Obwohl ich wusste was ich tat, fühlte ich mich gleichzeitig wie unvorbereitet ins kalte Wasser gestoßen – oder als wäre ich schlichtweg gesprungen, ohne mich vorher über die Tiefe des Gewässers zu informieren. Um bei der Metapher zu bleiben: die Wasseroberfläche schloss sich über meinem Kopf, ertränkte Sorgen und Bedenken, sog mich in eine berauschende Tiefe hinab. Intuitiv bog ich meinen Oberkörper leicht seinen reizvollen Berührungen mit Hand und Lippen entgegen, genoss den prickelnden Rausch, der durch meinen Körper zuckte und mich gleichzeitig dazu animierte, Isaac einen ähnlichen Gefallen entgegen zu bringen. Meine Finger bewegten sich weiterhin rhythmisch über seinen Schaft, warteten geduldig auf seine Reaktion, um mich diesen indirekten Wünschen in einem fließenden Übergang anpassen zu können. Sein mir entgegenstrebendes Becken galt als ausreichend Zuspruch, um von meinem Tun nicht abzulassen, obwohl erst sein raues Seufzen mein Blut auf ganz andere, neue Art in Wallung brachte. Mein Herz hüpfte dazu in freudiger Erwartung, pumpte mir die Hitze bis hinunter in die Zehenspitzen, sodass sich das hibbelige Gefühl – eine Mischung aus Erregung und hauptsächlich positiver Nervosität – in jede Faser meines Körpers einnistete. Dazu brauchte es eigentlich nicht die langsame Abwärtsbewegung seiner zuvor noch massierenden und neckenden Hand, trotzdem meldete sich eine leise Dankbarkeit in den weitestgehend verstummten Teil meines Verstandes, dass er mich über seine weiteren Absichten informierte, kleine Hinweise streute und ich mich nicht überrumpelte. Dennoch traf mich sein diebisches Funkeln auf eine Weise, wie ich Isaac bisher noch nie vergleichbar wahrgenommen hatte: es war eine schelmische Selbstsicherheit verpackt im hinreißenden Charme seiner aussagekräftigen Augen, die seine Attraktivität erstrahlen ließ. Nun musste ich mich hingegen aller Erwartungen zur Geduld ermahnen, um nicht plötzlich sämtliche vorsichtshalber gedachten guten Absichten über Bord zu werfen und das Tempo anzuziehen. Ein Moment der Schwäche, zugegebenermaßen, von dem ich mich dank seines unaufhaltsamen Herantastens schnell wieder erholte. Neugierig fühlte ich Isaacs Berührungen nach, folgte ihm mit meinem befürwortenden Blick. Seine zweite Hand fand sich ebenfalls an meiner Hüfte wieder, die ich automatisch leicht anhob, um das folgende Prozedere des Ausziehens zu erleichtern. Ich spürte seine Aufmerksamkeit wie ein wohliges Brennen auf meinem Gesicht, dennoch wanderten meine Augen in hungrigem Interesse an seinem definierten Körperbau hinab. Breite Schultern gingen in einen trainierten Oberkörper über, leiteten meinen Blick hinab zu einem angedeuteten V aus Muskeln, das normalerweise unter dem Bund seiner Hose verschwand. Dieses Mal nicht. Unbewusst und kaum merkbar biss ich mir für die Dauer einer Sekunde auf den inneren Rand meiner sanft geschwungenen Unterlippe. Ruckartig hob sich meine Aufmerksamkeit zurück in das ansonsten so verschlossene Blau seiner Augen, wo mich Isaacs Zuneigung empfing und besänftigte. Trotz meiner aufwirbelnden Emotionen spürte ich eine gewisse Ruhe, als ich dabei zusah, wie auch meine letzte schützende Schicht Stoff aus dem Bett verbannt wurde. Ich fühlte mich gut, was das zarte Lächeln weitestgehend signalisierte. Seine Lippen an meinen Beinen schickten einen kribbelnden Schauer bis hinauf in meinen Nacken. Isaac nahm sich viel Zeit, zumindest kam es mir wie eine kleine Ewigkeit vor, ehe sich meine Beine nach und nach unter seinem behutsamen Druck öffneten. Da mein Herz ohnehin sein ganz eigenes Tempo schlug, ignorierte ich den nervös flatternden Puls in meiner Brust und fokussierte mich ausschließlich auf Isaac. Womöglich handelte es sich um die Überreste meines Misstrauens und der Furcht vor einer weiteren Verletzung, jedenfalls brachte ich es zu diesem Zeitpunkt noch nicht über mich, sämtliche fehlplatzierte Anspannung aus meinem Körper zu vertreiben beziehungsweise brauchte die Gewissheit zu sehen, was vor sich ging. Willkürlich hatte ich meinen Oberkörper nur wenige Zentimeter aufgerichtet und stützte mich auf den Unterarmen ab, um daraufhin Isaacs leuchtenden Blick zu begegnen. Ich spürte seine kräftige Hand, wie sich unsere Finger verschränkten, nahm das federleichte Kitzeln seiner Küsse auf der weichen Haut meiner Oberschenkel war, tauchte in dem leidenschaftlichen Begehren ab und so schlich sich ohne mein aktives Zutun ein glückliches Strahlen in meine andeutungsweise angehobenen Mundwinkel. Mehr Bestätigung bedarf es dementsprechend nicht mehr. Ich spürte die feurige, verspielte Linie, mit der er meine Haut bedeckte, wie sie unserem gemeinsamen Ziel entgegenstrebte. Der Augenblick, als seine Zunge zum ersten Mal in meine Körpermitte eintauchte, entlockte mir ein hörbares Einatmen und ich spannte unweigerlich meine Beinmuskulatur an. Die letzte vergleichbare Berührung lag eben einen gewissen Zeitraum zurück, ich brauchte einen Atemzug lang, ehe sich meine Muskeln wieder entspannten und unter Isaacs Zutun ein wohligerer Laut ähnlich einem sinnlichen Seufzen meine Kehle verließ. Ich drückte leicht unsere ineinander verschränkten Hände als Zeichen meines Zuspruchs – ich hatte mich von der ersten Überwältigung erholt und wollte, dass Isaac nicht zögerte, um weiterzumachen. Ich sehnte mich regelrecht danach, dass er mein begieriges Sehnen stillte… und bekam meinen Wunsch erfüllt. Geschickt reizte er meine Ekstase, spielte mit meiner Erregung und entlockte mir immer wieder ein zunehmend hörbares Keuchen. Isaac fand jenen sensiblen Punkt, der mich mit sich flatternd schließenden Lidern zurück in die Matratze sinken ließ, ohne dabei den Bogen endgültig zu überspannen. Mein Körper verlangte nach mehr. Ich wollte mehr. „Isaac“, raunte ich leise zwischen zwei flachen Atemzügen, zog leicht an seiner Hand, um ihm dadurch den Anstoß zu geben, der Bewegung zu folgen. Ich wollte nicht länger warten.
Mein sensibles Gehör sprang mit sich aufstellenden Nackenhaaren auf das Geräusch an, das über Riccardas Lippen floh. Dabei war das erst der Anfang der kleinen Symphonie, die ihr Körper mir als Antwort auf die gezielte Stimulation gab. Ich hielt zu Beginn noch einmal kurz halb inne und gab der schlanken Schönheit damit den Moment, den sie brauchte, um sich an das beinahe fremd gewordene Gefühl zu gewöhnen. Als ich danach weitermachte, hätte es die erregten Laute gar nicht gebraucht, um mir zu zeigen, dass ich mich nicht dumm anstellte. Ihr Körper hätte auch stumm auf seine Art überdeutlich mit mir kommuniziert. Mein Blick fand immer wieder an Riccardas Oberkörper hinauf, wo mich mehr und mehr Ekstase empfing, je länger ich das Spiel spielte. Ich genoss das. Das vermeintlich unauffällige Zucken ihres Beckenbodens, das Vibrieren ihrer Oberschenkel direkt neben meinem Kopf, das Flattern ihrer Lider, das ergeben Zurücksacken ins Kopfkissen… ich hätte noch lange so weitermachen können, ohne dabei in Langeweile zu verfallen. Mit Freuden badete ich in dem visuellen und akustischen Reiz, der gemeinsam mit ihrem Geschmack auf meiner Zunge und ihrem Duft in meiner empfindlichen Nase spielend leicht meinen Körper in Wallung hielt. Doch Augenweide hin oder her - meine Erektion war von der Bauchlage nicht sonderlich begeistert, weshalb ich gewiss nichts dagegen hatte, dem Vorspiel auf Riccardas Wink mit dem Zaunpfahl hin ein Ende zu bereiten. Der Klang meines Namens von ihren fast die ganze Zeit über leicht geöffneten Lippen ließ mir nicht nur einen angenehmen Schauer über den oberen Rücken tanzen, sondern auch meine Mundwinkel leicht nach oben zucken. Trotzdem hörte ich nicht sofort auf. Stattdessen drückte sich meine Zunge noch ein letztes Mal mit einer ansatzweise kreisenden Bewegung an ihren Kitzler. Ein bisschen Provokation musste sein, was das verspielte, listige Funkeln in meinen Augenwinkeln ungeniert spiegelte. Daraufhin lösten sich meine Finger dann aber von ihren und auch meine andere Hand streichelte nur noch einmal flüchtig über ihre Haut, bevor ich mich mit einem letzten Kuss auf die Innenseite ihres Oberschenkels zurückzog. Meine Shorts waren nach wie vor im Weg, also musste ich mich zwangsweise für einen Moment ganz von dem blonden Engel distanzieren, um noch den Rest meiner Klamotten loszuwerden. Als das erledigt war, schloss ich in fließender Bewegung erneut zu ihr auf. Schob mich über sie, wobei unsere Körper nur mehr durch einen Hauch Luft getrennt waren, der gleich ganz und gar schwinden würde. Bevor meine Lippen für den nächsten Kuss nach ihren suchten, führte ich für etwas Spucke aber kurz meine Hand an den Mund. Das Vorspiel war meinerseits trocken ausgefallen und ich wollte sowohl mir selbst als auch Riccarda ein unangenehmes Gefühl ersparen. Mit dem linken Unterarm neben ihrem Kopf abgestützt lag mein in sehnlicher Vorfreude schimmernder Blick nur so lange in ihren Augen, wie ich Zeit brauchte, um meine Lippen nach ihren auszustrecken. Ich verschwendete keinen Gedanken mehr daran, ob das hier schiefgehen könnte. Schon nicht mehr, seit sie angefangen hatte, sich unter meiner Zunge aufzuheizen. Wer brach gerne wieder ab, wenn er schon mittendrin und die blanke Lust greifbar war? Ziemlich genau dasselbe kommunizierte auch der ungehaltene, gierige Kuss, der deutlich machte, wie sehr ich mich in diesem Moment nach der zierlichen Schönheit verzehrte. Wie sehr ich sie wollte, nur sie. Ich ließ das Lippenspiel langsam auslaufen, hielt Riccardas Unterlippe jedoch noch einen Moment vorsichtig mit den Zähnen fest. Erst als ich mit Unterstützung meiner Hand dazu ansetzte, mit der befeuchteten Eichel in sie einzudringen, gab ich ihre Lippen frei und öffnete die Augen halb. Falls ihr doch plötzlich unwohl wurde - ich war wohl inzwischen selbst bis ins tiefste Unterbewusstsein darauf getrimmt, auf sie Acht geben zu wollen - und auch, weil ich ihre Reaktion sehen wollte. Ich war behutsam und glitt nur langsam tiefer, legte dabei die frei gewordene Hand außen an Riccardas Oberschenkel und atmete hörbar ein. Merkte zuerst auch gar nicht, dass ich ab einem gewissen Punkt den Atem anhielt, weil das Gefühl nach so langer Abstinenz wahnsinnig intensiv war und mir gefühlt jeder Quadratzentimeter Haut am Körper zu kribbeln anfing. Willig ließ ich die elektrisierte Atmosphäre in der Luft auf mich übergehen, als meine von Leidenschaft längst verschleierten Augen mit schwerem Ausatmen zufielen. Erst mit einem weiteren Kuss fing ich an, mich in stetigem Rhythmus in ihr zu bewegen, ließ jedoch bald von ihren sinnlichen Lippen ab, um sie stattdessen anzusehen. Ich suchte in den Augen der schönen Blondine nach der innigen Verbundenheit, wann immer ihr danach war, einen Blick auszutauschen. Mir stand vorerst nicht im Sinn, das Tempo maßgeblich zu steigern, ließ es mir aber nicht nehmen, nach einer kleinen Weile mit etwas mehr Nachdruck zuzustoßen und meine Hand dafür zu nutzen, ihren Schenkel etwas weiter anzuheben, um tiefer in sie eindringen zu können. Dabei kam das erste leise Stöhnen in mir hoch... eng begleitet von dem aufkommenden Gedanken, dass ich das so nicht lange durchziehen konnte, ohne vor dem Engel fertig zu werden. Es führte also nicht wirklich ein Weg an einem Stellungswechsel vorbei, um mir die benötigte kurze Pause einzuholen. Was das anging musste ich meinem Ego dann wohl später die Schulter tätscheln, vorerst aber reizte ich den Moment aus solange ich konnte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Trotz keuscher Lebensweise der vergangenen Monate hatte sich über die Zeit hinweg keine Erwartungshaltung in meinem Verstand bezüglich einer maßgeblich sexuellen Begegnung zwischen Isaac und mir aufgebaut – falls doch, so hatte sich diese Vorstellung nicht tief genug in mein Gedächtnis gebrannt –, sodass in diesem ersten intimen Moment keine Wünsche unerfüllt blieben. Meine Sinne schwirrten, konzentriert auf den gebündelten Fokus des Verlangens in meiner Körpermitte und doch herrlich losgelöst. Dabei baute sich die begierige Spannung, das Entgegenstreben einer lang zurückliegenden Erlösung eigentlich erst richtig auf. Meine Ungeduld übernahm das Kommando, sobald meine Lust einem unstillbarem Hunger glich und nach mehr verlangte. Zumindest trachtete meine Körpersprache nach dem nächsten Schritt. Einen Gefallen, den mir Isaac scheinbar gerne tat… mit minimalem Aufschub. Es sah ihm ähnlich, dennoch entglitt mir ein leises Brummen, weil der junge Mann meinem Fordern eben nicht sofort nachkam, sondern sein Spielchen für einen bittersüßen Augenblick in die Länge zog und so meinen unwirschen Laut in ein genüssliches Seufzen verwandelte. Die kurze Pause, die Isaac brauchte, um seine Boxershorts unter meinem neugierigen Blick loszuwerden, reichte mir, um meine Fassung halbwegs zurückzugewinnen und meine Atmung bestmöglich zu regulieren, obwohl sich meine Brust nach wie vor ein bisschen zu schnell hob und senkte, mein Puls weiterhin einen raschen Takt vorgab. Nun, wo meine hemmende Blockade fürs Erste als überwunden galt, schien ich mir meiner eigenen, körperlichen Bedürfnisse erst wieder eklatant bewusst zu werden. Dementsprechend freudig empfing ich die muskulöse Statur Isaacs zwischen meinen Beinen beziehungsweise über mir, strich mit sanften Druck beidseitig seitlich seinen Oberkörper empor, zeichnete die spürbaren Muskelstränge am Rand seines Rückens vorsichtig mit meinen Fingerkuppen nach und genoss das Gefühl seiner warmen Haut unter meinen Händen. Mein Blick fuhr seine Kieferknochen entlang, glitt über seine sinnlich geschwungenen Lippen bis hinauf in seine regelrecht glühenden Augen. Das sehnsüchtige “Endlich“ stand dort so deutlich lesbar geschrieben, dass es mir ein kleines Grinsen entlockte. Ich hielt mich lediglich kurzfristig mit meiner Beobachtung auf, da eroberte Isaac meine Lippen für einen stürmischen, drängenden Kuss erneut und erlaubte mir erst wieder eine knappe Atempause, als er seine Zähne sanft in meine vollere Unterlippe grub und mich aufblicken ließ. Sein Gesicht vor meinem so nahe, dass ich seinen heißen Atem über meine Haut streichen spürte – die Erkenntnis löste einen prickelnder Schauder auf meinen Armen und am Rücken aus. Jedoch gab es keinen Vergleich, der an das elektrisierende Gefühl heranreichte, das mich überkam, als Isaac langsam in mich glitt und seine Atmung ins Stocken geriet. Meine Augen weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde, als sich meine Enge um seinen Schwanz dehnte und ein kehliger, nach Sauerstoff ringender Laut der Erregung meine Kehle verließ. Wir schienen beide, gemeinsam, einen Augenblick zu benötigen, um diesen besonderen Moment in seiner vollen Tragweite und dem gesamten Gefühlsspektrum zu erfassen, denn erst ein weiterer Kuss löste die sekundenandauernde Starre, ehe Isaac in einen harmonischen Rhythmus überging und ich mich wie von allein anpasste. Die erste Überwältigung klang ab, als mir bewusst wurde, dass meine Lider wieder geschlossen waren und sich mir der Wunsch äußerte, dieses Erlebnis mit all meinen Sinnen wahrzunehmen. Als sich unsere lustvoll verschleierten Blicke kreuzten, überkam mich eine wundervolle Wärme im Inneren gepaart mit einem geradezu euphorischen Gefühl, dem ich zu diesem Zeitpunkt keinen Namen geben konnte. Es fühlte sich schlichtweg richtig an. Isaacs Bewegungen wurden schneller, ein wenig kräftiger und die Intensität steigerte sich unweigerlich, doch noch sah ich mich nicht bereit, diesem aufbauenden Druck nachzugeben – mich über die Kante stoßen zu lassen. Dazu gefiel mir die leidenschaftliche Ekstase noch zu gut, wie das zufriedene, wenngleich zarte Stöhnen verriet. Ewig würde ich mich ohnehin nicht gegen den näherrückenden Orgasmus wehren können – auch ich hatte abstinent gelebt und bräuchte dieses Mal sicher nicht lang, um zum Abschluss zu kommen –, aber noch blieb mir ein wenig Zeit, um meine Finger durch Isaac Haar im Nackenansatz wandern zu lassen und die Verbundenheit zwischen uns auszukosten.
Heute war bei Weitem nicht das erste Mal, dass eine nackte Frau unter mir lag. Szenen wie diese hatten sich in meinem Leben schon so oft ereignet, dass man denken sollte, ich hätte diesen Begegnungen einen anständigen Stellenwert in meinem Leben gegeben. Dabei hatte ich mir kaum einen Namen gemerkt und viele dieser Nächte schwammen in meinem Gedächtnis noch nachträglich in Alkohol. Ich hatte es geliebt für das, was es gewesen war - ein fast regelmäßiges Ertränken meiner Probleme, ein bisschen Wärme, ein bisschen oberflächliche Nähe. Ein kurzes Hochgefühl, das mich den unbarmherzigen Alltag zumindest für ein paar Minuten oder Stunden vergessen ließ. Leider war es vergleichbar mit Drogenabhängigkeit und verlor mit der Zeit an Wirkung. Doch nicht einmal die Anfänge dieser exzessiven Phase meinerseits hatten sich jemals so angefühlt wie das, was ich in diesem Augenblick mit Riccarda fühlte. Und könnte ich in diesem Augenblick aktiv darüber nachdenken, warum das so war, müsste ich jetzt wohl nicht mehr lange nach einer Antwort dafür suchen. Warum ihre weichen Finger wie sanfte kleine Wolken über meine Haut tanzten und mich gleichzeitig mit kleinen Blitzen zu elektrisieren schienen, während Riccarda sie an meinem Körper nach oben schob. Warum jeder noch so unscheinbare, erregte Laut, der ihre süchtig machenden Lippen verließ, so viel tiefer in mein Bewusstsein eintauchte. Warum ich nur noch Augen für sie hatte und es niemals langweilig wurde, sie anzusehen. Erst recht nicht, wenn ihr so deutlich anzusehen war, dass sie sich genauso verlor wie ich. Die Sehnsucht nach intimer Nähe war nicht nur in mir immer größer geworden, auch wenn der blonde Engel das sehr viel besser zu tarnen wusste - kein Wunder also, dass ich auch heute nicht damit gerechnet hatte, dass sie plötzlich allen Hemmungen den Garaus machte. Sich mit mir zusammen für das gemeinsame Ziel blanker Ekstase bewegte, als wäre es selbstverständlich, obwohl es das ganz und gar nicht war. Ich wendete den Blick lediglich zwischenzeitlich von dem himmlischen Anblick ab, um den Kopf neben Riccardas zu senken und einzelne Küsse zu setzen. Mal an ihrem Kiefer, mal an ihrem Hals. Ihr heißer Atem kitzelte mich am Ohr und machte mich auf angenehme Weise zusätzlich kirre - als hätte ich das gebraucht, neben all den anderen Einflüssen. Es dauerte daraufhin nicht mehr lange, bis ich die Hand von ihrem Oberschenkel löste und den Arm stattdessen unter ihren Rücken schob. Schon dabei wurde meine Hüftbewegung langsamer, denn Riccardas nun stärkeres Hohlkreuz verstärkte die Erregung weiter, was mich zeitnah auf dünnes Eis brachte. Es prallte schließlich ein angespanntes Grummeln an ihrem Hals ab, kurz bevor ich mich vorübergehend aus ihr zurückzog. Den Orgasmus aufschieben, aber gleichzeitig auch haben zu wollen, kratzte unweigerlich weiter an meinen bereits vibrierenden Nervenbahnen. Trotzdem hatte ich zu lange auf diesen Moment gewartet, als dass ich ihn binnen gefühlter zwei Sekunden vorüberziehen lassen wollte. Also vollzog ich mit der zierlichen Schönheit im Arm eine halbe Drehung, um selbst wieder auf der Matratze zu landen. Ich blieb mit ihr auf dem Schoß sitzen und der Arm um ihren Rücken lockerte sich, um sie nicht am Weitermachen zu hindern. Die Hand schob sich jedoch gleich weiter nach oben, wo ich sie mit dem nächsten - wenngleich etwas atemlosen - intensiven Kuss, sanft aber bestimmt unter den blonden Locken am Nacken festhielt. Meine Lippen lösten sich bald wegen der gesteigerten Atemfrequenz wieder von ihren und ab da war es an Riccarda, mal den aktiven Part zu übernehmen. Was jedoch nicht gleichbedeutend damit war, dass ich mich einfach zurücklehnen und gar nichts tun würde. Schließlich hatte ich so beide Hände frei und ich mochte den leicht salzigen Geschmack auf der Haut. Also reizte ich unser beider Sinne gewissenhaft weiter, kaum hatte Riccarda mich wieder in sich aufgenommen und mir damit das nächste dezente Stöhnen unter geschlossenen Lidern entlockt. Ich ließ uns noch Zeit dafür, zurück in einen gemeinsamen Rhythmus zu fallen, ehe sich meine bis dahin noch untätige Hand an ihre Brust legte. Mit dem Mund machte ich mich zwischen den schwerer werdenden Atemzügen immer gerade da zu schaffen, wo es sich anbot oder ihre Körpersprache mich hinlotste. Ich wollte sie nicht dabei irritieren, sich das zu holen, wonach es ihr am meisten begehrte und rollte ihr mein Becken dabei immer wieder leicht entgegen. Letzteres ging in aufrechter Körperhaltung nur begrenzt, aber ich würde mich wegen der verletzten Schulter nicht selbst ins Kissen verbannen, solange Riccarda diesen Wunsch nicht äußerte. Ich konnte die Schmerzen schon ab, setzte mich ihnen aber nicht mutwillig aus, ehe es verlangt war.
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Der anfängliche Schups beziehungsweise ein anhaltendes und vor allem hartnäckiges Bearbeiten meiner Hemmungen, die richtige Dosis an subtiler Herausforderung und schlussendlich Isaacs Zugeständnis bezüglich seiner komplexen Gefühlswelt, die nach wie vor wie ein – momentan vorwiegend von Lust geprägten Emotionen – chaotischer, aber in sich stimmiger Sturm in seinen Augen tobten, hatte es gebraucht, um meine geistige Blockade samt der psychosomatischen Erscheinungen zwischen uns aus der Welt zu schaffen. Mein körperliches Verlangen war stets anwesend gewesen – bei jedem verstohlenen Blick, bei jeder zaghaften Annäherung –, hatte unter der eines verletzten Vertrauens induzierten Sperre gelauert und brach nun voller Elan aus dem metaphorischen Gefängnis aus. Ich brauchte in diesem kostbaren Augenblick der Zweisamkeit keine Erklärung für meinen derart spontanen Umschwung, fand ich jede Bestätigung für die Richtigkeit unsers Tuns in Isaacs verhangenen Augen über mir. Er passte auf mich auf, er hielt mich fest; ich bedeutete ihm etwas. Und Isaac lag mir am Herzen… mehr, als ich jemals für möglich gedacht hätte. Allein dieses Wissen steigerte die Intensität, das Hochgefühl und Verlangen. Ich hatte bisher selten aus purem Spaß am Vergnügen mit einem Mann geschlafen, weshalb ich dieses Gefühl der tiefgreifenden Verbundenheit mit Isaac geradezu erwartete, dennoch warf mich die Welle der Euphorie beinahe um – im übertragenen Sinne. Wohlige Klänge der Begierde hüpften über meine Lippen, während sich Isaac immer wieder kleine Küsse stahl und die erhitzte Haut mit einem herrlichen Kribbeln zurückließ. Jede Faser meines Körpers schien in Flammen zu stehen, für den Moment zu brennen und die sich aufbauende Spannung in meinem Unterlaub zu befeuern. Mir schwirrten die Sinne, sodass meine Wahrnehmung durch den subtil angekündigten Positionswechsel erst wieder ein bisschen zurecht gerückt wurden – mein Körper bog sich intuitiv, um seinem Arm am Rücken Platz zu machen, wodurch sich das Liebesspiel für wenige Stöße deutlich intensivierte und ich mit einem lustvollen Stöhnen darauf reagierte. Obwohl Isaacs Rhythmus langsamer geworden war, er sich schließlich vollständig zurückzog und mich stattdessen auf seinen Schoss beförderte, nahm mein Begehren keinen Anbruch, steigerte sich im Gegensatz sogar noch weiter. Nun, wo die Hüllen gefallen waren, sehnte ich mich nach der vollständigen Befriedigung meiner Sehnsucht. Kaum saß ich in einer aufrechten Position, schlang ich die Arme um seinen Nacken und unsere Lippen fanden sich sehr schnell wieder zu einem leidenschaftlichen, fordernden Kuss, der mir die Sauerstoffzunahme zunehmend erschwerte. Trotzdem genoss ich jede einzelne Berührung; auch als seine Hand hinauf in meinen Nacken glitt, mich nah beim ihm hielt. Die Bestimmtheit der Geste jagte mir einen elektrisierenden Schauder über meinen Rücken hinab, jedoch nicht aus Furcht vor seiner kräftetechnischen Überlegenheit. Ich interpretierte die Geste willkürlich als Begehren und antwortete darauf, indem ich mich gegen seinen Körper drängte, dabei das Becken leicht anhob und ihn erneut in mich einnahm. Langsam, genussvoll senkte ich mich zurück auf seinen Schoss, nahm ihn tief in mich auf und kommentierte die Bewegung mit einem heißeren Keuchen. Der passende Rhythmus fand sich ganz von allein, trieb mich dem Höhepunkt nachdrücklich entgegen und doch wollte ich diese Erfahrung bis zum letzten Bisschen ausreizen. Isaacs Hand und Mund agierten in der Hinsicht kontraproduktiv, wobei ich um keinen Preis wollte, dass er mit seinen reizvollen Liebkosungen stoppte. Primär unbewusst wurden meine Bewegungen schneller, während sich mein Unterleib fester zusammenzog und der Orgasmus unausweichlich wurde. Mein vor Verlangen dunkler Blick bohrte sich in seinen, Sekunden bevor sich die Lust in einem emotionalen Feuerwerk an Gefühlen explosionsartig entlud. Der Höhepunkt überrollte mich in Begleitung eines muskulären Zuckens und ungehaltenen Stöhnens, das jedoch von einem drängenden Kuss gegen Ende regelrecht erstickt wurde, nachdem mir die Lider zugefallen waren. Mir schlug das Herz bis zum Hals, dennoch stahl sich ein zutiefst zufriedenes Lächeln spürbar auf meine Lippen.
Ich wollte, dass Riccarda sich an mir festhielt und kein Blatt zwischen uns passte. Nicht nur hier und jetzt, wo sich ihre Arme um meinen Hals legten, sich ihre makellose nackte Haut an meine schmiegte und sie sich mit mir in der lange vermissten Ekstase wand. Sondern auch immer dann, wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr etwas entglitt oder sie einfach nur Jemanden brauchte, der ihr den Rücken freihielt. Sie brauchte nur noch zu fragen, ich würde da sein. Nicht, weil sie jetzt die Hüllen hatte fallen lassen, sondern weil ich ihr nur zu einhundert Prozent vertrauen konnte, wenn sie das andersherum auch tat. Die leidenschaftlichen Minuten, die wir gerade miteinander teilten, waren das unmissverständlichste Zeichen, das sie mir dafür hätte geben können. Jedes atemlose Keuchen und jeder Blickwechsel zogen mich mit anregend über meinen Rücken prickelnden Schauern nur noch tiefer in den emotionalen Strudel, in dem ich ohnehin schon eine Weile festsaß. Ich wollte auch nicht wieder raus, wenn das hier war, wie es sich anfühlte, dem tiefsten Punkt immer näher zu kommen. Wenn jede ihrer Hüftbewegungen meine Seele förmlich in einem Rausch aus blankem Vertrauen, offener Zuneigung und hitziger Lust ertränkte, ohne dass mir die Luft ausging. Dabei entlockte sie mir mühelos mehr und mehr lüsterne Laute, die überwiegend gedämpft an ihrer Haut landeten. Mir hätte mit meinem tunnelblickartigen Fokus dabei kaum entgehen können, wie sich ihre Beckenmuskulatur schließlich gemeinsam mit dem Rhythmus veränderte. Schon deshalb nicht, weil sie mich mit der Enge wieder zurück an die Kante zog, an der ich vorhin noch einen bedächtigen Schritt rückwärts gemacht hatte. Meine Lippen streiften noch einmal vom Hals ausgehend ihren Kiefer, bevor ich mich dicht vor ihrem Gesicht in ihren dunklen Augen verlor. Ich löste die Hand von Riccardas Brust und ließ sie an ihrer Taille hinab bis zu ihrer Hüfte gleiten, kurz bevor sich ihr Bauch verkrampfte und sie endgültig auch meine eigene Ekstase auf die Spitze trieb. Mein haltloses Stöhnen mischte sich begleitet von einem Zucken meines eigenen Körpers mit ihrem und ich gab ihrer Hüfte mit der Hand noch einmal Nachdruck. Instinktiv hielt ich sie mit der Hand in ihrem Nacken fester, als sie mir mit dem Kuss auch noch das letzte bisschen Luft zu atmen nahm. Erst als das gleichermaßen berauschende wie betäubende Gefühl langsam abflachte und ich wieder Herr meiner Sinne wurde, nahm ich das Lächeln des Engels richtig wahr. Meine beiden Hände lockerten sich und ich nahm die von ihrer Hüfte, um eine verirrte blonde Locke zurück hinter ihr Ohr und anschließend mit dem Daumen über ihre erhitzte Wange zu streichen. Dabei stahl ich mir noch zwei, drei weitere Küsse zwischen kurzen Atempausen, die Mundwinkel ebenfalls ganz sachte angehoben. Ich gab die zierliche Schönheit nicht sofort frei, sondern hielt sie noch einen langen Moment in den Armen. Musterte nach den Küssen schließlich für einen Augenblick lang ihr schönes Gesicht, bevor ich mein Kinn ziemlich erledigt an ihre schmale Schulter lehnte und ihren Duft einatmete. Unbewusst streichelte ich so lange über ihren Nacken, bis mein Puls sich wieder fast vollständig beruhigt hatte. Die schmerzenden Wunden machten sich mehr und mehr erneut bemerkbar, weil der dünne Schweißfilm drumherum vor den Wundrändern nicht Halt machte. Das leichten Brennen und Ziepen hätte mir in diesem Moment allerdings kaum egaler sein könnten. Das aufdringliche Gefühl in meiner Brust und die junge Frau in meinen Armen waren alles, woran ich denken konnte. "I'm yours.", hauchte ich schließlich beinahe stumm mit geschlossenen Lidern. Ich hätte sie gerne dabei angesehen, traute mich aber nicht. Hatte Angst davor, dass ich nicht die Reaktion sehen würde, die ich sehen wollte. Dass meines von unseren beiden Herzen das erste sein würde, das einen Knacks bekam - dass Riccarda mich nicht wollte, nicht so wie ich sie. Nur für den Fall, dass ihr diese Worte etwas zu viel des Guten waren, glitten meine Hände anschließend langsam und nur mehr locker zu ihrer Hüfte. Ich hielt sie nicht länger fest, sagte aber auch sonst nichts mehr, weil es in meinen Augen weder einer Erklärung, noch einer Rechtfertigung bedurfte und machte wiederum auch keine eigenen Anstalten, Distanz zu ihr zu suchen. Hätte ich es ansatzweise selbstsicherer als 'es könnte sein, dass Chad möglicherweise Recht hat und ich mich vielleicht in dich verliebt habe' verpacken können, hätte ich vielleicht selbst das gesagt. Das waren aber noch sehr viel weniger umkehrbare Worte und dementsprechend saß mir die Angst diesbezüglich noch deutlich tiefer im Nacken. Gefühle waren für mich seit ewig schon eine schwierige Angelegenheit, aber diese hier konnte ich kaum noch länger runterdrücken in der Hoffnung, dass sie keinen Mucks von sich gaben. Ich würde es jetzt schlechter verstecken können denn je und ich war es müde, länger vor etwas wegzulaufen, das sich nun ohnehin nicht mehr ändern ließ.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Meine Gedanken schwammen lethargisch in dem pulsierenden Strom aus Endorphinen, mein Geist erfüllt von einer angenehmen Behäbigkeit – dennoch loderte tief in meinem Inneren ein überraschtes Entzücken, das voller Tatendrang den eben erzielten Fortschritt in Sachen Festigung der Beziehung, Offenbarung von Gefühlen und Vertrauensbeweisen durchleuchtete. Kaum zu glauben, dass Isaac es jemals bewerkstelligen konnte, mich derart fühlen zu lassen, dass ich ihm auf dieser Ebene bedingungslos vertrauen würde. Für meinen Kopf stellte dies eine vollkommen unerwartete Wendung der Ereignisse dar, während ich gleichzeitig gut behütet in dem kleinen klopfenden Muskel hinter den Rippenbögen spürte, dass diese nie zuvor ausgesprochene Verbundenheit bereits ein Weilchen schweigend bestand und nur auf den perfekten Moment gewartet hatte. Was war der endgültige Auslöser dafür gewesen? Vielleicht erfuhr ich es niemals, womöglich ergab es sich in einem zukünftigen Gespräch; für den Moment ließ ich es auf sich beruhen und schwelgte zufrieden in den sanften Auslängen der hitzigen Ekstase. Unsere Berührungen gestalteten sich nun anders: zärtlicher, ruhiger. Mein Griff um seinen Hals hatte sich inzwischen gelockert, sodass meine Hände nun locker auf seinen breiten Schultern lagen. Isaac stabilisierte nicht länger meine Position, sondern projizierte ein angenehmes Kribbeln auf meine von der Hitze gerötete Wange. Seine Lippen begegneten mir ohne dem drängenden Verlangen, jedoch trotzdem voller Gefühl und schlug dabei eine ganz neue Saite in meiner Seele an. Geborgenheit flüsterte es irgendwo aus meinem Unterbewusstsein – ein Zustand, der es ziemlich genau auf den Punkt brachte, denn ich fühlte mich in Isaacs Armen aufgehoben und sicher. Nicht ängstlich, sondern glücklich. Mir schien es der Unmöglichkeit nahe, dieses breitgefächerte Gefühlsspektrum in angebrachter Weise, vor allem aber in seinem ganzen prächtigen Ausmaß in einen einzelnen Ausdruck oder gar in passende Worte zu quetschen, weshalb ich mich auf einen vergleichsweise einfach zu signalisierenden Teil beschränkte. Ein liebevolles Lächeln, strahlende Augen und ein für seine wölfischen Ohren hörbares beflügeltes Herzschlagen begegneten dem jungen Mann, als sich unsere Blicke kreuzten und sich Sekunden für ein paar Atemzüge zur Ewigkeit dehnten. Sein Kopf auf meiner Schulter glich einem angenehmen Gewicht, das mich in der Realität festhielt und jede Spekulation auf absurde Träumerei erfolgreich eliminierte. Ich lauschte unseren gleichmäßig werdenden Atmungen, spürte der Entschleunigung meines Pulses nach und genoss schlichtweg die zusätzlichen Streicheleinheiten, die beinahe etwas Tranceartiges bei mir bewirkten. Zumindest schaltete mein Verstand zunehmend ab, weshalb ich beinahe die leise – wüsste ich es nicht besser sogar scheue – Stimme Isaacs direkt an meinem Ohr vernehmen. Zwei Worte… und doch brachten die paar Silben noch einmal Schwung in meine Entspannung. Die Bedeutung überstieg meine Vermutungen hinsichtlich unseres Verhältnisses, da bis zu diesem elementaren Zeitpunkt von keiner Seite ähnliche, verletzliche Offenheit gezeigt worden war. Intuitiv kribbelte es in meinem Magen, was wohl umgangssprachlich als Schmetterlinge im Bauch bezeichnet wurde und ich schmiegte mich nachdrücklich an ihn. Mir gefiel es nicht, dass er diesen minimalen Rückzug beordert hatte, aber ich verstand es. Diese Gefühlsangelegenheiten zeichneten nicht unbedingt Isaacs Spezialgebiet aus, weshalb ich ihm gern die wahrscheinlich einhergehende Befürchtung einer enttäuschenden Zurückweisung nehmen wollte. „Nichts anderes wünsche ich mir“, erwiderte ich ebenfalls mit gedämpfter Stimme, alles andere wäre zu viel für diese sensible Atmosphäre im Raum, und lehnte meinen Kopf leicht gegen seinen. Tatsächlich bestand meine innigste Hoffnung darin, egal wohin es mich am Ende schlug, Isaac an meiner Seite zu wissen, weil wir einen gemeinsamen Weg gefunden hätten. Mehr brauchte ich anscheinend nicht, um diesem Fünkchen Glück in meiner Brust Bestand zu schenken. Isaac sollte nicht glauben, ich würde nun nur eine Antwort abspulen, von der ich glaubte, dass er sie hören wollte, weshalb ich mich leicht nach hinten lehnte und den Dunkelhaarigen damit zwang, seine Stirn wieder von meiner Schulter zu heben und das Gesicht zu heben, an dessen Seite meine Hand ganz von allein fand. „Du und ich, gemeinsam“, erklärte ich ihm hingebungsvoll. Es erschien mir auf einmal so logisch. So passend. Sämtliche Überzeugung meinerseits lag darin.
Ganz meinem Naturell entsprechend, versuchte ich schon bevor der Engel den Mund für eine Antwort öffnete, anhand ihrer Körpersprache zu eruieren, was gleich auf mich zukam. Bereits das kurzzeitig wieder etwas schneller schlagende Herz war ein Indiz, konnte jedoch beiden Richtungen entsprechen - Unsicherheit und Freude teilten sich die Angewohnheit, den Herzmuskeln aufzuscheuen. Nervosität zupfte bereits an meinen zuvor noch entspannten Nerven, bis Riccarda sich an mich schmiegte und damit die erste relativ eindeutige Antwort lieferte. Trotzdem arbeiteten meine Sinne weiterhin auf Hochtouren - wollten jedes zögernde Zucken ihres Körpers und jede noch so unscheinbar unsichere Silbe ihrer Worte akribisch herausfiltern, wurden jedoch enttäuscht. Zugegeben: Ich war trotz ihrer unterstützenden Geste des Anlehnens hin- und hergerissen damit, ihr die Worte abzunehmen. Sie als ausreichend zu empfinden, was aber wahrscheinlich weniger an unserer Vorgeschichte oder ihrer Ausdrucksweise, sondern viel mehr an meiner eigenen, verkorksten Persönlichkeit lag. Ich verhielt mich der blonden Schönheit gegenüber ganz anders als bei anderen Menschen und trotzdem war ich mir unsicher damit, ob das tatsächlich ausreichen konnte, um meine schlechten Seiten in den Hintergrund zu stellen - um ihr ganzes Leben damit auskommen und immer wieder darüber hinwegsehen, oder mich in die Schranken weisen zu wollen. Auf freiwilliger Basis und nicht, weil unsere Eltern ihr das aufgezwungen hatten. Es war nüchtern betrachtet einfach ziemlich absurd und ich war mir auch unsicher damit, ob sie sich überhaupt darüber im Klaren war, was sie sich mit einer 'Wolfsbeziehung' tatsächlich einbrockte. Deshalb war es gut, dass Riccarda mir am Ende gar keine andere Wahl ließ, als das Kinn wieder zu heben und in ihr Gesicht zu sehen, nachdem ich mich bis hierhin noch nicht wieder geregt hatte. Sehr zögerlich glitt mein Blick über ihre noch leicht geröteten Lippen und ihre schmale Nasse hinweg zurück in ihre Augen. Ihre Finger strahlten dieselbe wohlige Wärme aus wie sonst, als sie sich auf meine Haut legten. Ich fand in ihren dunklen Augen keinen einzigen Zweifel und ihre Lippen formten auch dieses Mal keine Lüge. Riccarda wusste genau, was sie da sagte und doch schien sie keinen Moment mehr gezögert zu haben. Das war ausschlaggebend dafür, dass auch ich wieder aus meiner vermeintlich sicheren Kiste kroch und mich ihr für den nächsten Kuss entgegenlehnte. Sie sollte spüren, wie ernst ich es meinte. Wie seltsam beflügelt ich mich nach dieser nicht unbedingt einfachen Offenbarung fühlte und wie sehr sie Gift darauf nehmen konnte, dass ich ihr von nun an nicht mehr von der Seite wich. All das floss in den Kuss ein, der trotz der Intensität von einer sensiblen Zärtlichkeit geprägt war. Dabei schlangen sich auch meine Arme stetig etwas enger um ihren unteren Rücken, symbolisch die erlangte Sicherheit widerspiegelnd. Ich war derartigen Gefühlen früher sehr vehement aus dem Weg gegangen und ließ mich in diesem Moment trotzdem einfach davon fluten, als wäre mir nichts jemals leichter gefallen. Mit vorsichtiger, auf Enttäuschung vorbereiteter Zurückhaltung hatte ich die schwer wiegenden Platten rund um mein Herz ein klein wenig gelockert und Riccarda hatte sie mit ihrem Zugeständnis nun ganz abgezogen. Nicht für den Rest der Welt, aber für uns beide und was mich betraf, war das auch genug. Es musste nicht jeder wissen, was in mir vorging. Es reichte, wenn sie mich verstand und sie mich so akzeptierte und offenbar auch gern hatte, wie ich war. Auf eine für Außenstehende womöglich sehr schräg aussehende Art und Weise. Als ich mich nach einer kleinen halben Ewigkeit von ihren Lippen löste, blieb ich Riccarda dennoch ganz nah und lehnte meine Stirn für einen Moment an ihre. Stumm lächelnd, wie mir selbst nicht wirklich bewusst war. "Das bedeutet mir wirklich viel.", murmelte ich leise, weil es Lautstärke auf so kurze Distanz gewiss nicht brauchte. "...und ich freu mich drauf.", hängte ich kurz darauf noch ein paar mehr Worte an und stahl mir einen weiteren, aber nur flüchtigen Kuss, bevor ich den Kopf zurücknahm, um sie wieder anzusehen. Ich war von Grund auf kein naiver Mensch, denn das war mir schon in der Kindheit ausgetrieben worden. Doch in diesem Moment blieb ich gerne in der Blase sitzen, in der nur wir beide existierten und eine schöne Zukunft vor uns hatten. Dass letztere sicherlich mit noch mehr Problemen aufwarten würden, früher oder später, konnte ich für den Augenblick getrost ignorieren. Ich würde mich dann darum kümmern, wenn es soweit war.
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Natürlich blieb mir ein Blick in die gemeinsame Zukunft mit Isaac verweigert. Natürlich gab ich mich nicht der naiven Hoffnung hin, dass wir problemlos in den Sonnenuntergang schlendern würden. Natürlich wusste keiner von uns beiden mit absoluter Gewissheit, worauf wir uns bei dieser ungewöhnlichen Beziehung zwischen zwei ihrem Naturell entgegengesetzten Arten einließen. Trotzdem überkam mich ein geradezu berauschender Wille, der Herausforderung den Kampf anzusagen und mich sämtlichen zukünftigen Konflikten in den Weg zu stellen. Es glich einem kleinen Wunder, dass ein derart ausschlaggebender Eingriff in meine persönliche Freiheit zum Positiven bekehrt werden konnte, weshalb ich nicht gedachte, mir ein weiteres Schnippchen schlagen zu lassen – sei es Isaacs Unsicherheit oder die Feindseligkeiten unserer Familien. Im Notfall trug ich vorerst genug Zuversicht für uns beide im Herzen. Womöglich täuschte ich mich, aber ich gab mich keiner Illusion hinsichtlich Isaacs Erfahrung mit ernsthaften und vor allem gesunden, funktionsfähigen Beziehungen hin, was meine Entschlossenheit, ihm die nötige Unterstützung oder auch Bestätigung entgegenkommen zu lassen, nachdrücklich bestärkte. Mir imponierte seine sensible Seite, aber gleichzeitig ärgerte ich mich über diese berechnende Vorsicht, die bereits erlebte Enttäuschungen zur Genüge suggerierte. Ich wollte mich nicht zu den Auslösern dieser Achtsamkeit über seine Gefühle zählen müssen. Viel lieber wäre ich ein Ort der Sicherheit für Isaac – vielleicht ein Plätzchen, das ihn manchmal an gewisse Grenzen erinnerte, aber gewiss keine weiteren Verletzungen in seine geschundene Seele schlagen würde. Wie drückte man all das in bestenfalls nicht verzweifelt-kitschige Worte aus? Eigentlich zählte ich mich zu den überwiegend eloquenten Persönlichkeiten meines sozialen Umfelds, jedoch fehlten auch mir in speziellen Situationen die passenden Formulierungen. Gerade befand ich mich in solch einem Augenblick des vergeblichen Suchens; ohne Aussicht auf Erfolg. Ich fand mich damit ab, gab mich sozusagen damit zufrieden, dass manche Momente im Leben keiner großen Worte bedarf und Isaac den Eindruck erweckte, ebenfalls keine weiteren verbalen Eindrücke seiner Emotionen mit mir teilen zu wollen. Der Kuss reichte, um mich seinen Gedanken näher zu bringen. Bereitwillig ließ ich mich auf diese neue Form der Zuneigung ein, erwiderte die Berührung und freute mich im Stillen über diese unerwartete gemeinsame Errungenschaft. Jeglichen Zeitgefühls beraubt, schwebte ich in meinem eigenen, kleinen Universum – in dem ausnahmsweise alles zu passen schien – und gedachte nicht, allzu schnell aus diesem seligen Zustand aufzuwachen. Mir gefiel das feste Gefühl seiner Arme um meine Taille, ebenso mochte ich das kleine Lächeln auf seinen Lippen… wobei mir eher der Umstand imponierte, dass jene angehobenen Mundwinkel mir galten. Er freute sich, ich freute mich. Ein weiterer Kuss besiegelte diese kleine Übereinkunft. Sein Blick auf meinem Gesicht ermöglichte mir, auch seine Züge zu studieren und eventuell einen kleinen Fetzen seiner Gedanken dadurch aufzuschnappen. Willkürlich neigte ich den Kopf leicht zur Seite und lächelte schwach. „Verrätst du mir, worüber du gerade nachdenkst?“, erkundigte ich mich sachlich, grinste dann aber doch leicht, während ich hinzufügte: „Du siehst mich nämlich gerade ein bisschen so an, als wäre ich ein Einhorn oder dergleichen Magisches.“ Noch wusste ich nicht, wie sein Blick zu interpretieren war und es juckte mich in den Fingern zu erfahren, ob die zarte Seifenblase der Unantastbarkeit bereits zerplatzt war oder der Verarbeitungsprozess noch andauerte. Zudem fühlte es sich nicht richtig an, dieses folgenschwere Geständnis als Letztes zwischen uns verklingen zu lassen, ehe ich von ihm runterrutschte, mich in die Decke rollte und einschlief.
Hmmm, wollte ich das? Während Riccardas Gesicht von einem neugierigen bis minimal provokanten Ausdruck geprägt war, kniff ich die Augen beim Nachdenken ein klein wenig zusammen. Ich wägte stumm ab und ließ meinen Blick dabei erneut über ihre Gesichtszüge wandern. In vielen Fällen behielt ich meine Gedanken eigentlich ganz gerne für mich, aber dem blonden Engelchen gegenüber war ich deutlich aufgeschlossener geworden. Diesbezüglich war ihre Wirkung auf mich also durchaus ein bisschen magisch, wenn man es denn so formulieren wollte. "Wenn du mich mit so einem frechen Grinsen fragst, normalerweise schon aus Prinzip nicht.", zierte ich mich lächelnd zuerst ein bisschen und zog dabei die rechte Augenbraue nach oben. Der ganze Moment hier ließ sich allerdings eher nicht als normal einstufen. Es folgten also nur zwei, drei pseudo-nachdenkliche, stille Sekunden mehr, bevor ich den Blick wieder fest in ihre Augen legte und tatsächlich zu einer Antwort ansetzte. "Magisch ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort für dich..." Ich betonte das Wort ironisch, weil ich nicht viel davon hielt, verlor das unbeschwerte Lächeln dabei jedoch nicht. Übernatürliche Wesen hin oder her - ich glaubte eher nicht an die heitere Magie aus Märchen. Dann noch eher an Flüche, die passten eher zu meiner düsteren Gedankenwelt. "...auch wenn es nicht weit hergeholt ist, angesichts deiner etwas zu unnatürlich makellosen Haut und der Wirkung, die du auf mich hast.", machte ich ein kleines Zugeständnis. Es war und blieb nun mal ziemlich schräg, dass ich mich ausgerechnet in Riccarda verguckt hatte. Einen Engel, der mir mit seinen gefährlich heiß werdenden Fingern schon ordentlich das Fell versengt und mir Grenzen gezeigt hatte. Letztere machte ich normalerweise eher zunichte, als mit ihnen leben zu wollen. Ich konnte mir bis jetzt nicht ganz erklären, warum ich ausgerechnet sie haben wollte. Ganz gleich, wie lange ich mich gegen dieses Gefühl gesträubt hatte, war es jetzt doch so intensiv wie kaum ein anderes und ich wollte es nicht mehr missen. "Aber eigentlich dachte ich daran, dass wir das schaffen können. Eben nicht mehr nur die Sache mit dem Erbe, sondern auch das mit uns beiden. Jetzt, wo wir…" Ich hielt einen kurzen Augenblick inne und sah auf ihre Lippen hinab, weil ich dem Kind nur schwer einen Namen geben konnte. Wir hatten uns ja nicht wirklich Liebe gestanden, sondern nur beidseitig erklärt, dass da eindeutig mehr als nur Freundschaft war und wir uns einander zugehörig fühlten. "...wir uns einig darüber sind, was das hier ist.", vollendete ich den Satz zwar mit fester Stimme, aber die Wortwahl war sicher nicht die beste. Ich hätte es romantischer formulieren können, wenn ich mich Riccarda gegenüber sitzend nicht so unter Zeitdruck gesetzt fühlen würde. Hätte ich ewig darüber nachgedacht, wäre das wohl auch nicht besser angekommen. Eines von vielen Dingen, an denen ich definitiv noch arbeiten musste. Ich war in diesem Moment jedenfalls der festen Überzeugung, dass ich das mit Riccarda schon hinkriegen würde. Es konnte eigentlich auch nicht schwerer werden, als sich mit einer Zwangsehe zu arrangieren, oder? Seit die blonde Schönheit und ich uns aufeinander eingespielt und einen guten gemeinsamen Weg gefunden hatten, fiel mit Vieles leichter. Es war ein Weg, der für uns beide nicht mehr nur stumpfes Arrangement mit der ungewollten Situation, sondern auch schöne Stunden miteinander beinhaltete - gut erkennbar an den vergangenen Minuten, die so definitiv keiner von uns beiden geplant hatte. Umso schöner war es, dass es dennoch passiert war. Ich nahm eine Hand von Riccardas Rücken und wanderte mit dem Daumen ihren schmalen Kiefer entlang. "Und so gerne ich dich auch nackt auf mir sitzen sehe..." Der Anflug eines Grinsens überkam meine Lippen, bevor ich einen flüchtigen Kuss auf die ihren hauchte und mich anschließend langsam zurück auf den Rücken sinken ließ. Dabei nahm ich die Hand von ihrem Gesicht und die andere rutschte meiner Bewegung folgend runter zu ihrer Hüfte, wo sie nur noch locker auflag. "...würde ich mich langsam gerne auf die Seite rollen.", gab ich den eigentlich einzigen Grund dafür bekannt, mich von Riccarda zu distanzieren. Anschließend deutete ich sowohl mit dem Blick, als auch mit dem Kopf leicht zur Seite: Zum freien Kopfkissen neben mir. Die Verletzungen waren durch die Bewegung doch nochmal etwas in Mitleidenschaft gezogen worden und ich würde es mir gerne ein bisschen bequemer machen.
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Eine einfache, zudem klar verständliche Antwort wäre wohl schlichtweg zu viel verlangt gewesen. Eigentlich hätte ich es bereits im Vorfeld zumindest vermuten müssen, dass sich Isaac bevorzugt in Schweigen hüllte und mich mehr oder weniger aus seinen Überlegungen ausschloss – gewissermaßen nahm ich derzeit selbst noch Vorlieb daran, nicht alles ungefiltert und brandaktuell unter die Nase gerieben zu bekommen, aber gerade in diesem Moment wüsste ich gern für meine eigene Selbstsicherheit, was sich hinter diesen hellen Augen verbarg. Isaacs geheimnistuerische Reaktion entlockte mir ein langgezogenes Seufzen. „Würde ein süßes Lächeln und Geklimper mit den Wimpern denn besser funktionieren?“, erkundigte ich mich rhetorisch. Ich ging davon aus, dass diese Herangehensweise lediglich zu seinem Amüsement beitrüge anstatt meine Neugier zufriedenstellend zu besänftigen. Da Drängen bei dem Dunkelhaarigen meist zum Gegenteiligen führte, kratzte ich meine übriggebliebene Geduld des Tages zusammen und schenkte ihm die paar Atemzüge, bevor er den Mund wieder öffnete – dieses Mal hoffentlich mit der erwünschten Erklärung. Isaac enttäuschte mich nicht, obwohl ich keinerlei Erwartungen hegte und der junge Mann mir deshalb so gut wie alles darlegen könnte. Dennoch vertiefte sich mein Grinsen, veränderte sich zu einem interessierteren Ausdruck und forderte ihn dadurch non-verbal auf, den Faden weiterzuspinnen. Sah ich mich selbst als magisches Wesen an? Eher weniger, streng genommen gar nicht. Ich gehörte einer übernatürlichen Spezies an, was lediglich in der Welt des durchschnittlichen Menschen von der Normalität abwich, aber für mich zählten weder Werwölfe noch Engel zu einer wirklich magischen Gattung – dafür kannte ich die Abgründe dieser Arten zu ausführlich, um dem Ganzen noch etwas Sagenumwobenes oder gar Märchenhaftes abgewinnen zu können. Diesbezüglich stimmte ich ihm gedanklich dementsprechend vollkommen zu, wartete jedoch auf die Fortsetzung, bevor ich mich einmischte. Ein leiser, nur ganz kurz andauernder Laut, der sich verdächtig nach einem schnell wieder ersticktem Lachen anhörte, entrang sich meiner Kehle. Ein reines, unversehrtes Hautbild – er hatte wohl die feine Narbe vergessen, die er mir höchstpersönlich mit seinen Reißzähnen in den Rücken geschlagen hatte und dank fehlender Selbstheilungskräfte als kleines Andenken haften blieb – verlieh mir laut ihm also etwas Zauberhaftes. Natürlich. Seine zweite Andeutung machte da schon mehr Sinn, obwohl ich mich davor hütete, ein weiteres Mal nachzubohren. Isaac bot mir die perfekte Vorlage dafür an, aber ich wusste, wann ich meiner anderenfalls unstillbaren Neugier Einhalt gebieten musste. Ich freute mich schlichtweg über besagte Wirkung auf ihn, was in meinen Ohren durchaus nach einem kleinen Kompliment geklungen hatte und zeigte es ihm mit einem sanften Lächeln und funkelnden Augen. Es überraschte mich leicht, dass Isaac noch weitersprach und seine Zuversicht ausdrückte. Bei der Umschreibung unseres Verhältnisses kam ich selbst ebenfalls noch ins Straucheln, selbst in meinem Kopf wusste ich nicht so recht, wie die Angelegenheit beim Namen zu nennen war. Ich hütete mich davor, die zarten, existenten Gefühle mit einer Bezeichnung zu belegen, die eigentlich erst weiter entdeckt und bestärkt werden musste. Wir brauchten im Grunde mehr Zeit, um dem heutigen Meilenstein die Chance zu geben, sich in einer passenden Geschwindigkeit weiterzuentwickeln. Deshalb zweifelte ich auch leise daran, ob wir wirklich beidseitig wussten, was das hier darstellte, aber ich pflichtete ihm mit einem Nicken bezüglich der Einigkeit zu. Wie auch immer wir diese Zugehörigkeit betitelten, sie existierte und wir bekannten uns zu ihr – hauptsächlich voreinander, der Rest würde schon von allein nachkommen. Zufrieden – auch in Hinblick auf den restlichen Verlauf des Abends in geteilter Zweisamkeit – kam ich seiner Aufforderung nach und rutschte seitlich von seinem Schoß, nicht aber, bevor ich noch einen schnellen, verstohlenen Blick über seinen vor mir liegenden Oberkörper gleiten ließ. Auf meiner angestammten Bettseite angekommen und mit der Bettdecke beschäftigt, um sie mir über den inzwischen merklich auskühlenden Körper zu ziehen, da ich nun keine Muße mehr besaß, um meine verstreuten Kleidungsstücke vom Boden aufzusammeln, arbeitete sich die Erkenntnis hinsichtlich Isaacs Rückenverletzungen zurück an die Oberfläche meines Bewusstseins: „Wie geht es deinem Rücken?“ Vorhin im Bad hatte Isaac den sterbenden Schwan beim Säubern gemimt, wie war inzwischen der Stand der Dinge… nachdem sein Körper erneut zu spontaner Bewegung gezwungen worden war.
Ich zog die Augenbrauen hoch und neigte den Kopf ein wenig, hatte dabei bereits den Ansatz eines Grinsens auf den Lippen. "Ich würde jetzt nicht unbedingt eine einhundertprozentige Garantie darauf geben wollen, dass das zieht, aber… einen Versuch ist es wert.", gab ich keine wirklich aussagekräftige Antwort darauf, aber ihrem Tonfall zufolge hatte Riccarda ohnehin gar keine erwartet. Das inzwischen offensichtlich unterdrückte Grinsen unterstützte meinen Tonfall entsprechend und machte nur begrenzt Hoffnung darauf, mit dem Wimpernklimpern große Erfolge zu erzielen. Tatsächlich könnte es mich - je nach Ernsthaftigkeit der Situation - aber durchaus ein bisschen beeinflussen. Ich hatte ein großes Ego, dem man nicht allzu schwer imponieren konnte. Wenn die zierliche Blondine also ein bisschen mit den Augen spielen und mir Honig ums Maul schmieren wollte, verbesserte das ihre Chancen generell zumindest ein bisschen. Ihr Wille, mir meine Gedanken zu entlocken, konnte dann anschließend nur noch an meiner Sturheit scheitern. Hinsichtlich unserer Was-Auch-Immer-Beziehung zueinander gab es meinerseits nichts mehr weiter zu sagen, weil ich nicht vorhatte, diese Sache zu vertiefen. Ich würde mich nur noch mehr in vage formulierten Sätzen verfangen, die am Ende vielleicht mehr Fragen aufwarfen, als sie Klarheit brachte. Also vorerst zu den imaginären, aber noch offenen Akten mit dieser Angelegenheit. Mit allzu selbstsicherem, wissendem Gesichtsausdruck beobachtete ich, wie Riccarda sich noch einen kurzen Blick gönnte, bevor meine Augen ihrer Bewegung bis ins Kissen neben mir folgten. Dann aber wurde sie vorübergehend uninteressant und ich angelte ebenfalls nach dem Überwurf. Schnell frieren tat ich zwar nicht, aber die Decke tat viel für die Gemütlichkeit. Während Riccarda mich nach den Verletzungen fragte, war ich noch dabei, mich ihr zugewandt auf die Seite zu drehen. Ich rückte meinen Kopf gerade noch im Kissen zurecht, als ich zur Antwort ansetzte: "Brennt wieder ein bisschen, aber das wars wert. Ich werde trotzdem so gut schlafen, wie schon lange nicht mehr.", stellte ich ungeniert fest, eng begleitet von einem neckischen Lächeln und einem darauffolgenden Blick in ihre dunklen Augen. Gefühlt ging gerade der beste Tag meines ganzen Lebens zu Ende, auch wenn das völlig übertrieben war. Der Kampf mit meinem Bruder war nicht unbedingt spurenlos an mir vorbeigegangen - innerlich wie äußerlich - und trotzdem badete ich hier in Glückshormonen, als wäre nichts gewesen. So sehr, dass ich definitiv zu Witzen aufgelegt war: "Ich muss mich aber jetzt nicht immer erst verletzen lassen, bevor du mit mir schläfst, oder? Ich meine, ich spiele ja gerne den Retter in der Not, wenn dich das irgendwie anmacht, aber auf Dauer klingt das ziemlich ungesund." Das Grinsen war nach einer kurzen Schauspieleinlage mit pseudo-besorgtem Gesichtsausdruck wieder voll präsent, während ich Riccarda aus dem Kissen heraus verspielt anfunkelte. Irgendwie war da ein für mich nicht schönes Muster zu erkennen: Schon das erste Mal, als sie sich freiwillig an mich verloren hatte, war ich von Kampfspuren übersät gewesen, auch wenn an dieser Zusammenkunft wohl eher das Gewitter schuld war. Damals war ich nicht von einem anderen Werwolf, sondern von einem Grizzly angegriffen worden. Streng genommen war es in beiden Fällen jedoch blanke Verteidigung gewesen. Ich hatte Chad vielleicht provoziert, war aber nicht in die Offensive gegangen und hatte es dank Riccarda auch eigentlich komplett verworfen, bis er diesbezüglich das Ruder in die Hand genommen hatte. Ich mochte eine Teilschuld daran haben, dass der Abend nicht gut verlaufen war, aber die blutige Auseinandersetzung schrieb ich mir absolut nicht zu. Ob uns das Unterbewusstsein des Engels einen Streich spielte? Vielleicht hielt sie mich in verwundetem Zustand für weniger gefährlich, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ganz gleich, warum Riccarda mir aber nun ausgerechnet heute wieder hatte näher kommen wollen - so nahe, wie überhaupt möglich - war ich sehr glücklich darüber. Nicht nur mein abstinentes Ego wurde gestreichelt, sondern auch der Teil von mir, der schon seit ewigen Zeit mit emotionaler Distanz hatte leben müssen. Weil das einfacher war. Weil das sicherer war. Trotzdem hatte mich das offensichtlich unglücklich gemacht. Wenn ich jetzt in den Spiegel sah, dann sah ich jemand Anderen als noch vor ein paar Monaten. Es ließ sich nicht ausschließen, dass ich mit der Bindung zu dem hübschen blonden Engel auf die Schnauze fallen würde. Dennoch fühlte ich mich so bereit dafür wie noch nie und ein Rückzieher kam mir nicht mehr in den Sinn. Was Riccarda betraf, gab es für mich nur noch alles oder nichts.
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Anscheinend lag es also an mir selbst, ob ich von dem primitivsten Trick an Manipulationen einer Frau Gebrauch machte oder nicht. Bisher galt meine Abneigung diesen mädchenhaften Klischeeverhaltens gegenüber als sehr standfest, aber wenn ich dadurch Chancen auf tiefere Einblicke in Isaacs Geheimnisse erhielt, sprang ich eventuell sogar eines fröhlichen Tages über meinen Schatten – wohlwissend, mich gewissermaßen auch lächerlich machen zu können. Wir beide hingen unseren eigenen Gedanken nach, machten es uns stumm gemütlich und so dauerte es nicht lang, bis auch mein Kopf den Weg ins Kissen fand und ich mich, eingekuschelt in die Decke, dem jungen Mann zuwandte. Obwohl wir uns schon über einen gedehnten Zeitraum ein Bett teilten, fühlte es sich nun ein bisschen anders an: intimer, vertrauter… mir fehlte die treffende Beschreibung für das angenehme Prickeln unter der Haut, wenn ich mein Gegenüber mit der Gewissheit betrachtete, dass er am nächsten Morgen ebenfalls noch da ist. Sein sehr knapp ausfallender Bericht über die aktuelle Lage seiner Verletzungen am Rücken sorgte zuerst für ein schnell aufflackerndes Mitgefühl, ehe sich der Ausdruck in meinen Zügen zu einem amüsierten Schmunzeln wandelte. „Freut mich zu hören“, erwiderte ich lächelnd auf seine Feststellung, die mir doch ein bisschen übertrieben vorkam. Das Zerwürfnis mit seinem Bruder wurde durch Sex mit mir nicht ungeschehen gemacht, das Problem existierte weiterhin. Ich sparte mir diesen Pragmatismus für den nächsten Tag auf, beneidete Isaac jedoch ein bisschen über diese Leichtigkeit. Mein Gedankenkarussell würde lediglich aufgrund massenhaft ausgeschütteter Endorphine nicht zum Stillstand kommen, aber ich vergönnte ihm diese – wahrscheinlich ohnehin nur kurz anhaltende – Ruhe. Außerdem gefiel mir die fröhliche Version des Dunkelhaarigen am besten. Wenn in seinem Sarkasmus nicht dieser bittere, trockene Unterton mitschwang, sondern eine jugendhafte Ausgelassenheit, die mich auch in diesem Fall zu einem schwer interpretierbaren Glucksen animierte. Nun, wo Isaac darauf zu sprechen kam, fiel mir die Parallele ebenfalls auf, wobei ich meine Angst vor dem Gewitter plus reichlich geflossener Alkohol als Verteidigung wie einen imaginären Schutzschild vor mich zog. Es rechtfertigte meine Gedankenlosigkeit keinen einzigen Moment lang, trotzdem vergrub ich diesen Ausrutscher meinerseits gerne hinter in dem dunkelsten Winkel meines Gedächtnisses. „Du spielst gerne den Retter in Not?“, griff ich seine Behauptung mit minimal-ungläubigen Tonfall auf und schüttelte danach leicht lachend den Kopf: „Seit wann das denn?“ Isaac wäre mir in all der gemeinsamen Zeit nie unbedingt als der altruistische Samariter vorgekommen, also musste dieser Sinneswandel erst im Zeitrahmen weniger Minuten bis Stunden entstanden sein. „Aber um dich zu beruhigen… heroische Aktionen, die dann oft auch zu Dummheiten ausarten können, finde ich in den seltensten Fällen sonderlich attraktiv.“ Mein endgültiges Einknicken hing überwiegend mit dem Gespräch zusammen, aber diese Information spielte ich dem jungen Mann noch nicht zu, dafür gäbe es sicherlich einen passenderen Moment. Emotionale Zugänglichkeit und Vertrautheit lautete der Schlüssel, Gewalt entsprach in jederlei Hinsicht dem Gegenteil meines Naturells und führte dementsprechend selten zu gespreizten Beinen meinerseits, aber ich traute Isaac zu, im Laufe der Zeit allein die nötigen Knöpfchen zu finden, die es brauchte, um mich aus den Reserven zu locken. Alles zum rechten Moment. Gerade brauchte ich nicht mehr als einen merkbar zufriedenen Isaac und die Chance auf eine glückliche Zukunft.
Ich mach das jetzt hier extra, weil ichs nicht in den Text integrieren wollte, das zerrupft den immer so... xD Das Anwesen im Norden ist kein richtiges Schloss, sondern erstreckt sich maximal zweistöckig über eine größere Fläche. Wurde mit viel Stein- und Holzelementen gebaut, damit es sich gut in die Landschaft einfügt und auch schon diverse Male renoviert/umgebaut/erweitert, eben aufgrund der Tatsache, dass die Wolfspopulation da mit der Zeit gestiegen ist. So als Beispiel für den Baustil: *Klick* ... nur damit du weißt, womit ich hier kalkuliere, ohne es zu beschreiben, weil ich den Text nicht noch zehn Zeilen länger machen wollt... XD _____________
"Seit gar nicht.", antwortete ich mit unbeschwertem Humor und bestätigte damit ihre Vermutung. "Aber wenn's nötig ist, würd' ich's trotzdem immer wieder tun, wenn du dabei auf dem Spiel stehst.", hängte ich weitere Worte an, ohne dabei das unbeschwerte Lächeln zu verlieren. Dabei ließ ich den Kopf etwas tiefer ins Kissen sinken und machte zufrieden die Augen zu. Es war nicht unbedingt super spaßig, zwischen die Zähne eines Grizzlys oder des eigenen Bruder zu geraten, aber ich würde keines von beidem rückgängig machen wollen. Der Wolf in mir ließ zukünftig nichts anderes zu, denn der zierliche hübsche Engel stand inzwischen ganz oben auf meiner Prioritätenliste. Während meine Verletzungen von Natur aus sehr zügig heilten, bräuchte es bei Riccarda die Mithilfe ihrer mit übermenschlichen Kräften gesegneten Verwandten, um schnelle Genesung herbeizurufen. War also besser für alle Beteiligten, wenn ich derjenige war, der solche Konflikte abfing. Zur Not konnte sie dann immer noch mit ihren ach so unschuldig aussehenden Fingern einschreiten und mich vor dem schlimmsten bewahren, indem sie zur Abwechslung einem anderen Wolf den Pelz versengte. Aber nicht mehr heute und hoffentlich auch in Zukunft nur noch selten oder gar nicht. Leider musste ich mich dem allgemeinen Begehen der einen oder anderen Dummheit durchaus schuldig bekennen, was die Vergangenheit anging, aber das weiterhin so beizubehalten war offenbar in niemandes Interesse. "Dann machen wir das in Zukunft lieber nicht mehr so oft. Macht Alles irgendwie unnötig anstrengend.", zeigte ich mich auch was das anging sehr einstimmig dem Engel zugetan. Verglich ich mich jetzt mit meinem Selbst von vor einem Jahr, war ich nicht nur ruhiger geworden, sondern auch weniger gewaltbereit. Ich war noch immer ein Werwolf, natürlich - ein gewisses Gewaltpotenzial würde immer bleiben, genauso wie meine Impulsivität. Letztere war aber wohl eher Teil meines etwas schwierigen Charakters. Trotzdem genoss ich den Frieden, den mir die Ehe mit Riccarda letztendlich in vielen Bereichen meines Lebens gebracht hatte, inzwischen wirklich sehr.
* * * Zeitsprung von sagen wir mal ~3Monaten * * *
Nur hielt kein Friede jemals auf ewig, das hatte die Vergangenheit uns Menschen schon oft gelehrt. So schön es auch war, dass Riccarda und ich uns nun auch auf einer tieferen Ebene kennenlernten und ich mich in den vergangenen Monaten mehr und mehr an ihrer Nähe ergötzen wollte, als gäbe es kein Morgen mehr, brachte selbst das Probleme mit sich. Für Chad war offensichtlich gewesen, für welche Seite ich mich entschieden hatte - vielleicht auch, dass ich entscheidende Gefühle für den blonden Engel hegte - und ich würde diesen Entschluss nicht revidieren. Trotzdem rechtfertigte seine Niederlage nicht, dass mir das Rudel seither kaum noch Raum zur Jagd ließ. Irgendeiner meiner Verwandten patrouillierte seit wenigen Tagen nach dem Kampf fortwährend in der Nähe des Engelsschlosses. Wenn ich raus ging, um den Wolf mit Frischfleisch bei Kräften halten zu wollen, war mir immer Jemand auf den Versen. Inzwischen blieb mir nichts anderes mehr übrig, als alle paar Tage zuerst ein gutes Stück aus der Stadt rauszufahren, um in einem anderen Waldgebiet auf die Jagd zu gehen. Strategisches Aushungern, das scheinbar dazu dienen sollte, mich nicht nur auf Abstand zu meiner Familie zu halten, sondern auch meinen Wolf nach Möglichkeit zu schwächen. Dabei hatte eigentlich Niemand Irgendetwas zu befürchten - außer mir, wie's schien. Als wäre das alleine noch nicht genug, kam zusätzlich der Stress eines neuen Alltags auf mich zu. Ich hatte ihn nicht vermisst, diesen in strikten Takten vorgeschriebenen Alltag, der mich seit der Aufnahme meines ersten Praktikums in seinen Fängen hielt. Aufstehen, Arbeiten, Mittagspause, weiterarbeiten und dann am Abend mit schwerem Schädel nach Hause kommen. Riccarda machte es mir ein bisschen leichter, weil sie offensichtlich froh darüber war, dass ich nun auch etwas für unsere gemeinsame Zukunft tat, aber mir fiel es wirklich nicht leicht, ein hohes Level an Motivation beizubehalten. Es war halt schwer, wenn man so lange gelebt hatte, wie es einem selbst am besten in den Kram passte. Von jetzt an würde ich diesen leichten Lebensstil wohl frühestens in ein paar Jahren zurück kriegen. Das war aber in Ordnung, wenn ich wir beide dadurch langfristig unabhängig und wirklich glücklich werden konnten. Allerdings stand nicht nur hinsichtlich des Erbes noch etwas auf der Kippe. Seit Chad diese dumme Aussage mit geflügelten Wolfskindern getätigt hatte, ließ mich das nicht mehr los. Ich wollte jetzt noch keine schreienden Bälger, die mich die Nacht über wachhielten - bei diesem Part des sesshaft Werdens war ich noch lange nicht. Irgendwann würde ich mir das aber vielleicht doch wünschen und ich wusste nicht, wie es damit bei Riccarda aussah. Das Nachwuchs aktuell noch kein Thema war, erklärte sich von selbst. Sollten wir aber zusammen bleiben und es war tatsächlich aufgrund unserer dezent unterschiedlichen DNA unmöglich, dann wollte ich wirklich nicht darauf warten, das zum gegebenen Zeitpunkt erst herauszufinden. Ich lebte gerne in den Tag hinein, aber nicht bei so einem ernsten Thema. Meiner Angetrauten gegenüber hatte ich darüber noch immer kein Wort verloren, weil ich mir damit einfach unfassbar dumm vorkam. Wir machten es ja noch nicht mal offiziell, dass da jetzt mehr lief, sondern verhielten uns auch weiterhin fast genauso unauffällig wie vorher - nach außen hin nur gut miteinander auskommend, nicht wie frisch verliebt wirkend. Wir waren uns einig damit, dass wir auf nervige Fragen in dieser Richtung wirklich noch keine Lust hatten, bis das Alles irgendwie... naja, gefestigter war. Da schien mir die Frage nach eventuell schon für später vorhandenem Kinderwunsch echt unpassend, obwohl das für unsere Zukunft eigentlich sehr relevant war. Ich schaffte es trotzdem nicht, diesbezüglich über meinen Schatten zu springen. Deshalb brach ich etwas mehr als drei Monate nach der Auseinandersetzung mit Chad zu meiner Familie im Norden auf. Ich arbeitete schon lange genug als billiger Praktikant für das Unternehmen, das sich überwiegend mit der Logistik rund um teure Fahrzeuge beschäftigte, um mir zumindest eine Woche freizunehmen. Außerdem konnte mich der Chef gut leiden, schon nur weil kein normaler Praktikant mit einem Aston Martin auf dem Firmenparkplatz hielt. Allein aufgrund dieses geteilten Interesses für schicke Sportwägen fühlte ich mich in dem gut etablierten Unternehmen wohl, auch wenn mir die Arbeit teils auf die ohnehin schon strapazierten Nerven ging. Ich hieß die Auszeit im Norden willkommen. Riccarda hatte ich Zuhause gelassen, weil ich nicht wusste, ob mir die Wölfe tatsächlich so friedlich gesinnt sein würden, wie mein Onkel es am Telefon vorgegeben hatte, als dann nach ungefähr fünfhundert Anrufen endlich mal Jemand rangegangen war und das Telefon ans Headquarter weitergegeben hatte. Als ich mittels zum Flughafen ausgesandten privaten Chauffeurs zum Anwesen gebracht wurde, pochte eine zwiespältige Unruhe in mir. Doch sie stellte sich augenscheinlich schon bei der Begrüßung durch meinen Onkel Sylvan am frühen Mittag als unbegründet heraus, denn er gab sich entspannt und gut gelaunt. Es war Dezember und der erste Schnee war vor ein paar Tagen gefallen. Die kalten Temperaturen sorgten nicht gerade für Winterschlaf, sondern eher für noch mehr Energie - mit Pelz wurde einem ja nicht kalt und ohne Blätter an Büschen und Bäumen konnte Jagdbeute sich schlechter verstecken. Ich unterhielt mich erst einmal eine Weile alleine mit meinem Onkel, der natürlich reichlich verwundert darüber war, dass ich nun aus heiterem Himmel aufkreuzte und auch, wie zur Hölle es zustande gekommen war, dass ich einen Engel geheiratet hatte. Er sah mich ungläubig an, als ich betonte, Riccarda trotz der Zwangsehe an meiner Seite behalten zu wollen, aber er reagierte nicht allergisch darauf. Er fand es schräg und konnte es nicht wirklich nachvollziehen, aber ich konnte nicht mehr als diese neutrale Reaktion erwarten. Die war ungewöhnlich, um es mild zu formulieren, was wiederum Skepsis meinerseits auf den Plan rief. Am Nachmittag traf ich dann erstmals auf die voll versammelte Familie, weil meine Tante es sich nicht hatte nehmen lassen, einen Kuchen zu backen. Ich war völlig überfahren von so viel nettem Empfang und so viel Interesse an mir als Person, dass es noch bis zum Abend dauerte, ehe ich mich langsam damit arrangiert hatte. Es kam mir einfach komisch vor, angesichts der Familienfehde, aber ich merkte ihnen an, dass sie es ehrlich meinten. Nur meine wölfische Cousine, Salacia, die war deutlich zurückhaltender. Sah mich den Großteil der gemeinsamen Zeit im großen Wohnzimmer über nur skeptisch schief in einer Sofaecke sitzend an, ohne mit mir zu sprechen. Wir wechselten kein Wort, es blieb bei stummen Blickduellen. Spätestens dann, als alle neugierig darauf pochten, dass ich mich gefälligst mal mit Pelz zeigen sollte, fühlte ich mich gänzlich willkommen. Denn nach ein oder zwei ehrfürchtigen Blicken kam die erste Anerkennung und daraufhin dauerte es nicht lange, bis ich mit drei anderen Wölfen gemeinsam auf die Jagd ging. Dieses Zugehörigkeitsgefühl hatte ich unheimlich vermisst und so löste es neben Freude auch Wehmut aus. Als wir in der Nacht zurückkamen, war im Anwesen nur noch mein Onkel wach. Er fing mich ab und lud mich noch auf ein Glas Whiskey ein, was ich dankend annahm. Wenige Minuten später wurde mir klar, wozu der Alkohol nötig war. Sylvan zerschmetterte mit wenigen Sätzen mein ganzes Leben. Die Wärme, die das Kaminfeuer ausstrahlte, kam mir plötzlich unendlich heiß vor. Ich fühlte mich, als würde ich ersticken, als ich das erste Mal wieder in das Gesicht meines Onkels sah. Ich wollte es leugnen, ihn einen Lügner nennen. Doch wir hatten denselben, stechenden Blick, bei ähnlich kalter Farbe der Iris. Sein Haar war hellbraun, die dunklen Strähnen hatte ich von meiner Mutter. Sylvans Nase war jedoch so markant wie meine eigene und seine ganze Statur war beinahe identisch mit meiner. Und jetzt, wo ich darüber nachdachte, hatte meine Cousine mich fast genauso grimmig aus eisblau funkelnden Augen angesehen, wie ich das abends beim Badezimmerspiegel tat, wenn ich einen Scheißtag hatte. Ich machte in der Nacht kein Auge zu. Es fügten sich durch diese eine, verheerende Information so viele Dinge in meinem Leben, die ich bisher nicht verstanden hatte. Die ich jetzt plötzlich aus ganz anderem Winkel betrachten musste, weil der Mann, der mir die Kindheit versaut hatte, gar nicht mein leiblicher Vater war. Es ergab alles einen Sinn und doch verstand ich von jetzt auf gleich gar nichts mehr. Das zog sich auch den ganzen nächsten Tag noch so durch und ich ignorierte einen Anruf von Riccarda am Vormittag, während ich einfach nur lethargisch aus einem der fast bodentiefen Fenster starrend in der Bibliothek saß. Ich hatte schon mehrere Bücher aus einem der Schränke gezogen, aber noch bei keinem mehr als eine Seite gelesen. Ich konnte mich nicht konzentrieren, doch meinen Urgroßvater konnte ich nicht mehr fragen - so wie dieser Teil der Familie die Beerdigung meiner Mutter verpasst hatte, so hatte ich die seine nicht mitbekommen. Erst am späten Mittag rief ich den blonden Engel zurück, weil ich nicht wollte, dass sie sich Sorgen machte. Es ging mir ja gut - körperlich betrachtet. So wortkarg, wie ich am Telefon war, hatte sie aber natürlich gleich begriffen, dass trotzdem etwas nicht in Ordnung war und es ging dabei leider um Nichts, das ich ihr am Telefon erzählt hätte. Also fragte ich sie intuitiv danach, ob sie herkommen konnte, weil ich noch nicht wieder zurück nach Hause wollte, wenn ich schonmal hier war und alte Leichen aus der Vergangenheit ausgraben konnte. Ihre Nähe gab mir immer Stabilität und ich wollte mit jemandem darüber reden, dem ich vertraute. Sie konnte nicht vor Übermorgen hier aufschlagen, aber Riccarda willigte ein, mir in den Norden zu folgen - nachdem sie sich ausführlich danach erkundigt hatte, ob das ungefährlich für sie war, was ich ohne Zweifel bejahen konnte. Wahrscheinlich wäre sie hier sicherer als in unserer Heimatstadt, wenn man ihre Verwandtschaft nicht mit einkalkulierte… Heute war schon der 10. Dezember, der blonde Engel sollte ähnlich wie ich kurz vor Mittagszeit wieder auf dem Boden ankommen. Ich hatte gestern endlich ein paar mehr Seiten in den Büchern umschlagen können, auch wenn meine Konzentration noch immer stark hinkte. Ich wollte uns Weihnachten eigentlich wirklich nicht versauen, aber zum aktuellen Zeitpunkt zweifelte ich stark daran, dass ich diese bitteren Pillen binnen 14 Tage vollständig geschluckt haben würde. Schon seit gut einer halben Stunde - wir waren etwas zu früh dran, eher untypisch für mich - tigerte ich mit gespitzte Ohren und wachsamem Blick in der Empfangshalle am Flughafen auf und ab. Ich vertraute meiner Verwandtschaft schon - nur nicht so sehr, dass ich den Engel einfach abholen ließ und solange im Anwesen wartete.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
In den letzten Wochen war unheimlich viel passiert… und gleichzeitig gar nichts. Isaac und ich lebten in einer anonymen Zweisamkeit, die ich mit jeder Faser meines Seins genoss. Keine irritierten Verwandten samt misstrauischer Blicke oder unangebrachter Neugierde bezüglich unserer Privatsphäre – es ging niemanden etwas an und aufgrund der einvernehmlichen Verschwiegenheit in jeglicher uns betreffenden Hinsicht funktionierte dieses fragile Konstrukt eines ernstzunehmenden Versuch des Führens einer zukunftsorientierten Beziehung. Wir arbeiteten jeder auf unsere eigene Art und Weise an einem Beitrag, weshalb ich mit nahezu gruseliger Motivation in das Semester stürzte, Zusatzkurse belegte und mir das Erlernen einer weiteren Fremdsprache auferlegte, sodass mein Stundenplan beinahe aus sämtlichen Nähten platzte. Dennoch hatte mich ein Feuereifer ergriffen, der jegliche Erscheinung von aufkeimender Müdigkeit sofort niederbrannte und mir die nötige Energie schenkte, um das endgültige Ziel trotz zwischenzeitlicher Flauten nicht aus den Augen zu verlieren. Irgendwie hatte ich mich im Laufe meines Lebens an einem enormen Leistungsdruck gewöhnt, nur mit dem Unterschied, dass ich zum ersten Mal selbst die hohen Erwartungen an mich stellte. Dieses Wissen um einen wahrhaftigen Sinn – warum ich mir diese Ambitionen überhaupt antrat – hielten mich bei der Stange. Leider übertrug sich dieser schier überwältigende Arbeitsdrang nicht unbedingt auf Isaac. Er schlug sich wacker im Praktikum, aber sein Elan schwand mit jeder verstrichenen Woche ein bisschen mehr, sodass es an mir lag, sämtliche Register zu ziehen und ihm die Sache weiterhin schmackhaft zu machen. Immerhin gefiel ihm die Stelle bei einem Unternehmen, das sich auf Luxusschlitten spezialisiert hatte, wobei die Firmen schlussendlich ihm Angebote zugeschickt hatten und er sich lediglich das interessanteste, lukrativste Gebot aussuchen musste. Die Auswahl war zwar überschaubar gewesen, aber hatte genügt. Ich war wirklich stolz auf Isaac, wie ernst er unser Bestreben nahm und welche Bemühungen er aufwandte, um einen Lebensstilwandel erfolgreich durchzuführen. Zwar hoffte ich, ihm das oft genug gesagt und gezeigt zu haben, aber sein Urlaubsansuchen, um in den Norden zu seiner Verwandtschaft zu reisen, kam nur bedingt überraschend. Eigentlich musste ich es eher als Flucht bezeichnen, da seine hier ansässige Verwandtschaft alles daranlegte, ihm das Leben als einsamen Wolf zusätzlich so weitreichend wie möglich zu erschweren. Isaac brauchte diese Auszeit. Wirklich dringend. Ich verstand seinen Wunsch, Abstand zwischen sich und diese unliebsame Familie zu bringen, traute mich aber nicht, ihn zu seinen nordischen Verwandten zu begleiten. Bisher beliefen sich meine Erfahrungen mit Werwölfen auf Nahtoderlebnisse, denen ich kein weiteres in allzu naher Zukunft hinzufügen wollte. Mein Bedarf war gedeckt. Dennoch fehlte mir Isaac. Es überraschte und irritierte mich zugleich, wie rasend schnell ich mich an unseren monotonen Alltag gewöhnt hatte, der dennoch jeden Abend damit endete, ihm eine gute Nacht zu wünschen und verstohlen in seine Umarmung zu tauchen. Nein, es handelte sich um kein theatralisches Vermissen, sondern um ein bewusstes Wahrnehmen seiner Abwesenheit. Ich gönnte ihm den Abstand und die Ruhe, dennoch rief ich ihn einer Intuition folgend eines Vormittags an. Uns verband kein übersinnliches Gedankenband oder dergleichen Mystisches – es handelte sich tatsächlich lediglich um ein Bauchgefühl, das eventuell aus den Wunsch, mit ihm zu reden, basierte. Dass Isaac nicht abhob, verpasste mir einen minimalen Dämpfer, richtete aber keinen tiefgreifenden Schaden an; diesem Alter der allzu leichten Kränkung meines Stolzes war ich glücklicherweise entwachsen. Sobald Isaac die Zeit fand, würde er sich melden. Der Anruf kam. Rechtzeitig genug, um meine Sorgen nicht unnötig mit fantasievoll ausgeschmückten Vermutungen zu füttern, aber bereits beim Klang seiner matten Stimme ahnte ich, dass es irgendeine Art von Vorfall gegeben haben musste. Warum sonst sollte mein Partner derart resigniert agieren? Dass der Gestaltwandler meinte, meine selbstverständlich aufgekommenen Fragen nicht übers Handy beantworten zu wollen, schürte meine blühende Vorstellungskraft regelrecht und so bedarf es nur ein bisschen Überredungskunst seitens Isaac, um mich ebenfalls in einen Flieger zu verfrachten – auf den Weg zu den Wölfen des Nordens. Meine Begeisterung hielt sich trotz diverser Versicherungen hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit stark in Grenzen, aber was tat man nicht alles für seinen Mann? Zudem fühlte es sich wie ein nagendes Bedürfnis an, an seine Seite zu eilen und ihm solidarischen Beistand zu schenken. Als ob ich ab diesem Gespräch noch eine ruhige Minuten erlebt hätte… abgesehen davon fühlte es sich nur richtig an, zudem Isaac endlich aktiv einen Schritt auf mich zugemacht, indirekt nach meiner Unterstützung gefragt hatte und nicht alles im Alleingang regeln wollte. Deshalb saß ich mir den Hintern in einem Linienflug platt, ertrug das nervige Gedudel aus den Kopfhörern meines Sitznachbars und versuchte mich in meine Sprachbücher zu vertiefen. Mein Erfolg war sehr überschaubar geblieben als das Flugzeug die Landung am Zielflughafen einleitete und ich entschieden die Lernunterlagen wegpackte. Es war naiv gewesen, zu denken, dass ich in meinem mentalen Zustand auch nur ein chinesisches Schriftzeichen in mein Gedächtnis klopfen könnte. Meine Gedanken verhielten sich wie ein Boomerang, schossen immer wieder hartnäckig zurück zu der Ungewissheit, die mich hier im Norden erwarten würde. Es ging mir gar nicht schnell genug, endlich die fliegende Blechdose verlassen zu können, aber es gehörte wohl zum guten Ton, ewig beim Aussteigen zu brauchen. Zumindest fühlte es sich wie eine kleine Ewigkeit an, bis ich, bewaffnet mit meinem kleinen Reiseköfferchen aus dem Handgepäck, die endlos langen Gänge und unzähligen Schleußen des Flughafen passiert hatte und mit einer Traube von Menschen in die Eingangshalle gespuckt wurde. Zum Zwecke der Orientierung ging ich nur ein paar Schritte, blieb dann stehen und versuchte mir einen Überblick zu verschaffen, aber trotz meiner durchschnittlichen Körpergröße kämpfte ich mit gewissen Schwierigkeiten bezüglich der Blickweite, ehe mir endlich ein hochgewachsener Schönling ins Auge stach. Unweigerlich hoben sich meine Mundwinkel an, während meine Beine sich automatisch in Bewegung setzten. Noch beim Näherkommen musterte ich Isaac von unten bis oben, aber alle Gliedmaßen waren noch dran, kein Gips leuchtete mir entgegen und das hübsche Gesicht erlitt ebenfalls keine unangenehmen Konfrontationen – physische Probleme ließen sich also auf den ersten, oberflächlichen Blick ausschließen.
Ich richtete den Blick in Richtung des Durchgangs und blieb stehen, als mir meine sensiblen Ohren ankündigten, dass eine größere Menge an Leute den hallenden Gang entlang in unsere Richtung unterwegs waren. Im Vergleich mit mir war der blonde Engel alles andere als groß, aber ich erhaschte dennoch bereits einen Blick auf Riccarda, als sie noch dabei war, nach mir Ausschau zu halten. Meine Augen glänzten sofort noch lebhafter. Der Drang, mich nach ihrer Nähe auszustrecken, war sehr vehement. Ich unterließ es dennoch, schon vorab zu ihr aufzuschließen, weil ich mich durch all die anderen Leute hätte drängen müssen. Bei meiner akuten Pechsträhne rempelte mich dabei noch jemand an und ließ meinen Puls ungut in die Höhe schießen, was alle Beteiligten lieber vermeiden sollten. Ich wartete also ungeduldig darauf, dass sie zu mir kam und ging letztlich nur die letzten drei Schritte auf sie zu. Erst als ich sie für eine kurze Umarmung an mich heran zog, hoben sich meine Mundwinkel für einen Augenblick. Riccardas bloße Anwesenheit wirkte ihr kleines Wunder, als mir ihr Duft um die Nase wehte. Während ich mich wenige Sekunden später wieder zurückzog, hauchte ich beiläufig einen Kuss an ihre Wange. “Danke, dass du hergekommen bist… ich weiß, dass du eigentlich viel zu tun hast.”, sprach ich der zierlichen Schönheit meinen Dank aus und ließ ihr dabei ein leicht schiefes Lächeln zukommen. Ich meinte es ehrlich und war wirklich froh darüber, dass sie nun hier war, aber meine innere Ruhelosigkeit ließ kaum mehr als diesen Bruchteil des Ausdrucks von Freude zu. “Soll ich..?”, fragte ich nach und deutete auf den kleinen Rollkoffer in ihrer Hand. Der sah nicht gerade so aus, als würde er hundert Backsteine wiegen, aber ich wollte trotzdem gefragt haben. Schon allein aufgrund der Tatsache, dass ich ihr gerne behilflich war, wenn sie sich schon extra die Mühe machte, mir hinterher zu reisen. Ich blieb auf dem Weg zu unserem privaten Taxi ziemlich still, weil ich zwischen all den anderen Menschen nicht wirklich etwas zu sagen hatte. Meine überempfindlichen Ohren lehrten mich zu häufig, nicht über Dinge zu sprechen, die Niemanden etwas angingen, wenn ich allerhand privaten Mist von anderen Leuten zwangsläufig mitbekam. Den Weg nach draußen eröffnete uns eine gläserne Drehtür, die meine zügigen Schritte aufgrund ihrer gefühlten Zeitlupen-Drehung ordentlich ausbremste, bevor uns die kalte Luft entgegen schlug. Es waren trockene -4°C laut der Anzeigetafel des Flughafens. Durch die Windstille und den Sonnenschein wirkte es jedoch nicht ganz so kalt. Für mich handelte es sich dabei mit einer nur mäßig gefütterten Winterjacke ohnehin um eine angenehme Temperatur, weshalb ich mich nicht an den einsetzenden Atemwolken stören musste. Der Chauffeur wartete knapp dreißig Meter vom Ein- und Ausgang entfernt im Parkstreifen direkt an der Straße auf uns, also musste auch Riccarda den Kälteschock nicht lange aushalten. Er stieg aus, schon bevor wir am Wagen ankamen und begrüßte meine Begleitung höflich mit einem Lächeln, bevor er den Kofferraum für das Gepäck öffnete. Ich parkte meinen Allerwertesten hinten rechts auf der Rückbank, als Riccarda eingestiegen war und so rollte der Wagen nur wenige Sekunden später in den sehr gemäßigten Verkehr. Es war unter der Woche und Mittagszeit, da pilgerten scheinbar die wenigsten Leute zum Flughafen. “Sie sind anfangs vielleicht noch Alle etwas kurz angebunden… weil du ein Engel bist und so weiter. Sie sollten sich aber schnell an deine Präsenz gewöhnen.”, erklärte ich mit kurzem Blick in Riccardas Richtung, bevor ich aus dem Fenster sah. Ich erschlug meine bessere Hälfte bewusst noch nicht sofort mit dem Hammer, der schon die ganze Zeit in meinem Oberstübchen hin und her schwang. Außerdem war es sicher auch von Interesse für sie, wie das Rudel aller Prognose nach auf sie reagieren würde. Aktuell standen in dem Anwesen 26 voll ausgewachsene Werwölfe nur einem einzigen Engel gegenüber, inklusive mir - Riccarda lange als eine Bedrohung wahrzunehmen, sei es auch noch so tief in unserem Instinkt verankert, wäre jeglicher Logik fern. “Mach nur bitte erstmal einen Bogen um meine…” Ich seufzte, weil ich nicht wusste, wie ich Salacia jetzt betiteln wollte. Sie war nicht meine Cousine - es fühlte sich aber bei Weitem noch nicht so an, als wäre sie meine Halbschwester, so distanziert wie sie sich noch immer verhielt. Vielleicht lag das schlichtweg daran, dass sie keine Konkurrenz bei der Aufmerksamkeit ihres Vaters gewohnt war. “...um meine wölfische Cousine und die vier halbstarken Jungs. Sie hatten allem Anschein nach noch keinen Kontakt zu Engeln, weil hier in der Region quasi gar keine vorkommen. Ist euch wohl zu kalt.”, beendete ich meine nicht mehr als nötig erklärende Aussage mit einem sehr trockenen Witz. Ich hatte keine Ahnung, warum es die Scheinheiligen nicht hierhin verschlug. Das könnte wohl das Wetter genauso gut wie alles andere sein. Dem Wolfsrudel passte das jedenfalls bestens in den Kram. “Ziemlich zeitnah zu unserer Ankunft in…”, ich sah überflüssigerweise erst auf meine Armbanduhr, ehe ich zu Riccarda blickend fortfuhr, “...jetzt noch ungefähr zwanzig Minuten, steht das Mittagessen auf dem Tisch. Wenn du dir erstmal alles in Ruhe mit mir ansehen willst, geht das aber auch in Ordnung. Ich hab das Essen jetzt selbst schon mehrmals geskippt und dein Vegetarier-Dasein ist auch kein Mehraufwand, weil meine... Tante auch nicht oft Fleisch isst.”, erklärte ich Riccarda flüchtig, dass uns gewiss keiner zwingen würde, am Tisch zu sitzen. Wurde meine Tante jetzt eigentlich automatisch zu meiner Stiefmutter? Ich fragte mich das jedes Mal, wenn ich an ihr vorbeiging und sie mich gut gelaunt in eine Unterhaltung zu verwickeln versuchte. Sie schien kein Problem damit zu haben, dass ihr Mann mit einer anderen Frau geschlafen hatte. Was das Essen anbelangte konnten wir uns jedenfalls getrost nach meinem Engelchen richten - für mich war es so oder so komisch, am Tisch neben meinem leiblichen Vater zu sitzen, der so tat, als wäre das schon immer mein Platz gewesen. Vielleicht war das auch so. Vielleicht hatte er tatsächlich darauf gewartet, dass ich als ungeliebtes Kuckuckskind irgendwann von selbst den Weg hierher fand. Er hätte aber verdammt nochmal auch einfach vorbeikommen, mich als schutzlosen Wolfswelpen einsammeln und mir die ganze elende Scheiße der letzten beiden Jahrzehnte ersparen können.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Erleichterung überrollte mich einer gewaltigen Welle ähnlich, sobald ich direkt vor Isaac stand und er mich in eine kurze, aber dennoch innig anfühlende Umarmung zog. Sein Duft umspielte meine Nase, als ich mein Gesicht für die kostbare Zeitspanne weniger Sekunden an seinem Oberkörper vergrub und sich die Entspannung dank seiner auf den ersten Blick unversehrten Anwesenheit entfaltete. Trotzdem nistete das schlechte Bauchgefühl behaglich in meiner Magengegend – misstrauisch, vor allem aber besorgt würde ich am liebsten sämtliche bei dem Telefonat unbeantwortet gebliebene Fragen wiederholen und doch respektierte ich den Umstand, dass die Empfangshalle eines internationalen Flughafens gewiss nicht der beste Ort zum Herzausschütten darstellte. Ich musste mich also weiterhin gedulden; wenigstens schien der erste Schritt bewältigt. Immerhin stand ich trotz Zweifel, einem gesunden Maß an Angst vor einem unbekannten Rudel zurückgezogen lebender Werwölfe und einem vollgestopften Terminplan hier, trotzdem winkte ich Isaacs Dank mit einem sanften Lächeln ab. „Die Prüfungen laufen mir schon nicht weg, sondern warten höflich auf mich. Da stört ein spontaner Abstecher schon nicht“, nahm ich die unaufhaltsam näher rückenden Klausuren auf die leichte Schulter, was überhaupt nur möglich war, weil ich mich bereits jetzt – einen guten Monat im Voraus – bestens vorbereitet fühlte und die Messlatte des ultimativen Strebers in neue Höhen katapultiert hatte. Wahrscheinlich schadete mir die kurze Verschnaufpause ohnehin nicht – vom stressigen Leistungsdruck direkt hinein in den stressbelasteten Überlebensmodus auf feindlichem Terrain. Man gönnte sich als verwöhnter Engel eben sonst nichts! „Oh, danke“, reagierte ich ein wenig unbeholfen auf das Angebot, mir den ohnehin leichten Reisekoffer abzunehmen, verweigerte die Hilfe allerdings auch nicht. Stark und unabhängig hin oder her, meine Nerven schlugen dennoch Purzelbäume und wahrscheinlich hätte ich das Gepäckstück ebenso gut einfach stehen gelassen, weil ich die erste Konfrontation mit Isaacs Verwandtschaft so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte. Gut, dass ich die Verantwortung für mein überschaubares Habe abgeben durfte. Isaac lotste uns zielsicher ohne dem Gebrauch vieler Worte bei einem der durchnummerierten Durchgänge an die frische Luft, wo mir die Kälte sofort in jede ungeschützte Pore kroch und dafür sorgte, dass ich willkürlich tiefer in den hochgeschlagenen Kragen meiner dicken Winterjacke versank. Meine Schritte beschleunigten sich automatisch, als ich ebenfalls erkannte, welches Taxi uns oblag. Der Chauffeur grüßte mit einer wohlwollenden Kombination aus neutralem Lächeln und höflichen Nicken; irgendwie entwickelte ich in der Sekunde eine gewisse Sympathie für den unbekannten Mann in dem dunklen Anzug. Während der Fahrer sich um meinen Koffer kümmerte, besetzte ich den mir angedachten Platz direkt hinter dem Fahrersitz und schnallte mich an. Der Verkehr am Flughafengelände hielt sich stark in Grenzen, sodass wir zügig durch die Absperrung kamen und mein Blick sich auf die Landschaft auf der anderen Seite der Fensterscheibe fokussierte. Isaacs Stimme riss mich zurück ins Wageninnere. „Ich hab nicht unbedingt mit einer Willkommensparty gerechnet“, merkte ich mit einem Anflug von unangebrachten Sarkasmus an, was mehr über meine Gemütslage verriet als mir eigentlich lieb war. Zugebenermaßen reichte es mir bereits, nicht direkt mit tödlichen Fangzähnen Bekanntschaft zu machen. Ablehnende Zurückhaltung klang da regelrecht einladend. „In Ordnung. Ich habe eigentlich ohnehin keine Entdeckungstouren auf eigene Faust eingeplant.“ Die Absicht hinter meiner Anwesenheit in einem Anwesen voller isolierter Gestaltwandler lag einzig und allein in der Unterstützung Isaacs – mein Vorhaben belief auf den bodenständigen Wunsch, meinem Gefährten ein Stück der Last abzunehmen und danach unbeschadet zurück in die Heimat zu kehren. Isaacs niemals ersterbende Sinn für zynische Witze entlockte mir ein schmales Grinsen. Ich hatte die Abwesenheit meinesgleichen hier oben noch nie hinterfragt und würde jetzt auch gewiss nicht damit beginnen. Gerade bevölkerten ausreichend andere Probleme meinen Verstand – Bedarf gedeckt. Zwanzig Minuten… mir entwich spürbar das bisschen Farbe um die Nase herum, weil ich nicht mit so einem baldigen Aufeinandertreffen gerechnet hatte. Obwohl ich dieses erste Mal von Angesicht zu Angesicht gerne hinter mich bringen wollte, hatte ich mit ein wenig mehr mentaler Vorbereitungszeit spekuliert. Zu meiner Erleichterung bot mir Isaac den idealen Ausweg. Beinahe etwas zu offensichtlich voreilig stimmte ich der Besichtigung zu: „Ich hab keinen Hunger, also lieber die Runde durchs Haus.“ Mein Appetit litt maßgeblich unter der Ungewissheit, was mich hier erwarten würde; sowohl hinsichtlich der fremden Werwölfe als auch im Bezug auf Isaacs bisher mit unnachgiebiger Verschwiegenheit behandelter Angelegenheit. Wir verfielen wieder in Schweigen, hingen unseren eigenen Gedanken nach und doch verlief die Fahrt wie im Fluge. Für meinen Geschmack viel zu bald erreichten wir das schmiedeeiserne Tor samt hoher Mauer, die das Anwesen dahinter von der ohnehin abgelegenen Straße abschirmte. Unweigerlich durchzuckte mich die Erkenntnis, dass mich hier im Zweifelsfalls niemals jemand finden würde. Der perfekte Ort, um einen arglosen Engel verschwinden zu lassen. Wunderbar. Das Auto blieb stehen und signalisierte damit unfehlbar unsere Ankunft am Ziel. Alles in mir weigerte sich, wie ein tiefverankerter Urinstinkt dagegen, auszusteigen, aber meine Alternativen dazu fielen sehr rar aus, weshalb ich mir einen Ruck gab und die Illusion von Sicherheit des Taxis aufgab. Immerhin passten wir den Zeitpunkt der Raubtierfütterung ab, weshalb kein Empfangskomitee im Rahmen der Eingangstür wartete und die Hoffnung in mir keimte, vorerst unterm Radar zu bleiben. Dieses Mal nahm ich meinen Koffer selbst, um etwas zu haben, an dem ich mich festhalten konnte. Allein das imposante Bauwerk von einem Haus schindete Eindruck und stand im harten Kontrast zu der einem Verließ ähnlichen Burg von Isaacs Vater. „Gemütlich“, murmelte ich trocken, straffte meine Schultern und atmete einmal tief durch. Dann mal los. Ich folgte Isaac ins warme Innere des Anwesens, hielt mich aber durchgehend eng bei ihm und nutzte seinen Körper zur Abschirmung vor neugierigen Blicken, die womöglich hinter irgendeiner Ecke lauerten. Kurzfristig schien ich eine ganz eigene Form der Paranoia zu entwickeln, aber mir war schlichtweg sehr unwohl zumute. „Ah, herzlichen Willkommen. Wir haben schon sehnsüchtig auf euch gewartet“, erschallte plötzlich eine helle, fröhliche Frauenstimme rechts von uns und mein stiller Wunsch, zumindest ein paar Minuten unentdeckt zu bleiben, verpuffte im Nichts. Ich hatte mich gerade erst aus der Jacke geschält, als eine durch und durch euphorisch wirkende Frau einem bunten Wirbelsturm gleichend näherkam und von mir in Sekundenschnelle als Mensch registriert wurde. Augenblick fiel ein Bruchteil der Spannung von meinen Schultern ab und ich rang mich zu einem dezenten, aber nicht unhöflichen Lächeln durch. „Du bist dann wohl Riccarda. Isaac war sehr sparsam mit Erzählungen über dich“, plapperte die Dame munter und ohne Rücksicht auf die Atmosphäre in der gewaltigen Eingangshalle auf mich ein. Bei der Erwähnung von Isaacs Zurückhaltung huschte mein Blick doch zu dem großgewachsenen Mann hinüber. Nett, dass er unsere gegenseitigen Mordversuche nicht bei Kaffee und Kuchen zum Besten gegeben hatte. Ein verstohlenes Grinsen drohte mir zu entschlüpfen. „Wir sind alle sehr gespannt“, erklärte die bisher noch namenlose Gastgeberin mit wild gestikulierenden Armen, die wohl die gesamte Belegschaft inkludieren sollte. Ob sie mit ihrer Annahme der allgemeinen Begeisterung über meine Anwesenheit nicht etwas zu hoch griff.
Ob man das so sagen konnte? Ich hatte früher eher immer das Gefühl gehabt, dass mir die Prüfungen förmlich auflauerten. Das lag aber sicher daran, dass ich selten mehr als nötig dafür getan hatte. "Dein Fleiß in allen Ehren.", merkte ich an. Denn es dürfte maßgeblich letzterem zu verschulden sein, dass sie sich diesen Ausflug zu meiner Unterstützung überhaupt erlauben konnte. Ich fühlte in jedem Fall schon einen Anflug Erleichterung allein durch die Anwesenheit des hübschen Engels. “Hätte ich danach gefragt, hättest du wahrscheinlich sogar eine bekommen.”, stellte ich mit einem schnaubenden Kopfschütteln nicht minder sarkastisch fest. Ich wusste nicht, ob sie ausnahmslos immer so gastfreundlich waren - ich erinnerte mich ja schon nur noch schemenhaft an meinen letzten Besuch im Norden. Trotzdem hatten sie mich wider Erwarten schon sehr offenherzig empfangen und nachdem ich sehr entschieden klar gemacht hatte, dass sie Riccarda den nötigen Respekt zu erweisen hatten, ging ich nicht davon aus, dass sie anders mit ihr verfahren würden. Natürlich, da war diese Wolf-Engel-Differenz, aber die würden sie zügig schlucken. Andernfalls bekämen sie nämlich ein Problem mit meiner Wenigkeit, was zumindest die rangniedrigeren Pelzträger besser vermeiden sollten. “Ein Risikofaktor weniger.”, stimmte ich ein, als Riccarda betonte, nicht alleine durch die Mauern wandern zu wollen. Mir war es recht, wenn sie ziemlich konstant an meiner Seite blieb und ich würde ausschließlich dann noch einmal gegen Ende unseres Aufenthalts jagen gehen, wenn ich mir wirklich zu 101% sicher damit war, dass ihr Niemand etwas tat. Worte sagten viel, Taten jedoch deutlich mehr. Deshalb würde ich erst einmal abwarten, ob ihre Anwesenheit nicht doch noch wie eine Bombe die gute Laune im Anwesen zerschlug. “Ist gut.”, nahm ich auch ihren Nicht-Essenswunsch zur Kenntnis, der mir sehr gelegen kam. Ich hatte bekanntlich kein Problem damit, im Mittelpunkt zu stehen, aber die Umstände waren wahnsinnig aufwühlend. Ich umging die sofortige Konfrontation also gerne. Die restliche Fahrt über sah ich überwiegend aus dem Fenster. Erst als das Anwesen in Sicht kam, musterte ich Riccardas Reaktion. Ich spürte ihre unterschwellige Nervosität schon im Wagen, weshalb ich nach dem Aussteigen schon am Kofferraum zu ihr aufschloss. Während sie in der einen Hand den Koffer hatte, hatte sie jetzt meine Finger mit ihren verschränkt in der anderen. Fraglich, wer in diesem Moment tatsächlich mehr Halt von uns suchte. Ihr Kommentar zum äußeren Erscheinungsbild des Hauses ließ mich schmunzeln und einen kurzen Blick zu ihr rüber werfen. “Das Holz ist dir je nach Verarbeitung vielleicht in manchen Räumen zu dunkel, aber unser Zimmer wird dir gefallen, denke ich.” Das dunkle, imprägnierte Holz, das man schon außen an der Fassade sah, zog sich durch das gesamte Gebäude. Je nachdem, wie man das ortsansässige Nadelholz verarbeitete, wurde es aber nicht genauso dunkel und je nach Raum gab es da deutliche Abstufungen - sowohl noch dunklere, als auch deutlich hellere. Nur die Flure, die sich durch das Gebäude zogen, hatten allesamt dasselbe dunkle Holz, wie es von außen zu sehen war. Ich war inzwischen jedoch an die hohen Decken und die eher helle Umgebung des Engelsschlosses gewöhnt - kein Wunder also, dass ich mir scheinbar instinktiv das in hellerem Holz mit reichlich großen Fenstern gestaltete Gästezimmer ausgesucht hatte. Jedoch kamen wir gar nicht erst bis zum besagten Raum, um in Ruhe den Koffer loszuwerden, sondern konnten nur gerade so aus der äußersten Klamottenschicht schlüpfen. Meine Tante gab ihre in diesem Moment eigentlich ungefragte Gastfreundschaft zum Besten und begrüßte Riccarda überschwänglich. “Ja? Ich hatte eigentlich sehr bewusst erwähnt, dass wir zum Essen wahrscheinlich noch nicht kommen, Charlotte.”, versuchte ich, ihren Elan mit trockenem Humor gleich vorab auszubremsen. “Man darf jawohl trotzdem noch hoffen, hm? Wenn du nichts erzählst, stachelst du die Neugier nur weiter an. Du weißt doch, wie deinesgleichen ist.”, feuerte sie lächelnd mit hochgezogener Augenbraue zurück. Man merkte Charlotte sehr deutlich an, dass sie 24/7 unter Werwölfen wanderte - sie hatte eine gewisse Schlagfertigkeit entwickelt, um sich auf einer schmalen Kante stolzierend Respekt vom Übernatürlichen einzufordern. Mit Sylvan als Schutzschild im Rücken, selbstverständlich. “Du bist aber keine von uns.”, erinnerte ich sie daran, dass sie sich unter diesem Hut der grenzenlosen Neugierde nicht verstecken konnte. “Nein. Ich bin nur eine zu oft gelangweilte Hausfrau mit massenhaft von Testosteron gesteuerten Tieren um mich herum, die jede Abwechslung willkommen heißt.”, grinste sie mir mit ihren geschätzten 40 Jahren frech entgegen und setzte zwinkernd noch eins obendrauf, was nun meinerseits eine Augenbraue in die Höhe schießen ließ. Ihr Blick suchte nach Riccardas. “Ich bin Isaacs Tante. Du kannst mich aber einfach Charly nennen, wenn du möchtest. Wir nehmen’s mit der überheblichen Etikette hier nicht so genau wie im Süden.”, bot sie euphorisch grinsend ihre sofortige Freundschaft an. Im Anschluss warf sie einen kurzen Blick auf Riccardas Schuhe, drehte sich dann übermotiviert von uns weg und ging zu einem der nahen, in die Wand eingelassenen Schränke. Dabei präsentierte sich ihr glattes, aschblondes Haar, in dem die vereinzelten grauen Haare kaum zu sehen waren, in voller Pracht. Ganz allgemein wirkte sie für ihr Alter noch ziemlich jung, wofür ihre verhältnismäßig jugendliche Art sicher ausschlaggebend war. Sie suchte das Innere des Schranks für einen kurzen Moment ab, bevor sie ein Paar hellgrauer Hausschuhe mit flauschig beiger Fütterung herauszog und die Tür wieder zumachte. “Die hier könnten dir passen.”, murmelte sie nachdenklich mit Blick auf die Pantoffel, während sie auf uns zuging, bevor sie meinem blonden Engel die Puschen entgegen hielt. “Im vorderen, alten Teil des Hauses gibt’s noch keine Fußbodenheizung und kalte Füße mag wirklich Niemand.”, erklärte sie ihre Amtshandlung als fürsorgliche, gelangweilte Hausfrau. Als Wolf hatte ich selten ein Problem mit taub werdenden Zehen. Ich könnte auf den kalten Fliesen im Eingangsbereich barfuß leicht herumlaufen und switchte nur deshalb zu Hausschuhe, damit ich nicht wieder angemotzt wurde, weil ich den schmelzende Schnee quer durchs Haus schleppte. “Ihr bleibt dabei, oder..? Du könntest auch zwischen Isaac und mir am Tisch sitzen, wenn dir das lieber ist. Dann tauschen wir einfach die Plätze, kein großer Aufwand.”, versuchte Charlotte weiterhin die pure Freundlichkeit selbst, Riccarda dazu zu überreden, sich von vornherein in die Höhle der Wölfe schleifen zu lassen. Ich atmete daraufhin nur bemüht leise etwas tiefer durch und erwiderte nichts. Inzwischen wusste ich, dass Riccarda es nicht mochte, wenn man ihr eine ihr selbst zustehende Antwort einfach vorweg nahm. Deshalb zügelte ich meinen Instinkt, der Situation vorerst aus dem Weg gehen zu wollen. Es würde jetzt wahrscheinlich auch nicht wirklich unangenehmer werden als zum Kaffee oder zum Abendessen, aber ich sträubte mich trotzdem dagegen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Mein Fluchtinstinkt schrie lauthals durch ein Megaphone, dieses Himmelfahrtskommando augenblicklich abzubrechen und das Weite zu suchen, weshalb ich recht froh um den wortlosen Rückhalt seitens Isaac war. Er hinderte mich zu einem entscheidenden Anteil daran, die Sache abzublasen, nun wo meine Nervosität ihren Gipfel erreicht hatte und mein Unwohlsein aus jeder Pore zu sickern drohte. Dementsprechend wenig interessierte mich das verarbeitete Holz, das für das Anwesen anscheinend im großen Stil verwenden worden war, fühlte aber gleichzeitig einen Anflug von Dankbarkeit, da mein Verstand dadurch ein unverfängliches Thema zugeworfen bekam, auf das ich mich geistig stürzen durfte und ein bisschen Ablenkung darin fand, meinen Blick forschend über das äußere Erscheinungsbild schweifen zu lassen. Auch die eindrucksvoll konstruierte Halle – sicherlich ein Schmuckstück in den Augen jedes Architekten – erschlich sich ein paar Sekunden meiner ungeteilten Aufmerksamkeit, während ich die dicke Jacke auszog, bevor die knapp bemessene Zeit der entspannten Nervenbahnen ein jähes Ende erlebten. Charlotte hieß der – mehr oder weniger unerwartete – Zwischenfall direkt nach dem Verschließen der übertrieben großen Eingangstür. Ob der Rahmen aus praktikablen Wolfsgründen so breit gebaut worden war? Eventuell erkundigte ich mich in einem ruhigeren Moment bei Isaac darüber, doch für den Augenblick forderte die überdrehte Gastgeberin all meine Konzentration. So schnell ich auch in den Fokus geschlittert war, ebenso rasch rückte ich wieder ein wenig in den Hintergrund, sodass ich ruhig den Wortwechsel zwischen Isaac und seiner Tante verfolgen konnte. Man merkte der aufgeweckten Frau an, dass sie entweder von Grund auf Durchsetzungsvermögen besaß oder sich diese Eigenschaft dank des Umgangs mit testosteron-gesteuerten Tieren angeeignet hatte, immerhin beeindruckte sie der verbale Dämpfer seitens des Dunkelhaarigen nicht im Geringsten. Bei der Umschreibung der restlichen Belegschaft im Haus bildete sich ein fester Knoten im Magen und ich schluckte. Nett, als Abwechslung betrachtet zu werden, versuchte es der Hausdame jedoch nicht übel zu nehmen. Meiner Vorstellung nach passierte hier oben im hintersten Winkel einer gedehnten Waldlandschaft nicht viel, was für einen Durchschnittsmenschen als Unterhaltungsprogramm taugte. Vielleicht würde ich ähnlich, wenngleich subtiler reagieren, würden wir in vertauschten Rollen stecken. Charlotte – Charly klang wie eine ungestüme 6-Jährige in meinen Ohren – betonte ihre Lockerheit fast ein bisschen zu viel, um noch natürlich zu klingen, aber ich zwang mich zu einem schmalen Lächeln. Mir steckte besagte überhebliche Etikette nämlich tief in den Knochen: „In Ordnung. Vielen Dank für die Gastfreundschaft.“ Diese Ausstrahlung unermüdlicher Energie hatte Potenzial zum Anstrengendsein, aber ich übte mich in Zurückhaltung mit voreiligen Schlüssen. Der fragende Blick, den ich Isaac zuwarf, sobald Charlotte uns kurz den Rücken zuwandte, um in einem massiven Holzschrank zu werken, ließ sich nicht vermeiden. Ich versuchte aus seinem Gesichtsausdruck schlau zu werden, aber für eine genaue Analyse reichte die Zeit nicht aus. Ich knipste das freundliche Lächeln wieder an, sobald ich erneut zum Objekt ihrer Aufmerksamkeit wurde – oder eher meine Füße, sofern ich den Zusammenhang mit den plüschigen Hausschuhen richtig schloss. „Vielen Dank“, erwiderte ich, nahm die Kuscheldinger entgegen und schlüpfte ganz der brave Gast sogleich hinein, nachdem ich aus den gefütterten Stiefeln raus war. Die Schuhe fühlten sich tatsächlich vielversprechend warm an den etwas klammen Zehen an. Warme Füße trugen maßgeblich zum Wohlheitsfaktor bei, das ließ sich nicht abstreiten. Dennoch verhielt ich mich zurückhaltend und stieg nicht gedankenlos in die diversen Versuche, eine Konversation vom Zaun zu brechen, ein. Hartnäckig war sie ja, die gute Frau. Ein Seufzen verhindernd, schüttelte ich schwach lächelnd den Kopf. „Wir bleiben dabei. Es finden sich später sicherlich noch ausreichend Möglichkeiten, um zusammenzusitzen und… die Neugier zu stillen“, griff ich einen Teil ihrer vorherigen Worte auf und hoffte, dass es damit nun endlich entschieden wäre. Ein theatralischer Laut rang sich gemeinsam mit einem leisen Lachen über die zart geschminkten Lippen der Blonden. „Nun gut, dann fühl dich wie daheim, komm einmal an und wir sehen uns dann zum Nachmittags-Kaffee. Ich habe extra einen Kuchen backen lassen“, fügte Charlotte feierlich hinzu. Ich hörte da einen dezenten Zwang zum Unausweichlichen in ihrer hellen Stimme mitschwingen – die Galgenfrist besaß also ein zeitnahes Ablaufdatum. „Ach Isaac, vergiss nicht, ihr den Wintergarten zu zeigen“, erinnerte die Frau ihren Neffen, ehe sie sich verstohlen zwinkernd an mich wandte: „Wenn du mich fragst, der mit Abstand schönste Platz in diesem Haus.“ Mit diesem Tipp ließ Charlotte uns dann endgültig allein. Als hätte ich die ganze Zeit über die Luft angehalten, atmete ich einmal tief durch, sobald der glänzende Haarschopf hinter der nächsten Ecke verschwunden war. „Ist sie denn immer so… gut drauf?“, suchte ich, eine kurze Pause verursachend, die richtige Beschreibung für diese exorbitant fröhliche Gemütslage unserer Gastgeberin, griff dabei gleichzeitig zu dem etwas verloren in der Gegend herumstehenden Koffer und signalisierte damit meine Bereitschaft, das Gästezimmer zu erobern. Isaac schien ebenfalls keine weitere Zeit in der Eingangshalle verbringen zu wollen, weshalb ich schon bald neben ihn durch stilvoll dekorierte Gänge schlenderte, bis er vor einer unscheinbaren Tür hielt und diese aufdrückte. Das Gästezimmer machte einen sehr einladenden Eindruck: helle Farben, viel Licht und kein unnötiger Kitsch. Ich drehte mich in der Mitte des großzügig geschnittenen Raums einmal um die eigene Achse, nachdem ich den Koffer zur Seite gestellt hatte und nickte. Hier ließ es sich durchaus aushalten… gäbe es da nicht ein gewisses Extra. „Wann trinkt man hier denn in etwa Kaffee am Nachmittag?“, erkundigte ich mich bei Isaac, um einschätzen zu können, wie lang mein Aufschub noch geduldet wurde.
'Ja, find ich auch.', dachte ich mir beim Blickwechsel mit Riccarda im Stillen. Ich konnte selbst zwar auch ordentlich aufdrehen, wenn mir danach war, aber in den meisten Fällen passte das auch zur Situation. Letztere war hier gerade allgemein angespannt bis schräg, was Charlotte ganz genau wusste - also kein Grund für diese Überschwänglichkeit. Dementsprechend froh war ich auch darüber, dass der blonde Engel trotz des Nachbohrens standhaft blieb und sich für unseren Rückzug entschied. Als die Hausschuhe ausgeteilt waren, konnte ich mich dann endlich wie eigentlich geplant mit dem Engel zurückziehen. Auch wenn uns leider mehr oder weniger die Wahl genommen wurde, ob wir nun zum Kaffee oder erst zum Abendessen so ganz offiziell aufkreuzen würden. Wenn Kuchen schon gebacken war, musste der natürlich gegessen werden. Er diente als ausgezeichnetes Mittel dafür, mich heute daran zu hindern, allzu viel Distanz zu meiner Familie zu halten, obwohl man mir das eigentlich kaum verübeln konnte. Das taten sie streng genommen auch gar nicht - sie schienen mich nur etwas zu krampfhaft ins Rudel integrieren zu wollen. Das gestaltete sich mit Alphas leider fast generell etwas schwierig, unter solchen Umständen dann erst recht. Sie sollten besser nicht provozieren, dass ich mich so sehr bedrängt fühlte, dass ich um mich schnappte. "Aber natürlich, der Wintergarten…", murmelte ich zuletzt trocken vor mich hin, womit das Gespräch für mich beendet war. Der war tatsächlich ziemlich schön, nur in diesem Moment gewiss nicht meine Priorität. Vorerst war immerhin die unangenehme Situation gebannt und so navigierte ich Riccarda zu unserem vorübergehenden Schlafgemach. "Weiß nicht… ich hab sie nicht so extrem in Erinnerung, aber das kann täuschen.", beantwortete ich die Frage der zierlichen Schönheit, während wir den Flur entlang gingen. Mein letzter Besuch hier war bekanntlich ziemlich lang her. "Vielleicht versucht sie wirklich nur nett zu sein.", stellte ich mit einem abschließenden Schulterzucken und einem beinahe stummen Seufzen fest. Am Gästezimmer angekommen hielt ich Riccarda die Tür auf und trat erst hinter ihr ein. Einen Moment lang blieb ich noch an der hinter mir wieder ins Schloss gefallenen Tür stehen und beobachtete die Reaktion des Engels auf die Räumlichkeit. Sie schien zufrieden mit meiner Wahl, also bogen sich meine Mundwinkel langsam ein wenig nach oben. Dabei stieß ich mich vom Rahmen ab und ging langsam in ihre Richtung, ohne damit aufzuhören, sie zu mustern. Ich sah sie gerne an und hatte ihren Anblick vermisst. Riccardas Frage beantwortete ich noch auf dem Weg zu ihr. "15 Uhr ungefähr… manchmal etwas später. Bis tatsächlich alle am Tisch sitzen dauerts gegebenenfalls länger." Meistens handelte es sich bei den Nachzüglern um die beiden Paare mit den Wolfskindern. Die Kinder waren teilweise ziemlich bockige Nachwuchsexemplare, aber ich war damals ehrlicherweise kaum anders gewesen. Aber auch das war nichts, worüber ich in diesem Moment länger nachdenken wollte. Viel lieber legte ich meine Hand behutsam an Riccardas schmalen Kiefer, als ich direkt vor ihr zum Stehen kam und in ihre Augen sah. Bevor ich irgendetwas sagte, beugte ich mich für einen sehnsüchtigen Kuss zu ihr runter. Am Flughafen war mir nicht danach gewesen - zu viele Menschen, zu viele Augen. Jetzt aber konnte ich den süßlichen Geschmack ganz in Ruhe auskosten. Das war der erste Moment seit geschlagenen zweieinhalb Tagen, in dem ich gefühlsmäßig wieder einigermaßen auf dem Boden ankam. Es war eine wahrhaftige Erlösung, nur für ein paar Sekunden die Augen zuzumachen und dabei an gar nichts zu Denken, außer an das befreiende Gefühl in meiner Brust. An die Wärme, die Riccarda ausstrahlte, während mein Körper leicht an ihrem lehnte. Auch nach dem Kuss blickte ich wieder in ihre dunklen Augen, distanzierte mich anfangs aber kaum wieder von ihr. "Ich war nicht lange weg… aber du hast mir trotzdem gefehlt.", ließ ich sie nach dem zärtlichen Kuss leise an ihre weichen Lippen gemurmelt wissen, wobei sich erneut ein kleines Lächeln auf meinen Lippen bildete. Ich zog mich nur langsam ein Stück weiter zurück. Mein Daumen strich einmal an ihrem Kieferknochen entlang bis zu ihrem Kinn und anschließend ließ ich die Hand sinken. Es war noch immer nicht so einfach für mich, solche Dinge auszusprechen. Ich wollte mich in Zukunft dennoch öfter daran probieren, mich stetig mit Bedacht weiter heran tasten. Riccarda verdiente es von mir zu hören, wie viel sie mir inzwischen bedeutete und wie gerne ich sie bei mir hatte. Es schmeckte mir nicht, dass ich den eigentlich schönen Moment bald mit für uns persönlich schlechten Neuigkeiten und einer Information aufwühlen musste. Ich wusste nach mehreren Tagen noch nicht einmal selbst, was ich davon halten sollte, dass mein leiblicher Vater hier wohnte und nicht in unserer Heimatstadt. Wie sollte Riccarda dann erst wissen, was sie darüber denken sollte..?
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈