Die Enttäuschung überkam mich so plötzlich, dass ich selbst von dieser intensiven Gefühlsregung überrascht wurde und meine Mimik nicht unter Kontrolle bekam. Wer hätte gedacht, dass ich mich unterbewusst bereits derart auf ein mir unbekanntes Fest voller betrunkener Fremder, schupsender Menschenmassen und langen Warteschlangen vor diversen Imbissbuden und Getränkeständen freute. Ich wunderte mich sogar ein bisschen über mich selbst, was mir leider keinen Deut dabei half, die Fassung zurückzugewinnen und meine Emotionswelt hinter einer gelasseneren Maske zu verbergen. Glücklicherweise vertieften sich meine Verwandten derart in eine geteilte Erinnerung, bei der die beiden immer wieder Anekdoten in die Erzählung des jeweils anderen einwarfen, dass Isaac und ich als Anwesende am Tisch in den Hintergrund traten und keinerlei Aufmerksamkeit zugeteilt bekamen. Ich störte mich nicht daran, während ich mit einem halben Ohr der ach so witzigen Story zuhörte und dabei primär mit meiner Gabel das geröstete Gemüse von einer Seite des Tellers auf den anderen schob. Dabei vermied ich es tunlichst, unabsichtlich meinen Blick zu Isaac schweifen zu lassen. Seinen verdammten Wolfssinnen konnte ich ohnehin nichts vorgaukeln, aber ich mochte es nicht, wenn man in meinen Augen wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen konnte. Außerdem wusste ich nicht, wie er mit meiner momentanen Enttäuschung umging – wie ich wiederum mit seiner Reaktion auf meine Gefühlsduselei zurechtkam. Dabei handelte es sich wirklich um kein nie dagewesenes Drama utopischen Ausmaßes… wir, Isaac und ich, hatten schon weitaus Schlimmeres hinter uns gelassen und saßen trotzdem friedlich nebeneinander am Esstisch an einem lauen Sommerabend. Falls sich die Atmosphäre um uns angespannt hatte, so bekam ich es nicht wirklich mit, versuchte ich die Sache gleichgültiger zu sehen und wartete ab, bis sich Harry oder Eve – bestenfalls beide – ihrer Gäste wieder bewusstwurden. Es dauerte ein gutes Weilchen, aber schlussendlich tauchten sie doch aus ihrem verzückten Schwelgen in alten Zeiten auf und versuchten die Unterhaltung wieder für alle in Gang zu bringen. Leider fand Harry nicht die richtigen Worte dafür. Meine Mundwinkel zuckten für den Bruchteil einer Sekunde nach unten, ehe ich mich fing und zu einer ausweichenden Antwort ansetzte. Mein Onkel hatte da sehr viel Input in diese eine einzelne Bemerkung gestopft, sodass ich gar nicht wusste, wie ich darauf eingehen sollte. Mein Mund öffnete sich zu einer Erwiderung, doch statt meiner Stimme erklang die von Isaac. Mir blieb nichts anderes übrig als eine entschuldigende Miene aufzusetzen und leicht zu nicken. Zwar wusste ich, dass sich die Pläne des Wolfes mit dem großangelegten Fest kreuzten, aber wie ich mir die Zeit vertrieb… das stand in den Sternen, von denen sich noch keine am dämmrig werdenden Himmel zeigten. Ich schaute nur kurz hinauf in das sich langsam ändernde Farbenspiel, sodass ich durchaus den irritiert fragenden Blick meiner Tante auffing. Sie suchte nach einer Erklärung für Isaacs reservierte Art, das Thema zu beenden. Leider fiel mir spontan keine gute Ausrede ein, da mir Lügen noch nie leicht von den Lippen gingen: „Es ist eine Überraschung… keine Ahnung.“ Immerhin besänftigte diese Ausrede den Engel mir gegenüber ausreichend, um das restliche Abendessen in Ruhe verbringen zu können. Jedoch fand das gemütliche Beisammensitzen schon bald wieder ein Ende. Ich war wirklich müde; außerdem musste ich keine weiteren peinlichen Abenteuer von Harry in meine Sammlung an beschämender Offenbarungen im Kreise der Familie aufnehmen. Die letzten wärmenden Sonnenstrahlen kämpften gegen die einbrechende Nacht an, als wir uns auf das geräumige Zimmer zurückzogen und ich hinter mir die Tür mit einem sachten Klicken ins Schloss zog. Isaac wählte den Platz am geöffneten Fenster, um die frische Abendluft im leicht aufgeheizte Zimmer willkommen zu heißen. Ich setzte mich auf meine Seite des Bettes – die dem Fenster näher war – und sank dabei leicht in die Matratze ein. Isaacs Seufzen erweckte meine Aufmerksamkeit, weshalb ich abwartend sein Profil studierte. Er blickte mich ernst an… vielleicht sogar ein wenig ernüchtert. Es fiel mir schwer, diesen Gesichtsausdruck richtig zu interpretieren. „Nicht so schlimm“, versicherte ich nicht nur ihm, sondern vorwiegend auch mir selbst, um meinem verdammten Kopf klarzumachen, dass die Möglichkeit eines Besuchs dieses Festes ohnehin von Anfang an unter keinem guten Stern stand und ich mich deshalb nicht so anstellen brauchte. Trotz dieser vernünftigen Erinnerung blieb meine Stimmung ein klein wenig gedrückt. „Was sagst du?“ Ich hatte sein abgewandtes Gemurmel nicht verstanden, war mir im nächsten Augenblick jedoch nicht mehr sicher, ob die Worte überhaupt an mich gerichtet waren. Der Dunkelhaarige sah aus dem Fenster hinaus. Suchte er nach etwas? Kurz zuckten meine Augenbrauen zu einem fragenden Ausdruck zusammen. Eventuell fand Isaac – was auch immer –, denn er richtete sein Augenmerk wieder auf mich und ich erwiderte den Blick offen. Aber… es gab keine Alternativen. Das war doch der Haken an der ganzen Sache. Verständnis flackerte für einen Moment in meinen Augen auf, ehe ich die Schultern knapp anhob. „Ist halt ungünstig, wenn ich mit einem Werwolf zu Vollmond auf das größte Fest im Jahr gehen will.“ Zu meiner Zufriedenheit klang meine Stimme sehr nüchtern, aber ich wusste nicht, ob meine verräterischen Augen mitspielten, deshalb ließ ich mich kurzerhand rückwärts auf die weiche Matratze fallen und streckte die Arme seitlich aus. Ich überlegte, ob ich Isaac meine Gemütslage erklären wollte oder diesen persönlichen Komplex aus kleinen und großen Wünschen für mich behielt. Aber irgendwo musste ich doch den Anfang machen, oder? Nun war ich es, die leise seufzte. „Ich bin auch eigentlich nicht sonderlich traurig. Wir haben dieses Festival durch Zufall in Betracht gezogen und nie als fixen Punkt in der Planung verankert. Ich…“, ich wusste nicht, wie ich es beschreiben sollte, ohne augenblicklich wie ein selbstsüchtiges Kind zu wirken. „Ich bin es nur nicht gewohnt, auf diese Art eingeschränkt zu sein und Rücksicht nehmen zu müssen... zu verzichten.“ Ein trockenes, kühles Lachen huschte rau über meine Lippen. „Himmel, das klingt wirklich furchtbar.“ Ich legte eine Hand schwungvoll über mein halbes Gesicht, um das nächste bittere Lachen zu ersticken.
Nein, es war wirklich nicht allzu schlimm. Wir waren beide noch jung und keiner von uns sollte senkrecht die Wände hochgehen, nur weil wir ein Fest verpassten. Wir würden noch mehr als diese eine Möglichkeit bekommen die Sau rauszulassen und uns aufzuführen wie dämliche Touristen. Oder wie dämliche Zugezogene, schließlich stand es inzwischen zur Debatte unsere Heimat hierher umzulagern, auch wenn es bis dahin noch ein paar andere Dinge zu erledigen galt. Aber darum ging es auch irgendwie gar nicht, oder? Ich für meinen Teil fand es wohl einfach deswegen so beschissen, weil ich im gemeinsamen Beziehungsprozess mit Riccarda nicht unnötig ausgebremst werden wollte, wenn sie mit dem Fuß ohnehin schon regelmäßig auf die Bremse tippte. Eben immer dann, wenn ich gerne weitergehen wollte als sie. "Ist beschissenes Timing, sage ich... Die Mondphase ist fast einen Monat lang und wir müssen uns jetzt genau im Vollmond-Zeitraum hier befinden, um nicht da hingehen zu können." Ich klang immer ironischer, je länger ich redete. So war das wohl im Leben - man bekam eben nicht immer das, wonach einem verlangte, wovon ich inzwischen ein ziemlich langes Lied singen konnte. Der blonde Engel schien einen relativ ähnlichen Gedankengang zu verfolgen, was angesichts der Umstände nicht verwunderlich war. Das Ganze war jetzt eben sehr ungünstig gelaufen und wir waren es beide nur bedingt gewohnt, dass die Dinge nicht nach unserer Zufriedenheit verliefen. So hart die Erziehung in meinem Elternhaus auch gewesen sein mochte, so war ich trotzdem genauso ein verwöhnter Adel wie Riccarda. Im Grunde zwei inzwischen erwachsene, verzogene Kinder. Ich beobachtete die junge Frau doch leicht amüsiert, wie sie da auf dem Laken ausgestreckt lag und mehr oder weniger ihr Lachen zu unterdrücken versuchte. Ich zog die rechte Augenbraue nach oben und musste unweigerlich schmunzeln. "Klingt ganz nach der verzogenen kleinen Prinzessin, ja.", musste ich den zierlichen Engel unweigerlich in dieser Feststellung bestätigen. Ich lachte anschließend selbst mit einem Kopfschütteln kurzzeitig stumpf in mich hinein - man sollte uns beide wohl bloß nicht mit richtig ernsthaften Problemen konfrontieren, wenn wir schon wegen einem gescheiterten Fest Trübsal bliesen. Während ich Riccarda beobachtete kam mir in den Sinn, dass ich im Grunde gar nicht wusste, was ich überhaupt mit der kommenden Vollmondnacht anfangen sollte. Es gab hier nichts, das ich jagen konnte, was nicht menschlich war. Es war nicht so als würde ich Menschen inzwischen generell von meinem Ernährungsplan streichen, aber hier im Urlaub ein Blutbad anzuzetteln käme bei meiner Angetrauten sicher nicht gut an. Ich wollte es also eigentlich wirklich bleiben lassen und würde dementsprechend wahrscheinlich maximal frustriert durch den Wald stromern, ohne ein zufriedenstellendes Ziel zu erreichen. Stattdessen hier zu bleiben und mir einen netten, absolut unentspannten Abend zu machen, war aber auch keine Option. Am Ende stand sonst versehentlich ein Wolf unten im Wohnzimmer und fiel eins der Dienstmädchen an. Keine Option. Riccarda einfach mit auf die Vollmond-Tour zu nehmen war aber auch keine viel bessere Idee. Im schlimmsten Fall ließ ich sie allein zurück, weil mich der Rausch packte oder ich tat ihr sogar weh. Dass ihr Schmerzen zuzufügen das letzte war, was ich wollte, war eine auf sehr wackeligen Füßen stehende Versicherung dafür, dass ich es nicht tun würde. Schließlich stieß ich mich leicht vom Fenster ab, nur um es kurz darauf zu schließen und mir danach ebenfalls den Weg zum Bett zu bahnen. Ich ließ die nur als Hausschuhe fungierenden Slipper während der letzten beiden Schritte auf dem Fußboden zurück und schmiss mich eher unelegant auf die Matratze. Keine falsche Grazie mehr am heutigen Tag, auch wenn ich körperlich nicht ganz so erledigt sein mochte wie Riccarda. Gut ausgepowert war ich trotzdem. "Nur rein hypothetisch... hättest du Angst, wenn du nachts alleine draußen wärst? Irgendwo abgeschieden hier auf der Insel... wo mit anderen Gestaltwandlern oder Menschen zu kollidieren sehr unwahrscheinlich ist, meine ich." Ich hatte den Gedanken an ein Alternativprogramm zwar eigentlich abgehakt, war aber trotzdem neugierig auf ihre Antwort. Deshalb hatte ich auch den Kopf im Kissen in ihre Richtung gedreht und musterte aufmerksam ihre Gesichtszüge. Vielleicht war sie einer dieser Menschen, der in der Dunkelheit in der Wildnis von vornherein riesige Panik schob. Ich könnte nicht einmal sagen, ob das gut oder schlecht wäre. Im normalen Zustand wäre es mir zweifelsfrei nicht egal, wenn das Herz des Engels vor ernsthafter Angst fast davonlief und ich würde mich - wahrscheinlich unterschwellig genervt, weil ich die Angst nicht verstand - darum bemühen, ihr Sicherheit zu geben. Unter Vollmond war das aber möglicherweise ganz anders und mit Pech wärs mir sogar scheißegal... oder es triggerte meinen Jagdinstinkt, was wir eigentlich auch lieber nicht erleben wollten.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Noch während ich mir Selbstvorwürfe bezüglich der offensichtlichen Erfüllung eines Klischees – Abkömmlinge wohlhabender Eltern seien zu verwöhnt und verstünden die wahren Sorgen des Lebens nicht, da sie nie mit dergleichen konfrontiert worden waren – in Form des zynischen Lachens machte, flaute meine theatralische Enttäuschung auf ein angenehmes Minimum ab. Es war lediglich ein Festival auf einer Insel, das wohlgemerkt jedes Jahr stattfand und eventuell zu einem fixen Bestandteil meiner Zukunft werden würde, sollten wir tatsächlich unsere Koffer packen und das Festland hinter uns lassen. Dinge, über die sich den Kopf zu zerbrechen, sich im Vorfeld noch nicht lohnte. Der kichernde Laut drang etwas kehliger hinter meiner Hand hervor, als Isaac eine durchaus kritisierende Bemerkung wagte. Zu früheren Zeitpunkten wäre eine solche Offenheit unmöglich gewesen, da ich diese Aussage als direkten Angriff gegen meine Person gewertet hätte und dementsprechend auf die Barrikaden gegangen wäre. Eine furchtbar anstrengende, energieraubende Angelegenheit, die mir mittlerweile sehr übertrieben vorkam. Unterm Strich war ich halt auch eine verwöhnte Prinzessin; ich lebte in einem hübschen Palast, besaß einen Stall voll Pferde und so viel Kleidung oder Schmuck, dass ich eine ganze Stadt damit ausstaffieren könnte. Wenn ich mir etwas in den Kopf setzte, so bekam ich meinen Willen auch – obwohl Ausnahmen die Regel bestätigten. Zwar fiele ich vorher tot um, bevor ich Isaac hinsichtlich meiner verzogenen Art eine Bestätigung unter die Nase rieb, aber ich dementierte seine Behauptung auch nicht. Stattdessen klangen die Worte in dem gemütlich-modern eingerichteten Schlafzimmer ab, sodass lediglich der Inhalt noch kurz zwischen uns schwebte und dann ebenfalls verpuffte. Ich würde jetzt gewiss keine tiefenpsychologische Analyse an mir vornehmen, um vielleicht auf tieferliegende, versteckte Hintergründe für meine bereits abgeflaute Enttäuschung zu finden. Stille senkte sich wie Blei über mich, meine Muskeln wurden ebenfalls ganz schwer und die Müdigkeit begann an den Ecken meiner Aufmerksamkeit zu zupfen, forderte mehr Raum ein. Ich merkte erst, dass sich meine Augenlider gesenkt hatten, als ich bei dem Klang von Schritten aufschreckte und den Kopf anhob, um die Quelle der Geräusche zu finden. Natürlich Isaac. Der Dunkelhaarige sank nach der Umrundung des Doppelbetts ebenfalls auf die Matratze und streckte die langen Beine von sich. Trotz der Pause in unserer Unterhaltung, die er vielleicht für seine eigenen Gedankenwege genutzt hatte, schien das Gespräch an sich noch nicht beendet zu sein. Oder waren wandte er sich mir so demonstrativ zu? Ich bekam meine Antwort sehr schnell. Ein fragender Ausdruck überkam meine Augen bei der zögerlichen Einleitung in das neue Thema, jedoch blieb ich entspannt und forderte in mit meinem Blick auf, einfach weiterzusprechen. „Du möchtest wissen, ob ich Angst allein in der Dunkelheit habe“, wiederholte ich seine Frage in Form einer Feststellung, sah dabei an die Decke über mir. „Wissend, dass ein Werwolf im Blutrausch ebenfalls durch die Gegend streift oder unter normalen Umständen?“, hakte ich vorsichthalber einmal nach und drehte den Kopf zurück in Isaacs Richtung. Ich wusste noch nicht so recht, worauf der Gestaltwandler hinaus wollte, weshalb ich mich mit einer konkreten Antwort vorerst zurückhielt: „Prinzipiell komme ich mit der Dunkelheit gut zurecht… solange es nicht gewittert.“ Der Zusatz war mir wichtig. Vielleicht hatte Isaac meine Angst vor Unwettern bereits wieder verdrängt, aber ich hatte mich meiner Panik nach wie vor nie richtig gestellt und würde diese Sache auch so bald nicht in Angriff nehmen.
Ich nickte zur Bestätigung ihrer Wiederholung, als wäre das wirklich nötig gewesen. Schließlich lag ich unweit neben ihr und sie verstand mich gut, brauchte wohl nur ein paar Sekunden zum abschließenden Realisieren meiner Frage. Riccarda wollte scheinbar gerne etwas tiefer hinter meine Worte blicken, weil sie offenbar nicht recht schlau daraus wurde. Kaum verwunderlich, weil die Frage mal wieder mehr oder weniger aus der Luft gegriffen war. Zumindest in den Augen jeder anderen Person, für mich war das alles wunderbar stimmig. Eigentlich hatte ich auch wirklich nur eine sehr allgemein gehaltene Antwort auf meine Frage gewollt, ohne mich als blutrünstiges Monster mit einzukalkulieren. Darauf brauchte ich meiner Meinung nach nämlich gar keine Antwort, weil ich sie schon kannte. Ich ließ den Kopf zurück in seine Ausgangsposition kippen, bevor ich einen Moment lang schmal lächelnd an die Decke sah. Glaubte sie wirklich, dass ich das vergessen hatte? Ihre Angst vor Gewitter hatte - Hand in Hand mit dem lieben Alkohol - schließlich dafür gesorgt, dass wir beide uns ein einziges Mal auf freiwilliger Basis nackt durch die Laken gewälzt hatten... unsere Flitterwochen in der Waldhütte waren eher turbulent gewesen dank des Grizzlies und anhaltender Differenzen, aber in dem Moment waren wir uns erstaunlich einig gewesen. Natürlich war's nicht perfekt gewesen, das war das erste Mal Sex nie. Erst recht nicht, wenn man sich kaum kannte, sich eigentlich nicht leiden konnte und eine Partei betrunken war. Aber wir waren beide auf unsere Kosten gekommen und ich war noch lange nicht müde daran zurückzudenken. War schließlich der einzige schöne Moment, in dem der Engel sich nackt an mich geheftet hatte. "Als würde ich das jemals vergessen...", grinste ich etwas leiser vor mich hin, weil meine Gedanken sich was das anging eben doch immer sehr schnell ihren Weg in die vermeintlich falsche Richtung bahnten. "Aber ich meinte unter normalen Umständen... die andere Option beantwortet sich mir von selbst. Oder willst du behaupten, dass du keine Angst kriegen würdest, wenn ich wie vom Teufel besessen mit den Zähnen fletschend vor dir stehe?", stellte ich ihr eine amüsiert klingende, völlig rhetorische Frage. Jeder Mensch oder Engel, der in so einer Situation keine Panik kriegen würde, müsste dringend seinen Überlebensinstinkt suchen gehen oder an seinem Größenwahnsinn arbeiten. Ich schwieg schließlich ein paar lange Sekunden, bevor ich mich mit einem unzufrieden klingenden Seufzen aufsetzte und mir das Shirt mit einem zügigen Ruck vom Kopf zog. Es landete neben dem Bett auf dem Boden, kurz bevor sich die kurze Jogginghose dazu gesellte, die ich nach dem Duschen erst angezogen hatte. Nur noch in Boxershorts schob ich meine Beine dann unter die Bettdecke, zog sie locker bis zur Hüfte hoch und rollte mich auf die Seite, um den Engel noch besser ansehen zu können. "Es ist halt irgendwie... ich weiß gar nicht, was ich an Vollmond überhaupt machen soll, außer darauf zu warten, dass er vorbei ist. Normalerweise würde ich den Jagdtrieb stur ausleben, aber hier gibt's ja absolut Nichts, was sich für mich überhaupt zu jagen lohnt..." Außer Menschen, die wir ausnahmsweise mal gänzlich außen vor lassen würden. Wobei man bei Menschen ohnehin nicht von einer richtigen Jagd sprechen konnte. Kaum ein anderes Lebewesen auf meinem Speiseplan war so leicht zu eliminieren wie diese unfähigen Zweibeiner, da war das einzige Problem nicht dabei gesehen werden zu dürfen. Jetzt wo ich es ausgesprochen hatte, klang es auch gleich noch viel Frustrierender in meinem Kopf. Ein Werwolf, der an Vollmond nichts mit sich anzufangen wusste - ich hatte wirklich selten sowas Bescheuertes gehört. Da klang es fast schon weniger erbärmlich jahrelang auf Sex warten zu müssen, weil meine Angebetete mich nicht ranließ. "Deswegen würde ich trotzdem gerne mit dir raus, damit ich wenigstens nicht alleine am Arsch der Insel rumlungern muss... aber ich weiß nicht, was dann passiert.", erörterte ich Riccarda indirekt, wie ich zu meiner ursprünglichen Frage gekommen war. Natürlich wendete ich den Blick dabei nicht von ihr ab - in fröhlicher Erwartung darauf, ob sie mich jetzt auslachen und des Wahnsinns bezichtigen, oder mich völlig entgeistert ansehen würde. Sie war dumme Ideen meinerseits inzwischen aber doch eigentlich gewohnt, oder?
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Zuerst diese spielerische Andeutung eines Lächelns, dann der fokussierte Blick an die Decke. Aus eigener, vorangegangener Erfahrung wusste ich, dass es da direkt über dem Bett überhaupt nichts zu sehen gab. Trotzdem nahm ich den Abbruch unseres Blickkontakts in Kauf und nutzte die Zeit der Stille, um meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Nur mit dem Problem, dass sich gerade nicht viel Input in meinem Kopf befand. Der Tag war unglaublich lang und kräftezehrend gewesen – einerseits musste ich tatsächlich dringender als gedacht an meiner physischen Fitness arbeiten, aber wirklich auslaugend waren die teils durch Pausen unterbrochenen Gespräche, die mich mental wahrlich erschöpft hatten. Ich musste über all die ausgesprochenen Worte eine Nacht schlafen, mich in Ruhe damit ein weiteres Mal allein konfrontieren und die Kernessenz der einzelnen Themen herausfiltern. Dieses Vorhaben erledigte sich nicht binnen einer Stunde oder eines Gedankengangs, vor allem mit trägem Bewusstsein und einer herrlichen Verlockung, die Seele einfach baumeln zu lassen. Am sofortigen Einschlafen hinderte mich eigentlich eh nur das Sommerkleid, welches ich doch gerne gegen meine Shorts und das Top austauschen würde. Vielleicht waren meine Gedanken ja doch abgedriftet. Ich brauche nämlich ein oder sogar zwei Sekündchen, um mir den Kontext seiner Antwort wieder vor Augen zu rufen. Unweigerlich legte ich meine Stirn in Falten, als ich seine Reaktion betrachtete. Was gab es da zu grinsen? Meine Panik vor dem tobenden Gewitter hatte nicht gerade positive Auswirkungen für unsere ohnehin zerrüttete Beziehung zueinander, wobei ich da bevorzugt die betrunkene Eskapade gekonnt ignorierte. Das zählte doch nicht einmal richtig! Ich war weder ganz bei Sinnen, noch hätte ich von jeglicher Art der Ablenkung zurückgeschreckt. Isaac hatte meinen Wunsch nach zerstreuter Angst nur zu offenherzig in Angriff genommen, wofür ich ihm bei diesem einen Mal keinen Vorwurf machen; die Bereitschaft beruhte damals auf Gegenseitigkeit. Nun, wo ich dieses in sich gekehrte Grinsen genauer ins Visier nahm, ergab der zufriedene Ausdruck doch mehr Sinn: der werte Herr erinnerte sich nicht an meine Panikattacke, sondern an die berauschenden Konsequenzen meiner Angst. Immerhin sammelte ich kein Arsenal an Phobien in meinem Inneren, weshalb ich die Dunkelheit definitiv als problemlos erachtete. „Unter normalen Umständen denke ich nicht, dass ich im Dunkeln die Krise bekomme, wobei ich zugeben muss, dass ich noch nie wirklich allein in einem finsteren Wald stehen gelassen wurde.“ So viel also zu meinem Erfahrungswert, auf dem meine Einschätzung beruhte. „Wenn du mir aber plötzlich mit rasenden Augen und triefenden Lefzen gegenüberstehst, hätte ich Angst… egal ob dunkel oder nicht.“ So ehrlich durfte ich mir – und ihm – gegenüber ruhig sein, da Isaac bestimmt erraten würde, dass jede andere Antwort eine glatte Lüge wäre. Außerdem besaß ich Kräfte, mit denen auch als blutdürstender, überdimensionaler Wolf nicht zu spaßen war. Eine letzte Absicherung sozusagen, sollte Isaacs animalische Triebe mir gegenüber die Überhand gewinnen. Isaacs unwilliges Brummes lenkte meine Aufmerksamkeit zurück zu ihm. Ich sah nur kurz dabei zu, wie er sich aus seiner Kleidung schälte und einen durchtrainierten Oberkörper zur Schau stellte. Ja, er war durchaus ästhetisch sehr ansprechen, daran gab es keine Zweifel. Daran scheiterte es bisher auch nicht, da es eher seine wölfischen Sinne wären, die wohl ein Problem mit meinem Naturell hatten. Darüber dürften wir aber ebenfalls hinweg sein, überwiegend zumindest, denn der Dunkelhaarige wandte sich nun halb zugedeckt gänzlich mir zu und schien endlich mit der Sprache rausrücken zu wollen. Ich hörte ihm konzentriert zu, verstand dadurch, woher der Wind wehte. Seine Frustration sprang mir regelrecht aus jedem einzelnen Wort direkt ins Gesicht. Ein mitleidiger Ausdruck verdunkelte zwischenzeitlich meine Augen, ehe sich Verständnis darin breitmachte. Ich spürte förmlich, wie sämtliche Erwartungen bezüglich meiner Reaktion auf seinen Wunsch durch seinen Geist wanderten. Es wunderte mich selbst ein wenig, wie ruhig und gefasst ich darauf reagierte. Ich verzog nicht einmal die Miene. Vielleicht stimmte tatsächlich irgendetwas grundlegend nicht mit mir?! „Okay, wir können die Nacht auch zusammen absitzen.“ In Isolationshaft fernab jeglicher Zivilisation… nun machte seine aus der Luft gegriffene Frage bedeutend mehr Sinn für mich und ich wog leicht den Kopf hin und her. „Wir könnten Campen gehen. Rauf auf den Berg im Dschungel. Da wäre genug Platz, sodass du ausweichen könntest, sollte dir die… Situation zu viel werden und wenn alles wieder unter Kontrolle ist, weißt du ja, wo ich wäre.“ Und noch einmal: vollkommen schutzlos wäre ich dem Raubtier nicht ausgeliefert, was ich Isaac nun aber nicht vor den Latz knallte. Er wirkte gerade sehr sensibel auf mich, was ich nicht mit roher Direktheit zerstören wollte. „Keine Ahnung, ob das eine gute Idee ist, aber wenn wir es nicht ausprobieren, werden wir es auch nie erfahren.“ Wahrscheinlich klang ich jetzt noch mutiger als dann, wenn ich verlassen in einem Zelt mitten in der Pampa hockte und wusste, dass da ein unausgelasteter Werwolf durch die Gegend hetzte. Um ihm die Gelegenheit zu geben, den Vorschlag zu überdenken, erhob ich mich ächzend vom Bett und nahm mein Schlaf-Outfit gleich mit, als ich ins Bad verschwand, um mir die Zähne noch schnell zu putzen, bevor ich mich umzog. Die paar Minuten hatten hoffentlich gereicht, um eine Zu- oder Absage auf mein Angebot zu erhalten, trotzdem hakte ich nicht bei Isaac nach, sondern bequemte mich zuerst zurück auf meine Seite des Bettes, wo ich mir ebenfalls die Decke bis zum Bauch zog und tiefer in das Kopfkissen sank, ehe ich den Kopf drehte und ihn nun doch mit meinen Augen nach seinem Entschluss fragte.
Mir schien als würde Riccardas These zu Angst im Dunkeln auf sehr dünnem Eis stehen. Wie konnte sie denn zu wissen glauben, dass sie irgendwo im Nirgendwo nachts im Dunkeln keine Angst bekam, wenn sie es noch nie ausprobiert hatte? In meinen Augen machte es schon einen ziemlich gravierenden Unterschied, ob man nur im Dunkeln oder dabei mitten im Dschungel alleine war. Ich konnte nämlich nicht dafür garantieren, zwischendurch von ihrer Seite zu weichen, falls mich der Mond gar zu sehr lockte - mit nichts und wieder nichts zu fressen, aber diese Tatsache allein bremste keineswegs die Wirkung des Mondes, sondern nur meine Unfähigkeit irgendwas halbwegs Sinnvolles aus dieser Wirkung zu machen. "Es gehört sich wohl auch nicht, eine Frau nachts allein im Wald stehen zu lassen.", stellte ich trocken fest. Erst recht nicht, wenn es sich dabei um eine Prinzessin handelte. Ihre Eltern hätten Jedem, der das gewagt hätte, mit Sicherheit nicht weniger als die Hölle heiß gemacht. Bei mir konnten sie sich das allerdings sparen, ich würde ihr Kind im Fall der Fälle schon brav wieder einsammeln. Zeitpunkt unbekannt, aber spätestens wenn der Mond schwand, würde ich den Engel auflesen. Blieb zu hoffen, dass sie bis dahin dann tatsächlich keine Angst haben würde, beziehungsweise wir das gar nicht herausfinden müssen würden. Über ihre Angst gegenüber mir als offensichtlich bisslustigen Wolf brauchten wir uns nicht weiter zu unterhalten. Es war auch uninteressant verglichen mit der Antwort, die auf meinen indirekten Wunsch folgte. Nur nochmal zum Mitschreiben - ich hatte sie mehr oder weniger gefragt, ob sie in der gefährlichsten Nacht des Monats, wo ihr weiß Gott Niemand zur Hilfe eilen konnte, irgendwo mit mir alleine hingehen würde. Sie sagte einfach ja, wir könnten campen gehen. Im ersten Moment musste ich wohl so aussehen, als würde ich mich fragen, ob sie mich entweder verarschte oder noch ganz bei Sinnen war. Deswegen sagte ich auch erstmal noch gar nichts dazu, sondern entließ sie wortlos ins Bad. Angesichts der Tatsache, dass sie gestern Abend fast nackt vor mir herumgelaufen war, erachtete ich ihre Umzieherin im Nebenraum als jetzt noch überflüssiger als vorher schon - ausnahmsweise gab ich diesem Gedanken aber wenig Raum zur Entfaltung. Es galt noch zu verdauen, dass sie mir inzwischen wohl so sehr vertraute, dass sie sich mindestens eine 50%ige Chance auf einen guten Ausgang jener Nacht im Freien machte. Obwohl ich gesagt hatte, dass ich keine Ahnung haben würde, was passierte, wenn sie mit mir da raus ging - das mussten wir eben erst rausfinden, wie sie so schön sagte. Eigentlich wollte ich nicht, dass wir diese leichtsinnige Entscheidung im Nachhinein bereuen mussten... aber was war, wenn es gut ging und ich nichts Dummes anstellte? Es würde unsere Bindung zueinander stärken, wenn sie selbst diese Seite von mir kannte und wir könnten vielleicht sogar eine schöne Zeit zusammen haben. Nur zu zweit, völlig abseits vom Trubel. Die unmöglich vorher zu beantwortende Frage blieb leider, wie realistisch das war. Vielleicht würde ich dem Engel auch wie ein schwer unterfordertes Kind durchgehend auf die Nerven gehen, denn eins war sicher - ich für meinen Teil würde in dieser Nacht keine Sekunde schlafen. Ich hatte mich in der Zwischenzeit zurück auf den Rücken gerollt. Mit dem leicht angewinkelten Kopf ließ es sich ganz gut nachdenklich in den Raum starren, bis Riccarda zurückkam. "Kann ich dir vorher noch einen Haftungsausschuss ausdrucken?", stellte ich ihr eine sarkastische Frage, während sie noch auf dem Weg zum Bett war. Ich wollte mir im Nachhinein auf jeden Fall nicht anhören dürfen, dass ich sie vor keinerlei Konsequenzen gewarnt hätte, auch wenn ich ihr nicht wirklich was zum Unterschreiben hinblättern würde. "Campen klingt eigentlich ganz gut... dann hast du's zur Not auch ohne mich warm.", meinte ich eingangs etwas nachdenklich. Es könnte passieren, dass ich es vor lauter aufgekratzt sein nicht zurück in meine menschliche Gestalt schaffte, wenn ich erstmal auf Pfoten unterwegs war. Sollte ich also wegen Zwei-Meter-Wolf-Platzmangel außerhalb des Zelts verweilen müssen, müsste der Engel im Inneren trotzdem nicht frieren. "Aber wir sollten uns dann definitiv ein paar Beschäftigungen überlegen... wenn ich nichts zu tun habe, sind unangenehme Zwischenfälle sonst wahrscheinlich vorprogrammiert.", gab ich zu bedenken. Ein nur gelangweilt rumsitzender Wolf war nämlich ein Wolf, der auf dumme Gedanken kam. Meistens sehr blutige, im Falle einer Vollmondnacht. Vielleicht eine Partie Schach - nicht als wäre ich je gut darin gewesen, aber es würde mich geistig beschäftigen -, vielleicht ein paar Marshmallows über Feuer, eine zeitlich begrenzte Nachtwanderung... wir sollten uns zumindest vorher ein paar Ideen parat halten, falls ich unleidlich wurde, was relativ sicher passieren würde.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
„Ich bezweifle, dass deinem wölfischen Teil die Etikette stark am Herzen liegt“, merkte ich amüsiert an und kniff die Augen dabei kurz zu einem raschen Zwinkern zusammen. Es gehörte sich eigentlich nie, dass man jemanden einfach so – wie bestellt und nicht abgeholt – stehen ließ, aber wahrscheinlich musste ich ihm zustimmen: eine junge Frau im finsteren Urwald zurückzulassen galt sicherlich nicht als heroisch oder anderweitig gern gesehen. Dennoch grinste ich leicht bei dem Gedanken, dass ausgerechnet diese Antwort über Isaacs Zunge gerutscht war. Anhand des sehr trockenen, wahrscheinlich sogar skeptischen Tonfalls griff ich erneut die Eventualität einer Angstreaktion meinerseits im Dunkeln auf: „Ich verspreche dir lieber nicht, dass mir die Finsternis im Dickicht eines Dschungels keine Furcht einflößt, aber ich werde nicht hysterisch schreiend nach dir suchen, sollte mich die Panik auf einmal überkommen.“ Mein Versuch, locker mit der Aussicht einer einsamen Nacht in den Bergen umzugehen, wurde von einem vagen Grinsen unterstützt. Im Laufe des Tages hatte ich mir selbst bereits mehrfach bewiesen, dass ich meinen Mut zusammenkratzen konnte und so wollte ich diese Herausforderung ebenfalls als Möglichkeit sehen, über mich hinauszuwachsen. Den kühlen Schauder, der über meinen Rücken lief, ignorierte ich lieber vorerst, vergrub mich instinktiv ein paar Zentimeter weiter in der flauschigen Bettdecke. Sein geradezu entsetzter Gesichtsausdruck, aus dem die Frage um meine geistige Zurechnungsfähigkeit sprach, läutete meinen Gang ins Badezimmer ein, wo ich mir absichtlich ein oder zwei Minuten mehr Zeit nahm, um Isaac meine Bereitwilligkeit verdauen zu lassen und ruhig über den Vorschlag nachzudenken. Als ich zurück in das Schlafzimmer kehrte, wuselte ich absichtlich mit geradem Blick zurück auf meine Seite, wiederholte das vorherige Prozedere des Zudeckens und gemütlichen Einrichtens, bevor ich mich innerlich wappnete und einmal tief durchatmete. Dann erst fühlte ich mich bereit, mich erneut der Ungläubigkeit in Isaacs Augen zu stellen. Naja, er wirkte noch immer nicht sonderlich überzeugt von der Klugheit dieser spontanen Idee eines Campingausflugs. Seinen Sarkasmus durfte er gerne ausleben, jedoch erhielt er – reichlich verspätet – ein halbherziges Lächeln dafür: „Nur, wenn ich vorher ordentlich über sämtliche Risiken und Gefahrenpotentiale aufgeklärt wurde.“ Obwohl ich nicht glaube, dass er es ernst mit dem Haftungsausschuss meinte, würde ich ihm so einen Wisch im Notfall auch unterschreiben, obwohl ihn das mit Sicherheit nicht vor dem geballten Zorn meiner gesamten Familie bewahren würde, sollte mir tatsächlich durch ihn ein todbringendes Leid zugetragen werden. Düstere Gedanken, von denen ich schnellstmöglich wieder Abstand gewinnen wollte und deshalb leicht den Kopf schüttelte; als ob sich die dunklen Wolken in meinem Kopf dadurch abwimmeln ließen. Immerhin stieß mein Vorschlag nicht auf abfälligen Zynismus. Ich hörte dem jungen Mann an, dass er nach wie vor keinen großen Gefallen an der Idee fand, jedoch blockte er nicht komplett ab. Suchte Isaac etwa nach dafürsprechenden Argumenten? Abwägend musterte ich sein Seitenprofil. „Du sorgst dich darum, dass mir eventuell kalt sein könnte?“ Nun war ich es, die etwas überrumpelt aus der Wäsche schaute. Ich wusste nicht, wie kühl es des Nachts im Dschungel wurde, aber ich gedachte, mich ausreichend darauf vorzubereiten. Ebenso wie ich bereits vermutet hatte, dass wir uns ein ordentliches Beschäftigungsprogramm für den jagdtriebgesteuerten Wolf überlegen sollten. „Ich weiß, dass es die eigentliche Jagd nicht ersetzt und dein Verlangen kaum befriedigen wird, aber wir könnten am Lagerfeuer grillen.“ Ein paar Häppchen im Magen wären sicherlich besser als ein grummelnder Bauch bei Vollmond. „Oder was denkst du, wird dich am besten ablenken?“, integrierte ich Isaac in meine lauten Überlegungen. Meiner Annahme nach wusste er am besten darüber Bescheid, was ihn ausreichend beschäftigte, um nicht von Minute zu Minute unruhiger zu werden. Meine Campingausflüge ließen sich an einer Hand abzählen, falls man überhaupt von richtigem Campen sprechen konnte: es handelte sich um ein paar Zelte auf dem riesigen Palastgrundstück meiner Eltern bei dem entlegenen See, wo wir ein Wochenende lang eine Party geschmissen hatten. Vergleichbar würde der Trip mit Isaac wahrscheinlich nicht werden, also wusste ich auch nicht, was für Beschäftigungs-Optionen sich uns überhaupt ergaben.
"Tut sie nicht.", bestätigte ich Riccardas Worte vollkommen ungeniert und musste dabei unweigerlich kurz grinsen. Ich wusste ganz genau, dass es den Werwolf in mir nicht die Bohne interessieren würde, ob er eine Frau im Wald zurückließ. Vollkommen irrelevant, ob es sich dabei um eine bekannte oder unbekannte Person handelte... oder doch nicht? Als die zierliche Blondine sagte, dass sie nicht hysterisch durch die Gegend kreischen würde, nur weil ich sie alleine stehen ließ, regte mich das zum Nachdenken an. Mein Gehör war sehr empfindlich, wahrscheinlich war nur meine Nase noch sensibler. "Vielleicht solltest du doch schreien.", meinte ich und drehte mich wieder auf die Seite. Ich wusste nicht weshalb, aber Riccarda anzusehen half mir dabei nachzudenken. Vielleicht war das eine blöd Idee, weil es möglich war, dass ich es mir zu leicht vorstellte und es nicht funktionierte. Einen Versuch war es im Ernstfall meines Erachtens nach aber wert, bevor zu anderen Mitteln gegriffen wurde. "Also nicht, weil ich mir wünsche, dass du dich so sehr fürchtest... aber es könnte mich auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Wenn du zu sehr Angst hast oder im Notfall, meine ich... falls ich durchdrehe. Bevor du mich mit... naja, den Fingern schockst... spreng' mir bitte versuchsweise zuerst den Gehörgang.", ich versuchte es humorvoll zu verpacken und warf ihr am Ende ein schiefes Grinsen zu, meinte es im Grunde jedoch ernst damit. Sollte sie wirklich ziemlich hartnäckige Angst bekommen, weil der Wolf in mir die Biege machte und sie alleine stehen ließ, könnte sie mich mit einem schrillen Schrei vielleicht zurückpfeifen. Oder wenn mir tatsächlich so sehr die Sicherungen durchbrennen sollten, dass ich es auf sie abgesehen hatte - was ich wirklich nicht hoffte, aber garantieren konnte ich das eben leider nicht. Wir wappneten uns also besser für alle möglichen Eventualitäten. Ich stützte mich auf den Ellbogen, den Kopf in die Hand gelegt. Für ein paar Sekunden lang blickte ich schweigend zu Riccarda runter, als sie ganz formal über alle möglichen Zwischenfälle aufgeklärt werden wollte. "Wenn ich das mache, überlegst du's dir vielleicht anders... und das will ich nicht.", antwortete ich ehrlich und streckte die Hand nach ihr aus, um eine dünne, verirrte Strähne zurück hinter ihr Ohr zu streichen. Im Gegensatz zu meiner Frau wunderte ich mich herzlich wenig darüber, dass ich mich um ihr Wohlergehen sorgte. Ich begann ihr Gesicht zu mustern, als würde ich nicht längst jeden Quadratmillimeter davon in- und auswendig kennen. "Ich hab dich heute rumgeschleppt, als wär ich ein Einhorn und kein Werwolf... und es wundert dich trotzdem?", wies ich sie mit einem Hauch Sarkasmus zum Ende darauf hin, dass es inzwischen ziemlich offensichtlich war, dass sie mir nicht egal war und strich dabei mit dem Daumen über die dünne Haut vor ihrem Ohr. Ja, ich interessierte mich für sie und für ihr Wohlergehen. Nein, ich wollte nicht, dass sie fror. Weder in einer Vollmondnacht, noch in irgendeiner anderen. Ich zog meine Hand wieder zu mir zurück, hatte sie ihren Job doch längst erledigt. Die Strähne war ein mehr oder weniger guter Vorwand gewesen sie anzufassen. Ein bisschen zu grillen könnte mich vorübergehend ablenken. Sicher nicht ewig, aber solange ich darauf achten musste, dass mir das Fleisch nicht anbrannte und gleichzeitig entsprechende Gerüche in der Luft hingen, könnte das durchaus funktionieren. "Wirklich wasserdichte Vorschläge machen kann ich dir auch nicht. Normalerweise versuche ich in dieser Nacht alles, nur ganz bestimmt nicht Ruhe zu bewahren.", stellte ich allem voran fest. Ich konnte vielleicht etwas besser mutmaßen, was theoretisch funktionieren könnte, als ein völlig unwissender Engel, aber das war's dann auch. "Grillen klingt aber ganz gut. Ich denke so ziemlich alles, was meine Sinne oder mein Hirn beschäftigt hält, könnte für eine Weile funktionieren.", überlegte ich laut weiter, als ich mich auf den Rücken zurückfallen ließ und die Augen wieder an die Decke heftete. "Glücklicherweise haben wir noch ein paar Stündchen Zeit, um uns das zu überlegen." Vielleicht würde auch Musik im Worst Case helfen. Es bräuchte keine hohe Lautstärke, damit sie als Geräuschquelle in unmittelbarer Nähe die äußeren Umwelteinflüsse etwas in den Hintergrund rückte und meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Meinen Tastsinn zu beschäftigen dürfte allerdings schwierig werden, ohne auf Glatteis zu kommen. Ich sollte Riccarda wohl besser auch noch das richtige Verhalten schildern, für den in meinen Augen unwahrscheinlichen Fall, dass ich sie als Beute in Betracht zog. In so einem Moment sollte sie tunlichst alles vermeiden, was meinen Jagdinstinkt triggerte.
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Seine Bestätigung kam nicht unbedingt überraschend, weshalb ich diese mit einem schwachen Grinsen quittierte. Der amüsierte Ausdruck haftete jedoch nur kurz in meinen Zügen, wich stattdessen ehrlicher Überraschung. „Wie meinst du das?“, hakte ich reflexartig nach, obwohl mir Isaac sicherlich in den nächsten paar Sekunden eine Erklärung geliefert hätte. Ich war ihm zuvorgekommen, hielt dafür nun aber wieder brav den Mund und beschränkte mich aufs Zuhören. „Bist du dir sicher, dass dich das nicht nur noch rasender machen würde, wenn ich wie am Spieß schreie?“ Wahrscheinlich konnte es so oder so ausgehen: einerseits machte es ihn vielleicht regelrecht wahnsinnig, wenn da ein potentielles Opfer hysterisch kreischte, andererseits verletzte die schrille Lautstärke sein empfindliches Gehör ausreichend, um ihn gar in die Flucht zu schlagen oder zumindest ein bisschen zurückweichen zu lassen. Es schien mir ein Spiel mit dem Feuer zu sein, aber handelte es sich bei dem ganzen Campingversuch nicht um ein einziges großes Risiko? Isaac bemühte sich um eine humorvolle Bemerkung, die ich mit einem dezenten Grinsen belohnte. Geplatzte Trommelfelle – obwohl ich meine Stimme sicherlich nicht so weit in die Höhe schrauben könnte – vor elektrogeschockte Muskel- und Nervenfasern; verstanden. Vielleicht hielt das Wissen um meine fiesen Fingerchen im Hinterkopf den Wolf ohnehin zurück, mich anzugreifen – Isaac würde mir wahrscheinlich keine ausreichend gute Antwort liefern können, weshalb ich ihm die Frage gar nicht erst stellte. Ohnehin lenkte mich Isaacs Bewegung direkt neben mir, insofern ab, dass ich seine Handlung beäugte und abwartete. Obwohl ich längst nicht mehr mit gewaltsamen Übergriffen rechnete, fühlte ich mich ein bisschen besser in meiner Haut, wenn ich sah, was der mir physisch überlegene Mann so in meiner unmittelbaren Umgebung anstellte. „Na gut, dann lassen wir das mit dem Aufklärungsgespräch“, akzeptierte ich seine indirekte Bitte und nickte leicht. Ich konnte ihm nicht versprechen, dass ich nach der Offenlegung sämtlicher Gefahrenquellen immer noch das Rückgrat besaß, um mit ihm den Ausflug in die Berge zu unternehmen. Da erschien es mir ebenfalls als klüger – nicht vernünftiger, aber klüger! –, nicht zu wissen, welchen Risiken ich mich genau aussetzte. Am Ende versaute uns mein Wissen über die Problematik noch einen Abend, der anderenfalls sauber über die Bühne gegangen wäre. Mehr hatte ich zu dem Thema also nicht mehr zu sagen; mehr gab es auch nicht mehr hinzuzufügen. Isaac schien derselben Meinung zu sein. Beinahe würde ich die Berührung am Rande meines Gesichts als liebevoll bezeichnen, wie er mir vorsichtig eine Haarsträhne hinters Ohr klemmte und danach mit seinem warmen Daumen über meine Haut strich. Ich genoss die Nähe zu einem anderen Menschen, fehlte mir diese Art der Zuneigung mittlerweile doch in solch einem Ausmaß, dass ich es bereits bewusst bemerkte. Trotz des intimen Moments kicherte ich leise vor mich hin. „Du hast dich also wie ein Einhorn gefühlt?“ Isaac musste nicht auf die rhetorische Frage eingehen, ich wollte ihn lediglich necken. Dahingenen lag es mir doch am Herzen, das Missverständnis direkt wieder aus der Welt zu schaffen: „Nein, nein. Ich wundere mich nicht darüber, dass du dich um mein Wohlergehen kümmerst, sondern dass du dich um mein Kälteempfinden sorgst.“ Ich betonte die beiden Wörtchen extra, um den Unterschied, worauf ich hinauswollte, genauer hervorzuheben. „Ich könnte zwischenzeitlich als blondes Grillhühnchen vor deinen Augen erscheinen, an dem du zu gerne knabbern würdest… da ist es wohl relativ, ob ich zwischendurch gern einen Pullover mehr anhätte oder nicht“, erklärte ich meine, wenngleich sehr pragmatische, Denkweise. Isaac wollte nicht näher auf die Gefahren eingehen, aber ich ging fest davon aus, dass weit oben auf der Liste ich als Beutemöglichkeit stand. Keine sonderlich angenehme Vorstellung, aber ich vertraute auf einen guten Ausgang der Geschichte. Eine Chance, weiter zusammenzuwachsen und stärker aus dem Erlebnis hervorzugehen. „Dann werden wir dich also ordentlich fordern müssen…“, schloss ich aus der wenig hilfreichen Antwort, behielt das zarte Abbild eines Lächelns aber weiterhin tapfer bei. „Genau, wir haben ja noch ein bisschen Zeit, um uns einen passenden Zeitvertreib für dich zu überlegen“, seufzte ich. „Schade, dass man kein Werwolf-Ersatzprogramm für Vollmondnächte googlen kann“, sinnierte ich laut und grinste dabei selbstironisch vor mich hin. Ich nahm zwar die Thematik durchaus ernst, aber ein wenig Humor zum Auflockern tat niemandem weh. Unsere Beziehung zueinander war mittlerweile ausreichend gefestigt, um solche Bemerkungen auszuhalten, aber um sicherzugehen, dass Isaac trotzdem wusste, dass ich ihm beistehen würde und er nicht allein mit dem Problem dastand, rückte ich kurzerhand den halben Meter auf und bettete meinen Kopf auf seine Schulter. Ein stummer, solidarischer Beweis, dass ich ihm zur Seite stand – selbst, wenn wer in besagter Nacht furchtbar unleidlich und anstrengend sein würde. Seine Körperwärme umhüllte mich beinahe in Sekundenschnelle und erinnerte mich umgehend an meine zwischenzeitlich erfolgreich verdrängte Müdigkeit. Seufzend rollte ich mich in eine seitliche Lage, sodass ich bequemer lag. Die Erschöpfung forderte nun endgültig ihren Tribut.
Tja, da verhielt es sich wohl genauso wie mit fast allen anderen Dingen in der anstehenden Vollmondnacht - aufgrund mangelnder Erfahrungswerte meinerseits stand die Chance bei Fünfzig zu Fünfzig. Es könnte mich genauso zurück auf den Boden der Tatsachen beordern, wie es mich reizen könnte, wenn Riccarda schrie. Möglicherweise kam es dabei auch stark darauf an, welche Tonlage sie genau anschlug und ob sich wirklich Angst hinein mischte oder nicht. "Nein.", beantwortete ich dem Engel also auch diese Frage wahrheitsgemäß. "Aber wenn die Chance darauf besteht, dass es funktioniert, ist mir das lieber als wieder tagelang mit verbranntem Gesicht rumzulaufen.", führte ich etwas trocken weiter aus. Ich erinnerte mich noch bestens daran und die Verletzungen, die den Fingern des Engels entsprangen, heilten im Vergleich zu allen anderen wirklich quälend langsam. Sicherlich immer noch schneller als bei einem Menschen, aber ihre Engelsfinger waren für mich als Wolf offensichtlich Gift. "Gibts noch andere fabelwesenartige Tiere ohne gefährliches Gebiss, die gewöhnlich als Reittiere fungieren? Mein Empfinden ist da flexibel." Ich rollte beiläufig mit den Augen, ohne dabei die gute Laune zu verlieren. Mir reichte das Wissen aus, dass ich gewiss kein Kuscheltier war, wenn man mich auf dem falschen Fuß erwischte, um leicht über die kleine Provokation hinwegzugehen. Schließlich wussten wir das beide zu gut. Riccarda hatte wohl Recht damit, dass es ihr in dem Augenblick, wo ich mit rasendem Blick vor ihr stehen würde, ziemlich am Allerwertestem vorbeigehen würde, ob sich kältebedingt eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete oder nicht. Ich war schon drauf und dran darauf zu antworten, als sie mir mit der Vorstellung eines menschengroßen Grillhühnchens zuvorkam. Der Gedanke daran war natürlich amüsant und zog meine Mundwinkel leicht nach oben, aber realistisch war das nicht. Menschen waren meine bevorzugte Mahlzeit, wieso sollte ich also mental auf Huhn umsteigen? "Ich behalte dieses Bild gerne im Kopf, bis wir mal zu einer Kostümparty gehen.", erwiderte ich ironisch. Ich würde nicht mit einer Frau als Hühnchen verkleidet auf eine Party gehen wollen, da grätschte mir mein Stolz und mein Anspruch an eine anziehend wirkende Partnerin dazwischen. Der bloße Gedanke blieb dennoch unterhaltsam. "Mir ist schon klar, dass du in so einem Moment sicher andere Sorgen hast... aber wenn ich mich tatsächlich aus dem Staub mache, solltest du nicht auch noch frieren müssen. Ich kann das schlecht einschätzen, ich frier' selten." Ich zuckte kaum merklich mit den Schultern, es ging ziemlich im Kissen unter. Mir selbst war das Gefühl von Kälte auf der Haut relativ fremd. Erst bei arktischen Temperaturen von minus zwanzig Grad oder kälter merkte ich deutlich, dass mein Körper sich schwer damit tat der Kälte entgegenzuwirken. Auch da kam mir mein stetiger tierischer Begleiter sehr zugute. Ich könnte mir tatsächlich vorstellen, dass sie im Internet fündig werden würde, wenn sie nach einem wölfischen Auslastungsprogramm fragen würde - in irgendwelchen fiktiven Fanforen junger Frauen, die sich irgendwie am Gedanken eines flauschigen Werwolfs erfreuten, weil sie die Realität nicht kannten. Die dort gefundenen Antworten wären allerdings dementsprechend dämlich. "Wir werden das schon geschaukelt kriegen, auch ohne fachkundige Internet-Werwolf-Experten.", sagte ich kopfschüttelnd und nicht weniger ironisch als sie, kurz bevor die zierliche Blondine zu mir rückte. Vielleicht hatte ich schon ein winziges Bisschen gehofft, dass sie näher kommen würde, weil ich letzte Nacht was das anging wohl Blut geleckt hatte. Damit mein Arm nicht nervig zwischen uns beiden klemmte, streckte ich ihn zeitnah nach ihren Schultern aus. Als ich merkte, dass ihr ruhiger werdender Herzschlag sich allmählich für den Schlaf wappnete, murmelte ich noch ein leises "Träum schön." zu ihr runter, die Nase dabei ansatzweise in ihren frisch gewaschenen Haaren vergraben.
Drei Tage später wurde es dann tatsächlich ernst. Riccarda machte keinen Rückzieher, obwohl uns beiden mit zunehmender Diskussion über die Vollmondnacht und mögliche Beschäftigungen klar war, dass die Nacht ziemlich holprig werden könnte. Die Chancen stünden sicherlich besser, wenn ich ein oder zwei Tage vorher mal ordentlich auf die Jagd hätte gehen können, aber das war zwangsweise gestrichen. Ich lud also am späten Nachmittag alles, was wir voraussichtlich für den Ausflug über Nacht brauchten - oder brauchen könnten, wir waren für so gut wie jede Eventualität gewappnet - ins Auto. Das verwandte Ehepaar war glücklicherweise recht gut mit Camping-Kram ausgestattet, weil sie wohl so eine Phase gehabt hatten. Ich hatte Harry danach gefragt, weil Riccarda beim Abendessen neulich von einer Überraschung gesprochen hatte und es nicht dienlich für meine Gestaltwandler-Tarnung wäre, das plötzlich zu revidieren. Die beiden fragten sich bestimmt sowieso schon, warum wir nicht einfach auf das ach so tolle Fest gingen, wir brauchten ihnen also nicht noch mehr Unstimmigkeiten zur Spekulation zu geben. Als fitter, junger Werwolf tat ich mir glücklicherweise nicht schwer damit, das Beladen des Kofferraums allein - mit zeitweiser, plappernder Hilfe von Harry - zu übernehmen. Danach ging ich zurück nach drinnen, weil der Engel gerade unseren Proviant zusammenpackte. Ich hatte ihr offiziell ja zumindest verraten können, dass wir nachts nicht bei irgendeinem Takeaway anhalten würden, sondern selbst fürs Essen zuständig waren. Blieb nur noch zu hoffen, dass mein wölfisches Hirn keine anderen Pläne hegte und wir uns nicht schon beim Zeltaufbauen in die Haare bekamen, nur weil ich dank des nahenden Mondes bereits unter Strom stand.
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Die penible Planung unseres ausstehenden Vollmond-Campings fraß unheimlich viel Zeit, da wir an so unglaublich viele Dinge gleichzeitig denken mussten. Im Grunde glitten wir von einer Diskussion in die nächste hinein, da immer wieder ein neues Thema aufkam, über das Einigkeit herrschen sollte – mir lag es nicht nur primär aus Eigenschutz am Herzen, dass dieser Ausflug ein Erfolg wurde, auch stand die mühsam aufgebaute Beziehung zwischen Isaac und mir auf dem Prüfstand und ich wusste nicht, ob meine Motivation zur Zusammenarbeit sonderlich gestärkt aus der Sache herausging, sollte es zur kompletten Katastrophe mutieren und ich mich mit einem derartigen Problemchen für den Rest meines Lebens herumschlagen musste. Also ja, ich wollte mit jeder Faser meines Seins, dass diese Schnapsidee funktionierte und wir uns nicht wegen unerwarteter Komplikationen und falscher Verhaltensweisen schlussendlich unnötig stritten. Eine Auseinandersetzung mit einem unterforderten Werwolf bei Vollmond erschien mir wenig erstrebenswert. Ein oder zwei Mal – als mir erneut so richtig bewusst die Vernunft eine saftige Schelle verpasste, welch dämlichen Risiko ich mich eigentlich auszusetzen bereit war – bettelte mein Selbsterhaltungstrieb mit allem aufbringbaren Nachdruck darum, dass ich mein Angebot zurücknahm und mich lieber irgendwo in einem sicheren Zimmer verschanzte. Doch ich blieb standhaft; trotz der immer wiederkehrenden Wellen der Nervosität und Aufregung. Isaac hatte meine Lüge bezüglich der Überraschung (weswegen wir auch nicht am großangelegten Fest mit unserer Präsenz glänzen konnten) aufgegriffen und in aller Heimlichkeit Harry um ein Zelt sowie diverse Campingausrüstung gebeten, die er momentan im Begriff war, gemeinsam mit meinem Onkel in dem Jeep zu verstauen. Da ich im Grunde sehr gut über unser Vorhaben unterrichtet worden war, mussten wir ein paar Ausreden erfinden, weshalb ich mich ebenfalls nützlich machen konnte und zumindest Proviant zusammenpacken durfte. Ich hatte am Vortag eine Kühltasche in einem der unzähligen Abstellkammern ausfindig gemacht, gereinigt und füllte sie nun mit diversem Grillgut und anderen Lebensmitteln, die nicht bei tropischen Temperaturen im Rucksack transportiert werden sollten. Ich klaute zudem einen Gitterrost, den wir wahrscheinlich abends zum Grillen überm Lagerfeuer brauchen könnten, und verstaute diesen geschickt zwischen anderen unabdingbaren Utensilien: anfangs hatte es mich noch köstlich amüsiert, aber Isaac schien es tatsächlich ernst damit zu sein, sogar Gesellschaftsspiele einzupacken. Ihm schien jegliche Art der Ablenkung recht zu sein, sofern es nur ausreichend Beschäftigung für ihn bereithielt. Um den Schein weiterhin zu wahren, übernahm der Dunkelhaarige auch die Aufgabe, die restlichen Taschen in den Kofferraum des Jeeps zu räumen, während ich mich ein bisschen abseits mit meiner Tante unterhielt. Natürlich hatte Harry den Mund nicht halten können, weshalb Eve bestens über unseren Campingtrip Bescheid wusste und sie eine Art wissendes Funkeln in den Augen trug, wann immer sie zwischen Isaac und mir hin und her schaute. Innerlich verdrehte ich die Augen darüber, spielte aber äußerlich brav die Unwissende, indem ich blind ein paar Vermutungen tätigte. Ich kam mir durchaus ein bisschen blöd dabei vor, aber das ließ sich in der Situation eben nicht vermeiden und so erduldete ich die zähen Minuten bis zu unserem Aufbruch. Isaac konnte gar nicht schnell genug fertig werden und mich daran erinnern, dass wir nun langsam wirklich aufbrechen sollten, da landete ich bereits in einer engen Umarmung meiner Tante und bekam beste Wünsche auf dem Weg zu dem Geländewagen nachgerufen. Ich winkte grinsend über die Schulter zurück, verdrückte mich dann aber eilig auf den Beifahrersitz und seufzte dort einmal langgezogen – und theatralisch – auf. „Bist du bereit?“, richtete ich mich fragend an Isaac, der die Hände bereits ans Steuer gelegt hatte und ausparkte. Wir hatten viele Stunden damit zugebracht, die perfekte Location für unseren Zeltplatz auszusuchen, schließlich mussten gewisse Kriterien erfüllt werden! Schlussendlich hatten wir ein sehr abgelegenes Plätzchen fernab jeglicher feierlichen Aktivitäten beziehungsweise Wanderwege, die für Fackelausflüge genutzt werden könnten, gefunden, zu dem wir nun per Navi-Lotsung auf den Weg waren. Die Aufregung wuselte wie ein kleines Tier durch mein Inneres, wühlte mich immer wieder ein wenig auf und streute Unruhe. Ob Isaac ebenfalls nervös war? Noch sah ich ihm keine äußerlichen Anzeichen an, wobei mir aufgefallen war, dass er heute sogar noch wortkarger als sonst mit den restlichen Hausbewohnern umgesprungen war und ich dies wohl als ersten Indiz seiner Anspannung werten durfte. Auch jetzt erfüllte nur die leise Radiomusik die Stille zwischen uns, hier und da unterbrochen von der nasalen Männerstimme des eingebauten Navigationsgeräts. Wir hatten einen wirklich abgelegenen Ort ausgewählt, beinahe am anderen Ende der Insel, wo sich die Wildnis noch ziemlich hartnäckig an jeden Quadratmeter klammerte, nicht vor der Zivilisation weichen wollte. Natürlich gab es dennoch tausende Wanderrouten und Erlebnispfade durch den Dschungel, aber wir gedachten so weit oben am Berg zu sein, dass wir die einzigen in dem Kammwald wären. Ein weiteres Auswahlkriterium bei der Auskundschaftung potentieller Campingmöglichkeiten war die Erreichbarkeit mit einem Auto, denn weder Isaac noch ich sahen uns bereit, sämtliches Zeug die Anhöhe hinaufzuschleppen; ich noch weniger als mein Gefährte. Immerhin gab es laut Artikelrecherchen hier und da Forstwege in die höheren Lagen des Gebiets, was nur leider nicht hieß, dass diese Straßen auch leicht zu finden wären. Unser Exemplar erwies sich als besonders alt, verwildert und dementsprechend ungenutzt heraus, weshalb wir direkt beim ersten Mal zügig daran vorbeifuhren und erst nach einer Weile auf unseren Fehler aufmerksam wurden. Das Navi hatte uns schon vor ein paar Minuten aufgrund von Empfangsschwierigkeiten im Stich gelassen, sodass es Isaacs hervorragender Sicht zu verdanken war, dass wir mittlerweile auf dem vielversprechend zugewachsenen Weg entlangrumpelten.
Ich hatte nichts gegen Eve und Harry, war aber dennoch mindestens genauso froh darüber wie Riccarda, die beiden vorübergehend hinter uns zu lassen. Gefühlt waren die beiden aufgeregter hinsichtlich des Ausflugs als wir, was mir doch etwas aufs Gemüt schlug. Ich war ohnehin kein besonders großer Freund von Quasselstrippen, aber Harry war heute besonders nervig mit seinen Ratschlägen und Tipps. So hartnäckig wie er damit war, mir die Natur der Insel zu erklären - was im Übrigen vollkommen überflüssig war -, ließ es sich eben auch nur bedingt ausblenden. Ich war also mehr als bereit dazu aufzubrechen, als Riccarda und ich uns final ins Auto setzten, um das Haus - mitsamt ihrer Verwandten - hinter uns zu lassen. "Die Frage sollte ich eher dir stellen, oder?" Eine eher rhetorische, leicht trocken klingende Frage. Der Werwolf in mir wetzte sich tief in meinem Innern längst die Krallen und bereitete sich mental auf ein Blutbad vor, das gar nicht stattfinden würde. Ich war also froh darüber Abstand zur Zivilisation zu gewinnen, um nichts Unüberlegtes anzustellen. Aber war der Engel wirklich bereit, sich mit mir auseinandersetzen zu müssen? So wie die Unruhe jetzt schon durch meinen Körper schwappte, nur weil der Mond sich allmählich noch außer Sichtweite auf den Weg zu seinem heutigen höchsten Punkt am Himmel machte, würde die Nacht ganz besonders lustig werden. Spätestens jetzt war ich mir also im Klaren darüber, dass das eine wirklich blöde Idee war. Ich war auf jeder erdenklichen Ebene komplett unausgelastet, was hatte ich mir dabei gedacht? Es war für diese Gedanken ohnehin bereits zu spät gewesen, als ich vorhin den Jeep beladen hatte. Der Weg zum von uns auserkorenen Camping-Ort gestaltete sich leider auch nicht so leicht, weil auf die Technik wie so oft im entscheidenden Moment kein Verlass war. Es war hauptsächlich meinem inneren Navigationssystem und meinen schon jetzt geschärften Sinnen zu verdanken, dass wir irgendwann dann doch noch den Waldweg fanden, der uns den Hang nach oben bringen sollte. Zu meinem Missfallen nahmen es die Inselbewohner mit der Bewirtung ihrer Forstwege nicht allzu genau und dementsprechend unschön ließ sich der Weg nach oben fahren - es wucherte alles Mögliche aus dem Boden, der Untergrund wechselte von einstigem Kiesweg zu oberflächlichem Matsch und Schlaglöchern. Ich war nicht zart besaitet, aber es nervte schrecklich derartig hinter dem Steuer durchgeschüttelt zu werden. Es wäre eben auch sehr viel einfacher den Weg auf vier Pfoten zurückzulegen. Mal ganz davon abgesehen, dass es auch wesentlich schneller gegangen wäre, als im gefühlten Schneckentempo mit dem Auto den Hang hochzukriechen, weil sich ein höheres Tempo nur noch negativer auf den schon nicht vorhandenen Komfort ausgewirkt hätte. Ich machte gedanklich drei Kreuze, als wir endlich angekommen waren und ich den Motor abstellen konnte. Keine Zeit verlierend stieg ich aus dem Wagen, nur um an der frischen Luft einmal etwas tiefer durchzuatmen. Hier auf der anderen Seite der Insel war es weniger schwül als im tiefen Dschungel, was ich wirklich willkommen hieß. Sollten wir tatsächlich eines Tages hierher ziehen, dann bitte auf diese Seite des Paradieses. Dank unseres ungeplanten Umwegs auf der Strecke war die Dämmerung nun schon länger im Gange, wir sollten uns mit dem Aufbau des Lagers also besser ein wenig sputen, wenn wir vor Einbruch richtiger Dunkelheit damit fertig werden wollten. Hier oben am Kamm war der Wald deutlich lichter als weiter unten, was es uns sehr erleichterte eine halbwegs ebene Stelle ohne zu viel Gestrüpp für das Zelt zu finden. Zu zweit war das Zelt auch verhältnismäßig schnell aufgebaut, was jedoch nicht hieß, dass es völlig reibungslos ablief - wir waren eben beide zwei ziemlich stur und besserwisserisch veranlagte Persönlichkeiten, während ich für meinen Teil heute auch grundlegend aufgekratzt und schnell gereizt war. Es kam also eher nicht überraschend, dass wir an einem Streit nur knapp vorbeischrammten, bevor wir uns zur Beruhigung der Gemüter erstmal getrennten Aufgaben widmeten: Riccarda kümmerte sich darum auch innen im Zelt alles herzurichten, was zu zweit ohnehin nur umständlich geworden wäre, während ich die nächsten Minuten damit totschlug eine annehmbare Feuerstelle zu schaffen. Eine, über der man auch vorübergehend etwas provisorisch den Rost platzieren konnte, damit uns nicht die ganze Nacht der Magen knurrte. Als ich damit fertig war glitt mein Blick zum Himmel, auf der Suche nach dem verhängnisvoll leuchtenden Kreis. Sich in meinen Augen spiegelnd lachte mich der Vollmond jetzt schon hämisch an und schickte mir vom Nacken ausgehend einen prickelnden Schauer über die Haut. Ich sollte mir wohl besser die Zeit damit vertreiben etwas Feuerholz aufzutreiben - auch dabei kam mir die deutlich trockenere Klimazone bestimmt zugute.
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Isaacs Nerven lagen blank. Ich spürte seine Anspannung mit jeder Faser meines Körpers, denn diese Unruhe sprang automatisch auch auf mich über. Trotzdem klammerte ich mich an den Funken Optimismus, der mir im Laufe unserer Auf und Abs nie abhandengekommen war und hoffentlich auch bei diesem Erlebnis nicht einfach so im Stich lassen würde. Dieser Hauch von Zuversicht wurde bereits während der Autofahrt auf die Probe gestellt: wir fanden den verwilderten Forstweg nicht augenblicklich und schlussendlich verdankte ich es Isaacs Orientierungssinn, dass wir doch noch auf dem unebenen Pfad gelangten, der uns zu unserem Zeltplatz führen sollte. Um die Geduld meines Gefährten stand es schon vor dem Aufstieg eher schlecht, aber der holprige Aufstieg in Zeitlupe machte es leider keinen Deut besser. Das Gegenteil trat ein. Ich sah förmlich dabei zu, wie sich seine Miene mit jedem erkämpften Meter verfinsterte und sich seine Hände fester um das abgegriffene Lenkrad klammerten. Da sämtliche Beschwichtigungsversuche generell nach hinten losgehen würden, unterließ ich die Bemühungen und verharrte stattdessen stumm auf dem Beifahrersitz, überließ Isaac seinen eigenen Gedanken, die sich wahrscheinlich auf wüste Beschimpfungen und Beschwerden über die hiesige Zuständigkeitsbehörde und den katastrophalen Zustand der Forststraße beschränkten. Ich tröstete mich mit der Aussicht auf ein Erreichen unseres Ziels, wo die eigentliche Arbeit – der wirklich nervenaufreibende Teil – doch erst richtig anfing. Schlussendlich gelangten wir endlich zu dem lichten Plätzchen, parkten den Jeep am Rande unter Bäumen und sondierten einen guten, ebenmäßigen Platz für das Zelt. Harry hatte natürlich bei der Anschaffung seiner Campingausrüstung nicht geknausert, weshalb wir ein sehr geräumiges, beinahe luxuriöses Exemplar vorgesetzt bekommen hatten. Ebenso die beiden Sessel und das Tischchen zeugten von hervorragender Qualität, aber einem frustrierten Werwolf würde das Zeug dennoch nicht lange standhalten können. Über potentielle Erklärungen hinsichtlich zerstörter Einzelteile mache ich mir vorerst noch keine Gedanken, um es im besten Fall nicht zu verschreien. Es würde auch ohne derartige Zwischenfälle anstrengend genug werden. Das volle Ausmaß der Belastung war mir nach wie vor nicht bewusst, aber ich sah die Zweifel immer wieder in Isaacs klaren Augen auflodern. Er presste dann immer die Kiefer fest aufeinander, als müsste er sich unbedachte, vielleicht sogar verletzende Worte verkneifen. Ich sprach ihn auch darauf nicht an. Wir hatten ohnehin keine Zeit für große Diskussionen, denn der Aufstieg mit dem Jeep hatte mehr Zeit als erwartet in Anspruch genommen und so drängte die Dämmerung zur Eile. Eigentlich nahm ich an, dass es keine große Sache werden würde, so ein Zelt zu zweit aufzustellen. Isaac und ich schafften es trotzdem, einen Streit so halb vom Zaun zu brechen. Während Isaac in seiner Gereiztheit den gewaltvolleren Weg wählte, um die Standen des Zeltes irgendwie zusammenzustecken, wollte ich mich doch eher an die Anleitung halten – ein Ding der Unmöglichkeit für einen Mann – und so gingen unsere Meinungen über den weiteren Aufbau häufig auseinander und blieben auch fortlaufend auf getrennten Wegen. Es glich für mich einem kleinen Wunder, dass dieses verdammte Ding schlussendlich wetterfest und sicher am Boden verankert stand. Zwischenzeitlich hätte ich zu gern ein brennendes Streichholz draufgeworfen, weil Isaac mich kurzfristig regelrecht wahnsinnig gemacht hatte. Nachdem diese Aufgabe jedoch erledigt war, fand ich auch zu meiner Ausgeglichenheit wieder zurück. Hilfreich hierfür war die zusätzliche Separierung unserer Aufgabenfelder: während Isaac draußen eine nutzbare Feuerstelle baute, kümmerte ich mich darum, die Campingmatratze im Zelt auszurollen, die Schlafsäcke auszubreiten und unsere Mitbringsel an Taschen und Utensilien unterzubringen. Vielleicht – womöglich, eventuell – vertrödelte ich absichtlich ein bisschen mehr Zeit als nötig gewesen wäre, ehe ich meinen Kopf prüfend aus dem Zelt steckte und zu meiner Begeisterung sah, dass Isaac nicht nur eine Feuerstelle konstruiert hatte, sondern auch bereits den Tisch samt Campingstühle hergerichtet hatte. Die Kühlbox samt Lebensmittel stand noch immer rechts vorm Zelteingang, wo ich sie zuletzt abgestellt hatte. Alles schien an seinem Platz darauf zu warten, dass etwas geschah, nur von Isaac fehlte jede Spur. Suchend, ob ich ihn nicht einfach aus meiner Position nicht sehen konnte, stieg ich aus dem Zelt und sah mich einmal um. Keine Spur von ihm. Instinktiv fragte ich mich, ob ihm jetzt schon die Sicherungen durchgebrannt waren oder ob es einen anderen Grund für sein Verschwinden gab. Ich wollte nicht direkt im Vorfeld vom Schlechtesten ausgehen, aber naja… meine Gedanken schienen diesbezüglich vorbelastet zu sein. Anders ließ sich mein Schreck nicht erklären, mit dem ich herumwirbelte, als hinter mir das Gebüsch raschelte und ein großer Schatten aus dem Unterholz hervortrat. Isaac. Isaac in menschlicher Gestalt und mit Feuerholz auf den Armen gestapelt. Ich entspannte mich sehr schnell wieder, aber sicherlich nicht schnell genug, um meine Reaktion vor dem Dunkelhaarigen zu verbergen. „Soll ich das Grillgut direkt vorbereiten?“, versuchte ich über die schräge Situation und mein dezent schneller klopfendes Herz hinwegzukommen und deutete dabei mit dem Kopf fragend auf die blau-weiße Kühlbox. Wahrscheinlich sollten wir uns nicht allzu viel Zeit damit lassen, dem Wolf ein bisschen Fleisch zu kredenzen und im Stockdunkeln wollte ich auch nicht mehr anfangen, Gemüsespießen auf dem Rost vorm Verbrennen zu bewahren. Es fühlte sich echt dämlich an, wie wir beide dastanden und uns offensichtlich schon mal wohler gefühlt hatten. Als stünden wir wieder sehr weit am Anfang unserer Beziehung und wüssten nicht so recht, was mit dem jeweils anderen anzufangen sei. Meine Idee kam mir inzwischen nur mehr halb so genial vor, um ehrlich zu sein. Dennoch würde ich Isaac nun nicht im Stich lassen. Um die Szene tatsächlich abzulösen, wandte ich mich von dem großgewachsenen Mann ab, schleppte die Kühlbox hinüber auf das Tischchen und holte anschließend zwei große Teller aus dem Zelt heraus, wo ich das rohe Fleisch und das Gemüse drapieren würde, ehe es auf den Rost kam. Für mich stand fest, dass Isaac die Rolle des Grillmeisters übernahm und ich für das Drumherum zuständig war.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal eigenständig nach Feuerholz gesucht hatte. Es musste eine halbe Ewigkeit her sein und irgendwo in meiner Kindheit zurückliegen - bevor mit der Pubertät auch die rapide ansteigende Eitelkeit Einzug in mein Leben gehalten hatte. Im Augenblick war von der royalen Überheblichkeit eines Prinzen nicht mehr viel zu sehen, während ich zwischen den Bäumen Ausschau nach brauchbaren Ästen hielt. Ich musste ein klein wenig tiefer in den hier oben nicht ganz so dichten Wald gehen, um genügend brauchbares Holz zu finden. Trotzdem entfernte ich mich nicht weiter vom zentralen Punkt des Zeltplatzes, als ich es für richtig hielt und ging unterbewusst einen Bogen um besagtes Zelt herum, als ich beschloss, mich nicht noch weiter davon entfernen zu wollen. Ich konnte Riccarda auch von dort aus noch überdeutlich hören und sie so auf dem Radar behalten, während ich ein um das andere Stück Holz vom Boden sammelte. Meine Nase half mir dabei ein wenig zu definieren, wie feucht das Holz tatsächlich noch war, auch wenn ich selbst mit dem empfindlichen Geruchssinn nur schätzen konnte. Ich behielt die Uhr nicht im Hinterkopf, solange ich mit dem Sammeln beschäftigt war. Auch ohne einen Blick auf tickende Zeiger zu werfen, spürte ich die innere Anspannung langsam, aber doch ziemlich stetig ansteigen. Gefühlsmäßig ging mein Puls schon jetzt schneller als gewöhnlich und allmählich würde der Wolf schon ganz gerne mal raus. Mal ein bisschen frische Luft schnuppern, nur um festzustellen, dass er hier gar nicht erst jagen zu gehen brauchte, weil es keine befriedigende Beute gab. Normalerweise fühlte sich meine tierische Hälfte wie ein Teil von mir an und gehörte einfach zu mir, aber an Vollmond war das anders. Das war die einzige Nacht des Monats, in der es sich so anfühlte, als hätte ich den Wolf nicht vollständig unter Kontrolle - als hätte er ein Eigenleben. Offenbar fürchtete sich auch der Engel darum, dass ich jetzt schon die Zügel aus der Hand verloren hatte. Als ich zurückkam machte ihr Herz mal wieder einen Hopser und schlug danach weiterhin einige Takte schneller als gewöhnlich. Ein bisschen schadenfroh zuckten meine Mundwinkel von ganz allein nach oben, als ich in verhältnismäßig entspanntem Tempo zur Feuerstelle aufschloss, um das Holz erstmal daneben auf dem Boden abzuladen. "Ja, der Magen knurrt schon.", war vielleicht keine so geschickte Antwort auf Riccardas Frage. Im Grunde hatte ich auch keinen riesigen Hunger, sondern nur gefühlt unstillbaren Appetit. Allerdings nicht auf ein paar Grillspieße und auch nicht auf ein halb oder ganz rohes Steak - ich wollte eigentlich fast ausschließlich den Kick bei der Jagd und vielleicht ein kleines bisschen blutiges, rohes, saftiges... Ich hielt einen Moment lang beim Platzieren des Feuerholzes an der Feuerstelle inne und schüttelte kaum sichtbar den Kopf, im Versuch die kontraproduktiven Gedanken loszuwerden. Dann stapelte ich das Holz endgültig fertig, bespickte das Ganze noch mit leicht entflammbaren Materialien - trockenes Gestrüpp und Blätter - und griff anschließend nach den kleinen Helferlein, die Harry uns natürlich auch mitgegeben hatte. Ich war ganz dankbar für die kleinen, leicht entflammbaren Kügelchen, die mit einem Streichholz sofort Feuer fingen und so schnell nicht mehr aus gingen. Denn ich würde heute zweifelsohne nicht die Geduld besitzen, mich als mäßig erfahrener Camper mit einem ständig ausgehenden Feuer herumzuärgern. So hingegen dauerte es nicht lange, bis die Flamme sich auf das sorgfältig zwischen die dickeren Äste geschobene Laub ausbreitete und daraufhin auch langsam am eigentlichen Feuerholz zu nagen begann. Es dauerte ein paar Minuten, bis das Holz dann auch wirklich richtig brannte und ich nicht mehr nachhelfen musste, aber dann war ich ganz zufrieden mit meinem Werk. Zufriedenheit hin oder her - das lebhafte, unruhige Funkeln in meinen Augen würde heute Nacht wohl trotzdem nicht mehr schwinden. Es spiegelte sich also genauso in meinen Augen wider, wie es die Flammen taten, als ich mir nach dem Platzieren des Rosts über dem Feuer einen der Stühle vom Tisch an die Flammen heranzog. Mit ein klein wenig Sicherheitsabstand natürlich, weil ich wenig Lust darauf hatte mich selbst mit anzuzünden, aber ich wollte nicht permanent im Stehen am Feuer wachen müssen. Es war weitaus bequemer leicht schräg im Stuhl zu hängen und das Feuer so anzusehen, als hätte es mir tatsächlich etwas angetan. Dabei sinnierte ich eigentlich nur darüber, wie lange es dauern würde ein ganzes Reh oder Schwein am Spieß über dem Feuer gar zu kriegen. Riccarda unterbrach diese zügig abdriftenden Gedanken wieder, als sie mir den ersten Teller mit Grillzeug entgegenhielt. Ich richtete mich erstmal auf, beugte mich nach vorne und bewegte die rechte Hand über das Metallgitter, um herauszufinden was ich am besten wo platzieren würde. Anschließend nahm ich dem Engel dann den Teller und die Grillzange ab, ehe ich begann das Zeug auf den Grill zu packen. "Wird wohl nicht so lange dauern, ist ziemlich heiß überm Feuer...", stellte ich beiläufig und minimal grummelnd fest, als ich der zierlichen Blondine kurz darauf auch den zweiten Teller abnahm und ihr den leeren zurückgab. Das war insofern gut, dass ich dann eigentlich nicht viel Zeit hatte, mein Hirn an wölfische Gelüste zu verlieren, weil mir sonst was über dem Feuer anschwärzen würde. Andererseits bedeutete das Wiederum, dass wir mit dem Grillen an sich nicht allzu viel Zeit totschlagen konnten und nach dem Essen eine neue Beschäftigung herhalten musste.
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Mir entging das rasche Zucken seiner Mundwinkel nicht. Meiner Meinung nach durfte sich der werte Herr dieses süffisante Grinsen gerne sonst wohin stecken, aber im Anbetracht der angespannten Situation warf ich ihm lediglich einen grimmigen Blick zu, ehe ich von meinem Unbehagen verbal abzulenken versuchte. Wenigstens ging Isaac ohne weiterer Zwischenmeldung auf meine Frage ein und bestätigte mir indirekt meine Annahme bezüglich seines Appetits. Leider blieb davon auszugehen, dass diese Mahlzeit nur halb so befriedigend für den animalischen Teil seines Seins ausfiel, aber wir hatten alle Eventualitäten während einer zu Auseinandersetzung tendierenden Diskussion abgeklappert und jegliche existierende Alternative in Betracht gezogen – mit dem Ergebnis, dass es keinerlei andere Optionen zur Versorgung des wölfischen Parts in Isaac gab. Er musste sich diesen einen Vollmond mit gegrilltem Fleisch genügsam zeigen, eine Eigenschaft, die ich bisher noch nicht an seinem Arsenal von Charakterzügen entdeckt hatte und mir deshalb geringe Hoffnungen diesbezüglich ausmalte. Mit einem minimal verspäteten Nicken ging ich auf seine erwartungsgemäß ausfallende Antwort ein und machte mich daran, die Lebensmittel sorgfältig separiert auf die beiden Teller aufzuteilen. Ich störte mich nicht daran, wenn in meinem Umfeld Fleisch konsumiert wurde und achtete auch nicht penibel genau darauf, ob in der Pfanne zuvor jemals ein Tier im Öl brutzeln musste, aber auf eine klare Trennung von der vegetarischen Kost ließ sich in meinen Augen nicht verzichten. Im schlimmsten Fall ein weiterer Punkt auf der unendlich langen Liste der Konfrontationspunkte, die diesen Ausflug in einen Albtraum verwandeln könnten. Ich verscheuchte die negativ behafteten Gedanken schnellstmöglich wieder und lenkte mich stattdessen damit ab, Isaac zwischenzeitlich dabei zuzusehen, wie er höchst professionell das Feuer in Gang brachte und vollkommen selbstverständlich mit den kugelförmigen Schnellanzündern umging. Ob Männer das Wissen über derartige Dinge im Y-Chromosom verankert hatten? Ich traute mir das Entfachen eines kleinen Lagerfeuer zwar auch zu, aber ob es direkt beim ersten Versuch gelingen würde… naja, das ließ ich lieber so im Raum meiner Gedankenwelt stehen. Ohnehin kam der Moment, an dem wieder ein bisschen mehr Bewegung verlangt wurde. Ich erhob mich, angepackt mit den beiden Tellern und einer langen Grillzange, um hinüber zu den tanzenden Flammen zu marschieren, die spielerisch den Rost abtasteten. Die Überbleibsel eines gefällten Baumes in Form eines Stammes dienten hervorragend als Ablageplatz, nachdem Isaac einen der Teller samt Werkzeug übernommen hatte und ich – wie zu erwarten – die Käse-Gemüseplatte auf die klar ersichtlichen Jahresringe des Baumstumpfs stellte. „Was möchtest du zu trinken haben?“, richtete ich mich so halb im Weggehen doch noch einmal an den Dunkelhaarigen, während der seine Konzentration ganz auf die Begutachtung des Feuers legte und mir seine Meinung kurz darauf mitteilte. War zwar keine Antwort auf meine Frage, aber ich quittierte es trotzdem mit einem schmalen Lächeln und zuckte leicht mit den Schultern: „Wir können auch noch warten, bis das Feuer runtergebrannt ist.“ Ich besaß an diesem Abend eindeutig den längeren Geduldsfaden, weshalb ich mich vollständig nach Isaac richten würde. Ich kannte mich zu wenig in dem männerdominierten Milieu aus, um einschlägige Tipps und Tricks auspacken zu können, weshalb ich schlichtweg nur raten konnte, wann man welches Grillgut am besten auf den Rost packte. Erneut vor der Kühlbox angekommen, hob ich den blauen Deckel an und begutachtete unsere mitgebrachte Getränkeauswahl. Ich entschied mich vorerst für Wasser, würde aber später zum Essen zu einer Limo-Dose greifen. Da Isaacs Wunsch nach wie vor ausstand, blickte ich kurz über die Schulter zu dem jungen Mann zurück: „Limo, Wasser, Bier?“ Viel Alkohol war in der Tasche nicht mitgekommen, aber ein kleiner Vorrat an dem hopfenhaltigen Gesöff hatte es ebenfalls auf unseren Campingplatz geschafft. Mit Isaacs Wahl und meiner Wasserflasche ausgestattet, gesellte ich mich wieder zu meinem Gefährten ans Feuer, blieb aber in einem respektablen Sicherheitsabstand zu dem heißen Element stehen, überreichte dem Grillmeister die Flasche und nahm anschließend selbst einen großen Schluck von dem kühlen Nass.
Es dauerte kaum zwei Sekunden, bis ich den Kopf schüttelte. Ich sah wenig Sinn darin das Grillen weiter nach hinten zu verschieben. Es gelüstete mir schon jetzt längst nach Fleisch zwischen den Zähnen und ein bisschen gegrilltes Steak würde dieses Gefühl nicht befriedigen oder ausreichend lindern - ich hatte nach dem Grillen mit ziemlicher Sicherheit noch genauso viel Lust darauf mich auf die Jagd zu begeben, wie es jetzt im Augenblick der Fall war. Einzig die Tatsache, dass es hier schlichtweg nichts Nennenswertes für mich zu erlegen gab, milderte den Drang zur Verwandlung ein wenig ab. Auch wenn das nicht heißen sollte, dass ich Brief und Siegel darauf geben konnte, mich nicht trotzdem in meine wölfische Gestalt zu wandeln. Es juckte mir auch ohne ausschlaggebenden Grund in den Fingern. "Macht keinen Unterschied." Entsprechend der Umstände fiel meine Antwort auf Riccardas Vorschlag nüchtern und kurz aus. Es war nett gemeint, dass sie sich Gedanken darüber machte, aber die würden in den meisten Fällen ins Leere verlaufen. Einfach weil sie nicht wissen konnte, wie es gerade wirklich in mir aussah. "Bier, bitte.", ließ ich den blonden Engel kurz darauf auch meinen Getränkewunsch wissen, ohne jemals die Augen vom Feuer zu nehmen. Ich versuchte dadurch einfach auch mein Gehirn bestmöglich darauf fokussiert zu halten, was zumindest einigermaßen gut funktionierte. Ich nahm die Flasche entgegen und ließ der zierlichen jungen Frau dabei einen kurzen Blick und ein dankbares Nicken zukommen, bevor ich den metallenen Deckel an der Kante des abgesägten Baumstammes von der Flasche löste. Ob dabei möglicherweise Dreck ins Bier kam, kümmerte mich herzlich wenig. Während ich mich an meinen besonders eitlen Prinzen-Tagen sicher darüber echauffiert hätte, kratzte es mich heute nicht im Geringsten. Hätte ich ein lebendiges Tier zwischen die Zähne gekriegt, dann hätte das schließlich auch Dreck im Fell gehabt. Der Wolf in mir könnte kaum weniger mit dem adeligen Sohn zu tun haben, den ich sonst so oft verkörperte. Letzterer hatte in der heutigen Nacht schlichtweg keine Daseinsberechtigung und wurde frühestens morgen nach Verschwinden des Mondes wieder aus der Truhe geholt. Allerfrühestens. Meistens hielten die Nachwirkungen noch ein paar Stunden länger an und ich beruhigte mich nur allmählich wieder. Weiterhin ganz auf meine Arbeit als Grillmeister fokussiert nippte ich eine kleine Weile lang immer wieder schweigsam an dem alkoholischen Getränk. Es war fragwürdig inwiefern das Nervengift in der aktuellen Situation sinnvoll war, aber andererseits war ich ohnehin schon vollkommen aufgekratzt. Ob es also noch einen großen Unterschied machte..? Das Gemüse und Fleisch auf dem Grill interessierte mein Alkoholpegel auf jeden Fall nicht, während ich das Grillgut immer mal wieder mit der Zange drehte. So lange, bis es kurz davor war wieder vom Rost geholt zu werden. Deshalb erhob ich mich dann auch aus dem Stuhl und schob ihn etwas weg, während ich dem Engel beiläufig sagte, dass der Tisch gedeckt werden konnte. Mehr als nur das Aufstellen hatte ich vorhin nicht erledigt und so hatte Riccarda wenigstens noch etwas zu tun, während ich das eher simple Menü vom Grill runterholte. Ich brachte zuerst das Fleisch zum Tisch, weil das Gemüse ruhig noch zwei Minuten mehr Hitze vertragen konnte - dementsprechend machte ich wenig später einen zweiten Gang, um das Grünzeug zu holen. Schon währenddessen stellte ich mir in Gedanken die Frage, was wir nach dem Essen anstellen sollten. Vielleicht wäre es sinnvoll sich an den Gesellschaftsspielen zu bedienen, die wir eingepackt hatten. Vielleicht aber auch nicht, je nachdem wie ich das Rumsitzen am Tisch empfand, wenn mein Teller erstmal leer war. Möglicherweise war mir eher nach sofort aufspringen, als danach noch länger rumzusitzen. Erstmal sollte ich wohl versuchen das Fleisch zwischen den Zähnen so lang wie möglich heraus zu zögern. Ich zog mir also den Stuhl vom Feuer zurück an den Tisch und stellte das Bier neben meinem Teller ab, bevor ich mich setzte. "Was ist dir lieber? Spielbretter auf dem Tisch ausbreiten oder ein Spaziergang?", erkundigte ich mich bemüht neutral klingend nach Riccardas Vorliebe, um sie mir nach dem Essen vielleicht ansatzweise zu Herzen zu nehmen. Sie sah im Dunkeln natürlich nicht so gut wie ich, aber genau deswegen hatte auch eine Taschenlampe den Weg in unser Gepäck gefunden. Es war also wahrscheinlich eher mein schon den ganzen Tag gereiztes Auftreten, das sie gerne auf eine kleine Nachtwanderung in meiner Gegenwart verzichten lassen würde.
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Ob Alkohol in einem derart aufgewühlten Zustand die passende Getränkewahl darstellte, hinterfragte ich weder laut noch deutete ich meine Skepsis anhand eines dementsprechenden Mienenspiels an. Ich nahm einfach nickend den Wunsch entgegen und drückte ihm kurzerhand danach die gekühlte Glasflache in die Hand. Um unser Glück nicht in der ersten Stunde vollständig auszuschöpfen und eine ausartende Diskussion zu riskieren, hielt ich mich an eine alkoholfreie Erfrischung, von der ich auch schnell zwei kleine Schlückchen machte, ehe ich dazu überging, den etwas wackligen Campingtisch standfester zu machen, indem ich einen halbwegs flachen Stein unter das kürzere Tischbein klemmte und noch einmal an dem Gestell rüttelte: meine Expertise besagte, dass wir ohne Gefahr unser Abendessen verspeisen könnten. Die mitgebrachten Teller und das glänzende Besteck fanden schnell ihren Platz auf der weißen, leicht zerkratzten Tischplatte, weshalb mir nur mehr eines übrig blieb – hinsetzen und abwarten, bis Isaac entschied, dass die Grillaromen ausreichend auf die Lebensmittel übergegangen waren und nicht länger in der Hitze verweilen müssten. Die eher teilnahmslose Antwort nahm ich mir erst gar nicht zu Herzen, sondern überging den nüchternen Tonfall unbekümmert. Ich wusste, dass dieses Unterfangen keine leichte Sache werden würde und hatte mir im Vorfeld fest vorgenommen, einige Kleinigkeiten schlichtweg zu ignorieren oder gewissen Ausdrucksweisen beziehungsweise Stimmlagen keine große Bedeutung zuzuordnen. Schlussendlich verließ ich mich dann eben darauf, dass es für den jungen Mann wirklich keinen Unterschied machte – seine Gelüste blieben diese Nacht unbefriedigt. Wahrscheinlich stünde mir da auch nicht der Sinn nach einer Debatte über die Reihenfolge unserer Programmpunkte; Hauptsache Ablenkung. Still beobachtete ich die unruhiger gewordenen Bewegungsabläufe des Dunkelhaarigen. Normalerweise wandelte der Kerl wie ein geschmeidiges Raubtier mit ebensolcher Ausstrahlung durchs Leben, nun könnte der Kontrast kaum erschreckender ausfallen: seine Hände arbeiteten fahriger, er fuhr sich viel öfter durch die glänzenden Haarsträhnen und der ansonsten so überlegene Ausdruck seiner Augen wich nun einer gehetzten Wildheit, die mir durchaus Sorgen bereitete. Ob er die überschüssige Energie dank des zweiten Gangs zum Lagerfeuer abbauen wollte oder es einen geschmacklichen Grund hinsichtlich des gegrillten Gemüses auf dem Rost galt. Ich wusste es nicht, deshalb beobachtete ich nur und dankte ihm dann leise, nachdem auch Isaac endlich mir gegenüber Platz genommen hatte. Die Dämmerung war mittlerweile beinahe der frühen Nacht gewichen, weshalb ich die wenigen mitgebrachten Kerzen, die ich vorhin ebenfalls auf dem Tischchen strategisch platziert hatte, mit einem langstieligen Feuerzeug entfachte. „Könnte man ja fast als romantisch bezeichnen“, scherzte ich leise, wohlwissend, dass keine großartige Erwiderung retour kommen würde. Ich bekam statt einer richtigen Antwort eine Frage über das weitere Vorgehen gestellt. Meine nächtliche Blindheit wäre mithilfe der Taschenlampe das geringere Problem, jedoch befürchtete ich mehr, dass Isaac zu einem späteren Zeitpunkt die Geduld mit meiner menschlichen Marschgeschwindigkeit verlieren würde und als pelziges Monster im Unterholz verschwand, während ich orientierungslos durch den finsteren Dschungel irrte. Anderenfalls erforderten Brettspiele die Gabe, auch verlieren zu können, und diesbezüglich konnte ich den momentan reizbaren Gestaltwandler schwer einschätzen – sollte es ihm zu bunt werden und er abdampfen, befände ich mich immerhin in dem Zelt. Unterbewusst war die Entscheidung längst gefallen: „Mir ist der Spaziergang zuerst lieber.“ Ob Isaac meine Vorbehalte verstand oder sich ohnehin dachte, interessierte derzeit eigentlich eh niemanden. Abwartend auf Isaacs Reaktion, spießte ich ein paar der gerösteten Paprikastücke und Zucchinischeiben auf die Gabel, ehe sie auf meinen Teller landeten und ich ein bisschen Kräutersalz darüber streute. „Riecht herrlich“, lobte ich die wenngleich simple Aufgabe des Zeugs-auf-den-Griller-Legens und Nicht-anbrennen-Lassens. Die Situation könnte kaum unbehaglicher sein. Die Luft war dick, Isaacs Unruhe übertrug sich irgendwie auf mich und die Anspannung schwebte beinahe sichtbar über unseren Köpfen. „Wie geht’s dir?“, erkundigte ich mich dann doch, nach einem tiefen Luftzug und suchte seinen Blick. Ich erwartete keine guten Nachrichten, aber ich wollte wissen, wo wir standen.
Das bitter ironische Lachen blieb mir glatt im Hals stecken. Romantisch... eine Vollmondnacht mit einem Werwolf. Romantisch. Die eigentliche Ironie daran war jedoch, dass das hier andernfalls vielleicht wirklich zu einem schönen Abend hätte werden können. Ich war nicht unbedingt als hoffnungsloser Romantiker bekannt, aber wenn ich mir die ganze Camping-Angelegenheit jetzt ohne den Drang vorstellte, zeitnah Jemandem zerfleischen zu wollen, wäre es sicher ein guter Abend geworden. Einer, den wir beide gerne in Erinnerung behalten hätten. So hingegen musste ich mir jetzt die Frage stellen, ob die zierliche Blondine überhaupt irgendwann noch einmal freiwillig mit mir auswärts Zelten würde, damit wir das Ganze nochmal in schön erleben konnten. Denn es gab wohl wirklich kaum etwas Romantischeres als eine Nacht zu zweit, fernab vom Getümmel der Zivilisation mitten im Nirgendwo. Nur meinen inneren Wolf interessierte das heute leider herzlich wenig. In etwa genauso wenig wie gegrilltes Gemüse oder die Kerzen. Eigentlich der ganze Tisch an sich, er hätte sich das Steak auch vom Waldboden genommen. Ich griff trotzdem nach dem Besteck und fing an zu essen, während ich Riccardas Anwort abwartete. Nur langsam zerkaute ich das Steak, in der stummen Hoffnung meinen tierischen Gefährten damit etwas beschäftigt zu halten. Meine Konzentration schweifte zunehmend immer öfter und immer länger ab, während sich der Mond seinen höchsten Punkt am Himmel suchte. Vielleicht war also sowieso beides für die Tonne - sowohl spazieren gehen, als auch Brettspiele auspacken. "Okay.", war meine einzige knappe Antwort auf die Wahl des Engels. Bewegung konnte mir kaum schaden und noch bewegte ich mich eigentlich auf einem Level, wo sie noch nicht drum fürchten musste, alleine stehen gelassen zu werden. Dass sich das von einer auf die andere Sekunde schlagartig ändern konnte, mal ganz außen vor gelassen. Womit wir dann auch schon bei der Frage danach waren, wie es mir ging. Das Lob überging ich völlig, weil ich weder mit der Marinade vom Steak, noch mit dem Gemüse an sich wirklich was am Hut hatte. Im Grunde hatte ich nur zu Ende gebracht, was längst so gut wie fertig war. Wie ging es mir also? In etwa so wie einem sturen Kind, dem gerade alles verwehrt wurde, was es am liebsten hatte und das dementsprechend nichts mit sich anzufangen wusste. "Es wird langsam anstrengend.", ging ich zuerst nicht wirklich ins Detail, während ich Riccardas Blick hielt. Ich war längst ein Veteran in Wofsdingen, aber es hatte gute Gründe warum ich der Verwandlung an Vollmond normalerweise gar nicht erst Einhalt zu gebieten versuchte. Es war anstrengend und es machte keinen Spaß. Nach dem nächsten Bissen des Steaks holte ich dann aber doch weiter aus. "Dass ich von vornherein so unausgelastet bin, macht es nicht grade leichter. Er ist das Hungern leid." Ich versuchte es mit einer Prise Humor, indem ich von dem Wolf in mir in der dritten Person sprach. Natürlich waren wir ein und dasselbe Lebewesen, aber in diesem Moment fühlte sich das nicht so an. Mein Kopf versuchte krampfhaft am längeren Hebel zu bleiben, während der Wolf knurrend mit seinen Krallen die Türen zur Kommandozentrale zerkratzte. Ein Spiel auf Zeit - irgendwann, wahrscheinlich in einem Moment der Unachtsamkeit, würde die Tür nachgeben. "Aber ich spring nicht gleich über den Tisch und fall' dich an, keine Sorge.", gab ich abschließend dennoch Entwarnung. Die stand natürlich auf wackeligen Beinen, aber das Steak mit seinen fleischigen Aromen weiter aufzufuttern hielt mich zumindest für den Moment noch beschäftigt.
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Gut. Meine Optionen zur Führung einer angenehmen Unterhaltung näherten sich langsam dem Aus und Humor schien im Moment auch nicht die richtige Herangehensweise zu sein. Ich entschied mich dazu, weiterhin den Ball flach zu halten und mich kaum bis gar nicht aufzudrängen. Sollte Isaac von einem plötzlich aufbegehrenden Mitteilungsbedarf überrollt werden, wusste er ja, an wen er sich richten könnte. Also verfiel ich in ein minimal angespanntes Schweigen, spießte hier und da Gemüsestücke auf meine Gabel und beschäftigte mich unnötig fokussiert auf die Nahrungsaufnahme. Wahrscheinlich verstand ich nur einen Bruchteil von dem, was gerade in Isaacs Inneren ablief beziehungsweise mit welchen Urinstinkten er aufgrund der milchigen Scheibe am Nachthimmel zu kämpfen hatte. Ich empfand sogar ein zartes Glühen von Mitgefühl in meiner Brust, sobald ich einen scheuen Blick auf mein Gegenüber warf. Schüchternheit zählte gewiss nicht zu den dominanten Eigenschaften meines Naturells, aber in diesem Ausnahmefall überfiel mich eine befremdliche Scheu. Okay. Mehr bekam ich nicht. Beinahe entglitt mir ein resigniertes Seufzen, doch ich erstickte es schnell genug in einem raschen Schluck Limonade. Vielleicht sollte ich lieber erleichtert sein, dass Isaac derart kontrolliert mit seiner Frustration umging und die volle Wucht an unausgelasteten Emotionen an mir ausließ. Dementsprechend dankbar sollte ich mich wohl auch zeigen, dass keine großartige Konversation zwanghaft am Leben erhalten wurde. Tja, ich sollte… tat es aber nicht wirklich. Der Ursprung dieser riskanten Frage nach seinem Wohlbefinden oder besser gesagt die Quelle meiner Neugier schlummerte schlichtweg in der Unfähigkeit, mich von der Illusion einer krampfhaften Ruhe blenden zu lassen. Ich musste wissen, wie kurz der Vulkan vorm Explodieren stand. Nun haftete auch mein Blick direkt und fest auf Isaac, ablegt war meine Unsicherheit – zumindest für den Augenblick, denn der Ausdruck in seinen Augen lehrte mich, was es bedeutete, Abgründe in seiner Seele hausen zu haben. Ein kalter Schauder rieselte meinen Rücken hinab, jedoch wagte ich es nicht, den Blickkontakt zu brechen. Der kleine Einblick reichte mir noch nicht. Die Anstrengung ließ sich immerhin mit Händen greifen, aber ich drängte ihn nicht, sondern nickte nur einmal langsam. Ich spürte es mit jeder Faser meines Körpers, dass diese Anspannung lediglich die Spitze eines gewaltigen Eisberges darstellte. Isaacs Kunstpause dauerte genau die Spanne des Kauens und Schluckens eines Steakstücks lang, ehe er expliziter auf die Problematik einging. Da ich in meinem Leben noch nie mit wirklichen, nagenden Hunger konfrontiert war, schaffte ich es unmöglich, mich in sein Leiden hineinzuversetzen; mein Blick machte es deutlich: ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte. Die Fidji-Inseln galten als Hotspot für Diversität, aber dieser Artenreichtum bezog sich primär auf Vögel, Amphibien und Reptilien. Säugetiere im jagdbaren Ausmaß existierten hier im Grunde nicht – ob Isaac sich mit Mangusten zufriedengab, hielt ich für bedenklich. Ich konnte ihm also keinen Ausweg, keine Flucht für seinen Jagdtrieb, anbieten. Ich fand einen schwachen Trost in der Rückkehr seines wenngleich dunklen Humors wieder und quittierte die Aussage mit einem schiefen Lächeln. „Ein Warnruf oder so wäre wirklich hilfreich, solltest du deine Meinung diesbezüglich ändern“, wünschte ich mir, ebenfalls die Stimme in Ironie getränkt. Ich verließ mich nicht auf seine aktuelle Nachsicht, schließlich brannte die Zündschnur mit jeder Minute weiter ab. Ein Abendessen dauerte auch nicht ewig und schlussendlich lagen die Teller leer vor uns. Ich lehnte mich zufrieden in die weiche Lehne meines Campingsessels zurück und streckte die Beine aus. „Ich räum schnell auf, dann könnten wir aufbrechen“, schlug ich vor, blieb aber noch einen Atemzug lang sitzen, ehe ich mich aufrappelte und bereits damit begann, den Tisch vom dreckigen Geschirr und ausgetrunkene Glasflaschen zu befreien. Ich packte alles sorgfältig in einen gut verschließbaren Behälter, sodass wir keine ungebetenen Gäste bei unserer Rückkehr ins Anwesen mitschleppten und schnappte mir sogleich noch die Taschenlampe – jemand der Anwesenden verfügte nicht über praktische Upgrades der Sinne und benötigte deshalb die batteriebetriebene Sehhilfe. Zudem zog ich mir noch einen Pullover über, da der Himmel teils von Wolken verhangen war und die Luft leicht nach Regen roch, was jedoch nichts Ungewöhnliches in den Tropen hieß. „Ich bin startklar.“
Diesmal lachte ich tatsächlich leise auf. Es war ein kaltes, angespanntes Lachen, das meine Kehle nach oben kroch, als Riccarda um eine Warnung im Notfall bat. Die Vorstellung dessen war für mich durchaus unterhaltsam - ich, wie ich den Engel vorwarnte, bevor ich in eine Verwandlung und Blutdurst umschwenkte. Als hätte ich in einem solchen Moment wirklich noch ausreichend Kontrolle, um sie nett vorzuwarnen. "Das wäre das erste Mal in meiner Laufbahn, dass ich eine offizielle Warnung rausgebe, weil mich der Jagdtrieb packt.", erwiderte ich mit einem überlegenen Lächeln, als das kurze Lachen erstorben war. Allein mein Gesichtsausdruck dürfte klar und deutlich machen, dass es diese Premiere wahrscheinlich weder heute, noch irgendwann in der Zukunft geben würde. Allerdings hatte der Engel das wohl ohnehin nicht erwartet. Ich nickte nur schwach, kurz bevor Riccarda sich ans Abräumen des Tisches machte. Während sie schon die Teller wegbrachte, trank ich noch die letzten beiden großen Schlucke aus dem Bier. Danach glitten meine Augen zum Feuer. Die Flammen fraßen sich inzwischen immer tiefer in das Holz, aber es brannte nicht mehr so hoch. Es war aufwendig gewesen das Feuer zu legen und ich hatte wirklich wenig Lust dazu es auszumachen. Ein verantwortungsbewusster Bürger hätte das sicherlich so gemacht, aber ich würde mich was das anging einfach auf meine Sinne verlassen. Es konnte sich am Boden eigentlich nicht ausbreiten, dafür hatte ich vorhin gewissenhaft gesorgt. Die Funken müssten deutlich stärker fliegen als jetzt, damit Bäume oder Büsche davon getroffen werden konnten. Es roch anders, wenn feuchtes Holz brannte - sollte das wider Erwarten passieren, war auf meine Nase also Verlass. Rauch brannte sich so unangenehm in meine Nasenflügel wie kaum ein anderer Geruch. Riccarda schien inzwischen aufbruchbereit zu sein und so erhob ich mich ebenfalls aus dem Campingstuhl, in dessen Armlehnen ich unbewusst meine Finger gekrallt hatte. Deshalb knetete ich mir auch für einen kurzen Moment die Hände, nachdem ich aufgestanden war, um bewusste Lockerung herbeizuführen. "Dann los.", bestätigte ich noch dabei, dass es auch von meiner Seite aus losgehen konnte und setzte mich in Bewegung. Im ersten Moment half es ein klein wenig, mich zu bewegen. Ich war vorübergehend abgelenkt, ähnlich wie zuvor mit dem Essen auf dem Teller und dem Bier in der Hand. Die Geräuschkulisse war allerdings nicht besonders aufregend - hier und da leise im kaum vorhandenen Wind raschelnde Blätter und Vögel, die den Nachtgesang bevorzugten. Auch vereinzelt zirpende Insekten waren neben unseren eigenen Schritten zu hören. Die Geräusche in einem tropischen Wald unterschieden sich nicht allzu sehr von denen in heimischen Wäldern, es bot mir also schon zeitnah keine besonders effektive Ablenkung mehr. Spazieren zu gehen war körperlich nicht anstrengend und geistig schon gar nicht - dementsprechend schwer fiel es mir, nicht in düstere Gedanken abzurutschen, während wir einige Meter den relativ ebenen Kamm der Anhöhe entlang gingen. Die Anspannung kribbelte mir förmlich im Genick und das war der einzige Grund dafür, dass ich das Gespräch suchte. "Denkst du wir kommen noch dazu in das Haus einzuziehen, das deine Eltern nach der Hochzeit extra in Auftrag gegeben haben? Vielleicht verkaufen sie das noch bevor es fertig ist weiter, wenn wir ihnen sagen, dass wir langfristig wahrscheinlich sowieso auswandern werden... oder läuft das auf deinen Namen?", stellte ich Riccarda eine Frage, die sich um unsere Zukunft drehte. Ich musste über irgendetwas mit ihr reden, das für mich von Belang oder interessant war, weil das Gespräch sonst in ein paar Sekunden genauso stumpf endete, wie die kläglichen anderen zuvor. Das Grundstück war nicht weit weg vom Schloss der Engel und es hatte sich ohnehin schon in ihrem Besitz befunden, als die Zwangsehe auf den Tisch gekommen war. Ich als Wolf fügte mich seitdem nur begrenzt gut in die Engelsfamilie ein und es war vor ein paar Monaten noch oft zu Streit gekommen. Der Bau war bereits begonnen, lag aber aktuell auf Eis, weil die Renovierung des Schlosses Vorrang hatte. Der Rohbau war fertig, aber es würde noch eine ganze Weile dauern, bis wir tatsächlich in das Haus einziehen könnten, das ein kleiner, moderner Palast für sich sein würde - eben ganz der verzogenen Nachkommen würdig. Vielleicht änderten Riccardas Eltern ihre Meinung zu unserem Auszug aber jetzt, wo ich weniger Ärger machte als vorher und ihr kleines Küken irgendwann ganz ausfliegen wollte. Ich hoffte allerdings schwer, dass dem nicht so war - ich kam mit dem Großteil der Engel inzwischen ganz gut zurecht, hätte aber doch ganz gerne meine Ruhe vor den verbleibenden schiefen Blicken. Jago sollte zwar eigentlich mit Abschluss der Sanierungen im Schloss verschwinden, aber ich würde nicht darauf wetten, dass er das auch tat. Ich traute es ihm durchaus zu, dass er Gründe für Besuche im Schloss finden würde, wenn er welche finden wollte. Jago war allerdings ein sehr schlechter Gedankenansatz, um hier und jetzt auf dem Teppich zu bleiben.
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