar Wochen für einen Tag in so eine besagte Zelle geschmissen und weitere Befehle der Staatsanwaltschaft abgewartet hatte. Mit der Zeit lernte ich dadurch viele meine Rechte kennen und seitdem war es nur noch sehr selten vorgekommen, dass die Polizei mich ohne eine gute Begründung aufs Polizeipräsidium geschleppt hatte. Dadurch wusste ich allerdings auch, dass der Spaß einen Arsch voll Geld kostete und wenn man wie Samuele, der vom wirklichen kriminell sein auch in der Vergangenheit ziemlich weit weg gewesen war, nur wenig Geld in der Tasche hatte, dann erzielte so ein nächtlicher Aufenthalt hinter schwedischen Gardinen gleich einen ganz anderen Effekt, als wenn man sich das immer und immer mal wieder leisten konnte, ohne danach den Kitt aus den Fenstern fressen zu müssen. "Da unterscheidet sich Kuba wohl kaum von Norwegen. Da kriegst du auch nichts, außer einen kalten Boden. Und glaub mir, das kalt da drüben ist anders, als hier.", sprach ich meine Gedanken für den Italiener neben mir deutlich hörbar aus und ergänzte das Ganze noch um eine Feststellung, bei der sich das zittrige Lächeln schon bald in ein etwas entspannteres, ziemlich schiefes Grinsen verwandelte. Mir war noch immer nicht ganz wohl, mich nach dem Geständnis des jungen Mannes weiterhin neben ihm aufzuhalten, aber ich ermahnte mich mehrfach, dass Samuele wohl schon etliche Chancen dazu gehabt hätte, sich an mir zu vergehen, wenn ihm denn tatsächlich der Sinn danach gestanden hätte und bis jetzt war nie etwas passiert. Außerdem wusste ich doch eigentlich aus erster Hand, dass er keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, wo er sich doch beinahe eingenässt hatte, als ich ihm ziemlich am Anfang unserer Bekanntschaft derart auf die Pelle gerückt war. Aus der Not heraus hatte er dann zwar mit der Faust ausgeholt und mir jene ins Gesicht gedonnert, aber seitdem hatte er mir nicht ein Haar gekrümmt. Und je länger ich mir das einredete, desto leichter fiel es mir tatsächlich, mich wieder ein bisschen zu entspannen. Ich blieb zwar weiterhin nahe des Gemäldes auf dem Bett sitzen, aber die unterbewusst verkrampften Schultern lockerten sich langsam wieder und der Kloß in meinem Hals war auch schon fast vollständig verschwunden. Statt mich auf Sammys Sexualität zu konzentrieren, fokussierte ich mich dann eher auf seine Geschichte und darauf, dass diese eigentlich tatsächlich ziemlich lustig war. Das hatten wohl auch seine damaligen Freunde so gesehen und sowohl die Verhaftung, als auch die Belästigung eines Polizeibeamten auf Video aufgezeichnet. "In solchen Fällen taucht das Band immer dann auf, wenn man es am wenigsten erwartet und vermutlich auch gerade dann, wenn es unpassender nicht sein könnte.", stellte ich mit einem belustigten Unterton fest und auch mein Blick war mittlerweile nicht mehr leicht panisch, sondern fast wieder vollständig neutral. Vielleicht etwas müde. Aber es war nun mal so. Immer, wenn einem etwas unangenehm war, dann fiel das früher oder später noch einmal auf einen zurück und das Schicksal suchte sich dafür immer die allerbesten Zeitpunkte raus, um einen unmissverständlich vor Augen zu führen, was man damals als Jugendlicher, beziehungsweise junger Erwachsener alles verbockt hatte. Ich ging also fest davon aus, dass das bei Sammy nicht anders sein und dieses Video irgendwann noch einmal auftauchen würde. "Wenn es so weit ist, dann lass' es mich wissen. Muss bestimmt ziemlich lustig ausgesehen haben. Wobei ich ehrlich gesagt nicht verstehen kann, dass die Kubaner sich über Homosexualität noch immer so echauffieren...", murmelte ich anschließend nachdenklich vor mir hin, wendete den Blick auch wieder von Samuele ab und erhob mich langsam vom Bett. Wurde wohl Zeit, noch die paar kaputten Bilderrahmen zu entsorgen, wo allerlei Scherben bereits beseitigt waren. "Aber ich habe ohnehin das Gefühl, dass diese Insel in der Zeit stehengeblieben ist.", ergänzte ich die vorangegangenen Worte noch um eine Mutmaßung, mit der ich natürlich auch falsch liegen konnte. Aber gerade Havanna machte mir vom Stadtbild her noch einen ziemlich... na ja, altertümlichen Eindruck eben. Es war jetzt nicht so, als befänden wir uns hier in der Steinzeit oder im Mittelalter, aber im Vergleich zu Norwegen, das sowohl architektonisch, als auch vom Denken her ziemlich weit war, machte Kuba fast schon den Eindruck eines Dritte-Welt-Landes. Das Leben hier war ziemlich teuer und trotzdem bekam man für das viele Geld kaum eine brauchbare Unterkunft. Von einem Auto, das nicht Literzahlen im zweistelligen Bereich je hundert Kilometer schluckte und dazu noch die Umwelt verpestete mal ganz zu schweigen. Mit meinem Bungalow hatte ich da noch ziemliches Glück gehabt. Baulich, wie auch von der Innenausstattung war das Haus in einem wirklich sehr guten Zustand, was man von vielerlei Altbauten aus der Innenstadt nicht behaupten konnte. Ich hatte zwar allgemein noch nicht viel von Havanna gesehen, aber alleine die Spaziergänge hatten mir bereits gezeigt, an wie vielen Hauswänden die Farbe abblätterte und das die Türen vieler Geschäfte lediglich aus marodem Holz bestanden.
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Ja, da hatte er wohl recht. Es würde allgemein kaum ein Land geben, dass einem Verbrecher - und sei es nur so etwas verhältnismäßig Harmloses wie bei mir - in einer Zelle gerne ein Premium-Plus-Paket anbot. Schließlich sollte auch eine einzige Übernachtung schon Spuren hinterlassen und das hatte sie bei mir zweifelsohne. Vor allem an meinem Hintern, den ich mir förmlich wund gesessen hatte, weil ich nicht wirklich hatte schlafen können. Lag wohl einfach an der absolut unbequemen, rauen Umgebung. Außerdem war es da drin auch unmenschlich stickig gewesen, war doch nur durch ein viel zu kleines, vergittertes Fenster minimale Luftzufuhr reingekommen. Allerdings zog ich die stickige Zelle dann vermutlich doch einer eisigen in Norwegen vor - ich war einfach Südländer und kalte Temperaturen lösten bei mir nicht weniger als absolute Unzufriedenheit aus. Ich liebte die Sonne, bekam auch nur äußerst selten mal einen Sonnenbrand und blühte nur mit ihr richtig auf. Das war ganz sicher einer der Gründe, warum es mir hier in der Karibik so gut gefiel - es wurde nie wirklich kalt, höchstens mal nass. Mit Pech auch inklusive Flutwellen, aber ich hatte zumindest noch keinen Hurrikan miterleben müssen. Hoffte auch, dass ich was das anbelangte auf der glücklichen Seite bleiben würde, auch wenn das wohl relativ unwahrscheinlich war, wenn ich für den Rest meines Lebens hierbleiben sollte. Selten waren die hier nämlich leider nicht. "Dann bleib ich doch lieber bei einer kubanischen Zelle.", erwiderte ich sarkastisch, wobei Richard nach meiner vorherigen Erzählung ziemlich klar sein dürfte, dass ich da am liebsten gar nicht mehr rein wollte. Kriminell sein war schließlich sehr offensichtlich nicht wirklich mein Ding. Was das Video anging schien der Engländer sich nur allzu gerne auch mal ein Bild davon machen zu wollen, falls es jemals wieder auftauchen sollte. So unwahrscheinlich war das eben leider auch gar nicht, weil ich nicht glaubte, dass wirklich alle Beteiligten die Aufnahme inzwischen gelöscht hatten. Sollte es also tatsächlich noch einmal bei mir auftauchen, hatte ich aber bestimmt auch kein Problem ihn das sehen zu lassen. Er kannte die Geschichte ja jetzt sowieso schon und würde dann lediglich noch eine amüsante Original-Aufnahme dazu kriegen, die ihm die Situation noch detaillierter schilderte. "Ich lass es dich wissen, falls es mir nochmal in die Hände fällt.", versicherte ich dem jungen Mann amüsiert auch noch wörtlich, dass ich mich nicht davor zieren würde ihm das Video zu zeigen. Mein Blick folgte ihm, als er aufstand und ich wartete kurz ab, was er vor hatte. Für die Bilderrahmen dürfte er mich aber eigentlich kaum brauchen, weil er mit einer Hand problemlos die Tüte weit genug aufhalten können sollte. Also blieb ich erst einmal ganz bequem sitzen, bis er mir etwas anderes sagen würde. Was die nicht besonders fortschrittliche Lebensweise der Kubaner anging konnte ich wohl nur mit den Schultern zucken und leise seufzen. "Ja, das ist hier allgemein ein ziemliches Problem... es zieht nur wenige Leute aus dem Ausland dauerhaft hierher und die Kubaner selbst sind einfach unfähig eine brauchbare Regierung zu wählen, die nicht homophob und gefühlt aus dem 18. Jahrhundert ist. Man müsste ihnen ungefragt einen Präsidenten von außerhalb vorsetzen, damit sich hier mal was ändert... würde sicher auch der schlechten Wirtschaft gut tun. Hätten wir die vielen Touristen hier nicht, wäre bestimmt schon die ganze Insel den Bach runtergegangen. Ich will nicht sagen, dass alles Alte zwingend schlecht ist... aber vielen Leuten hier geht's einfach mies dadurch, Schwulen und Lesben eben noch mehr als anderen. Hätte ich keinen guten Job gefunden, hätte ich das Land vielleicht auch schon wieder verlassen.", stellte ich etwas nachdenklich fest, während ich dem Engländer mit meinen Augen folgte. Ich liebte Kuba für seine tollen Strände, die mindestens 200 reinen Sonnentage im Jahr und dafür, dass die Menschen hier an sich eigentlich sehr nett und lebensfroh waren, weil sie sich nur wenige Sorgen um die Zukunft machten. Aber das Land hatte eben wirklich so einige Ecken und Kanten. Mitunter das nicht besonders fortschrittliche Denken und Wirtschaften der Gesellschaft und Geld zu verdienen war hier wahnsinnig schwer. Ich hatte was das anging wirklich großes Glück gehabt und konnte ein ganz gutes Leben führen, ohne auf jeden Cent achten zu müssen, wenn ich nicht gerade einen Mitbewohner hatte, der mir den Kühlschrank mit leer aß. "Die wohnen auf dem Land hier teilweise immer noch freiwillig ohne Strom, kannst du das glauben? Ich meine, wir sind was den Lebensstandard angeht von Europa auch einfach ein bisschen verwöhnt, aber ich will ja meine Glühbirnen und meinen Herd echt nicht vermissen müssen. Von meinem funktionierenden Badezimmer mal ganz zu schweigen.", hängte ich kopfschüttelnd noch einige sarkastische Worte mehr an. Nein, also ohne fließend Wasser und Strom ging es für mich nicht. Es gab wohl auch höchstens noch in der hintersten Ecke Kubas nach wie vor Leute, die sich ihr Wasser nur aus einem Brunnen im Garten schöpfen konnten, weil zumindest das Netz an Wasser relativ brauchbar auf der ganzen Insel war. Andererseits konnten sich manche Strom und Wasser auf Dauer wohl auch einfach nicht leisten, eben gerade in den sehr ländlichen Regionen. Die waren meist noch deutlich ärmer als Stadteinwohner und das in eigentlich schon lebensunwürdigem Ausmaß.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Würde ich vermutlich auch, wobei ich es nach wie vor eher nicht darauf anlegte, noch einmal in irgendeine Art von Bau zu wandern. In den richtigen Knast dabei noch viel weniger, als in eine bloße Ausnüchterungs-, beziehungsweise zelle, aber auch auf letzteres konnte ich ganz gut verzichten. Mir reichte die abgespeckte Version eines Gefängnisaufenthalts - nämlich auf Geheiß Sabins die Wohnung entweder gar nicht oder nur in Begleitung verlassen zu dürfen - völlig aus, wenn es darum ging, mein Leben fremdbestimmen zu lassen. Das Ganze musste in meinen Augen dann nicht auch noch staatlich sein, wo die Aussichten auf vorzeitige Entlassung denkbar schlecht standen. Allerdings schienen Samuele und ich absolut einer Meinung zu sein, wenn es darum ging, kein Kittchen mehr von innen sehen zu wollen und nachdem er mir versichert hatte, dass er es mich wissen lassen würde, sollte die Aufzeichnung noch einmal auftauchen, war das Thema für mich damit dann auch erstmal vom Tisch. Ich verzichtete darauf, diesbezüglich noch irgendetwas zu erwähnen und nickte seine Aussage lediglich ab, bevor ich damit anfing, die teilweise gesplitterten Holzrahmen vom Boden aufzusammeln und sie nach und nach in dem blauen Sack verschwinden zu lassen. Dabei hörte ich den Worten des Italieners weiterhin aufmerksam zu und nickte hin und wieder ein wenig, um ihm zu signalisieren, dass ich ihm auch dann zuhörte, wenn ich ihm kurzzeitig nur meine Seite oder den Rücken zeigte. "Das ist echt zu krass...", stellte ich erst einmal leise fest, dass ich mir definitiv nicht vorstellen konnte, ohne fließendes Wasser und Zugang zu Strom leben zu können, waren diese beiden Attribute doch das absolut Mindeste, was man brauchte, um ein halbwegs anständiges Leben zu führen. Der Wasserhahn oder eine funktionierende Toilettenspülung wäre mit bloß einem fehlenden Komponenten unbrauchbar und das erschien in meinen Augen wie ein menschenunwürdiger Zustand. Natürlich gab es auch besagte Gruppierungen außerhalb der Stadt, die auf anderem Wege eine ausreichende, vielleicht auch gesündere Körperhygiene - waren in einer Vielzahl von Shampoos oder Seifen ungesunde Silikone oder andere Stoffe enthalten, die wir bei unserem täglichen Hygieneritual vollkommen unbesorgt in unsere Haut einmassierten - betrieben, aber in dem Punkt bevorzugte ich doch den deutlich einfacheren und vielleicht schon etwas luxuriösen Weg, bloß den Wasserhahn aufdrehen zu müssen, um mich unter einen Strahl von warmen Wasser stellen zu können. "Schätze, ein gutes Staatsoberhaupt könnte hier einiges verändern, da hast du schon Recht.", stimmte ich Sammy in dem Punkt mit einem nachdenklichen Nicken zu, als ich gerade das letzte bisschen Müll aufgekehrt und entsorgt hatte. Anschließend richtete ich mich aus der Hocke wieder auf und verschränkte etwas nachdenklich die Arme vor der Brust. Ein wirklich guter Präsident würde Kuba sicherlich zu einem absolut lebenswerten Ort für Jedermann machen können, war die Idylle Havannas doch eigentlich gar kein schlechter Anfang. Es erwartete ja auch niemand, dass die Stadt oder das Land grundlegend dem Erdboden gleichgemacht werden musste, um der Insel zu neuem Glanz zu verhelfen. Es würde schon vollkommen ausreichen, die bestehenden Gebäude auf Kosten des Staates zu sanieren und zu renovieren. Die Altstadt gab nämlich an und für eigentlich gar kein schlechtes Bild ab und man konnte an einer Vielzahl von Ecken wirklich viel über die Vergangenheit Havannas lernen. In meinen Augen sollte man das Stück Kultur in jedem Fall beibehalten, aber ein neuer Anstrich würde nicht schaden. Für die Menschen, welche hier auf der Insel am Existenzminimum ihr Dasein fristeten gäbe es sehr sicher auch eine Lösung, mit der ein Großteil der Bevölkerung einverstanden gewesen wäre, aber der Stein musste nun mal von ganz oben erst ins Rollen gebracht werden und genau so war das meiner Meinung nach beim Thema Toleranz. Wenn das Staatsoberhaupt mit etwas über elf Millionen Menschen unter sich ein Stück weltoffener mit Schwulen, Lesben, Behinderten und oder Ausländern umgehen würde, dann färbte das ziemlich schnell auch auf die Allgemeinheit ab. Lediglich die Ureinwohner des Landes und eine Hand voll älterer Menschen würden dann noch intolerant sein und irgendwann, so doof es klang, aussterben. Aber bis es so weit kommen würde, lagen Sammy und ich vermutlich schon unter der Erde. Zumindest würde ich das vermuten, aber von der Politik Kubas hatte ich bis jetzt noch kaum etwas gehört. Konnte daher absolut nicht einschätzen, ob ein Wandel dahingehend absehbar war oder wir vergebens darauf warten würden, dass in Havannas Innenstadt Schwulen und Lesbenbars eröffneten. Ehrlich gesagt hatte ich zum jetzigen Zeitpunkt aber auch andere, deutlich schwerwiegendere Probleme als mangelnde Akzeptanz, war ich doch ohnehin niemand, der seine Sexualität nach außen hin sehr offensichtlich zeigte und bis ich irgendwann wieder auf die Pirsch gehen würde, um mir einen jungen Mann für eine heiße Nacht zu angeln... das würde sicher noch eine ganze Weile dauern. Ich hatte das ein oder andere Trauma vielleicht schon verarbeitet, aber das definitiv noch nicht. "Ich schätze, wir sind hier fertig. Den Rest überlasse ich wie gesagt lieber den Fachleuten.", ließ ich Sammy wissen, dass es hier für heute nichts mehr zutun gab. Nur noch der Müllbeutel musste in der dafür vorgesehenen Tonne verstaut werden und... ach ja. "Ich schau' nur noch mal eben, ob hier irgendwo mein Portemonnaie rumliegt und dann können wir gerne Heim fahren. Rufst du uns schon mal ein Taxi?", fiel mir noch ein, was ich hier in meinem Haus noch hatte überprüfen wollen und ergänzte die Aussage gleich noch um eine an den Italiener gerichtete Frage. Nämlich ob mein Geldbeutel hier noch irgendwo herum lag und ob Sam so freundlich wäre, schon einmal das Auto herzubestellen.
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Ich war wirklich froh über die freie Woche, die Iljah mir gewährt hatte. Es war herrlich wenig stressig gewesen lediglich ein bisschen den Haushalt machen zu müssen und wenig zu tun zu haben, konnte ich dann doch endlich mal ganz in Ruhe Dinge erledigen, die ich sonst aktuell meistens außen vor ließ. Shoppen gehen zum Beispiel - gut, das war für meinen Geldbeutel wie immer ziemlich schlecht, weil ich mich dabei selten wirklich im Zaum hatte, aber es hatte mich zumindest für ein paar Stunden ganz gut von meinem Problem mit dem gutaussehenden Schwarzhaarigen abgelenkt. Allgemein waren Ksenia und Anastasia wahre Meisterinnen darin mich abschalten zu lassen. Allerdings auch darin mir ins Gewissen zu reden, weil sie nun mal nicht blöd waren - ich war häufiger mal geistig etwas abwesender als normalerweise. Das hieß nicht, dass ich sonst nie im Stillen für mich allein nachzudenken anfing und mal kurzzeitig leer in den Raum starrte, aber es häufte sich eben. Dass mein Unterbewusstsein sich gefühlt jede Nacht aufs Neue ebenfalls damit beschäftigte und mich durch den einen oder anderen ungemütlichen bis etwas zu gemütlichen Traum hetzte, war auch nicht gerade hilfreich, um das Thema zu ignorieren. Wenn ich schon auf die die Frage meiner Mitbewohnerinnen, ob ich mich möglicherweise etwas zu gut mit dem Tätowierten verstand, mit einem sehr laschen und ausweichenden 'Keine Ahnung' antwortete, dürfte beiden absolut klar sein, dass ich gerade drauf und dran war in die nächste Misere zu schlittern. Das Alles wurde ja auch nicht gerade leichter, als ich in der nächsten Woche dann wieder zu arbeiten anfing. Im Autohaus ließ sich Iljahs Nähe sehr leicht meiden, aber bei den Privatstunden sah es da leider ganz anders aus. Er hatte die erste nach meiner Urlaubspause vorgestern angesetzt und ich hätte mich am liebsten einfach nur unter dem Tisch verkrochen und gehofft, dass er wieder ging. Dabei war es gar nicht so, als wäre mir seine Anwesenheit durchweg unangenehm. Das Problem war, dass eher genau das Gegenteil davon der Fall war und ich mein eigenes Herz mehrfach dabei ertappte, wie es eine schnellere Gangart einlegte, wenn er mich nur ein paar Sekunden zu lang ansah. Dabei konnte ich auch nicht sagen, woran genau es lag. Eventuell daran, dass ich fürchtete er könnte mich noch einmal küssen. Oder daran, dass er allein damit schon eine angenehm kribbelnde, leichte Nervosität bei mir auslöste. Vermutlich eine Mischung aus beidem. Ich verfluchte den jungen Mann wirklich dafür, musste mir selbst aber auch langsam eingestehen, dass ich eigentlich gerne mehr von diesem Gefühl hätte. Natürlich schwang aber reichlich viel Unsicherheit dabei mit und ich fühlte mich wieder ein bisschen so, als wäre ich nochmal in meinen Schwarm in der achten Klasse verliebt, der zwei Jahre älter gewesen war. Wohlgemerkt war er trotzdem in meiner Klasse gewesen, weil er sitzengeblieben war, aber er war eben der typische, gutaussehende Draufgänger mit schrecklich viel Beliebtheit gewesen. Mittlerweile bevorzugte ich eindeutig Männer mit mehr Gehirn und ich würde auch nicht so weit gehen zu sagen, dass ich in Iljah verliebt war, aber ich hatte mich ohne jeden Zweifel in ihn verguckt. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum ich immer wieder aus heiterem Himmel an ihn dachte. Allem voran natürlich an den Kuss, der absolut alles verändert hatte. Hätte es den nicht gegeben würde ich mich nicht ständig selbst daran erinnern müssen, dass ich doch theoretisch noch so viel mehr davon haben konnte. Ich müsste vermutlich nicht wirklich mehr als nur den finalen Schritt auf den Tätowierten zugehen und das Blatt würde sich in dieser Hinsicht schnell zu meinen Gunsten wenden - aber eben auch ausschließlich nur in dieser Hinsicht. Je näher ich ihm kam, desto mehr nervten mich die Sorokins. Bisher konnte ich es noch immer irgendwie glaubhaft erklären, dass ich kaum etwas über die anstehende Geldwäsche-Geschichte wusste und ihnen keine detaillierten Infos darüber geben konnte, aber irgendwann würde das zur Sackgasse werden. Es war ein schleichender, aber ein unvermeidbarer Prozess sich auch anderweitig näher zu kommen und sich mehr auszutauschen, wenn man sich auf körperlicher Ebene einander annährte. Die Brüder würden mich früher oder später also wahrscheinlich eigenhändig steinigen oder erwürgen, wenn ich ihnen nicht irgendetwas Brauchbares lieferte, obwohl ich ständig mit dem Kartellführer zusammen herumhing und darüber hinaus auch noch mehr als das. Das war wohl auch der einzige Grund dafür, warum ich mich ihm gegenüber wieder etwas distanzierter verhielt. Auch jetzt, wo wir erneut nach meiner eigentlichen Arbeit noch zusammen in dem extra angemieteten Büro herumsaßen, um das Thema Buchhaltung noch weiter zu vertiefen. Im Grunde konnte es mit der eigentlichen Arbeit dahingehend wohl auch bald mal losgehen, denn was ich brauchte beherrschte ich jetzt ja eigentlich schon. Es galt für mich dann nur noch im speziellen Fall von der geplanten Geldwäsche anhand richtiger Aufgaben in dieser Richtung etwas in die Tiefe zu gehen. Sobald ich auch das restlos drin hatte würde Iljah damit aufhören mich an die Hand zu nehmen. Nur selbst dann, wenn er nicht mehr so oft in meiner Nähe war, würde das angespannte Verhältnis bleiben und das war wirklich beschissen. Man konnte eben nicht miteinander befreundet sein, wenn man sich irgendwann mal geküsst hatte. Das funktionierte in seltenen Fällen vielleicht schon, aber eindeutig nicht in diesem hier und vor allem nicht für mich. Deswegen hatte ich auch am heutigen Abend nicht mehr als absolut notwendig mit meinem Chef - der er nun mal leider immer noch war und auch bleiben würde, mit Kündigung war nicht - geredet und jetzt, wo ich die letzte Aufgabe für den heutigen Arbeitstag abgeschlossen und final abgeheftet hatte, konnten wir auch gleich wieder getrennter Wege gehen. Trotzdem wollte ich mich mit ein paar wenigen Worten absichern, dass Iljah nichts mehr in petto hatte, was er erledigt haben wollte. "Das war's für heute, oder?", fragte ich ihn eher leise, als alles ordnungsgemäß verräumt und der Schreibtisch im Prinzip fast sowas wie leer war, als ich mich mitsamt dem Stuhl ein kleines bisschen zurückschob und mich etwas mehr in seine Richtung drehte. Allerdings konnte ich meinen Blick ja doch nicht lange in seinem Gesicht ruhen lassen und sah lieber wieder zum Schreibtisch. Der guckte nämlich nicht zurück und der küsste mich auch nicht.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Ich konnte gar nicht in Worte fassen, wie amüsant es eigentlich war, Irina dabei zu beobachten, wie sie nach ihrem Urlaub einen ziemlich verzweifelten Versuch startete, den Kuss einfach ohne Weiteres unter den Teppich zu kehren. Man sah der jungen Frau nur leider ziemlich deutlich an, dass sie der Vorfall nach wie vor beschäftigte und die wieder etwas distanzierte Art mir gegenüber bestätigte mich dabei in meiner Vermutung. Bis zum heutigen Tag hatte ich allerdings davon abgesehen, mir einen Spaß daraus zu machen, die Serbin auf die jüngsten Ereignisse zwischen uns anzusprechen, weil insbesondere die letzte Woche ziemlich stressig für mich gewesen war. Der Urlaub meiner Mitarbeiterin hatte damit allerdings nur wenig bis eigentlich gar nichts zutun. Viel mehr hatte mich ein Großauftrag aus Kasachstan ziemlich viel Zeit und einiges an Ressourcen gekostet, was mich trotz der ziemlich langen Tage und dafür verhältnismäßig kurzen Nächte wirklich freute. Immerhin warf der Auftrag auch dementsprechend viel Kohle ab und sowohl die Belegschaft aus Russland, als auch der Rest aus Italien war nahezu vollumfänglich in das Projekt eingebunden. Nur ein paar wenige Männer kümmerten sich um kleinere, fast schon alltägliche Aufträge, beziehungsweise Kunden, während der Rest und ich die Verlegung einer kasachischen Großfamilie nach Chile planten. Und zu sagen, dass das bei der Distanz ein Spaziergang werden würde war in etwa so, als würde man behaupten, Reißnägel zu schlucken täte nicht weh. Grundlegend war es für mich absolut kein Problem, auch große Menschenmassen auf die buchstäblich andere Seite der Erdhalbkugel zu befördern, nur setzte ich diese dann für gewöhnlich auch einfach in einen Flieger und los ging es. Das Familienoberhaupt hatte allerdings ganz andere Pläne und weil der Kunde im Augenblick weit mehr als nur König war, tat ich natürlich auch mein Bestes, den extraordinären Wünschen des Kasachen irgendwie gerecht zu werden. Primär stand ich schon bei der ersten Bitte seitens des Mittfünfzigers vor einem organisatorischen Problem. Denn der gute Mann wollte mitsamt seines Anhangs nicht fliegen, sondern mit dem Schiff über den Ozean schippern und das war bei der Strecke alles andere als ein Zuckerschlecken. Schließlich musste das Frachtschiff mehrfach aufgetankt werden und damit in meinen Augen viel zu oft in irgendwelchen Häfen anlegen, dir mir nicht unbedingt alle wirklich bekannt waren. Außerdem sollten die Container, in denen sich die Familienangehörigen aufhielten mit etlichem Schnickschnack ausgestattet werden, damit diese während ihrer etwas mehr als dreiwöchigen Reise bestens unterhalten waren. Natürlich durfte ich sämtliche Beschaffungen am Ende auf den Gesamtpreis aufschlagen und die Einrichtung sogar behalten, was in meinen Augen ein wirklich großzügiger Deal war und höhere Kosten beim Transport zukünftiger Kunden rechtfertigen würde, aber die Organisation war trotzdem der reinste Alptraum, wenn man mich fragte und wäre es der Firma im Augenblick besser gegangen, hätte ich vermutlich auch nicht eingewilligt, mich der Großfamilie mit den Sonderwünschen anzunehmen. Aktuell durfte ich wohl aber nicht wirklich wählerisch sein und war deshalb ganz froh, als gestern Abend der Flieger nach Kasachstan abgehoben war, um Freunde und Familie des Kunden nach Pakistan zu fliegen, in dessen Hafen das Schiff auf sie warten würde. Ich konnte also endlich wieder etwas tiefer durchatmen und entspannen, weil sich der Rest - hoffentlich ohne Komplikationen - von selbst erledigen würde. Beschreien würde ich das natürlich nicht und erst feiern, sobald die Kohle auch tatsächlich in die Firmenkasse geflossen war, aber ich hatte mittlerweile immerhin wieder ein bisschen Luft, um über Tag X von vor einer Woche nachzudenken, an dem ich Irina geküsst und sie danach in ihren Urlaub entlassen hatte. Allerdings fiel es mir deutlich leichter, die Intimität und auch den dahinterstehenden Grund einfach zu akzeptieren, was man von der jungen Frau nicht wirklich behaupten konnte. Für mich lag nun mal auf der Hand, dass wir beide einfach ein gewisses Interesse an dem jeweils anderen hatten und in meinen Augen sprach gegen ein bisschen Spaß nun wirklich nichts. Wir waren schließlich beide Erwachsen und es war ja auch nicht so, als würden wir plötzlich irgendwelche Verpflichtungen eingehen, nur weil wir uns nach - oder währenddessen, ich war da sehr flexibel - der Arbeit vielleicht noch ein bisschen amüsierten, aber für Irina schien das zumindest im Augenblick überhaupt nicht in Frage zu kommen. Und ich hatte vor einigen Stunden in meiner geistigen Umnachtung beschlossen, dem Grund dafür nachzugehen. Es war nämlich schlicht und ergreifend offensichtlich, dass sie irgendwie auch ein bisschen für mich schwärmte und trotzdem sträubte sie sich, mich näher an sich heranzulassen. Ich kaufte ihr mittlerweile einfach nicht mehr ab, dass das angespannte Arbeitsverhältnis wirklich der einzige Haken war, der sie daran hinderte, sich mir ein oder zwei Mal die Woche einfach hinzugeben. Eine günstige Gelegenheit für ein Gespräch diesbezüglich ergab sich heute im Verlauf unserer Privatstunden nach der regulären Arbeit, weil wir da wie immer unter uns und somit ungestört waren. Sie brauchte sich also nicht zu fürchten, dass Kollegen plötzlich misstrauisch werden würden, weil sie über die reguläre Arbeitszeit hinaus in meinem Büro - welches in Zukunft streng genommen ihr Büro werden sollte - aufhielt. Wir waren gerade mit der Aufarbeitung der liegengebliebenen Arbeit aus der letzten Woche fertig geworden, als Irina mich fragte, ob das für heute alles gewesen war. Streng genommen war es das auch, ja, aber gehen sollte sie deshalb trotzdem noch nicht. "Wir haben viel geschafft. Alles, was ich für den heutigen Tag geplant hatte, um genau zu sein, aber ich würde gerne noch mal mit dir sprechen, Irina.", antwortete ich in gewohnt neutraler Stimmlage, weil ich mich vor Gesprächen dieser Art wie gesagt nicht fürchtete. Schließlich stieg mir so schnell nicht die Röte ins Gesicht und nervös von einer Arschbacke auf die andere rutschen tat ich auch nicht. Anders, als das bei der jungen Frau der Fall war. Demnach war mir bereits von vornherein klar, dass Irina womöglich nicht gerade begeistert darüber sein würde, dass ich mich noch kurz mit ihr unterhalten wollen würde, aber darauf konnte und wollte ich jetzt schlichtweg keine Rücksicht nehmen. "Ehrlich gesagt hätte ich nämlich noch ein paar Fragen an dich und ich würde mir wünschen, dass du sie mir ehrlich beantwortest. Allen voran würde ich gerne wissen, wie dein Urlaub war. Seit du zurück bist, redest du nur noch das Nötigste mit mir und ich vermute, dass dich etwas bedrückt, worüber du eventuell reden möchtest.", redete ich einfach weiter vor mich hin, ohne überhaupt eine Antwort der jungen Frau abgewartet zu haben, ob es für sie in Ordnung ging, dass ich sie noch für ein paar Minuten aufhalten würde, bevor sie Feierabend machen durfte. Dabei wählte ich meine Worte natürlich absichtlich so, dass ich damit indirekt auf den Kuss anspielte, gleichzeitig aber so tat, als wüsste ich von nichts. Als wäre ich nicht primär der Grund dafür, dass sie mich in den letzten zwei Tagen eher auf Abstand hielt.
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #
Ich war kurz davor erleichtert aufzuatmen, weil Iljahs erste Worte ganz verdächtig nach endgültigem Feierabend klangen. Fast war ich schon so weit aufzustehen, da machte er mir mit weiteren Worten einen dicken, fetten Strich durch die Rechnung. Es wäre wohl zu einfach gewesen, wenn er mich jetzt einfach nach Hause entlassen hätte, wir zumindest für heute schon mal getrennte Wege hätten gehen können. Natürlich hätte ich dann schon sehr bald wieder seine Nähe ertragen müssen, aber ich hätte trotzdem für den Moment wieder das Gefühl gehabt atmen zu können. Mit seinem unerwarteten Anliegen schnürte er mir hingegen förmlich die Luft ab und es setzte ein leichtes, aber fieses Stechen in meinem Brustkorb ein. Während er ansprach, was ihm gerade noch auf dem Herzen lag - oder eher mir - sah ich lediglich ein einziges Mal kurz direkt in seine Augen, bevor mein Blick an meinen Oberschenkeln zu kleben begann. Ich für einige Sekunden lang fieberhaft darüber nachdachte, wie ich jetzt reagieren wollte. Es war schließlich sehr offensichtlich - vermutlich selbst für einen Blinden -, dass ich dem Tätowierten gezielt auszuweichen versuchte wo es die Arbeit eben zuließ und das zu leugnen wäre sinnlos. Wie der Urlaub war, war keine besonders schwer zu beantwortende Frage, aber damit wäre es eben kaum getan und genau das war mein Problem. Ich konnte ihm ja nicht sagen, was - neben meiner anfänglichen Angst fremden Männern gegenüber - das eigentliche Problem an der ganzen Sache war und was sollte ich sonst sagen? Dass es an der Arbeit lag war kaum mehr glaubwürdig, nachdem ich mich beim Feuer am Rand der Stadt ziemlich freiwillig an seinen Hals geschmissen hatte. Es war nun mal ganz offensichtlich nicht so, dass ich nichts von ihm wollte und so konnte auch das nicht als plausibler Grund herhalten. Vielleicht hätte ich mir innerhalb der letzten eineinhalb Wochen einfach mal eine wirklich, wirklich gute Begründung dafür überlegen sollen, weshalb ich mich von Iljah fernhalten sollte und eigentlich sogar musste. Jetzt war es dafür mehr als nur ein bisschen zu spät und es hätte mir schon vorher klar sein müssen, dass er auch dieses Mal nicht einfach so locker lassen würde. Wieso sollte er auch? Ich hatte jetzt mehr oder weniger schon mehrfach bis zu einem gewissen Grad nachgegeben und war sogar schon aus freien Stücken etwas auf ihn zugegangen, er machte also offenbar irgendwas richtig und fühlte sich dadurch, dass ich ihn beim Kuss nicht zurückgewiesen oder ihm danach unschöne Worte an den Kopf geknallt hatte, natürlich erst recht darin bestätigt. Was also sagen? Ich seufzte leise, legte die Hände ineinander und fing wie so oft damit an ein bisschen mit den schmalen Fingern herumzunesteln. Sah auch weiterhin darauf hinab, weil seinen Blick zu erwidern einfach nicht drin war. "Die freien Tage haben mir eigentlich schon ganz gut getan." Ach, echt? Viel davon zu sehen war aber eher nicht. Ich würde es auf den schlechten Schlaf schieben, aber den hatte ich durch meine Schlafstörungen bedingt sowieso fast immer und es war mit großer Sicherheit ein riesiges Wunder, dass die Ringe unter meinen Augen noch kein tiefes Schwarz angenommen hatten. Ich war was das anging genetisch wohl einfach gesegnet, sollte mir womöglich aber doch einfach mal von irgendeinem Psychologen ein Medikament verschreiben lassen, dass mir beim durchschlafen half. "Ich bin nur... ich will nicht, dass... können wir bitte einfach nicht darüber reden?", setzte ich mehrfach murmelnd zu einem Satz an und brach aber jedes Mal ab, weil einfach nichts Gutes dabei herauskommen wollte und seufzte am Ende ein weiteres Mal. Ich wusste schlichtweg nicht was ich ihm sagen sollte und ich wollte auch einfach nicht über den Kuss reden. Ich kannte mich einfach gut genug, um zu wissen, dass das auch wieder entweder in die eine oder in die andere Richtung ungünstig enden würde. Ich konnte es mir weder leisten mich mit Iljah zu streiten, noch ihm ein weiteres Mal auf die Pelle zu rücken und ich wollte beides vermeiden. Da behielt ich lieber für den Rest seiner Lebzeiten diese drückende Atmosphäre bei. Wobei ich andererseits natürlich kein bisschen wollte, dass die Sorokins ihm wirklich ein Haar krümmten oder ihn umlegten. Er verdiente das nicht... glaubte ich zumindest zu wissen. Wirklich kennen tat ich den etwas zu gut aussehenden Typen, der gerne in Hemd und Mantel steckte, nämlich nach wie vor nicht.
+ .Es kommt, wie es kommt - aber so, wie man es ruft. +
Wenn ich nicht mein geübtes Pokerface aufgesetzt hätte, dann würde jetzt wohl ein durchweg angetanes Schmunzeln meine Lippen umspielen. Es war einfach unglaublich befriedigend zu sehen, wie verlegen die junge Frau auf meine Worte reagierte und als sie mich schließlich darum bat, nicht weiter über den Kuss zu reden, hätte ich beinahe amüsiert aufgelacht. So einfach kam sie mir nicht davon. Jetzt wurde es doch gerade erst lustig. Ich behielt die neutrale Miene bei, sah sie aus vollkommen ruhigen und entspannten Augen an, wobei auch ein wütendes oder herausforderndes Funkeln in meinem Blick gelegen haben könnte - gesehen hätte Irina es so oder so nicht. Denn sie wich meinem Blick ziemlich vehement aus und starrte lieber auf ihre zierlichen Hände, die meiner Meinung nach woanders definitiv besser aufgehoben gewesen wären, was mich noch einmal sehr eindeutig darin bestätigte, dass ich einen gewissen Einfluss auf die Serbin haben musste. Ansonsten würde sie wohl kaum so leise vor sich hin murmelnd dasitzen, sondern aufstehen und mich bestimmt von der Seite anranzen, was ich mir denn erlauben würde. Tat sie aber nicht und deshalb brauchte sie auch nicht zu glauben, dass ich sie so schnell gehen lassen würde. Natürlich stand mir nicht im Sinn, aufzuspringen und ihr aktiv den Weg durch die Tür zu versperren, wenn sie wirklich keine Lust oder keinen Nerv hatte, über den Kuss zu reden, aber wäre sie dann nicht schon längst weg? Immerhin wusste sie ja jetzt, worüber ich mich mit ihr hatte unterhalten wollen und trotzdem blieb sie sitzen. Starrte ansonsten wortlos einfach auf ihre Hände und ließ sich von mir mustern. Nach etwa einer halben Minute stieß ich dann ein nachdenkliches Seufzen aus und winkelte den rechten Arm auf der Lehne meines Stuhls an, um mein Kinn gegen die Hand zu stützen, Irina aus der Position heraus anzusehen. Ohne weiter auf ihre freien Tage einzugehen, setzte ich dazu an, bezüglich des Kusses einfach weiter nachzuhaken, was ihr deutlich signalisieren sollte, dass ich nicht einverstanden damit war, das Gespräch jetzt zu beenden. Das wäre ja quasi wie Aufgeben und kam für mich somit absolut nicht in Frage. "Ich verstehe es einfach nicht...", begann ich leise zu reden und strich mir mit dem Mittelfinger über die Oberlippe, ehe ich mich wenige Sekunden später wieder aufrichtete und die Arme vor der Brust verschränkte. Dabei meiner rechten Hand ein wenig Spielraum ließ, um mit ihr ein paar unterstreichende Gesten für meine nachfolgenden Worte in die Luft zu zeichnen. "So langsam kann ich einfach nicht mehr glauben, dass du mich ausschließlich wegen unseres Chef-Angestellten-Verhältnisses so verschmähst, Irina. Wo liegt das Problem? Bist du lesbisch? Hattest du noch nie eine reine Fickbeziehung oder bist du vielleicht einfach noch Jungfrau?", fragte ich und die Worte gen Ende mündeten in ein halbes Lachen, weil ich sie selbst für vollkommen abwegig und absurd hielt. Mehr wollte mir im Augenblick einfach nicht einfallen, weil es in meinen Augen keinen plausiblen Grund dafür gab, warum sich Irina derart quer stellte. Sie wusste inzwischen, dass sie mich haben konnte und zu einem gewissen Teil auch, was sie dann an mir hatte. Am Lagerfeuer war sie mir noch freiwillig in den Mantel gekrochen und hatte mich nach dem Kuss am selbigen Abend auch nicht unsanft von sich gestoßen, obwohl wir vorher unschön diskutiert hatten. Das würde wohl kaum jemand tun, der sich nicht insgeheim doch auf mich einlassen wollte, oder? Irgendetwas schien ihr also derart sauer aufzustoßen, dass sie doch lieber die Finger von mir lassen wollte und ich würde gerne wissen, was das war. "Haben dir deine Mitbewohnerinnen vielleicht etwas über mich erzählt? Ich mutmaße gerade nur, aber ich werd' aus dir wirklich nicht schlau.", stellte ich ein wenig unzufrieden fest, wobei ich tatsächlich auch ein leise vor mich hin grummelte. Ich mochte es einfach nicht, im Dunkeln zu tappen und Irina war einsame Spitze darin, den Lichtschalter gut versteckt zu halten, was sie wiederum nur noch interessanter für mich machte. Allerdings war ich mir nicht wirklich sicher, ob sie nicht auf kurz oder lang doch die Art von Frau war, an der ich mir noch monatelang die Zähne ausbeißen würde, ohne so wirklich vorwärts zu kommen. Ihre Annäherungsversuche waren zwar ein riesengroßer Schritt gewesen und der Kuss ebenfalls, aber sie schien sich nach jedem Vorfall, bei dem wir uns irgendwie ziemlich nahe kamen, irgendwie zu verschließen und das war... auf Dauer gelinde gesagt etwas nervig. Interessant, aber auch nervig, ja. Es fühlte sich einfach an, als würde ich jedes Mal wieder bei Null anfangen und mir ihr Vertrauen erarbeiten müssen und auch wenn ich wirklich ein sehr geduldiger Mensch war, hätte ich in der Zeit, die ich Irina bereits zum Auftauen gegeben hatte, sicherlich drei, vier oder fünf Frauen flachlegen können - Tendenz steigend. Nach dieser Erkenntnis tat sich mir im Übrigen unweigerlich die Frage auf, warum ich sie dann nicht schon längst in Ruhe gelassen und mich besagten anderen Frauen gewidmet hatte. Aber um mich ging es hier ja gerade nicht, also verstaute ich die Überlegungen wieder in der Kiste und schob sie zurück unter das imaginäre Bett in meinem Oberstübchen, um der Schwarzhaarigen stattdessen mein Gehör zu schenken und ihre Antwort abzuwarten, auf die ich jetzt mehr als nur gespannt war. Ob sie mir denn überhaupt antworten wollen würde? Oder zog sie es konsequent durch, nicht weiter über das Thema zu reden?
# Is it all a tragedy? Are we flashes in a rut going in and out of luck? Maybe. #