Da ich grundsätzlich gerne recht behielt und meistens sämtliche Hebel in Bewegung setzte, um diesen Zustand der indirekten Überlegenheit möglichst lang aufrecht zu erhalten, durfte Isaac davon ausgehen, dass ich mich allzu bald von keinem weiteren Werwolf so unbedacht überrumpeln ließe – im Nachhinein betrachtet stellte es sich als naive Dummheit heraus, einem aufgebrachten Gestaltwandler einfach so den Rücken zuzuwenden. Dabei hatte ich wirklich gedacht, dass Isaac für den Moment das größere Risiko darstellte. So irrte auch ich mich hier und da, was einen äußerst bitteren Beigeschmack hinterließ. Immerhin versank dieser Gram sehr schnell in meiner aufkommenden Wut über Chad. Ich vergas sogar für einen Augenblick die anhaltenden Sorge in Isaacs Stimme, sondern steigerte mich lieber in die Empörung über den schändlichen Angriff hinein und suchte mir eine Art Ventil, indem ich mir vorstellte, wie meine Fähigkeit den Wolf in ein winselnden, unkontrolliert zuckenden Haufen stinkendes Fell verwandelte. Mein Kopfkino blühte regelrecht auf, wäre da nicht ein knapper Zwischenkommentar gewesen, der meine Aufregung weiter anfeuerte: „Ich bin gar nicht süß, wenn ich mich aufrege!“ Anklagend schraubte sich meine Stimme sogar in der Lautstärke ein wenig nach oben, doch das dezente Grinsen informierte mich sehr direkt über das Scheitern meines Versuchs, ihn kurzerhand vom Gegenteil zu überzeugen. Brummelnd resignierte ich diese verlorene Schlacht. Trotzdem: ich fühlte mich gerade absolut nicht süß, sondern eher aufgebracht… erzürnt. Das war nicht süß! Meine Gedanken änderten sich ohnehin schnell, sodass ich von meiner Empörung abkam und mich einem neuen Problem widmen konnte: Isaacs Verletzung, die angeblich nicht so schlimm wäre. Der Dunkelhaarige saß mit freiem Oberkörper am Badewannenrand, sodass ich die Aussicht unter anderen Umständen sogar hätte genießen können, aber gerade galt mein Interesse primär der klaffenden Wunde an seiner Schulter, die stark vom ansehnlichen Rest ablenkte. Typisch Mann, dass die sicherlich bestehenden Schmerzen cool runtergespielt wurden, aber ich wusste ohnehin, dass ihn das Brennen des Desinfektionsmittels aus der Reserve locken würde. Bevor er den Satz überhaupt beenden konnte, begann ich mit der Reinigung und das bedeutete nun mal auch, die blutverkrusteten Ränder zu lösen, damit sich kein Schmutz in der Verletzung verfing und eine Entzündung des Gewebes verursachte. „Halt‘ bitte ruhig“, erinnerte ich den werten Herren vor mir, während ich mit konzentriert zusammengezogenen Augenbrauen und sanfter Geschicklichkeit den Biss versorgte. Kaum, dass ich den letzten vom getrockneten Blut rot-braunen Tupfer wegnahm, rettete sich mein Patient bereits vor weiteren Verhandlungen. „Lass mich den Kratzer zumindest ansehen“, bat ich ihn beschwichtigend und hob bei seinem weiteren Argument fragend die Augenbraue. „Beim Duschen wird es schon von allein sauber?“, wiederholte ich seine Worte in der Annahme, dass er einen schlechten Scherz machte. Tat er aber nicht. „Isaac, das brennt nur ein bisschen und hört auch gleich wieder auf“, versuchte ich noch auf ihn einzureden, wurde als Dank jedoch nur vorsichtig, wenngleich bestimmt aus dem Badezimmer bugsiert. Er benahm sich hinsichtlich der Verarztung gerade wie ein Kleinkind, aber ich betrachtete den derzeitigen Moment nicht als richtig, um einen passenden Kommentar zu fällen. Ich akzeptierte sein Bedürfnis nach Ruhe und kehrte deshalb dem Badezimmer vorerst den Rücken zu, würde aber später zum Abschminken sowie für die abendliche Routine noch einen Abstecher hineinmachen müssen. Vorerst drängte sich mir jedoch der Wunsch auf, endlich das Kleid auszuziehen und das elegante Outfit gegen eine gemütlichere Bekleidung auszutauschen. Sorgfältig kontrollierte ich den Stoff nach Rissen oder Flecken, aber das Designer-Exemplar war trotz des Zwischenfalls unbeschadet geblieben und durfte deshalb auf dem Kleiderbügel zurück in den gewaltigen Kleiderschrank im Schlafzimmer. Ich entschied mich direkt für die plüschigen Shorts und das lockere Oberteil zum Schlafen, weil der restliche Abend sicherlich keine großen Aktivitäten außerhalb unserer Räumlichkeiten bereithielt. Da sich auch ein kleiner, überschaubarer Schminktisch in dem Zimmer befand, begann ich auch damit, die unzähligen Haarnadeln aus meinen Haaren zu angeln, die zum Großteil ohnehin verrutscht waren und die Last der Locken nicht mehr an Ort und Stelle gehalten hatte. Irgendwie fühlte sich mein Kopf nach dieser Befreiung tatsächlich ein bisschen leichter an, aber wahrscheinlich bildete ich mir diese Veränderung nur ein. Auch der Schmuck fand wieder seinen Weg zurück in die gepolsterte Schatulle, sodass mein natürliches Ich beinahe wieder vollständig hergestellt war. Mein Blick blieb auf dem Ring an meinem Finger hängen. Obwohl Isaac und ich über meine Schwierigkeiten mit diesen symbolischen Fesseln gesprochen hatten und ich mehr oder weniger die Einverständniserklärung erhalten hatte, dieses bedeutungslose Ding abzunehmen, trug ich ihn immer noch. Anscheinend reichte allein das offene Gespräch darüber, um mich damit besser fühlen zu lassen; zudem brachte ich es nach einem Versuch ohnehin nicht übers Herz, den Ring tatsächlich abzustreifen. Gedankenverloren drehte ich das kleine Zeichen meiner Ehe um den Ringfinger und sah zu, wie sich das Licht in dem funkelnden Glanz brach. Mittlerweile fühlte ich mich Isaac wirklich zugehörig, anderenfalls ließe sich meine verändere Haltung ihm gegenüber nicht erklären oder wieso ich so sensibel darauf reagierte, sobald der junge Mann ebenfalls involviert war.
Dass der zierliche Engel beteuerte, ganz und gar nicht süß zu sein, machte es leider gleich noch süßer und ließ mein Grinsen dementsprechend nochmal ein gutes Stück breiter werden. "Ich seh' das doch nur so, weils ausnahmsweise mal nicht mir gilt... und wahrscheinlich bin ich damit auch der einzige, weil ich einfach einen ungesunden Maßstab gewohnt bin.", meinte ich und verkniff mir dabei den amüsierten Tonfall, um stattdessen auf recht neutrale Stimmlage zurückzugreifen. Wenn man den kleinen blonden Engel beispielsweise mit meinem Vater verglich, wenn er gerade völlig in seiner Wut aufging, dann waren das quasi schon zwei völlig verschiedene Welten - im Vergleich war Riccarda kaum noch ernst zu nehmen, obwohl ich das natürlich trotzdem tat. Schließlich hatte sie mir fast wortwörtlich ins Hirn gebrannt, dass man es sich mit ihr besser nicht ernsthaft verscherzte. Gerade für Wölfe konnte das dann sehr unangenehm werden, weil wir auf sämtliche Engelsfähigkeiten empfindlicher reagierten, als der gewöhnliche Mensch. Es war also nicht so, dass ich Riccarda unterschätzte, sondern es einfach deshalb süß finden konnte, weil ihr Ärger nicht mir galt. Wenn sie auf mich sauer war, dann war das nie lustig. Jetzt noch viel weniger als früher. Stillzuhalten, während der blonde Engel mir mit dem Desinfektionsmittel gefühlt noch die ganze Muskelschicht unter der Haut verätzte, war aus ihrer Sicht schön leicht gesagt. Ich hatte mir wirklich Mühe damit gegeben, nicht unnötig herumzuhampeln, aber das eine oder andere Zucken war unvermeidbar gewesen. Auch wenn ich hinsichtlich Schmerz und Verletzungen nicht unbedingt zart besaitet war, verhielt sich die brennende Desinfektion auf eine ganz andere Art sehr unangenehm. Natürlich war Riccarda auch absolut nicht einverstanden damit, dass ich sie den Rest der Wunden nicht sehen lassen wollte. Alle davon hatten geblutet und dabei wahrscheinlich ohnehin so gut wie alle Bakterien nach außen gespült, was machte sie sich solche Sorgen? Bei mir standen die Chancen, an einer Blutvergiftung zu verenden, fast gleich Null. Mein Körper reinigte sich schnell von selbst, das hatte ich ihr eigentlich schon bei der üblen Rauchvergiftung vor ein paar Monaten bewiesen. Ich konnte Riccarda das gerne später nochmal lang und ausführlich schildern, wenn ich mich von dem unangenehm auf der Haut angetrockneten Blut befreit hatte. Wir waren bei Weitem noch nicht auf einer Ebene der Beziehung angekommen, wo wir für gewöhnlich einfach parallel im Badezimmer hantierten, also geleitete ich die junge Frau bestimmt aus dem Badezimmer und machte die Tür hinter ihr zu. Das war unmissverständlich genug, um folglich in Ruhe die zuerst lauwarme und dann abschließend kalte Dusche abhaken zu können. Ich beließ es jedoch bei purem Wasser, weil ich nicht riskieren wollte, dass mir Duschgel in einer der Wunden brannte. Am rechten Unterschenkel hatte Chad quasi nur geknabbert, der Abdruck war nicht halb so tief wie der an der Schulter - dementsprechend auch nicht der Rede wert, wie ich nackt unter der Dusche stehend abschließend beurteilen konnte. Als ich damit fertig war, fühlte ich mich schon besser. Ich würde morgen früh jagen müssen, um die Heilung noch stärker zu beschleunigen, aber für den Moment war mein Zustand nach der Dusche das höchste der Gefühle. Der Kampf hatte mich doch etwas ausgelaugt und ich war dementsprechend müde, aber der Schmerz war die eine Nacht lang sicher auszuhalten. Ich hakte mit dem Handtuch um die Hüfte noch den übrigen Rest der abendlichen Routine ab, bevor ich einen Blick auf die blutverschmierten Klamotten in der Badewanne warf. Das weiße Hemd war in jedem Fall reif für die Mülltonne und der empfindliche schwarze Stoff des Anzugs würde es kaum besser wegstecken, also konnte morgen wohl alles davon entsorgt werden. Heute würde ich mir diese Mühe aber nicht mehr machen, bis ich mich morgen aus unserem privaten Bereich bequemte würde das Zeug also da liegen bleiben... sofern Riccarda sich nicht zu sehr davor ekelte, um es bis morgen in der Wanne zu lassen. Sie war von uns beiden zweifelsfrei die ordentlichere Persönlichkeit. Als ich das Badezimmer mit dem Handtuch, sowie noch feuchten Haaren verließ und die junge Frau in meinem Blickfeld auftauchte, fragte ich mich unweigerlich sofort, was sie in diesem Moment dachte. Was sie inzwischen sah, wenn sie das Symbol unserer erzwungenen Hochzeit so intensiv musterte. Sie hatte ihn bis jetzt nicht abgenommen und doch fragte ich mich nun, ob sie ihn noch immer lieber loswerden wollte, als ihn zu tragen. Wir hatten seit dem Gespräch im tropischen Dschungel nicht wieder darüber geredet. Also trat ich in aller Ruhe schräg hinter sie und legte meine Hand sanft in ihre Halsbeuge, streichelte mit dem Daumen zart an ihrem Hals hinab. "Stört er dich doch noch?", fragte ich ganz direkt nach, klang aber völlig frei von Vorurteil. Ich war zwar automatisch davon ausgegangen, dass sie ihn doch nicht abnehmen würde, aber vielleicht hatte der heutige Abend ja irgendetwas in ihr zutage befördert, dass sie den Ring nun doch noch einmal in Frage stellen ließ. Vielleicht die Aggressivität und die Streitlust meinerseits, die mein Bruder mit fast spielender Leichtigkeit aus mir herausgekitzelt hatte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Ausnahmsweise galt meine Wut nicht ihm. Dann sollte Isaac zusehen, dass sich daran so schnell nichts änderte. Die Drohung blieb zwar ordentlich verwahrt in meinen Gedanken, aber mein Blick sprach sicherlich Bände. Nur gut, dass ich mein Hauptaugenmerk auf den Weg vor meiner Nase legte, um nicht am Ende dank der hohen Schuhe ein zweites Mal diesen Abend Bekanntschaft mit dem Boden aus nächster Nähe zu schließen. Zudem verflog mein Zorn bereits wieder. Es handelte sich um eine sehr impulsive Emotion, die dank seiner beigefügten Anmerkung zurück in ihren dunklen Winkel kroch und dort weitergrummelte. Isaac kannte diese explosionsartigen Ausbrüche innerhalb der Rudelmitglieder, war sicherlich bei brutaleren Auseinandersetzungen ins Kreuzfeuer geraten oder Schlimmeres – ich bemühte mich, diesen Aspekt nicht aus den Augen zu verlieren und atmete zum wiederholten Mal tief durch. Letztendlich blieb es aber dabei, dass mich die Situation aufwühlte und sämtliche Ordnung in meinen Gedanken ruiniert hatte. Wie hatte ich nur für einen dummen Augenblick denken können, dass sich die Abneigung zwischen unseren Familien ansatzweise gebessert hätte, nur weil ich Isaac ins Herz geschlossen hatte. Seine positive Weiterentwicklung schien tatsächlich auf ihn allein begrenzt zu sein – für alle anderen Wölfe schien das Leben normal weitergegangen zu sein. Naja, gewisse Dinge änderten sich auch bei meinem Partner nicht: meine Proteste ignorierend entzog sich der Dunkelhaarige meiner weiteren Behandlung und würde sich meines Wissens auf die raschen Regenerationskräfte eines Werwolfs berufen. Damit band er mir die Hände, sodass ich stumm kooperierte und ihm die weitere Versorgung der übrigen, oberflächlichen Verletzungen überließ. Es handelte sich schließlich nicht um die ersten Wunden, die er allein verarztete – sofern man all den Schauergeschichten Glauben schenkte, was ich mittlerweile durchaus tat. Obwohl manche Gerüchte nichts anderes als die blühende Fantasie irgendwelcher Redakteure darstellte, existierte doch meistens ein Körnchen Wahrheit in jeder Geschichte. Nun, wo ich potenzielle Abläufe von Treffen am eigenen Leib erfahren hatte, zweifelte ich auch weniger an manchen Stories aus der Vergangenheit. Ein Kapitel, das meiner Meinung nach weiterhin geschlossen blieb. Ich sollte nicht zu viel darüber nachdenken. Am Ende ruinierte es mir die ohnehin bescheiden ausfallende Laune. Mein Ablenkungsprogramm bot leider ebenfalls kaum Spielraum für Fröhlichkeit oder gar Sorglosigkeit an, sondern bescherte mir dank meiner Unaufmerksamkeit eine Unterhaltung, die ich am liebsten auf einen anderen Moment vertagen würde. Ich hatte nicht bemerkt, dass Isaac ebenfalls im Schlafzimmer auftauchte und meine nachdenkliche Inspektion des Rings mitverfolgte. „Hm?“, rutschte es mir als erste Reaktion über die Lippen, bevor ich blinzelnd meinen Blick von dem Schmuckstück löste und stattdessen über den Spiegel zu Isaac sah. „Nein, er stört mich nicht“, stellte ich auch für den Dunkelhaarigen hörbar fest und ließ seine Berührung auf mich wirken. Wie erklärte ich meine konfusen Gedanken nachvollziehbar? „Ich bin nach wie vor nicht glücklich, über die Umstände, wie ich zu ihm gekommen bin, aber trotzdem irgendwie froh, dass es so gekommen ist. Ich bin mir unsicher über unsere Zukunft, weil wir eigentlich nie die Chance hatten, essenzielle Fragen und Wünsche vor dieser Beziehung zu klären, aber gleichzeitig vertraue ich darauf, dass wir diese Herausforderung bewältigen werden. Ich mache mir Sorgen, dass das zwischen uns nie so funktioniert, wie der Einzelne es bräuchte, weil die Umstände permanent dagegen zu arbeiten scheinen und ich…“, meine Zunge hatte sich zwischenzeitlich gelöst, aber nun stockte ich doch für eine erzwungene Kunstpause, „am Ende mit gebrochenem Herzen dastehe.“ Ich senkte die Lider. „Ich verlange nicht, dass du das alles versteht. Der heutige Abend hat mich einfach in einem heillosen Durcheinander zurückgelassen“, gab ich seufzend zu und drehte mich auf dem hölzernen Stuhl um 90 Grad, damit ich nicht nur unser Spiegelbild betrachtete. Nach wie vor missfiel es mir, offene Verletzlichkeit zu zeigen beziehungsweise überhaupt zuzulassen. Aber wem sollte ich mich anvertrauen, wenn nicht Isaac?
Ob ich auf eine Entwarnung hoffte? Auf jeden Fall. Zuerst trafen sich jedoch unsere Blicke in dem spiegelnde Glas über dem Tisch und ich scheute Riccardas Blick nicht. Ich hatte sie mit meiner Anwesenheit offenbar ein bisschen überrascht, obwohl ich mich nicht ungewöhnlich leise verhalten hatte. Als über 1,90m großer Mann war es meistens auch relativ schwer, völlig unbemerkt zu bleiben - nicht aber dann, wenn der blonde Engel in Gedanken über unsere Ehe verfiel. Glücklicherweise beinhaltete gleich der erste Teil ihrer Antwort eine Beruhigung für meine vielleicht schon wieder ein kleines bisschen flatternden Nerven und meine Mundwinkel zuckten ganz kurz nach oben. Auch wenn wir hinter ganz viele Dinge noch ein paar mehr oder weniger große Fragezeichen setzen mussten, wollte ich sie nicht verlieren. Der gesteigerte Beschützerinstinkt kam schließlich nicht aus dem Nichts, sondern entsprang dem Wunsch in mir, sie bei mir zu halten. Sie nicht an so etwas dummes wie Geröll an einem Abhang oder meinen völlig wahnsinnigen Bruder zu verlieren, sondern ihr auch etwas von dem zurückzugeben, was sie mir gab. Der Ring an sich jedenfalls war nicht mehr das Problem, stattdessen eher ungefähr alles drum herum. Chad hatte ein paar hässliche Dinge gesagt, die im Großen und Ganzen vielleicht Blödsinn waren - Engel hatten schließlich weder richtige Flügel, noch einen wahrhaftigen Heiligenschein - aber der Kern seiner Aussage blieb leider trotzdem wahr. Ich war ein Werwolf und Riccarda war noch immer ein Engel, was per se leider einige Probleme brachte... und da waren dann unsere komplizierten Familienverhältnisse und der ganze Rest noch nicht mal mit einberechnet. Ich senkte den Blick selbst von unserem gemeinsamen Abbild, je länger sie sprach. Meine Augen rutschten auf die Hand an ihrer Schulter. Das Risiko, dass wir beide am Ende durch diverse Umstände nicht so funktionierten und glücklich waren, wie ich mir das von Zeit zu Zeit so ausmalte, würde leider noch eine ganze Weile präsent bleiben. Nämlich so lange, bis wirklich alles geklärt und auch umgesetzt war und das war schlicht und ergreifend noch ein sehr langer Weg. Die Steine würden auf dieser gemeinsamen Reise wahrscheinlich auch weiter auf dem Pfad auftauchen und es war dann jeweils unsere Entscheidung, ob wir Hand in Hand darüber hinweg kletterten oder die Hand des anderen losließen, um alleine drum herum zu gehen. Kein schöner Gedanke. Als Riccarda jedoch sagte, dass sie Angst davor hatte, sie würde mit gebrochenem Herzen bei dieser Geschichte enden, ließ mich das erneut über den Spiegel hinweg mit meinen Augen die ihren suchen. Sie hingegen mied den Blickkontakt, was nicht verwunderlich war. Sie hatte sowas vorher noch nie gesagt, wir sprachen bisher nur selten dermaßen offen über unsere Gedanken und Gefühle. Das wiederum hieß, dass ich jetzt besser nichts Falsches tat oder sagte - schließlich wollte ich, dass der Engel mir solche Dinge auch zukünftig anvertraute. Gegenseitiges Vertrauen war essentiell. Erst recht dann, wenn sich ständig gefühlt das halbe Universum gegen einen verschwor. Meine Hand ruhte trotz ihres Positionswechseln noch auf ihrer Schulter, wenngleich auch in anderem Winkel als zuvor. Mir schlug das Herz ein oder zwei Takte schneller, als sie mich wieder ansah. "Doch, das tu' ich... ich versteh's.", war das erste, was ich ihr leicht gemurmelt vermittelte. Ich hatte mir schließlich selbst schon das eine oder andere Mal den Schädel darüber zerbrochen, ob das mit uns beiden denn überhaupt irgendwie funktionieren konnte. Es hatte kompliziert angefangen und bisher waren wir noch nicht in einem Stadium angekommen, bei dem man von fließender Leichtigkeit sprechen konnte. "Wir sollten wohl einfach mal damit anfangen, zusammen darüber zu sprechen, statt uns nur jeder für sich Gedanken darüber zu machen." Wozu das führte, war nämlich leider sehr offensichtlich und ich wollte diese Unsicherheiten nicht ewig weiter zwischen uns stehen haben. Ich ließ meine Hand ein kleines Stück wandern, schob sie an ihrem Hals nach oben und legte den Daumen an ihren Kiefer. "Aber ich hoffe, dass du weißt, dass ich... alles in meiner Macht stehende tun werde, um das zu verhindern. Ich kann viele Kompromisse machen, wenn mir Jemand so viel bedeutete, wie du es tust... und ich würde dir nie wieder vorsätzlich weh tun." Nicht auf körperlicher Ebene und noch weniger was das empfindliche Herz betraf. Ich streichelte die Kontur ihres Kiefers entlang und meine Lippen formten sich zu einem in sich vielleicht etwas unsicher wirkenden Lächeln, aber das kam einfach nur daher, dass ich jetzt selbst durch den Wind war. Chad hatte unweigerlich etwas sehr Essentielles aufgewühlt. Konnte es sein, dass ich tatsächlich dabei war, mich in Riccarda zu verlieben? Ich wusste nicht, wie man das definierte und irgendwie waren Lovesongs mit ihren teils abstrus kreativen Beschreibungen für dieses Gefühl des Verliebtseins auch nicht so wirklich hilfreich. Die meisten sprachen davon, dass sie Amors Pfeil quasi vor allem Anderen wie ein Blitz getroffen hatte, was ich von uns beiden schonmal nicht behaupten konnte. Das einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich die zierliche Blondine nicht verlieren konnte und ich inzwischen sicher mehr Dinge aufzählen konnte, die ich an ihr mochte, als Dinge, die mir sauer aufstießen. Reichte das in Kombination mit der für mich unangenehmen Nervosität, die immer dann aufstieg, wenn wir mal kurz über sehr wichtige Dinge sprachen, um von Liebe zu sprechen? Wie zum Teufel sollte ich das denn ohne Maßstab herausfinden?!
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Mich quälte die Unsicherheit während jedem einzelnen Wort, das über meine Zunge wanderte und dennoch brauchte ich diesen Beginn einer Aussprache, um wenigstens die Lage zu sondieren, wie aufgeschlossen Isaac gegenüber diesem Gespräch war. Unangenehm klang zu harmlos, als dass es ausreichte, um den steinigen Weg vor uns zu beschreiben. Widerwille hockte wie ein trotziges Kind in meinem Magen, aber meine Vernunft siegte schlussendlich und wartete mit verletzlicher Ehrlichkeit auf. Nachdem meine Sorgen in dem Raum verklangen, herrschte für einen gefühlt Ewigkeiten dauerten Zeitraum Schweigen zwischen uns. Trotz der Stille überkam mich ein Anflug von Erleichterung, obwohl sich die Situation im Grunde keinen Deut geändert oder dadurch sogar verbessert hatte. Ich hockte nach wie vor in einem Wirbelsturm aus Bedenken. Zwar erinnerte ich mich nur vage an all die Verzweiflung unmittelbar in den Tagen rund um die Hochzeit, aber damals hatte ich höchstens bis zum nächsten Streit mit Isaac gedacht beziehungsweise wie ich ihm das Leben weiterhin wie einen Aufenthalt in der Hölle gestalten konnte. Mit diesem Verhalten identifizierte ich mich längst nicht mehr – mir schienen meine Sorgen von damals nur etwas unkomplizierter und pragmatischer. Aufgrund der Annäherung mit Isaac schien die Kaskade an Hindernissen erst richtig ins Rollen gekommen zu sein. Wärmend lag Isaacs Hand auf meiner Schulter und signalisierte Wärme und auch Beistand. Dankbar nahm ich diese stumme Hilfe an. Da ich mich bisher erfolgreich um weiteren Blickkontakt gedrückt hatte, schien nach seiner Zustimmung der passende Moment eingetreten zu sein, mein feiges Verhalten abzulegen und mich dem Ausdruck in seinen Augen zu stellen. Tatsächlich fand ich dort Verständnis. Obwohl ich nicht behauptete zu wissen, dass es dem Dunkelhaarigen schlichtweg egal war, wie es bestenfalls weiterlief, wunderte ich mich dennoch minimal über sein angedeutetes Kopfzerbrechen. Meiner Erfahrung nach lebte und agierte Isaac voller Überzeugung in der Gegenwart und plante seine Zukunft nicht groß. Naja, das wurde ihm ebenfalls nicht gänzlich gerecht, immerhin verdankten wir unseren friedvollen Umgang seiner Voraussicht; die Wogen glätteten sich primär durch seine anhaltenden Bemühungen, bis ich dazu bereit war, ihm eine weitere Chance einzuräumen. Rückblickend betrachtet hatten wir schon eine Menge gemeinsam überstanden und dennoch forderte das Leben weiterhin immer mehr ein. Die Anzeichen eines schmalen Lächelns bogen meine Mundwinkel zart nach oben. „Weil uns das Reden über ernste Themen auch so einfach von der Hand geht“, merkte ich sanft an, sprach damit aber auch den Knackpunkt seiner Idee an. Immerhin gab es einen Grund, weshalb wir uns noch nie an einen Tisch gesetzt und die Karten offen vor uns ausgebreitet hatten. Dennoch nahm ich seinen Vorschlag ernst, wollte Isaac nicht das Gefühl vermitteln, dass ich dieser Tatsache widersprach. Natürlich brächte es mehr Klarheit in unsere jeweilige Dunkelheit, nur fehlte uns der erste Schritt. „Ich weiß nur nicht, wo dieser Anfang überhaupt liegt“, murmelte ich leise. Chad hatte allein an diesem einen Tagen mindestens zwei grundlegende Themen angeschnitten, die jedoch im Kontext mit so vielen Randaspekten zusammenhing, dass man schlecht von einem sauberen Beginn und roten Faden durch das Knäuel aus ungelösten Problematiken sprechen konnte. Wie gesagt: mein Durcheinander grenzte an Perfektion. Mir fiel es leichter, mich kurz nur auf die Berührung an meinem Hals und Kieferknochen zu konzentrieren, aber die Zeit blieb dadurch nicht stehen und Isaac verdiente es nicht, so in der Luft zu hängen, während ich mich in Schweigen hüllte. „Ich weiß“, fiel meine erste Erwiderung eher lasch aus, aber wir betraten neues Terrain. „Ich vertraue dir auch. Du hast mir oft genug bewiesen, dass ich das kann.“ Isaac schien nicht explizit den damaligen Übergriff sowie die unzähligen Hasstiraden anzuspielen, sondern im Allgemeinen zu sprechen. Ich meinte es auch vollkommen ernst, dass der Dunkelhaarige mein Vertrauen genoss und ich mich nicht länger vor seiner Nähe fürchtete. Eigentlich ganz im Gegenteil: mich beruhigte seine zusätzliche Streicheleinheit am Rande meines Gesichts und bekräftigte mich darin, weiterzusprechen: „Ich möchte nicht, dass du ein einsamer Wolf aufgrund zu vieler Kompromisse für mich wirst.“ Während des Sprechens wurde mir ganz flau im Magen. Chad hatte mit dieser einen Aussage sehr gezielt eine Angst in mir wachgerüttelt, die ich bis dato eigentlich hervorragend verdrängen konnte. Befanden wir uns vielleicht gerade mittendrin in diesem Anfang, den zu finden ich vorhin erst als beinahe unmöglich deklariert hatte? „Ich dachte eigentlich, dass wir für konkrete Pläne noch genug Zeit hätten, zumindest bis zum Ende meines Studiums. Es hat mich ehrlich gesagt kalt erwischt, dass Chad so auf eine Entscheidung gedrängt hat, obwohl… eigentlich, weil noch so viel offen und ungeklärt ist. “ Natürlich durfte das Isaacs Bruder wenig tangieren, aber für mich bedeutete es nun mal die Richtung, in die mein Leben weiter verlaufen würde. Das interessierte mich schon maßgeblich. Zusätzlich, da es längst nicht mehr meine Entscheidung allein brauchte, sondern Isaac als ebenbürtiger Partner seine Meinung ebenso einbrachte und den Verlauf der Dinge lenkte. „Einfach nur zu sagen, dass wir gemeinsam mal schauen, wohin es geht, reicht anscheinend nicht mehr“, fasste ich meine Sorge bündig zusammen. Ich spürte den Druck des Zugzwangs auf mir, dabei fühlte es sich viel zu früh für eine überzeugende Entscheidung an.
Ich brauchte gar nicht erst zu versuchen, uns beiden schönzureden, dass wir nach wie vor gewisse Grenzen wahrten. Es schien wirklich so, als würden wir beide noch immer jeweils einen gewissen Teil unseres verletzlichen Inneren schützen wollen - wir hatten schon einige Mauern eingerissen, aber alle waren es eben noch nicht gewesen. Im Grunde war das, nüchtern betrachtet, aber eigentlich sogar sehr kontraproduktiv, wie mir gerade auffiel. Was brachte es uns denn, wenn wir jetzt weiter so taten, als würden nicht geschätzte tausend Dinge offen und ungeklärt zwischen uns stehen, wenn wir damit in ein paar Monaten oder noch später dann trotzdem auf die Schnauze fliegen würde? Es würde uns zu einem späteren Zeitpunkt sicherlich mehr verletzen und Unbehagen bereiten, als wenn wir damit anfingen, uns jetzt schon einmal Gedanken darüber zu machen. "Tja... dafür, dass wir sonst beide eine ziemlich große Klappe haben, stellen wir uns was das angeht echt erstaunlich schüchtern an.", versuchte ich die beiderseits verhaltenen Umstände durch einen unterschwelligen Witz etwas aufzulockern. Es schien uns wirklich beiden quer im Magen zu liegen, dass wir so gar nicht wussten, wie wir diese Thematik überhaupt erst einmal starten sollten, ohne dass es komplett holprig verlief und in unzähligen Nebenfragen ausartete, die zu einer großen und essentiellen Frage gehörten. Aber es half uns eben auch nicht, wenn wir auf irgendein Zeichen warteten, das uns in die richtige Richtung schubste. Das kostete uns Zeit, die wir uns vielleicht lieber nicht herausnehmen sollten. Denn wie der insgesamt unruhig wirkende Engel auf dem Stuhl es so schön sagte - es war offenbar tatsächlich so, dass wir diese Zeit ganz einfach nicht hatten, sondern die Frist abgelaufen war. Ich hatte mich zwar oberflächlich mit Riccarda darauf geeinigt, dass sie Harrys Erbe gerne antreten konnte und ich sie dabei auch unterstützen würde, aber das wies uns maximal eine sehr grobe Richtung für die Zukunft. Das klärte absolut nichts von all den anderen Dingen, die hier gerade stumm über unseren Köpfen in der Luft schwebten. Es ließ mein Lächeln noch einmal breiter werden, als die hübsche junge Frau beteuerte, mir genauso zu vertrauen, wie es umgekehrt auch der Fall war - doch auch besagtes Vertrauen konnte uns nicht vor dem möglichen Fall durch ungeklärte Fragen schützen. Unter Umständen konnte die ganze Beziehung allein schon damit stehen oder fallen, was der Wolf in mir sich wünschte. Ob ich gedachte, wirklich für den Rest meines Lebens alleine bei der Jagd durch Wälder zu streifen, oder ob ich mir doch ein Rudel aneignen würde. Ich atmete einmal etwas tiefer durch und mit einem leicht angestrengten Seufzen wieder aus. "Das muss ich nicht... es geht ja beides, theoretisch... auch wenn die Umsetzung nicht so einfach ist." Ich folgte meinen Gedanken mit Worten, weshalb die Antwort etwas zerhackt über meine Lippen kam. Es war eben nie eine schnelle Nummer, mal eben einem anderen Alpha das Rudel ausspannen zu wollen. Auch wenn ich meine Chancen diesbezüglich als relativ gut einschätzte, war die Übernahme ein sehr langer Prozess. Fremde Wölfe mochten sich zwar prompt unterordnen, um den Kopf nicht zu verlieren, aber das war nicht gleichzusetzen mit Vertrauen in die neue Führung. Zumal wir dann tatsächlich irgendwo hin müssten, wo entweder bereits ein mehrköpfiges Rudel existierte, oder mehrere Wölfe vereinzelt in einem verhältnismäßig kleinen Radius herum stromerten. Allein das vor einem Umzug herauszufinden, könnte mich Tage kosten, die wir bei der Entscheidung für oder gegen eine Immobilie womöglich gar nicht haben würde. Mir qualmte wirklich der Kopf und der plötzliche Zeitdruck, der von uns zumindest den groben Austausch bezüglich einiger Dinge einforderte, machte es noch schlimmer. Ich ließ meine Finger langsam von Riccardas Hals rutschen, nahm die Hand zu mir zurück. "Wie wärs, wenn du erstmal ins Bad gehst und wir uns danach... wenigstens mal über ein paar Dinge austauschen? Zumindest die, die uns am wichtigsten sind..? Es ist ja eigentlich noch nicht so spät, dass wir jetzt schon schlafen müssten.", ein eher zögerlich eingereichter Vorschlag meinerseits. Selbst wenn es schon später wäre, gab es einfach Gespräche, die man besser nicht aufschieben sollte und das hier war in meinen Augen eines davon. Ich hielt den Blick in Riccardas Gesicht nach diesen Worten jedoch nur kurz, bevor ich an mir runtersah. "Dann zieh' ich mir in der Zwischenzeit zumindest mal was an und wir unterhalten uns danach auf Augenhöhe. Fühlt sich nicht ganz richtig an, bei so einem Gespräch auf dich runter zu sehen." Ich deute nur flüchtig auf das Handtuch an meiner Hüfte, während ich sprach und suchte anschließend erneut den direkten Blickkontakt. Womöglich war es dem Engel egal, ob wir uns weiter auf die jetzige Art unterhielten, aber ich wollte dabei nicht dauerhaft von oben auf sie herabsehen. Das widersprach meinem Willen, das Ganze wirklich auf gleicher Ebene zu besprechen. Wölfe kommunizierten häufig nur über Körpersprache und auch, wenn das mit dem Engel nicht so war, ließ sich diese Gewohnheit nicht einfach ablegen. Es wäre mir also schlichtweg lieber, wenn uns beiden heute keinerlei Tätigkeiten mehr im Weg standen und wir uns in aller Ruhe entweder auf das Sofa oder aufs Bett verkrümeln konnten, damit ich nicht mehr erhobenen Hauptes mitten im Raum herumstand, während Riccarda auf einem Stuhl saß.
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Isaac formulierte unsere Hemmungen sehr präzise. Weder er noch ich nahmen uns oft ein Blatt vor den Mund, obwohl wir mittlerweile einen sehr viel empathischeren Umgangston einschlugen. Dabei scheiterte es nicht an der Wahrheit, sondern hauptsächlich an der Verschwiegenheit bei unangenehmen Unterhaltungen. Ich selbst klammerte mich an meine übriggebliebene Mauer, um den verstecktesten Kern sicher zu verwahren. Diesen Schutzmechanismus abzulegen, fiel mir nach den vielen Jahren der Aufrechterhaltung schwer und jede Faser meines Seins weigerte sich, diese letzte Hülle ebenfalls fallen zu lassen. Dabei appellierte meine Vernunft für dessen Richtigkeit, schließlich hatte ich vor wenigen Sekunden noch behauptet, Isaac zu vertrauen. Er sagte mir sogar vollkommen offen ins Gesicht, mich nicht verletzen zu wollen. Der Weg schien geebnet, aber meine Überwindung verhielt sich wie ein grummelndes Monster, das sein Revier um jeden Preis verteidigen wollte. Alte Muster ließen sich leider nicht von jetzt auf gleich ablegen. Ebenso wenig erwartete ich eine Lösung all der Probleme oder das Finden des richtigen Weges, nur weil wir uns einmal ein Herz fassten und über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen begannen. Die unerwartete Überraschung meines möglichen Erbes eines Unternehmens hatte auch nur ein sehr oberflächliches Einverständnis beider Seiten erhalten, weil die spontane Vorstellung der Selbstständigkeit und damit einhergehenden Freiheit durchaus verlockend wirkte. Damals waren keinerlei Details im Mittelpunkt gestanden, sondern lediglich die Akzeptanz gegenüber einer möglichen Option. Das Gesamtergebnis klang weniger wie ein standhafter Plan, den man mit Argumenten verteidigen konnte – eigentlich rüttelte bereits ein Werwolf mithilfe seiner selbstsüchtigen Absichten an den Fundamenten dieser Vorstellung und streute Zweifel. Immerhin nahm Isaac mir, wenngleich es nur stockend und damit wenig überzeugend klang, einen Teil meiner Sorge, weil es anscheinend auf keine Engel-oder-Rudel-Entscheidung hinauslief, sondern diese beiden Faktoren vereinbar wären. Den Schwierigkeitsgrad dieses Unterfangens bestritt ich keinesfalls. Wann hätten wir es schon sonderlich einfach gehabt? Ich sparte mir die zynische Bemerkung, sondern nickte nur verhalten. Theoretisch suggerierte eine Handvoll Bedenken. Aber wir brauchten beide wohl eine kleine Verschnaufpause. Da ich ohnehin noch einen Abstecher ins Bad geplant hatte, kam mir dieser Aufschub gerade recht. „Gute Idee“, stimmte ich Isaac zu, der tatsächlich noch immer halbnackt mit Handtuch um die Hüfte mitten im Raum stand. Wir sollten uns zumindest die Umstände so angenehm wie möglich gestalten, ehe es ans Eingemachte ging und dazu zählte Kleidung am Körper und meine abendliche Routine. Ich lächelte noch flüchtig, bevor ich nickend zustimmte – mir wäre der Höhenunterschied ebenfalls im weiteren Verlauf des Gesprächs falsch vorgekommen, aber ich freute mich dennoch über den gezollten Respekt; dass Isaac selbst auf diesen Faktor zu sprechen kam. Meine angehobenen Mundwinkel überdauerten den Weg bis ins Badezimmer, jedoch schloss sich die Tür hinter mir und die letzte Anspannung glitt aus meinen Muskeln, sodass ich gegen das Holz sackte und fünf Sekunden einfach angelehnt dastand, ehe ich mich der gewohnten Reihenfolge zum Ende des Tages widmete. Die alltäglichen Handlungen halfen mir, meine Gedanken fließen zu lassen und die essenziellen Punkte aus dem Wirrwarr herauszufiltern – ich pflichtete Isaac bei, dass wir uns zumindest über die wichtigsten Eckpunkte unterhalten mussten. 1. Wo sah er sich in der Zukunft und hegte er irgendwelche Wünsche im Sinne einer bestimmten Karriere? Gab es abgesehen von der Eliminierung seines Vaters weitere Punkte auf einer Liste von Dingen, die er erreichen wollte? 2. Was wünschte ich mir von meiner Zukunft? 3. Was waren wir bereit jeweils dafür zu tun beziehungsweise aufzugeben? Existierten Alternativen, falls ein Plan nicht umsetzbar war? Wahrscheinlich ließe sich die Aufzählung sehr viel expliziter ausweiten, aber ich brauchte bereits die volle Zeit im Bad, um das Chaos auf diese elementaren Fragen runterzubrechen, weshalb ich diesen kleinen Erfolg nicht weiter hinterfragte, sondern gewappnet zurück ins Schlafzimmer kehrte, wo ich Isaac auf dem Bett sitzend vorfand. Seufzend ließ ich mich neben ihn auf die federnde Matratze fallen und zog die Beine an. „Ich hab keine Ahnung, wie man solche Gespräche anfängt, aber um das Gerede um den heißen Brei zu vermeiden, sollten wir vielleicht damit beginnen, wie wir unsere jeweilige Zukunft gestalten wollten, bevor das Ganze überhaupt zu einem Uns wurde. Ich weiß eigentlich nichts von den Vorstellungen deines weiteren Lebens, bevor ich hineingeplatzt bin und wie relevant diese Ideen inzwischen noch sind“, startete ich mit leicht mulmigen Gefühl. Ich wollte um keinen Preis streiten, wusste aber nicht, worauf ich mich bei diesem Gespräch einließ. Aber der erste Schritt musste gemacht werden und anschließend konnten wir uns in angemessener Geschwindigkeit weiterhangeln: mit welchen Änderungen wären ursprüngliche Wünsche weiterhin zu verwirklichen oder gab es überhaupt keine konkreten Vorstellungen, sondern bildeten diese sich erst in den letzten Monaten? Wir mussten wirklich einiges aufarbeiten.
Auch wenn Riccarda den Raum im Grunde mit einem Lächeln verließ, entspannte das die Situation nicht wirklich. Alles daran war anstrengend und das spiegelte sich in diesem Moment auf beiden Seiten wider, obwohl wir es beide semi-gut zu vertuschen versuchten. Kaum war der zierliche Engel nach seinem Einverständnis aus dem Raum verschwunden, atmete ich ein weiteres Mal sehr tief durch und raufte mir mit ordentlich Nachdruck die Haare. Was wollte ich unbedingt als die wirklich wichtigen Dinge vorbringen und was war mir weniger wichtig? Was könnte Riccarda womöglich deutlich wichtiger sein als mir? Wir waren grundlegend ein bisschen verschieden, auch wenn wir uns ebenso ein paar Gemeinsamkeiten teilten. Mit einem kaum sichtbaren Kopfschütteln machte ich mich erst einmal auf zum begehbaren Kleiderschrank, um Boxershorts aus einem Schubkasten zu angeln. Ich warf einen Blick in den Spiegel und stellte fest, dass es wegen des Bisses wahrscheinlich nicht sinnvoll war, ein Tshirt anzuziehen. Andererseits wäre es aber auch unschön, wenn die Wunde in der Nacht noch einmal aufriss und das Laken mit Blut besudelte. Es war beides wirklich unvorteilhaft, aber ich entschied mich letztlich trotzdem gegen das Shirt, weil ich so wenigstens den Hauch einer Chance hatte, die Wunde lange genug fusselfrei zu halten, bis sie oberflächlich verschlossen war. Es gab also abseits der Boxershorts nur noch eine meiner kurzen Pyjamahosen on top, weil ich mir ums Frieren grundlegend keine Sorgen machen musste. Erst recht nicht, wenn ich mir das Bett mit Jemandem teilte. Auf dem Weg ins Schlafzimmer machte ich noch einen Umweg über den Minikühlschrank - der war bei so einem weitläufigen Gebäude tatsächlich ziemlich unverzichtbar, wenn man nicht jedes Mal nach dem Hauspersonal rufen wollte - und nahm mir eine der kleinen Wasserflaschen heraus. Durst und Hunger waren zwei stetige Begleiter beim Beginn eines aufwendigeren Heilungsprozesses, aber das mulmige Gefühl in der Bauchgegend verschlug mir nach wie vor den Appetit. Es blieb also bei ein paar Schlucken Wasser und ich nahm die Flasche mit zum Bett, um sie auf dem Nachtkästchen zu deponieren. Danach saß ich noch einen Moment auf der Bettkante, bis ich mich schließlich ans Kopfende schob und eine halbwegs bequeme, mehr oder weniger aufrechte Sitzposition zu finden versuchte, bei der weder der Biss an der Schulter, noch die Kratzspur am unteren Rücken zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ein schwieriges Unterfangen, mit dem angeknabberten Bein verhielt es sich deutlich einfacher. Während ich die Decke über das andere Bein zog, blieb das verwundete vorübergehend frei davon und ich winkelte es an, um es der Matratze fernzuhalten. Ich musste nicht allzu lange auf Riccarda warten und war bis dahin noch kaum zu einem Ergebnis meiner wirren Gedankengänge gekommen. Es fiel mir schwer, meine Bedürfnisse in Stufen verschiedener Bedeutung einzuordnen, weil das normalerweise eben keine so große Rolle spielte. Meine Augen lagen auf der schlanken jungen Frau, während sie zu mir aufschloss und sich ihren Platz neben mir auf dem Bett sicherte. Ich war ihr im ersten Moment ganz dankbar dafür, dass sie die grundsätzlich schwer werdende Konversation begann und diese Aufgabe nicht an mich abschob, weil ich mich kaum besser als sie angestellt hätte. Trotzdem war die eigentlich simple Frage etwas unangenehm für mich, weil ich mit meiner Persönlichkeit vor unserer erzwungenen Ehe inzwischen nichts mehr anfangen konnte. Das war in meinen Augen jetzt eher eine Zeitspanne meines Lebens, für die ich mich in Grund und Boden schämen sollte. Zumindest für Teile davon. Mein Blick glitt also etwas peinlich berührt ans Fußende. "Ich brauch' glaube ich kein großes Geheimnis daraus zu machen, dass ich mir früher herzlich wenige Gedanken darüber gemacht habe, was ich mit meinem Leben anfangen will. Mein damaliges Verhalten spricht für sich... wärst du nicht gekommen, hätte ich das wahrscheinlich wirklich noch stur ein paar Jahre so durchgezogen, nur um meiner Familie auf die Nerven zu gehen.", setzte ich zu einer Antwort an und zuckte anschließend leicht mit den Schultern. Es war schlichtweg so, dass ich mich auf dem Erbe der Familie aufgeruht und ordentlich Party gemacht hatte. Hier eine Frau, da ein paar Drinks, da noch etwas Streit mit einem Engel... die vermeintlich beste Zeit meines Lebens. Inzwischen konnte ich darüber wirklich nur noch den Kopf schütteln. Ich hatte mich genau wie der verantwortungslose Vollidiot aufgeführt, der ich gewesen war. Viel mehr konnte man dazu echt nicht sagen und schön zu reden gab es da leider auch nichts. "Diesen Part können wir bei mir also getrost streichen, weil mir - offensichtlich - klar geworden ist, dass man so nicht glücklich wird." Andernfalls würde ich kaum versuchen, mir eine deutlich sinnvollere und bedeutungsvollere Zukunft mit dem Engel zu schaffen. "Aber bevor ich damit anfange, was ich mir jetzt stattdessen wünschen würde... solltest du mir vielleicht erstmal klarmachen, welche Träume ich dir damals gekonnt zerstört habe.", plädierte ich leicht murmelnd darauf, erst einmal dieselbe Frage von Riccarda beantwortet zu bekommen. So wie ich das sah, hatte ich ihr nämlich deutlich mehr kaputt gemacht, als sie mir. Ehe ich also damit anfing hier aufzulisten, was mir in unserer potenziellen gemeinsamen Zukunft gut in den Kram passen würde, sollte sie mir erst einmal klarmachen, was ich ihr ruiniert hatte. Zugegeben - alleine der Gedanke daran, dass sie vorher in Jagos Armen gehangen hatte und mit ihm hatte glücklich werden wollen, sorgte für ein unschön drückendes Eifersuchtsgefühl im Magen. Ich wollte mir das wirklich nicht gerne anhören, aber es war wichtig, dass ich das volle Ausmaß dieser Zwangsehe auf ihrer Seite einschätzen konnte. Dann wusste ich nämlich, welche Wünsche ich besser ganz von der Liste streichen oder vielleicht etwas abändern sollte, damit wir auf einen grünen Zweig kamen. Gehörte Eifersucht eigentlich auch per se zu diesem Liebesdings oder war das eine ganz eigene Sache?
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Sah man mir mein Unbehagen an? Ich bemühte mich um eine gefasste Miene und ruhige Stimmlage, doch die Nervosität tanzte ausgelassen über meine Nervenstränge und bereitete mir zunehmend Schwierigkeiten, nachdem der Startschuss für das bevorstehende Gespräch gefallen war. Es ließ sich schwer einschätzen, welche Abgründe sich nun zwischen uns öffnen würden oder ob wir problemlos an der Situation reifen konnten, ohne weitere Auseinandersetzungen vom Zaun zu brechen. Ehrlicherweise hatte ich direkt die erste Frage gestellt, um ein bisschen mehr Zeit für meine eigenen Antworten herauszukitzeln. Zwar würde ich meine Gedanken nicht an den Informationsgehalt von Isaacs Erklärungen anpassen, aber es beruhigte mich, zuerst seine Version der engelsfreien Zukunft seiner Vorstellungen zu hören. Aufmerksam lauschte ich der teils zögerlichen Erzählung, hielt mich aber brav an die Rolle der stillschweigenden Zuhörerin. Trotzdem flimmerte Mitgefühl als willkürlicher Impuls in meinen Augen auf, während Isaac von seiner perspektivlosen Zerstreutheit berichtete – ich kannte lediglich die Ausschweifungen, die es auch in die Medien geschafft hatten, aber da ich das frühere Naturell des Dunkelhaarigen auf die eher unerfreuliche Art und Weise kennen lernte, überraschte mich seine lockere Haltung gegenüber einer Karriere oder dem ganzen Konstrukt der Zukunftsplanung nicht. Womöglich spielte uns diese geringen Aussichten inzwischen sogar in die Karten, denn mein Leben spiegelte damals pure Struktur und Organisation wider. Es existierten klare Vorstellungen über den weiteren Verlauf in den nächsten Jahren, die mit der Entscheidung unserer Väter allesamt von der Klippe gestoßen worden waren. Da es mir falsch vorkäme, Isaac nun irgendwelche beschwichtigenden oder bestätigenden Worte um die Nase zu binden, nickte ich langsam als Zeichen meines Verständnisses. Seinem Gesichtsausdruck nach, schien ihm dieser Teil der Unterhaltung unter die Haut zu gehen oder zumindest ausreichend unangenehm zu sein, um schnellstmöglich davon abzulenken. Ungern, aber ich tat ihm den Gefallen, da wir auf besagte Wünsche – in seinem Fall anscheinend neu entdeckt – sicherlich noch zu sprechen kämen; wenn nicht an diesem Abend, dann sicherlich in den nächsten Tagen. Die Zeit des Aufschiebens neigte sich endgültig dem Ende zu und wir beide benötigten die Sicherheit, wie es bestenfalls weiterging und ob ein Notfallplan bestehen würde. Ich rutschte ebenfalls so weit im Bett hinauf, um mich mit dem Kissen im Rücken bequem gegen das Kopfteil lehnen zu können und streckte die Beine unter die fluffige Decke. „Du hast mir keine Träume zerstört, das klingt so, als hättest du mich absichtlich geheiratet, nur um mir eins auszuwischen“, widersprach ich ihm sanft und stellte damit hoffentlich klar, dass Isaac längst nicht mehr den Bösewicht meines Märchens darstellte. Dennoch fiel es mir nicht leicht, ehrlich über verblasste Ziele zu reden, sodass ich mir erst einen Ruck geben musste – Isaac war ebenfalls über seinen Schatten gesprungen. „Da es für mich nie in Frage kam, die Erbschaft meiner Brüder anzufechten und mir das elterliche Unternehmen zu krallen, hätte ich eigentlich sämtliche Freiheiten haben sollen, aber naja… der väterliche Wille trieb mich dann ebenfalls in die Wirtschaft in Form eines Studiums. Im zweiten Semester gefiel es mir sogar wirklich gut, weshalb ich mich für freiwillige Lehrveranstaltungen zusätzlich eingeschrieben habe. Daraufhin habe ich in einem dieser Extrakurse Jago kennengelernt…“ Meine Kunstpause galt weniger meiner eigenen Nervosität als überwiegend der vorsichtigen Musterung meines Gesprächspartners. Obwohl ich die Sache mit meinem Ex-Freund so kurz wie möglich hielt, gehörte er dennoch für die Vollständigkeit zu der Gesamtgeschichte dazu. Als mir Isaacs Miene verdeutlichten, dass ich ohne Befürchtungen fortfahren konnten, nahm ich den Faden wieder auf: „Wir kamen im dritten Semester zusammen, meine Eltern waren begeistert und die rosa-rote Brille klebte mir förmlich auf der Nase. Zumindest bis ich für ein oder zwei Semester an eine Partneruniversität gehen wollte, also bestenfalls im Ausland studieren wollte. Das war wohl irgendwie der Anfang vom Ende, denn wir stritten uns schlussendlich bei jeder Gelegenheit darüber. Mein Kompromiss bezog sich darauf, dass wir beide unsere Ausbildungen beenden und danach gemeinsam für eine Weile weggingen, aber die Idee gefiel ihm auch nicht.“ Schnaubend verschränkte ich die Arme vor der Brust. Allein bei der Erinnerung geriet ich wieder in Rage über so viel verständnisloser Sturheit. Um es zusammenzufassen: „Durch die Idee mit der Hochzeit wurde also eine Beziehung, die wahrscheinlich ohnehin von meiner Seite zum Scheitern verurteilt war, frühzeitig beendet und aus dem geplanten Auslandsaufenthalt wurde nichts. Wie gesagt… wirklich zerstört hast du keine Träume meinerseits.“ Ich überflog meine Erzählung gedanklich ein zweites Mal, um auf eventuelle Lücken zu stoßen, aber die wichtigsten Aspekte waren vorgekommen.
Von Absicht konnte wirklich nicht die Rede sein, was unsere Ehe betraf. Natürlich hatte ich gewisse Konsequenzen durch die fiesen Aktionen gegenüber Riccarda provoziert, aber mir wäre nicht im Traum eingefallen, sie damit zu ärgern, ihr einen Ring an den Finger zu stecken. Das hatten wir getrost unseren Vätern überlassen können, die unser Einverständnis bekanntlich nicht brauchten. Dennoch hatte ich geglaubt, dass der blonde Engel mich weiterhin ein Stück weit dafür verteufelte, ihr damals einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht zu haben. Ein Blick in ihr Gesicht verriet mir jedoch, dass sie ihre Worte vollkommen ernst meinte und ich mich für wahrscheinlich nicht mal halb so viele Dinge schlecht fühlen sollte, wie ich angenommen hatte. Ich folgte ihrer Antwort aufmerksam, wobei meine Augen nachdenklich auf mein verdecktes Bein abrutschten. Unterbewusst verschob ich dabei auch die Decke ein wenig mehr in Riccardas Richtung, als hätte sie noch nicht genug davon, obwohl sie sich für gewöhnlich ziemlich ungeniert ihren Anteil der Decke sicherte. Scheinbar hatte ich nicht einmal ihre Beziehung mit Jago zerstört, weil die schon vorher kaputt gewesen war. Ich wollte der jungen Frau keine Lüge oder Halbwahrheit unterstellen, aber irgendwie hatte es doch einen ganz anderen Eindruck gemacht, als sie das erste Mal in meinem Beisein wieder auf ihren Ex gestoßen war. Womöglich erinnerte ich mich noch etwas zu gut daran, dass sie mir dabei dezent in den Rücken gefallen war - ob sie das noch immer genauso tun würde? Sie schien ihre damaligen Streits in der Beziehung mit Jago noch bestens in Erinnerung zu haben und das konnte für mich nur gut sein. War ich schadenfroh, dass Riccarda sich über diese inzwischen relativ weit zurückliegende Sache noch immer so ärgerte? Ein bisschen vielleicht. Ich versuchte mir das aber nicht ansehen zu lassen, weil es wahrscheinlich ziemlich unangebracht war und ich mir dieses doch sehr ernste Gespräch nicht von vornherein mit schlechter Stimmung ruinieren wollte. Ich sah mich inzwischen auf jeden Fall als eindeutig kompromissbereiter, als Jago es damals gewesen war. Auch wenn das in meinem Fall hieße, dem Engel einfach - wo auch immer sie hinflog - zu folgen, weil ich wahnsinnig werden würde bei dem Gedanken, lange Zeit auf sie warten zu müssen. Selbst wenn ich keine grundlegend zur Eifersucht neigende Persönlichkeit hätte, würde der Wolf da sehr sicher auch noch mitreden. "Dann hab ich dir eindeutig weniger ruiniert, als ich dachte.", stellte ich das inzwischen Offensichtliche noch einmal wörtlich fest, bevor ich kurz den Blick in Riccardas Gesicht suchte. Ich war vielleicht ein bisschen davon ausgegangen, sie wäre mit der ganzen Lebensplanung schon deutlich weiter gewesen - manchmal vergaß ich gerne, dass sie ein paar Jahre jünger war, obwohl sie in ihrem Leben schon mehr geschafft hatte als ich. Letzteres war ganz nüchtern betrachtet allerdings auch nicht gerade schwer, zum Feiern und Geld aus dem Fenster werfen brauchte es schließlich nicht viel. Inzwischen sah ich die Zukunft ganz anders und es galt langsam aber sicher mal zu eruieren, wie Riccarda sich all das vorgestellt hatte - alles rund um das Erbe eines anderen Verwandtschaftszweigs ihrer Familie. "Wie... hattest du dir das vorgestellt? Die ganze Sache mit dem Auswandern rund um Harrys Angebot, meine ich.", setzte ich leicht murmelnd zum nächsten, weitaus relevanteren Thema an. Ich atmete einmal etwas tiefer durch, bevor ich weiter ausholte, während mein Blick weiterhin auf der jungen Frau neben mir lag. "Ich meine... ich glaube wir haben beide gemerkt, dass ich langfristig eher nicht in den Tropen wohnen kann. Übergangsweise könnte ich mich natürlich damit arrangieren, aber..." Ich zuckte leicht mit den Schultern und sah auf die Bettdecke. Wir wussten es beide - goldener Sandstrand und Palmen waren in Kombination mit kaum vorhandenen Beutetieren kein wirklich guter Ort für einen Werwolf, der zukünftig nur noch bei dringendem Bedarf auf menschliche Beute zurückgreifen wollte. Die Inseln waren außerdem nicht geeignet, um irgendwann wieder ein ansatzweise normales Verhältnis zu meinen Artgenossen pflegen zu können. Würden zwei Wölfe auf einem so kleinen Radius mit so wenig Beute aufeinandertreffen, würde das wahrscheinlich für mindestens einen ungesund ausgehen. Riccarda und ich hatten im Urlaub natürlich nicht tagtäglichen 24 Stunden aneinander geklebt - es war durchaus möglich, dass sie sich mit Harry noch einmal über die ganze Sache unterhalten hatte, ohne dass ich es mitbekommen hatte. Vielleicht hatte er noch andere Geschäftszweige in für mich angenehmeren Regionen oder war einer Expansion abseits tropischer Strände nicht abgeneigt. Letzteres könnten wir auch selbst umsetzen, wenn er Riccarda das Erbe erst einmal überschrieben hatte. Vielleicht gab es da ja eine taugliche Möglichkeit, die uns nicht dazu zwingen würde, von diesem Erbe absehen zu müssen. "Ich würde das Ganze jedenfalls nur sehr ungerne ausschlagen... machen wir uns da mal nichts vor: Wenn ich mich nicht mit Luxusgütern auskenne, wer dann?" Ich verpackte den Satz in einem Anflug von Sarkasmus, aber da war was Wahres dran. Es wurde mal ein Whiskey für über eine Million Dollar versteigert? Ich konnte dir sagen, welcher das war. Du suchst nach einer Armbanduhr, begrenzte Stückzahl oder sogar ein Unikat? Ich konnte dir Adressen und Telefonnummern geben. Du willst die teuerste Satinbettwäsche auf dem Globus haben? Ich wusste, wo man die fand. Goldene Folierung und einzigartiges Bodykit für deinen Sportwagen? Absolut machbar. In meinem ganzen Leben hatte ich mich wohl mit Abstand am meisten mit den Dingen beschäftigt, die man grundsätzlich nicht zum Überleben brauchte. Der Luxus, den ich hätte aufgeben müssen, war das einzige, das mich schon seit Jahren noch in der Familie gehalten hatte. Was Harrys Firma betraf ging es zwar überwiegend um die Logistik, wenn ich mich recht entsann, aber das konnte man durchaus noch in andere Richtungen erweitern. Man müsste vielleicht mal in Erfahrung bringen, was genau sein aktuelles Angebot alles umfasste.
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Meine Vergangenheit mit Jago lag leider einer sehr viel komplexeren Struktur zu Grunde, als sich hier und jetzt in wenigen Sätzen erklären ließ. Isaac musste sich nicht den gesamten Verlauf einer prinzipiell glücklichen Beziehung anhören, die schlussendlich ohnehin aufgrund unterschiedlicher Interessen zu Bruch gegangen wäre und durch die spontane Hochzeit ein verfrühtes Ende erfuhr. Mehr gab es im relevanten Kontext nicht zu berichten, wobei Jago sicherlich noch einige Einwände vorzubringen hätte – ihn hatte diese Überraschung ebenfalls schwer getroffen und für ihn stünde Isaac sicherlich an oberster Stelle auf der Liste der Sündenböcke. Eine Thematik, die mich sicherlich zu einem ungünstigen Zeitpunkt einholen würde, aber momentan keinen Platz in diesem Gespräch fand. Ich debattierte hier nicht über verflossene Beziehungen, sondern um eine gemeinsame Zukunft mit meinem Partner. Das Wort Ehemann fühlte sich nach wie vor zu falsch an, um als Synonym für Isaac herzuhalten. Auch darum ging es aber nicht! Meine Gedanken erwogen jede sich anbahnende Fluchtmöglichkeit aus dieser Unterhaltung, die ihren eigentlichen Höhepunkt erst erreichte. Isaac verlor zumindest keine weitere Zeit und stellte die essenzielle Frage. Seufzend rutschte ich ein bisschen tiefer in die weiche Polsterung und knete eine Deckenfalte vehement mit meinen Fingern, um eine nebensächliche Beschäftigung zu haben. „Ich fürchte, dass ich die Vorstellungen des Auswanderns nach wie vor zu romantisch sehe und es noch ausreichend Bedarf an Klärung allein mit Harry braucht, bis wir tatsächlich auf einem gemeinsamen Nenner angekommen sind. Für mich steht eigentlich nur fest, dass ich flexibel bei der Ortswahl bin, immerhin lauert in mir kein mürrischer Wolf mit Jagdtrieb. Ich möchte, dass es dir gefällt und du dich wohl fühlst… das ist das Mindeste, das ich tun kann, wenn man dein Opfer betrachtet“, nuschelte ich mit merklich abnehmender Lautstärke. Isaac würde sein soziales Gefüge endgültig verlassen – auf die Gefahr hin, als einsamer Wolf zu enden beziehungsweise sich seinen neuen Platz erst hart erkämpfen zu müssen. Beides keine rosigen Aussichten, weshalb die Auswahl unseres Reiseziels wie eine lächerliche Entschädigung wirkte. Zudem müsste Harry ebenfalls noch sein Einverständnis abgeben, jedoch wollte ich ihm erst einen Vorschlag diesbezüglich unterbreiten, wenn wir handfeste Fakten zusammengetragen hatten und präsentieren konnten. „Vielleicht täusche ich mich ja auch, aber ich denke nicht, dass Harry es übers Herz bringen wird, jemals in den Ruhestand zu gehen. Seit ich ihn kenne, schuftet er für dieses Unternehmen und wird der Arbeit nicht müde. Ich möchte nicht fix davon ausgehen, aber vielleicht wäre er sogar für einen weiteren Standort seiner Firma, beispielsweise im Norden, zu begeistern. Er ist ein ehrgeiziger Geschäftsmann, weshalb wir mit den richtigen Argumenten zumindest sein Interesse wecken können.“ Zudem befürchtete ich in einem finsteren Winkel meiner Vernunft, dass es zu ausreichend Streitigkeiten zwischen sämtlichen Parteien käme, wenn plötzlich die Entscheidungsgewalt bei zusätzlichen Personen läge. „Ich hoffe, dass ich nicht wie die undankbarste Person überhaupt klinge, aber ich denke nicht, dass ich schlussendlich bei jedem Schritt meinen Onkel im Nacken spüren will, weil er womöglich eine andere Wahl bevorzugt getroffen hätte. Ein Familienbetrieb ist schön und gut, aber Abstand schadet ebenso wenig.“ Ich verzog zerknirscht die Lippen und rieb mir über die abgeschminkten Augen. Wie transportierte man diese Message möglichst schonend und friedfertig? Isaacs ausgesprochene, positive Meinung über die Idee prinzipiell nahm mir durchaus eine gewisse Last von den Schultern und entlockte mir dank seiner weiteren Aussage sogar ein leises Lachen. „Ich wüsste keinen Geeigneteren“, stimmte ich ihm zu, da unser beider Lebensstil eigentlich förmlich danach schrie, sich mit derartigen Freuden des Lebens auszukennen. „Harry beschäftigt sich zwar primär mit dem Transport und der Lagerung besagter Ware, aber vielleicht finden wir eine Nische für den Verkaufssektor.“ Ebenfalls ein Vorschlag, den wir ihm in ausgearbeiteter Form und bestenfalls mit überzeugender Präsentation vortragen sollten. Mit dem Anflug eines Grinsen auf den Lippen, drehte ich mich seitlich, grub einen Arm unter das Kopfkissen und gewann dadurch wieder ein paar Zentimeter an Höhe: „Außerdem bist du dem Alkohol ohnehin nicht abgeneigt. Harry handelt mit sämtlichen Sorten und Marken, begleitet von Delikatessen und hochwertigen Zutaten. Ich kenne die gesamte Spannweite seiner Einkaufsliste nicht, aber in der gehobenen Kulinarik dürfte kaum etwas existieren, das er nicht in irgendeinem Lager schon einmal aufbewahrt hätte.“
Sich noch ein paar Mal mit Harry bezüglich der endgültigen Konditionen und Umstände zu unterhalten, war selbstverständlich unausweichlich. Alles, was er bisher in meiner Anwesenheit gesagt hatte, war, dass er Riccarda nach ihrem Abschluss die ganze Firma überschreiben wollte. Ob das so kommen würde oder nicht mal noch dahingestellt, denn die zierliche Blondine äußerte diesbezüglich im Verlauf des Gesprächs noch Bedenken. Sie kannte ihren menschlichen Onkel wesentlich besser als ich - gut möglich also, dass sie Recht behielt und er sich schwer damit tun würde, seine Finger ganz aus dem Spiel zu lassen. Aber erst einmal ging es um etwas anderes. Es ließ mich lächeln, dass Riccarda so bedacht darauf war, dass auch dem Wolf in mir in unserer gemeinsamen Zukunft keine untragbare Zumutung auferlegt wurden. Sie schien ihn gänzlich akzeptiert zu haben, obwohl er ihr früher so oft zum Verhängnis geworden war und das war wirklich eine Erleichterung für mich. Außerdem sah sie schon wieder irgendwie ein bisschen süß aus, wie sie das so vor sich hin nuschelte, als könnte ich sie nicht trotzdem bestens verstehen. "Sich nochmal mit ihm darüber zu unterhalten ist wohl unausweichlich, ja...", willigte ich erstmal überflüssig in diesen Part ein. Gleich im Anschluss hob ich aber lächelnd Riccardas Kinn an und drehte ihren Kopf auf diese Weise sanft in meine Richtung, damit sie mich ansah. "Aber egal wo wir hin gehen, kanns für mich eigentlich kaum schlimmer werden als hier - tropische Inseln ausgenommen. Hier hab ich ja auch schon nur einen begrenzten Radius zur Verfügung, seit ich aus dem Rudel ausgetreten bin... und wir Wölfe sind weiter verbreitet, als Engeln lieb ist. Also den meisten Engeln." Zum Ende hin grinste ich ein bisschen und strich einmal mit dem Daumen über ihr Kinn. "Da werden wir schon was Passendes finden." Danach ließ ich die Hand sinken und lehnte den Kopf etwas schräg an das hohe Kopfende, um den Nacken zu entspannen und den zierlichen Engel trotzdem weiterhin ansehen zu können. Wenn wir irgendwann einen für uns vermeintlich passenden Ort gefunden hatten, an dem wir uns beide wohlfühlen würden, musste ich eben einfach ein paar Runden drehen und nachsehen, wie es um Werwölfe in unmittelbarer Nähe bestellt war. Ein großes Rudel konnte durchaus 100.000km² für sich beanspruchen und eine solche Fläche nach möglicherweise schon Tage alten Spuren zu durchsuchen, würde mich sehr viele Schritte und unzählige Stunden kosten. Unmöglich wars aber nicht. Wenn Wölfe da waren, dann fand ich die auch - wenn nicht, dann nicht. Ich lauschte auch ihren folgenden Worten bezüglich Harry mit voller Aufmerksamkeit, schüttelte am Ende aber leicht den Kopf. "Das hat in meinen Augen nichts mit Undankbarkeit zu tun... wenn er solche Aussagen trifft, wie dir das ganze Unternehmen vererben zu wollen, dann sollte er am Ende auch dazu stehen und nicht weiter seine Finger drin behalten." Ich zuckte leicht mit den Schultern, weil die Bisswunde für einen Moment lang in Vergessenheit geraten war. Ich bereute es allerdings sofort, verzog das Gesicht und warf nochmal einen flüchtigen Blick auf die Spur der Zähne in meiner Schulter. Für mich war das jedenfalls eine Frage von Ehrlichkeit. Wenn auf den Papier tatsächlich alles an den blonden Engel neben mir ging, dann hatte ihr Onkel daraufhin schlichtweg kein Mitspracherecht mehr. "Außerdem gehe zumindest ich nicht hier weg, um danach dann stattdessen irgendwo anders in Ketten zu liegen.", hängte ich noch ein paar gemurmelte Worte an. Natürlich hatte ich in Hinblick auf ein so umfangreiches Geschäft noch viel zu lernen und zu Beginn wäre ich sicher dankbar dafür, wenn Harry uns noch den einen oder anderen guten Tipp aus Erfahrung mit auf den Weg gab. Irgendwann musste damit aber Schluss sein, sonst könnte er sein Geschäft schließlich genauso gut selbst weiterleiten. "Ich vermute mal, meine Gedankenmanipulation in diesem Kontext anzubieten, ist ziemlich unmoralisch?" Ich formulierte es als ironische und nur indirekte Frage, aber theoretisch könnte ich darauf problemlos zurückgreifen. Im Ernstfall, wenn sich mit bloßen Worten nichts ausrichten ließ. Bei Menschen funktionierte diese Technik ausnahmslos, nur Engel waren teilweise immun dagegen. "Der Norden klingt auf jeden Fall gut... ein paar Berge, im Winter ordentlich Schnee zum drin versinken, eine ganze Menge Wild... ein Paradies für Wölfe mit dickem Fell.", grinste ich angetan. Hier gab es im Winter schon auch immer Schnee, aber niemals so viel, dass er mir bis zum Bauch ragte. Das war in nördlicheren Regionen anders und vor allem gab es da meistens auch deutlich mehr unbewohnte Fläche, als in der milderen Region hier. Das erleichterte dem Wolf in mir Vieles. Ich mochte belebte Städte gerne - allseits bekannt war ich schließlich ein Partygänger - aber oft hingen mir die Menschen auch zum Hals raus. Eine gesunde Mischung wäre diesbezüglich schön. Andererseits wäre Riccarda zu Anfang in einer Metropole deutlich sicherer in meiner Abwesenheit, als irgendwo weiter draußen am Stadtrand oder gar völlig auf dem Land. "Wo würdest du dich am wohlsten fühlen? Stadtrand, Stadtmitte oder doch lieber weiter draußen?", fragte ich nach und musterte dabei fast ein bisschen verträumt ihre Gesichtszüge, während ich die Antwort abwartete. Es schien mir völlig unerwartet viel leichter zu fallen, nun tatsächlich darüber zu reden, als ich im Voraus angenommen hatte. Zumindest jetzt, wo schon die ersten paar Worte gewechselt worden waren. Vielleicht lag das einfach daran, dass ich der Zukunft ziemlich ausnahmslos positiv entgegenblickte. Alles, was nach dem Leben in dieser Stadt hier kam, konnte nur besser werden. Außerdem war es einfach schön, wenn ich Riccarda zum Lachen brachte. "Kann ich mich da einmal quer durchprobieren, ohne zu bezahlen? Danach wäre vielleicht sogar ich restlos betrunken.", fachsimpelte ich amüsiert über meine hohe Toleranz gegenüber der Nervengifts. Es baute sich einfach wahnsinnig schnell wieder in meinem Körper ab, ich musste schon sehr kontinuierlich und zügig trinken, damit ich in einen richtigen Rausch verfiel. Noch hier ein bisschen Hummer dazu, da ein bisschen Kobe-Rind... herrlich. Man ließ dieses Lager wohl besser nicht unbeaufsichtigt, wenn ich in der Nähe war. "Wie ich sehe ist da auf jeden Fall viel Luft nach oben für uns.", stellte ich abschließend fest, da es tatsächlich diverse Möglichkeiten zu geben schien, noch mehr aus Harrys aufgebauten Business herauszuholen. Da konnte er es doch wirklich getrost uns überlassen, oder? Ganz so einfach wars dann vielleicht doch nicht.
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Obwohl mir die Wichtigkeit von Kommunikation im Alltag und im Leben ganz allgemein durchaus bewusst und verständlich war, zählte ich mich nicht unbedingt zu den Koryphäen dieses Milieus oder jemand, der voller Begeisterung über Gott und die Welt philosophierte, nur weil mir momentan der Sinn danach stünde. Ich unterhielt mich gerne über aktuelle Themen, sofern keinerlei doppelten Böden oder ein Hürdenlauf aus potenziellen Missverständnissen hinter jeder Wendung lauerten. Glücklicherweise entwickelte sich das Gespräch mit Isaac in eine beinahe angenehme Richtung – zumindest fühlte es sich weit erträglicher an, als anfangs angenommen – und doch graute mir vor den daraus resultierenden Schritten, die wir weiter in Angriff nehmen würden: mein Studium, obwohl das definitiv die kleinere Sache darstellte, aber die Auseinandersetzung zur Klärung der Fronten mit Harry würde mir noch so einige Nerven kosten. Da konnte ich Isaac leider nur nickend zustimmen. Mir fiel kein funktionsfähiger Einwand ein, um meinen Onkel bezüglich unserer weiteren Pläne im Dunkeln zu lassen – abgesehen davon entsprach diese Vorgehensweise definitiv nicht meinem grundlegend ehrlichen Naturell. Ich verstrickte mich schon wieder in vorerst unbegründeten, vorgegriffenen Sorgen und wurde erst durch Isaacs Hand an meinem Kinn von den Gedanken losgerissen. Abwartend suchte ich seinen Blick, glitt dabei mit meinen Augen über das ansehnliche Lächeln auf seinen geschwungenen Lippen. Unweigerlich formte sich ebenfalls ein Abbild auf meinen leicht angehobenen Mundwinkeln, trotzdem erstarb die Regung auch relativ schnell wieder. Wie konnte Isaac diese Tatsache so ruhig aussprechen? Verwunderung trat anstelle der Neugierde in meinen Blick. „Verbindest du denn nichts Gutes mehr mit deiner Heimat? Keine schönen Erinnerungen oder… irgendwas halt, das du vermissen würdest?“, hakte ich zögerlich nach, da mir die hässliche Vergangenheit meines Partners durchaus in begrenzten Auszügen bekannt war. Dennoch: hier war er doch zuhause. Mich zog es zwar weg, aber ich erwartete trotzdem ein angemessenes Maß an Heimweh, sobald die Zelte hier vollständig abgebrochen waren und ich in der Fremde stünde. Erneut lockte er mich aus einer geradezu melancholischen Stimmung heraus, brachte mich sogar zu einem kurzen Lachen: „Nur weil ich einen einzelnen Wolf gern hab, heißt das nicht, dass ich einen ganzen Haufen vor der Haustür auch toll fände.“ Unterm Strich würde ich sicherlich einen Weg finden, um mich mit sämtlichen Bedingungen zu arrangieren, aber ja: Engel in der Nachbarschaft wären mir bedeutend lieber als ein Wolfsrudel. Seine unerwartete Zuversicht baute mich auf, entspannte mich sogar. Um etwas Passendes zu finden, müssten wohl Recherchen getätigt werden, was ich direkt auf meine imaginäre Liste an Erledigungen setzte. Immerhin wollte ich bei der nächsten Unterredung mit Harry bereits ein paar handfeste Beispiele oder Optionen vorweisen können – hoffentlich kein zu hochgestecktes Ziel. Aber vorerst ging es ohnehin noch um eine Gewissensfrage, die mir auf den Magen drückte. Isaacs Bestätigung half mir insofern mit dem Wissen, dass er mir im schlimmsten Fall diesbezüglich den Rücken stärkte. Sein eigenes Motiv leuchtete mir in der Sache ein. „Du hast eh recht. Falls Harry sich plötzlich nicht mehr mit der Idee abfinden kann, dass er nicht länger im Vollbesitz seiner Firma sein könnte, kann man sicherlich einen Kompromiss in Form einer separaten Tochterfirma ansprechen, die durch uns als Bevollmächtigte erst ins Leben gerufen wird, aber dennoch Teil des ursprünglichen Unternehmens ist. Harry ist außerdem noch nicht so alt, um sich demnächst in den Ruhestand zu begeben, also schätze ich, dass wir vielleicht direkt eine Abbiegemöglichkeit suchen sollten, um was Eigenes mit ihm auf die Beine zu stellen. Keine Ahnung, so irgendwie halt“, schloss ich meine Überlegung wenig professionell ab und fuhr mir harsch mit beiden Händen durch die blonden Locken. „Isaac!“, rief ich empört lachend aus und schlug ihm spielerisch gegen den unverletzten Oberarm. „Es ist sogar sehr moralisch verwerflich, immerhin handelt es sich um ein Familienmitglied und keinen sturen Kunden“, erklärte ich ihm sogleich, grinste dann aber ebenfalls nach einem kleinen Augenblick des Überlegens. „Andererseits…, wenn wir wirklich auf keinen gemeinsamen Nenner kämen, könnte ein bisschen Hilfe eventuell nicht schaden. Im absoluten Notfall versteht sich“, fügte ich amüsiert hinzu, versuchte aber zumindest eine ernste Miene zu wahren. Norden – Berge – Schnee. Die Vorstellung gefiel mir bereits ziemlich gut. „Bis zum meterhohen Schnee war ich bei dir, danach hast du mich leider verloren“, scherzte ich, da man als Vegetarier absolut nichts von Wild im Wald hatte. Damit umschmeichelte er höchstens seinen eigenen Wolf. Dass diesem tierischen Teil ein naturbelassenes Leben im unberührteren Norden imponierte, brauchten wir gar nicht im Detail anzusprechen, weshalb Isaac wahrscheinlich so zügig auf meine Wohlfühlgegend hinarbeitete. Ich fände es wohl am Rande einer mittelgroßen Stadt am schönsten. Der Arbeitsweg sollte halt nicht stundenlang über Landstraßen führen, aber im Zentrum zu leben spricht mich auch nicht an“, teilte ich meinen ersten Impuls Isaac mit. Die Feinheiten ließen sich bestimmt detaillierter herausfinden, aber noch befanden wir uns nicht in diesem Bereich der Planung. „Das machst du dir bitte mit Harry selbst aus, da mische ich mich nicht ein“, vertröstete ich den Dunkelhaarigen im Hinblick auf eine mögliche Verkostung diverser alkoholischer Schätze in den Lagern meines Onkels. „Will man dich denn überhaupt restlos betrunken erleben?“, erkundigte ich mich schmunzelnd. Isaacs Optimismus beflügelte mich ebenfalls und so erlaubte ich mir auch ein tagträumerisches Denken: „Import und Export ließe sich auch einbauen, dann müsste ich mir nur für die Spezialisierung Lehrveranstaltungen in einem anderen Zweig suchen.“ Herrlich, wie variabel man eigentlich an dieser Wirtschaftsuniversität aufgestellt war. Ob Isaac jemals Interesse an einer weiterführenden Ausbildung hätte? Kurz genehmigte ich mir die genauere Betrachtung seines Seitenprofils, aber natürlich hüpfte mich die Antwort nicht an.
Eigentlich brauchte ich über Riccardas Frage gar nicht erst lange nachzudenken. Was hatte ich hier denn noch, wofür sich nachtrauernde Gedanken lohnen würden? Meine Familie hatte mich zu oft gelehrt, dass ich hier offenbar einfach nicht hingehörte. Deshalb begann ich auch fast in Zeitlupe den Kopf zu schütteln. "Doch, natürlich hab ich hier auch Schönes erlebt... aber in Relation gesehen ist das vergleichsweise wenig wert. Das meiste davon ist so lange her, dass... ich mich eigentlich schon kaum noch daran erinnern kann.", je länger ich sprach, desto mehr wurde meine anfangs klare Stimme zu einem Nuscheln. Die meisten angenehmen Tage meiner Existenz lagen irgendwo in den ersten Jahren meiner damals noch unbeschwerten Kindheit zurück. Ich konnte jetzt im Nachhinein nicht mehr ganz klar definieren, warum mein Vater plötzlich so aggressiv geworden war, sich so stark verändert hatte. Es war mal schön gewesen Zuhause, aber all die schmerzhaften Jahre danach saßen endlos viel tiefer in meinem Kopf. Ich ließ diese Emotionen selten richtig zu, aber es machte mich wahnsinnig traurig. Die Familie war früher für wölfische Verhältnisse wirklich harmonisch gewesen. Ich hatte meine Verwandten gemocht und tief drinnen wollte ich sie noch immer nicht so sehr hassen, wie ich es inzwischen tat. Der Zug für ein glückliches, friedliches Ende mit meiner eigenen Blutlinie war jedoch in dem Moment abgefahren, als meine Mutter gestorben war. Sie war der letzte Halt gewesen, den meine Familie mir noch hatte geben können. Danach hatte ich die Seile gekappt und ich konnte nie wieder hier im Hafen anlegen, ohne von einem schweren Gefühl auf der Brust begleitet zu werden. "Aber wir können natürlich trotzdem immer mal zurückkommen, um deine Familie zu besuchen.", hängte ich zur Sicherheit noch an, was der Engel neben mir eigentlich schon wissen müsste. Ihre Engelsfamilie würde mich wohl nie lieben, aber wir kamen inzwischen gut miteinander aus und ich würde sie begleiten, wann immer sie gerne mal einen Abstecher in die Heimat machen wollte. "Ist auch besser so. Wölfe sind gefährlich für süße kleine Engel.", versuchte ich mich mit dem nächsten Teil der Unterhaltung wieder abzulenken. Dabei zuckten meine Mundwinkel auch wieder für ein kurzes Grinsen nach oben. Sie sollte mir bloß nicht den gesunden Respekt vor Werwölfen verlieren, nur weil sie mich inzwischen eher als Kuscheltier einstufen konnte. Das galt nur für sie und kein anderer Wolf würde Riccarda so friedlich gesinnt sein, wie ich es war. Zumindest nicht ohne guten Grund. Ich für meinen Teil wäre auf jeden Fall auch mit einem kleineren Teil von Harrys Geschäft zufrieden - ich müsste zwar lügen, um zu sagen, dass mich nicht auch ein bisschen das Geld in die Ferne lockte, aber in erster Linie wollte ich vor allem endlich das Weite suchen. "Wir müssen uns ja auch nicht den ganzen Kuchen krallen, mir reicht schon ein Stück davon.", zeigte ich mich was das anging also durchaus relativ bescheiden. "Vielleicht fühlt er sich in dem Fall auch insgesamt weniger verantwortlich für etwaige Veränderungen in unserem Teil der Firma. Geht offiziell dann ja nicht auf seine Kappe.", meinte ich schulterzuckend. Er könnte auf jeden Fall jeden Fehltritt unsererseits komplett uns in die Schuhe schieben und wäre damit die Verantwortung los. Entweder das, oder er würde es noch schlimmer finden, weil wir seinen guten Ruf beschädigt hatten. Ich ging aber gerne davon aus, dass Riccarda und ich zusammen schlau genug dazu waren, das Ding nicht voll gegen die Wand zu fahren. Sie müsste mich vielleicht ein oder zwei Mal zurückpfeifen, wenn die Pferde mit mir durchgehen wollten, aber dabei würde es dann hoffentlich auch bleiben. Offenbar durfte ich uns schonmal nur bedingt bessere Karten in die Hand geben, indem ich in Harrys Kopf herumwühlte. "Ich behalt's also besser mal im Hinterkopf. Wie wir vorhin festgestellt haben, sind unsere Verhandlungskünste noch ausbaufähig.", schnaubte ich belustigt. Natürlich meinte ich das nicht ganz ernst, weil die Situation mit meinem Bruder vorhin eine völlig andere, grundsätzlich hitzigere gewesen war. Trotzdem sollten wir wohl ordentlich an einem guten Auftreten feilen, bevor wir Riccardas Onkel irgendwelche Vorschläge unterbreiteten. Dass der Engel nicht so viel von der wilden Waldbevölkerung hatte, war wohl nicht zu bestreiten. Aber sah sie sich nicht trotzdem immer noch gerne Tiere an? Ich konnte mich auf jeden Fall noch bestens daran erinnern, wie sie mir das schon beinahe tote Reh unter der Nase weggezogen hatte, um es zu retten. Jagen ging ich definitiv nur noch ohne sie, da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. "Aber Schneespaziergänge zu zweit sind drin..?" Ich schielte nur im Augenwinkel zu ihr rüber. "Natürlich sieht man auf regulären Wanderwegen meistens kaum Wild, aber... Schnee hat was angenehm beruhigendes, finde ich.", redete ich meinen Gedanken folgend vor mich hin. Ich mochte Schnee. Wenn die Sonne schien, ließ das weiße Glitzern einen zwar fast blind werden und die knirschenden Schritte waren bei jedem ersten Schneefall des Jahres wieder unangenehm für die Ohren, aber Schneelandschaften waren einfach schön anzusehen. Außerdem hatte ich dabei grundsätzlich das Gefühl, dass selbst mein hitziges Gemüt mal ein paar Gänge runterschalten konnte, solange Niemand einen Schneeball warf. Dank meines Winterfells konnte ich getrost behaupten den Winter lieber als den Sommer zu mögen. "Klingt gut für mich.", zeigte ich mich Riccardas örtlicher Wahl ebenfalls zugetan. Am Rand einer nicht zu großen Stadt wären wir nicht zu weit abseits vom Trubel, aber eben auch nicht mittendrin. Ähnlich wie jetzt. "Vielleicht trinkt Harry ja sogar mit... und ich glaube uns beide zusammen will man auf keinen Fall betrunken erleben.", stellte ich vom Gedanken amüsiert fest. Die Vorstellung davon, wie wir beide hochgradig beschwipst in irgendeinem Lager herumstolperten, war ziemlich unterhaltsam, wenn wahrscheinlich auch eher realitätsfern. "Aber nein, ich glaube mich abzufüllen ist grundsätzlich keine gute Idee. Probier's lieber nicht aus.", gab ich noch eine etwas ernsthaftere Antwort raus und bedachte den blonden Engel mit einer hochgezogenen Augenbraue. Das nächste Thema war dann schon wieder etwas anstrengender und ernster. Denn so schön wie es auch klang, würde es nicht gerade einfach werden, sich selbstständig zu machen und dann auch möglichst gut und sicher auf beiden Beinen stehenzubleiben. "Wir sollten uns wohl überlegen, was genau wir machen wollen... auch was schlussendlich am profitabelsten ist... und wenn wir uns diesbezüglich entschieden haben, sollte eine vernünftige Aufgabenteilung her." Ich zuckte ein bisschen unwissend mit den Schultern. Auch wenn wir das Unternehmen zusammen führen würden, konnten wir nicht beide gleichzeitig alles regeln. Das würde nur für Chaos sorgen. Seit ich davon wusste, dass wir beide mit relativ großer Wahrscheinlichkeit an eine Firma - oder einen Teil davon - kommen würden, hatte ich mir schon weit mehr als einmal den Kopf darüber zerbrochen, wie ich mit einer tauglichen Abkürzung an möglichst viel Wissen in kurzer Zeit kommen könnte. Mein Problem mit Vorlesungen war nämlich, dass ich dabei für gewöhnlich einschlief. War nicht so, als hätte ich nie ein Studium nach dem Abschluss an der Privatschule angefangen, es hatte mich nur keines lange bei der Stange gehalten. Außerdem würde es schlichtweg zu lange dauern, wenn ich jetzt wieder ein Studium anfing. Würde mir zu viel werden, gleichzeitig nebenher schon am Geschäft zu arbeiten und nebenher auch noch eine Beziehung zu führen. Ich konnte nicht lernen, dabei schon aktiv meine Finger im Geschäft haben und dann auch noch ein ansatzweise guter Ehemann sein - für letzteres wäre ich einfach viel zu gestresst und das würde ich dem Engel nicht zumuten. Wenn ich für etwas brannte, war ich zwar eine sehr ambitionierte Person, aber das änderte schlussendlich nichts daran, dass ein Tag nur 24 Stunden hatte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Issacs Erklärung wirkte für mich gut überdacht und nicht aus einem spontanen Impuls heraus empfunden, weil das abendliche Treffen mit seinem Bruder dermaßen schiefgelaufen war. Zu viel Negativität überschattete die schönen Erinnerungen der Vergangenheit, sodass wohl ein Basisvertrauen zu Bruch ging, das man so einfach nicht wieder aufbauen könnte – trotzdem klang der Dunkelhaarige für mich ein wenig traurig oder bildete ich mir diese Emotion nur ein, weil es für mich einer selbstverständlichen Gefühlsregung gleichkäme? Ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf darüber, sondern versuchte die Rationalität dieses Gedankens zu verstehen, aber unterm Strich blieb es für mich zum überwiegenden Teil ein Schutzmechanismus, den Isaac über viele Enttäuschungen in den vergangenen Jahren hinweg perfektioniert hatte. Da wir uns hier bei keiner psychologischen Sitzung befanden, behielt ich meine Gedanken dazu für mich und schloss das Thema mehr oder weniger akzeptierend ab. Schließlich verschloss sich Isaac nicht vor dem einen oder anderen Besuch im Engelspalast, was mir automatisch ein Lächeln entrang. Im Grunde stand mir nichts im Wege, allein einen Abstecher in der Heimat zu unternehmen, aber die Bestätigung meines Partners fühlte sich trotzdem gut an. „Sehr schön, denn einige der jüngeren Familienmitglieder können sich für den Geschmack der älteren Generation ein bisschen zu viel für dich begeistern“, verriet ich Isaac mit einem zarten Grinsen. Der Konflikt zwischen Engeln und Werwölfen wurde nicht genetisch vererbt, sondern durch Erziehung in die jeweiligen Köpfe eingetrichtert, weshalb die Anwesenheit eines angeblichen Feindes in den eigenen Reihen vorwiegend für die Kleinen eine nie vorher dagewesene Objektivität zu dem Thema ermöglichte. Ich unterstützte diesen Wandel des Denkens, während die älteren Semester bevorzugt auf ihrer engstirnigen Meinung beharrten; gewisse Dinge änderten sich wohl nie. Davon ausgenommen schienen die Bezeichnung von Isaac für mich zu sein, denn er nannte mich an dem heutigen Tag bereits zum zweiten Mal süß, was ihm einen bewusst finsteren Blick einhandelte. Ich zog sogar die Augenbrauen zusammen. „Zum Glück entspreche ich nicht dieser Definition, aber im Vergleich zu dir kann man halt nur als klein gelten“, belehrte ich Isaac mit gespieltem Ernst über die eigentlichen Tatsachen. Bei einem knapp zwei Meter messenden Mann schnitt man als durchschnittlich große Frau nie mit der Beschreibung groß ab, so viel sei gesagt. „Von dem ganzen Kuchen wird mir wahrscheinlich eh nur schlecht“, mutmaßte ich anhand Isaacs Metapher und lächelte zaghaft – wir würden uns da mit einer kompletten Übernahme und ohne richtiger Vorerfahrungen eine riesige Aufgabe aufbürden. Ich fing lieber in kleinen Schritten an, um mir selbst unter anderem zu beweisen, dass ich der Sache gewachsen war. „Wie Harry zu unseren Plänen steht, müssen wir noch herausfinden, aber wenn wir ihm unseren Vorschlag lückenlos präsentieren und seine Fragen beantworten können, wird er sich sicherlich nähere Gedanken zur Umsetzung machen.“ Mein Onkel versteckte hinter seiner fröhlich-aufgedrehten Art einen sehr erfolgreichen Geschäftsmann mit Blick für den Erfolg. Ich verließ mich da zugegebenermaßen auch minimal auf seine Kenntnisse und Beurteilung. „Ein Plan B schadet nie“, scherzte ich ebenfalls und lachte leise, „sag bloß, dass du deinen Unterricht in Diplomatie und Verhandlungsstrategien geschwänzt hast?“ Ich kannte die Antwort bereits im Vorfeld zu einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit. Wir befanden uns inzwischen wieder in sehr unbedenklichen Gesprächs-Terrain, sodass meine Hemmungen vollkommen verschwunden waren und ich amüsiert glucksend antwortete: „Natürlich sind Spaziergänge im Schnee drin, solang du damit leben kannst, einen Schneeball zu kassieren.“ Der Verlockung würde ich bestimmt nicht widerstehen können, aber Isaac sollte da eher kein Problem darstellen – ich rechnete eher mit einer doppelt und dreifach so schlimm ausfallenden Revanche; da würden wir dann schon sehen, wie viel Ruhe die Schneelandschaft ausstrahlte. Mir gefiel der Ausblick schon jetzt. „Ich hab auch nichts dagegen, mich draußen aufzuhalten, aber ich suche dabei nicht gezielt Snacks zwischen den Bäumen“, differenzierte ich unsere Motive der Wanderungen durch die Natur. Wild und Alkohol… Isaac erfreute sich dieser beiden Lebensmittel – ich nannte es aus Gründen der Nachsichtigkeit so – über die Maßen und fände zumindest bei zweiterem auch bei Harry Anklang, wahrscheinlich nur in einem weniger ausufernden Verhältnis. „Um dich abzufüllen würde ich selbst sicherlich an einer elenden Alkoholvergiftung zugrunde gehen, also so ein Vorhaben musst du von meiner Seite nicht befürchten“, versicherte ich ihm überzeugt. Er sollte lieber aufpassen, seine Mitmenschen beim Konsum des Nervengiftes zu schonen. Harry hatte da ebenso wenig eine Chance gegen den gestandenen Wolf, weshalb wir diese Erfahrung meiner Meinung nach gern überspringen könnten. Trotz des verlockenden Abstechers in unbeschwerliche Gefilde, durften wir den Fokus auf das eigentliche Dilemma nicht verlieren: unsere Zukunftsplanung, nachdem die Vorstellungen zumindest karrieretechnisch soweit abgeklappert worden waren. „Wäre wahrscheinlich ganz klug, sich den momentanen Markt und die Prognosen anzusehen, bevor wir uns in einer Vorstellung verlaufen. Ich bin jetzt schon in der wirtschaftlichen Schiene samt Buchhaltung und dem Spaß drin, also wird’s bei mir wohl auch darauf hinauslaufen. Wo würdest du dich denn in einer rein hypothetischen Firma sehen?“ Sei nun dahingestellt, ob dieser Posten schlussendlich tatsächlich so umzusetzen war, aber um eventuell eine anzustrebende Richtung zu kennen, schadeten Isaacs Ideen diesbezüglich nicht. Außerdem wollte ich ihm nichts aufdrängen, was ihm eigentlich keinen Spaß bereitete und lediglich eine Pflicht darstellte.
Oh, war das so? Ehrlicherweise schenkte ich den Jüngsten im Verwandtenkreis des Engels vergleichsweise wenig Beachtung. Es war nicht so als könnte ich mich überhaupt nicht mit Kindern oder Jugendlichen anfreunden - ich hatte schließlich selbst nach wie vor einige Flausen im Kopf - aber ich war dennoch selten motiviert dafür. Kinder stellten immer so endlos viele Fragen und meistens waren es merkwürdige noch dazu. Die Vermeidung dessen war vielleicht trotzdem ein Fehler, wie sich mir jetzt auftat. Es könnte unserer Zukunft schließlich keineswegs schaden, wenn die nachrückende Engelsriege mehr Sympathie oder Verständnis für mich und meinesgleichen fand, als in jenen Kreisen üblich war. "Das hättest du mir ruhig schon früher mal stecken können.", beschwerte ich mich, aber der lockere Sarkasmus nahm jede Ernsthaftigkeit aus der Sache. Ich nahm das Riccarda nicht tatsächlich übel, schließlich ging davon die Welt nicht unter. Als der blonde Engel ein weiteres mal abstritt, irgendwas Niedliches zu an sich zu haben, konnte ich mir ein leises Lachen nicht wieder verkneifen. Es ließ sich nicht daran rütteln, dass die junge Frau grundsätzlich nicht besonders groß neben mir aussah. Dabei halfen auch Absätze nur bedingt. Das machte sie zwar ein paar Zentimeter größer und sie war damit dann nicht mehr gefühlte zwei Köpfe kleiner als ich, aber sie wirkte auch dann noch immer sehr schmal neben mir. Dabei war ich nicht übermäßig breit gebaut, sondern einfach nur groß - in angemessenem Verhältnis fielen die Schultern dann eben auch etwas breiter aus, als bei Männern, die zwanzig Zentimeter kleiner waren. "Was findest du denn so wahnsinnig schlimm daran?", wollte ich wissen und machte dabei nicht den geringsten Anschein, meine Meinung ändern zu wollen. Dass Riccarda sich so sehr dagegen sträubte, bestärkte mich eher noch in meiner Meinung - dieser Trotz war eben auch schon wieder irgendwie süß. Nur fragte ich mich, wo der nun genau herkam. Dachte sie, ich würde sie weniger ernst nehmen, nur weil ich ihr Verhalten manchmal süß fand? Sie müsste es mir wohl erst erklären, damit ich es verstand. Die Kuchengeschichte hingegen war doch ziemlich klar und ließ mich ein weiteres Mal grinsen. Ich scheute mich zwar selten vor Herausforderung, aber am Ende hatte Riccarda damit sicherlich recht - wenn wir uns den ganzen Kuchen zwischen die Kiemen stopften, ohne zu wissen, was da überhaupt alles für uns drin war, könnte das mit Bauchschmerzen enden. "Hat ja auch alles glücklicherweise noch ein bisschen Zeit...", meinte ich hinsichtlich unserer irgendwann anstehenden Präsentation für Harry. Uns drängte hier ohnehin Niemand weg und Riccardas Eltern waren wahrscheinlich dankbar um jeden Monat, den sie länger hier blieb. Auch wenn sie bis dato noch gar nichts von ihrem Glück wussten. Was den geschwänzten Unterricht anbelangte zog ich ein etwas einseitiges Grinsen und legte den Kopf leicht schief. "Tja, was das angeht... war unser Plan B früher leider immer mein Plan A. Also auch unabhängig davon, dass ich ungefähr jede Vorlesung gemieden habe, die ich meiden konnte.", seufzte ich und sah dann auf mein angewinkeltes Knie runter. Ich hatte es mir früher überall so einfach gemacht, wie nur irgendwie möglich. Es hatte mich nach meinem Schulabschluss keiner mehr zu einer Ausbildung oder einem Studium zwingen können - dass jeglicher Zwang bei mir mit Zähnefletschen geendet war, brauchte ich dem Engel glücklicherweise nicht weiter ausführen. Inzwischen müsste sie das Ausmaß dieser Dinge grob einschätzen können. Riccarda kündigte in Verbindung mit unseren zukünftig vielleicht sehr kalten und weißen Wintern gleich mal eine Schneeballschlacht an, was mich eine Augenbraue hochziehen und sie mit verspieltem Funkeln in den Augen ansehen ließ. "Du weißt aber schon, dass für jeden einzigen davon mindestens zwei zurückfliegen? Da gibt es keine Gnade.", prustete ich belustigt. War eher eine rhetorische Frage, weil der Engel ganz genau wusste, dass ich für solche Duelle immer zu haben war. "Du denkst auch wirklich, ich würde in Tieren grundsätzlich nur Essen auf Beinen sehen, oder?", fragte ich in weiterhin beschwingtem Ton. Das war gewiss nicht so - wenn mir weder der Magen, noch der innere Wolf knurrte, dann hatten Wald- und Wiesenbewohner auch unabhängig davon etwas Interessantes an sich. Ich würde nicht leugnen früher öfter Mal nur zum Spaß getötet zu haben, aber dass war ja jetzt auch nicht mehr so. "Damit wäre der Spaß ganz schnell vorbei.", stellte ich abschließend hinsichtlich der alkoholischen Eskapaden fest. Bekanntlich hatte ich absolut nichts dagegen ein bisschen Spaß zu haben und ich würde Riccarda auch niemals das Glas wegnehmen, solange ich das Gefühl hatte, dass sie nicht über die Stränge schlug - als Kotzgefährte herhalten wollte ich allerdings nicht unbedingt, das würde ich also schon zu vermeiden versuchen. Was die künftige Arbeitsteilung anging konnte ich noch nicht mit einem astreinen Vorschlag glänzen, aber es war schonmal gut zu wissen, dass der blonde Engel keinen Bereichswechsel anstrebte. "Schwer zu sagen... ich kann ja nicht behaupten, schon viel in der Richtung ausprobiert zu haben." Wieder seufzte ich. Es war eben schwer einschätzbar, was mir am besten liegen würde. Ich war in der Schule damals nicht schlecht oder zu dumm gewesen, ich hatte mich aber nicht mehr damit befasst als ich musste, um einen einigermaßen passablen Abschluss hinzulegen. Alles andere hätte wieder eine ordentliche Rüge meines Vaters nach sich gezogen. "Ich kann dir nur absolut sicher sagen, dass wir es uns besser nicht antun, mich stumpf acht oder noch mehr Stunden auf einen Bürostuhl zu setzen. Ich würde grundsätzlich alles bevorzugen, was nicht nur Papierkram und möglichst abwechslungsreich ist... entscheid' dich also bloß nicht nochmal um mit der Buchhaltung." Eine absolut nicht ernste Drohung, die aber einen wahren Kern hatte. Mit stumpfem Eintragen von Zahlen konnte Riccarda mich definitiv in die Flucht jagen. Alles, aber bloß das nicht! Mein künftiges Feld weiter einzugrenzen wurde eben auch nicht einfacher, wenn noch gar nicht klar war, welche Bereiche unser Teil der Firma überhaupt umfassen würde - es gab also noch viel zu tun, bevor wir mit einer endgültigen Entscheidung meinerseits diesbezüglich rechnen konnten. Das ganze Konstrukt wies noch deutlich zu viele Wenns und Vielleichts auf.
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Ich genoss Isaacs kurz andauernde Verblüffung bezüglich des still und heimlich entstandenen Kreis aus jüngeren Bewunderern in den Reihen der Engel. „Macht es denn einen Unterschied, ob du es weißt oder nicht?“, erkundigte ich mich interessiert, ignorierte dabei den vorwurfsvollen Unterton in seiner gewohnt sarkastischen Stimmlage. Der Dunkelhaarige hatte bisher keinerlei Ambitionen in Richtung soziale Anknüpfung im Clan meiner Familie offenbart, weshalb mir diese Inkenntnissetzung überflüssig vorgekommen war – anscheinend ein Fehler meinerseits, wobei ich mich dennoch auf die mangelhaften Signale seitens Isaacs rausredete. Das amüsierte Grinsen haftete als abgeschwächte Form auf meinen Lippen, zumindest bis zu dem Augenblick, als meine Aversion gegen die Bezeichnung süß genauer hinterfragt wurde und ich zu einem langgezogenen Seufzen ansetzte. „Eigentlich ist es beinahe schon ein Klischee, über das ich drüberstehen könnte, aber als Jüngste und noch dazu die kleine Schwester behielt ich immer die Rolle des süßen Mädchens, selbst als ich aus dem entsprechenden Alter draußen war. Meine Verwandtschaft erkundigte sich bei meinen Brüdern über deren Wünsche, Erfolge und Ambitionen… ich bekam beispielsweise rosa Kuscheltiere oder glitzernde Kleider, weil das doch so süß aussieht beziehungsweise bin ihrem Bild von dem niedlichen Blondchen nie gänzlich entwachsen. Ehrlich gesagt haben unsere Auseinandersetzungen ziemlich geholfen, um ihre Ansicht diesbezüglich ein bisschen der Realität anzunähern, aber von Gleichwertigkeit zu zwei älteren Brüdern ist längst nicht die Rede“, versuchte ich meine Hintergründe nachvollziehbar zu schildern. Natürlich führte ich mich kleinlich auf, was mir durchaus bewusst war, trotzdem kam ich gegen diesen angewöhnten Impuls nicht an. „Sofern es nicht zu oft vorkommt, kann ich bei dir aber vielleicht eine Ausnahme machen“, räumte ich Isaac nach kurzem Überlegen großzügig ein, schließlich wusste er nichts von der familiären Herabsetzung und meinte es gewiss auf einer anderen Beziehungsebene. Zwar bezweifelte ich, dass es mir irgendwann gefiele, aber bei dem jungen Mann löste es immerhin keine spontanen Aggressionsprobleme in mir aus; lediglich ein abgeschwächtes Missfallen. Glücklicherweise traf es auf den Punkt, denn wir standen vollkommen unvorbereitet am Anfang der Reise – die Kinderschuhe einer potenziellen Firma existierten noch nicht einmal, aber noch drängte uns die Zeit nicht. Meine Ausbildung fraß noch ausreichend Semester, um die ich mich in erster Linie kümmern musste, während nebenbei ein Businessplan erstellt wurde. „Das Konzept der Schule oder auch des Studierens ist eben nicht für jeden“, vertröstete ich Isaac, da mir das resignierte Ausatmen nicht entgangen war und legte eine Hand auf seinen Unterarm. Man sammelte die Erfahrung ohnehin nicht ausschließlich über stures Besuchen irgendwelcher Vorlesungen oder Seminare, sondern profitierte auch von praktischer veranlagten Optionen – wahrscheinlich mehr Isaacs Geschmack. In der Hinsicht kannte ich den werten Herren bereits gut genug, ebenso überraschte mich seine Bestätigung bezüglich der Schneeballschlacht kaum. Dennoch wusste ich längst nicht alles, sodass er mich zugegebenermaßen auf frischer Tat ertappte. Ehrlich nachdenklich musterte ich seine markanten Gesichtszüge, aber diese spontane Analyse führte zu keiner Änderung in meiner Erwartungshaltung. „Eigentlich dachte ich wirklich nicht, dass du einem Eichhörnchen oder Reh aus ästhetischen Gründen nachschaust“, gab ich widerwillig zu. Sobald es um die Natur – strenger eingegrenzt den Wald – ging, schlug mein Denken sehr automatisiert auf Isaac in seiner wölfischen Gestalt um. Diese Erkenntnis zwang mich zu der geistigen Ermahnung, diese Assoziation ganz schnell wieder aus meinem Gedächtnis zu streichen. „Wir haben ja noch ausreichend Zeit, wie du schon richtig angemerkt hast. Während ich also mir den Hintern in der Uni platt sitze, kannst du dich wegen Praktika umsehen. Vielleicht findest du etwas, das dir gefällt oder wir können es zumindest weiter eingrenzen“, schlug ich die offensichtlichste Option vor. Wie sonst sollte Isaac an Erfahrungen kommen, ohne sich zwingend an eine Firma zu binden? „Keine Sorge. Wie sollte ich mir den sonst zu privaten Zwecken Geld abzweigen, wenn ich nicht selbst die Buchhaltung übernehme?“, merkte ich frech mit breitem Grinsen und Schalk in den Augen schimmern an. Selbstverständlich verspürte ich keinerlei kriminelle Energie in mir, um diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Weiterhin grinsend streckte ich mich auf meiner Seite des Bettes und reckte dabei die Arme in die Luft. „Ich weiß, dass es noch unglaublich viel abzuklären gibt, aber für den jetzigen Moment treten wir wohl auf der Stelle, weil uns zusätzliche Informationen fehlen, die wir auf die Schnelle nicht herbeizaubern können. Außerdem brummt mir der Schädel ein bisschen.“
Da hatte der Engel mich wohl glatt ertappt. "Vielleicht schon. Insofern, dass ich zumindest mal versucht hätte, mehr Verbündete zu kriegen. Auch wenn sie mir jetzt noch keine Hilfe sind, könnten sie's irgendwann werden.", tat ich so, als hätte es durchaus eine Rolle gespielt. Allerdings nicht, ohne das Ganze nochmal halb zu revidieren. "Aber etwas realistischer betrachtet hätte ich mich wohl so oder so nicht besonders reingehängt.", gestand ich mit einer vermeintlich bedauernden Handbewegung. Ein bisschen Sympathie eines verhältnismäßig kleinen Anteils von Riccardas Familie würde nicht plötzlich alle Differenzen ausräumen, die sich über all die Jahrhunderte hinweg zwischen Engeln und Werwölfen aufgebaut hatten. Schaden konnte es mir dennoch kaum, wenn ich diese Sympathie noch ein wenig ausbaute. Vielleicht stand mir ja bald mal in einem günstigen Moment der Sinn danach. Die kleine Geschichte bezüglich der ungeliebten Bezeichnung, die der zierliche blonde Engel darauffolgend erzählte, war weit interessanter. Vor allem auch nachvollziehbar - mir wurden vielleicht keine pinken Einhörner geschenkt, aber mein Vater und auch ein Großteil der restlichen Familie hatte mich noch nie so ernst genommen, wie sie es hätten tun sollen. In dem Punkt konnte ich sie also durchaus verstehen, jetzt wo ich es wusste. Ich würde sie künftig also besser nur noch gedanklich als süß betiteln. "Das ist zwar sehr gnädig, aber ich werd's mir ab jetzt trotzdem so oft verkneifen, wie ich kann.", setzte ich zu einer ausnahmsweise durchaus ernst gemeinten Antwort an. "Außerdem bist du nicht süß... jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Ich hab nie eine andere Frau kennengelernt, die neben mir so groß ausgesehen hat, wie du es tust." Im übertragenen Sinne, selbstverständlich. Riccarda musste sich in einem Raum voller Leute nicht an meinen Arm hängen, um wahrgenommen zu werden. Zum Teil sicherlich dank ihrer Erziehung von klein auf und wegen ihrer Abstammung. Das war aber nur die halbe Miete. "Wenn wir irgendwo in der Öffentlichkeit sind, dann sehen uns die Leute ja nicht nur wegen mir an. Deine Ausstrahlung sichert dir die Aufmerksamkeit von ganz allein. Ich kann das Getuschel um uns rum oft verstehen, wenn die Umgebung nicht zu laut ist... und du kannst mir wirklich glauben, wenn ich dir sage, dass dich noch kein einziges Mal Irgendjemand als süß betitelt hat. Deine Verwandtschaft hat offenbar keine Ahnung und auch keine Augen." Frauen hatten im Regelfall großen Respekt vor Riccarda und waren neidisch. Eifersüchtig auf alles, was sie war und was sie nicht waren. Männer sabberten ihr in einem Kleid wie dem heutigen gerne stumm hinterher, wegen den schönen langen Beinen und dem eleganten Gang - also ganz gewiss nicht, weil sie irgendwie süß wirkte. "Und zur Hölle mit Chad...", setzte ich an und sah kurzzeitig mit einem stummen Kopfschütteln an die Decke. "...weil alles so beschissen gelaufen ist, hatte ich keine einzige ruhige Minute, um zu genießen, wie gut du ausgesehen hast.", seufzte ich aufrichtig bedauernd. "Dabei hab ich dich sogar extra darum gebeten." Dieser Umstand machte die Pille nur noch bitterer. Riccarda hatte sich mit ihrem Auftreten wirklich Mühe gegeben und ich hatte sie eingangs viel zu oberflächlich abgespeist. Sie verdiente mehr von mir. Eichhörnchen juckten mich ehrlicherweise tatsächlich herzlich wenig, mein Fokus lag eher auf größeren Tieren. Das war gerade aber auch nicht so interessant, dass ich das Thema weiter vertiefen wollte. Es gab Wichtigeres. "Da hab ich vielleicht sogar schon eine Idee...", murmelte ich nach wenigen Sekunden des stillen Nachdenkens hinsichtlich der Praktika. Zugegeben klang es frustrierend, dass ich erst Mitte Zwanzig hatte werden müssen, um auf dem Level eines Schulabsolventen anzukommen, der sich zur Orientierung erstmal Praktika suchte, aber da musste ich meinen eigenen dummen Stolz jetzt ganz einfach runterschlucken. Das Leben nur als Party zu sehen forderte jetzt eben schlichtweg seinen überfälligen Tribut. Riccardas Witz über die Veruntreuung von Firmengeldern hatte meine Aufmerksamkeit viel mehr verdient und ließ mir die Augenbrauen fast schon anerkennend nach oben zucken. "Willst du jetzt etwa den schlechten Einfluss bei uns beiden übernehmen?", fragte ich sie belustigt, denn die ernsten Themen schienen für heute erstmal zu genüge getilgt worden zu sein. Es ging mangels schon geschaffener Tatsachen nicht vorwärts, aber eigentlich brannte mir noch immer eine Frage hinten auf der Zunge. Eine, die mit geschäftlichen Dingen vorerst noch nichts zu tun hatte und das frühestens in einigen Jahren beeinflussen könnte. Allerdings würde diese Frage den zierlichen Engel womöglich noch mehr in Kopfzerbrechen versetzen. "Das war für unsere Verhältnisse wohl auch mehr als genug ernsthafte Zukunftsplanung für einen Abend..." Einen Moment lang haderte ich mit der noch nicht ausgesprochenen Frage in meinem Kopf. Dabei nahm ich eine der oberen Ecken der Bettdecke, hob sie an und sah die zierliche Schönheit neben mir unterschwellig auffordernd an, um sie damit wortlos um etwas Nähe zu bitten. Ich wollte es nicht aussprechen, meines zu großen Egos wegen. Aber der angehobene Zipfel und der bittende Blick in Riccardas Gesicht waren das stumme Signal für aber vielleicht bin ich gerade ein kleines bisschen 'süß', weil ich einen Scheißtag hatte, mir alles weh tut und Kuscheln erwiesenermaßen gut gegen Stress wirkt - sogar bei Werwölfen.
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Verbündete in Kindern zu sehen… naja, das sagte wohl so ziemlich alles über Isaacs verkorkste Beziehung zu seiner eigenen Familie aus, dennoch behielt ich diese Erkenntnis wohlwollend für mich und zeigte lediglich ein leichtes Grinsen. „Du willst dir bestimmt keine Armee aus permanent quasselnden Goldlöckchen zusammenstellen, von denen abwechselnd irgendwer Hunger oder Durst hat und aufs Klo muss beziehungsweise eine ganz wichtige Grundsatzdiskussion über den besten Dinosaurier zu Ende führen muss“, fasste ich ihm seine Aussichten kurz und prägnant zusammen, wobei es wahrscheinlich kaum so schlimm werden würde – wer wusste das schon? Vielleicht sollte ich einfach alle Kinder in einem großen Raum versammeln und Isaac dazu pferchen; ein interessanter Gedanke, aber die Vorstellung des worst case machte die Idee sehr schnell unattraktiv. Da es derzeit ohnehin keinen Unterschied in der tiefgreifenden Fehde zwischen Engeln und Wölfen, ob ein paar meiner Art hinter ihrem ausgeschriebenen Todfeind standen oder nicht, ließ ich die Möglichkeit zur Vertiefung des Exkurses an mir vorüberziehen. Da ich mich selbst ein bisschen dumm aufgrund des kleinkarierten Nachtragens überraschte es mich, keinen neckenden Spruch zu kassieren. Mein Erstaunen spielte sich glücklicherweise überwiegend in meinem Inneren ab, aber ich sah Isaac dennoch für einen kurzen Augenblick groß an. Er nahm meine Beschwerde wirklich ernst, gelobte Besserung und ich kaufte ihm diesen Versuch eines guten Vorsatzes ab. Er dementierte seine vergangene Aussage sogar, was wiederum ein bisschen an seiner Authentizität kratzte, aber dank der nachrückenden Erklärung erschien dieser Rückzug wieder gleichermaßen transparent – eigentlich rechnete ich nicht mit so viel anerkennendem Zuspruch und Komplimenten, was schlussendlich dazu führte, dass ich etwas verdattert aus der Wäsche blickte. Isaac musste weder mein Selbstwertgefühl aufbauen noch womöglich entstandene Schäden an meinem Selbstbild reparieren. Trotzdem gefielen mir die Komplimente und ein schüchternes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Mein Ego hing nicht von äußerer Bestätigung ab, trotzdem wirkten Isaacs Worte wie lindernder Balsam auf der Seele. Es fühlte sich unglaublich schön an, richtig wahrgenommen zu werden. „Danke, dass du das sagst.“ Ich verspürte keine Verlegenheit im Sinne der Unfähigkeit, Komplimente anzunehmen, sondern viel mehr aufgrund der heimlichen Freude in meiner Brust, wo sie als kleine Flammen tanzte. Ich fühlte diesem angenehmen Glühen einen Augenblick zu lange nach, denn ich verpasste den Absprung in Richtung Chad und musste mich erst gedanklich wachrütteln, um dem angenommenen Themenwechsel zu folgen – es handelte sich um einen indirekten Gedankensprung, wie mir im Laufe der weiteren Ausführung bewusstwurde. Was auch immer gerade in Isaac fuhr, zuvor hatte er mich noch nie mit derart viel Zuspruch überhäuft, weshalb ich für den Bruchteil einer Sekunde gewillt war, dies als Akt irgendeiner spontan aufblühenden Reue wegen des Durcheinanders bei dem Essen zu interpretieren. Sein unzufriedener Tonfall riet mir jedoch von der Entscheidung ab und so blieb mir nichts anderes übrig, als dem Offensichtlichen gegenüberzutreten: wir entfernten uns inzwischen auch zunehmenden dem neutralen Boden und tauchten in verletzlichere Gefilde ab. „Dein Ärger ist unnötig. Bitte mich das nächste Mal wieder darum und ich sorge dafür, dass dir diese verpasste Gelegenheit nicht mehr so wichtig ist“, schlug ich ihm verschwörerisch mit einem Funkeln in den Augen vor. Ich hegte keinerlei Frust oder wollte im mangelhafte Aufmerksamkeit nachtragen; Isaac bräuchte meinetwegen nichts bedauern. „Weihst du mich denn in diese Idee ein?“, hakte ich neugierig geworden nach und verscheuchte damit gewisse Anregungen in mir, die mich zwar unerwartet trafen, aber kein schlechtes Zeichen bedeuteten: ich wünschte mir, ihm speziell zu gefallen und womöglich sogar ein kleines bisschen Verlangen bei Isaac auszulösen – um mich zu wollen, nicht nur zur Abschaffung seiner selbstverschuldeten Abstinenz. Aber diese Gedankengänge kamen mir unangebracht vor, ich schüttelte sie aus meinem Bewusstsein und verlagerte meine Konzentration zurück auf Isaacs Vorstellung eines Praktikums. Probleme, eine Stelle zu ergattern, bekäme der prestigeträchtige Sohn einer einflussreichen Familie sicherlich nicht. Image hin oder her. „Du hattest lang genug deinen Spaß, jetzt bin ich einmal an der Reihe“, erwiderte ich auf die amüsierte Frage seitens Isaac. Zwar wüsste ich beim besten Willen noch nicht, wie man Gelder veruntreute oder Steuern hinterzog, aber so schwer dürfte die Angelegenheit sicherlich nicht sein. Machten doch genug Menschen und ausreichend kamen mit diesen illegalen Machenschaften davon. Zufrieden damit, dass auch Isaac den ernsthaften Kapiteln unserer Zukunft vorerst eine Pause einräumte, bedachte ich ihn für ein paar Sekunden mit nachdenklicher Miene. Wie er stillschweigend die Decke anhob, seinen hübsch anzusehen Körper präsentierte und doch erzählten seine Augen von einer ganz anderen Intuition als man im ersten Augenblick erwartete. Er suchte nach Geborgenheit und physischer Zuneigung. Kommentarlos gab ich meinen Platz auf der anderen Seite des Betts auf und rutschte in eine wohlige Wärme hinein. Es lag noch nicht allzu weit in der Vergangenheit, dass wir die ersten Kuschelversuche unternommen hatten – meine Scheu war bei dieser Art der Nähe mittlerweile vollständig verklungen, weshalb ich mich ohne Aufforderung an ihn schmiegte und einen Arm um seinen Oberkörper schlang. Eine herrliche Wärme umgab mich anschließend wie eine zweite Decke. „Irgendetwas rattert noch immer ziemlich laut in deinem Kopf“, stellte ich ruhig fest und hoffte, ihm dadurch die Möglichkeit zu schaffen, einen Anfang zu finden… sofern Isaac darüber reden wollte beziehungsweise ich mir seine kaum merkliche Unruhe nicht aufgrund überladener Nervenreize einbildete.
"Ach, das ist leicht zu beantworten. Alles, was scharfe Zähne hat, gewinnt.", tat ich die genannte Dinosaurierdiskussion mit einem Schnauben und einer guten Prise Sarkasmus ab. Mir war völlig gleich, welchen ausgestorbenen Urzeitgiganten kleine blonde Engel am liebsten hatten. Wahrscheinlich eher die, die eben nicht durch die Gegend rannten, um den Herbivoren das Genick zu brechen. Wir würden uns da niemals einig werden und das mussten wir zum Glück auch nicht - mir reichte ein einziger Engel in unmittelbarer Nähe nämlich völlig aus. Hatte ich jetzt zu viel darüber geredet, wie Riccarda in meinen Augen aussah? Ihr verblüffter Blick stürzte meinen Kopf zumindest kurzweilig ins nächste Karussell. Hatte ich so viel dazu gesagt, dass man es schon als Schwärmerei einstufen konnte? Kreiste sie mit all den Kleinigkeiten, die mir im Alltag um sie herum auffielen, schon beinahe zu viel durch meinen Kopf? Konnte man es überhaupt noch nur als Schwärmerei deklarieren, wenn ich so danach strebte, sie in aller Menschen Augen - einschließlich ihrer eigenen und auch meiner - gut aussehen zu lassen? Ich hasste Chad dafür, dass er vorhin diese dumme Liebesaussage getätigt hatte. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber es fühlte sich so an, als hätte er mir damit die Pistole auf die Brust gesetzt. Was, wenn Riccarda mich auch in naher Zukunft danach fragte und ich keine Antwort darauf hatte? Ich lenkte meinen eigenen Kopf mit der Antwort auf Riccardas Dank ab. "Keine Ursache, mich hast du schließlich längst davon überzeugt.", tat ich all die Worte ab, als wäre es fast schon naheliegend, dass ich so von ihr sprach. Das war es eigentlich nicht und das wussten wir offensichtlich beide. Wann war ich mit dieser Art von Annäherung so unvorsichtig geworden? Ich befasste mich weit lieber damit, dass die junge Frau mir im weiteren versprach, sich gerne noch ein weiteres Mal auf diese Art herauszuputzen. Mein neugierig funkelnder Blick wanderte umgehend in ihren - die Worte, die sie gerade formuliert hatte, klangen fast ein bisschen zu schön um wahr zu sein. "Du kannst dir sicher sein, dass ich eher früher als später darauf zurückkomme.", ließ ich sie mit unterschwellig angerauter Stimme wissen und mein Blick schwankte für eine kurze Sekunde nach unten zu ihren Lippen. Begleitet von einem sehr angetanen Lächeln, das ziemlich gut widerspiegelte, wie ich mir ihre Worte zu diesem Zeitpunkt gedanklich ausmalte. Sofort schritt eine gleichermaßen aufreizend wie elegant gekleidete Riccarda durch mein Oberstübchen. Eine, die sehr erpicht darauf war, dass ich auch ja nicht vergaß, wohin meine Augen im Verlauf eines solchen Abend gehörten - in ihre und nur in ihre Richtung. Vielleicht war es sogar wichtig, dass wir diese Art von Spielerei nachholten. Wir hatten alle Phasen von Beziehungsaufbau übersprungen. Also auch die, in der man umeinander herumschlich und dem jeweils anderen schöne Augen zu machen versuchte, obwohl eigentlich schon klar war, dass eine gewisse Anziehung bestand. Nur weil wir einander auf dem Papier längst versprochen waren, bedeutete das nicht, dass wir das nicht nachholen konnten. Möglicherweise verlor ich mich etwas zu sehr in diesem Gedanken, denn das Gerede über anstehende Praktika war für mich plötzlich sehr uninteressant. "Besser erst, wenn ich weiß, ob sie Früchte trägt.", beschloss ich, den blonden Engel vorerst lieber ein wenig im Dunkeln tappen zu lassen. Womöglich musste ich diesen Einfall ohnehin wieder beerdigen, aber ich würde ihn nicht unversucht lassen. Erst recht jetzt, wo Riccarda zu mir rüber kroch und ich die Decke über ihr wieder sinken ließ, war das ein gefühlt sehr weit entferntes Ziel. Ich konnte mir noch ein bis zwei Tage in Ruhe den Kopf darüber zerbrechen, solange ich dank meiner Verletzungen noch relativ bewegungsunfähig war. "Ach, keine Sorge... es wäre mir eine Freude, dir dabei zuzusehen.", pflichtete ich ihrer vermeintlich anstehenden kriminellen Karriere bei. Es würde ohnehin nicht passieren, aber die Vorstellung daran war weiterhin lustig. Leider schaffte ich meine kreisenden Gedanken durch das angenommene Kuschelangebot nicht ausreichend zu übertünchen. Ich atmete etwas tiefer ein in der stillen Hoffnung, dass mir das mehr Aufschluss geben würde. "Naja... ja. Aber ich denke, für diese Frage ist es noch deutlich zu früh.", murmelte ich, blickte dabei auf ihren schmalen Unterarm hinab und verteufelte meinen Bruder im Geiste ein weiteres Mal. Er hatte mir innerhalb weniger Worte mindestens zwei Flöhe ins Ohr gesetzt, die ich nicht allzu bald wieder loswerden würde.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈