Diese beinahe als Herzlosigkeit zu bezeichnende Kälte nahm mir jeglichen Raum für eine Argumentation. Allein die Abschwächung eines derartigen Vorfalls aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt zu einer vergleichbaren Verletzung kam, erschütterte meine Meinung einmal mehr von den Grundprinzipien, die innerhalb des Rudels herrschten. Ich schaffte es nicht, ebenso unbekümmert und neutral zu bleiben, sondern verglich automatisch den Engelsclan in einer solchen Situation: das Drama wäre perfekt, das Chaos anstrengend und die Sache würde noch ewig lang Wellen schlagen. Da schluckte man sowas nicht nebenbei hinunter. Welche der Herangehensweisen nun vorteilhafter oder schlichtweg besser war, ließ ich ungeachtet und focht diese Debatte auch nicht in meinem Kopf weiter aus. Daher sparte ich mir auch die weitere Frage, ob Isaac Ähnliches passiert war – indirekt kannte ich die Antwort ohnehin. Kurz flammten längst verdrängte Erinnerungen auf, die glücklicherweise keine Bühne in meinem Bewusstsein fanden, sondern von meiner Vernunft entschieden unterdrückt wurden. Ich konzentrierte mich lieber auf unsere funktionale Beziehung zueinander, nicht auf die teils unschöne Vergangenheit mit all ihren Konfrontationen und Auseinandersetzungen. Diese spielerische Form eines Zwist machte mir sogar Spaß, obwohl ich zum wiederholten Male Opfer der heimtückischen Attacke wurde und mich erneut nicht aus eigener Kraft aus dem kitzelnden Griff befreien konnte. Subtil bekam ich trotzdem eine kleine Belohnung geschenkt: noch immer aus der Puste, aber dennoch strahlend blickte ich zu Isaac auf und grinste lediglich breit. Niemals hätte ich mir zu erträumen gewagt, jemals auf so einer guten Basis mit meinem aufgedrückten Partner zurecht zu kommen und in freundlichere Verhaltensmuster fallen zu dürfen. Gerade deswegen verstand ich den Hauch von Herausforderung in Isaacs stimme nicht als Warnung, sondern mehr als kleinen Schups gegen mein Ego, woraufhin ich die Lippen leicht spitzte und das Kinn vorreckte. „Wenn ich wollen würde, könnte ich dich aus den Latschen kippen lassen“, entgegnete ich seiner frechen Anweisung ebenso tollkühn, zerlegte dabei in Gedanken bereits meinen Kleiderschrank auf der Suche nach dem perfekten Kleid für die Anforderungen dieses Anlasses. Während Isaac seinen angekündigten Erledigungen nachging, beschäftigte ich mich mit der Website meiner Studienrichtung. Das neue Semester startete zwar erst, jedoch blieb ich gerne allzeit informiert, um den Start der Anmeldephase für kritische Übungen oder Seminare mit beschränkter Teilnehmeranzahl nicht aus den Augen zu verlieren. Schlussendlich verlor ich mich noch auf drei zusätzlichen Tabs im Internet, wobei mindestens eine davon Schuhe beziehungsweise Kleidung inkludierte – leider verhielt ich mich bei gewissen Werbeanzeigen wie das geborene Marketing-Opfer und entsprach allen Anschein nach genau der angepeilten Zielgruppe: gut betucht und zu spontanen Einkäufen bereit. Egal, ich erlag meinen Wunsch nicht, sondern stöberte lediglich durch die neuesten Trends, vertrieb mir so meine Zeit, bevor ich mich unter die Dusche stellte und die Vorbereitungen starteten. Eigentlich genoss ich die Möglichkeit sogar, das Make-up nicht nur für mich und mein Wohlbefinden aufzutragen, auch nicht, um Isaac daran zu erinnern, wo die Musik spielte… manchmal lechzte meine Arroganz danach, von anderen Männern bestaunt und als begehrlich empfunden zu werden. Dabei lag mein primäres Interesse darin, meinem Angetrauten unter die Nase zu reiben, wogegen er sich anfangs vehement und teils beleidigend gewehrt hatte – mein ebenbürtiges Verhalten außen vorgelassen. Meine Haare fielen in ausladend geföhnten Locken über meine rechte Schulter, da sie auf der linken Seite locker hochgesteckt und mit im richtigen Licht glänzenden Nadeln fixiert hatte. Normalerweise kümmerte ich mich um mein Make-up zum Schluss, jedoch fürchtete ich, dass das Anprobieren diverser Schnittvarianten jeglichen Zeitpuffer erfolgreich auffressen könnte und mich gezwungen sah, die Reihenfolge zu ändern. Ich sollte recht behalten. Isaac echauffierte sich bereits nachdrücklich über zwei Zimmer hinweg bei mir, als ich mich in das finale Exemplar weinroter Versuchung hüllte. „Gib mir noch eine Minute“, rief ich um fragliche Geduld bittend zurück, als ich mir vorsichtig den kleinen Knopf im Nacken schloss, der das weiche Stoffband fest um meinen Hals hielt. Mit einem letzten kritisch-prüfenden Blick musterte ich die Gestalt im Spiegel: Das Kleid lag wie eine zweite Haut an meinem Körper und reichte mir enger zulaufend bis zum Hals hinauf, sodass rechts und links meine Schlüsselbeine hervorlugten. Meine schmale Taille und die femininen Kurven wurden durch den körperbetonten Schnitt hervorgehoben. Erst knapp über der Hüfte lockerte sich der Stoff ein wenig auf und floss bis zum Boden hinab. Durch einen seitlichen Schlitz, der bis knapp unter den Beckenknochen reichte, erkannte man immer wieder mein linkes Bein, das durch die High-Heels-Illusion weit länger wirkte als es der Realität entsprach. Eine halbe Drehung reichte, um auch meine Hinteransicht einer strengen Überprüfung zu unterziehen – der Rock des Kleides reichte mir knapp über den Po und ermöglichte einen einwandfreien Blick auf meinen zart definierten Rücken. Ja, ich war durchaus zufrieden mit dem Resultat, weshalb ich zu guter Letzt nach meiner kleinen Handtasche griff und anschließend mit zielsicheren Schritt und angehobenen Kopf aus meinem Zimmer stolzierte.
Eine ganze Minute. Ich hoffte, dass die ganze Warterei den Anblick am Ende wert war und ich mich hier nicht umsonst mit den Gedanken rund um das Treffen quälte. In jedem Fall kamen mir die erbetenen 60 Sekunden wie die nächste halbe Ewigkeit vor und hätte ich tatsächlich mitgezählt, hätte ich auch gemerkt, dass es eigentlich noch zehn Sekunden mehr waren. Nicht, dass das einen großen Unterschied gemacht hätte. Ich hörte die Absätze des Engels schon durch den Raum mit der hohen Decke nebenan hallen, bevor sie letzten Ende die Tür passierte. Obwohl ich in der Zwischenzeit die mit Stuck verzierte Decke eingehend mit Blicken gelöchert hatte, konnte ich Riccarda dabei im Augenwinkel sehen und das Rot stahl sich somit in mein Bewusstsein, noch bevor ich ganz der Ungeduld nachgebend etwas energisch aufstand. Daraufhin musterte ich sie schamlos von oben bis unten und das wischte für diesen kurzen Moment doch sehr effektiv den genervten Ausdruck aus meinen Gesichtszügen. Ich wusste nicht weshalb, aber ich rechnete bei dem zierlichen Engel irgendwie grundsätzlich nicht mit einer Farbe wie rot - selbst wenn es ein etwas gedeckteres Weinrot war, war das eine aggressive und direkte Farbe, die keinerlei Zurückhaltung signalisierte. Irgendwie verband ich das nicht mit meinem Engelchen, was vielleicht daran lag, dass ihre Eltern ihr überwiegend etwas gemäßigtere Farben auftrugen, wenn sie ihre Tochter irgendwo mit hin schleppten. Ich begrüßte es sehr, wenn sie ihr ausnahmsweise mal nicht in die Kleiderwahl reinredeten, wenn mir das ein fast gleichermaßen elegant wie aufreizend wirkendes Kleid wie dieses hier bescherte. Meine angetan funkelnden Augen und die ganz flüchtig nach oben zuckenden Mundwinkel machten kein Geheimnis daraus. "Immerhin hat sich das Warten gelohnt.", kommentierte ich nach Abschluss meiner Inspektion ihren Anblick, auch wenn ich gewiss schmeichelhafter hätte sein können. Ich war eigentlich nicht schlecht darin gute Komplimente zu machen, aber ich war in diesem Augenblick wirklich nicht in Stimmung dazu. Angespannt, nervös und dementsprechend unterschwellig gereizt definierte meinen Gemütszustand ganz gut. Gerade war also einfach kein Platz für den charmanten Ex-Junggesellen, der einer Frau Honig auf die Lippen zu schmieren wusste, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Das Handy hatte ich in die Tasche des Jacketts wandern lassen, bevor ich mich mit Riccarda auf den Weg zum bereits wartenden Chauffeur vor der Haustür machte, was ebenfalls nochmal zwei bis drei Minuten in Anspruch nahm - das Schloss war schließlich nicht klein. Ich schwieg dabei und suchte in keiner Weise ihre Nähe, weil in meinem Schädel nach wie vor zu viele Gedanken auf und ab fuhren, um gleichzeitig eine ansatzweise vernünftige Konversation vom Zaun zu brechen. Mich vor dem eigentlich heiklen Teil des Abends am gedeckten Tisch auch noch mit dem blonden Engel in die Haare zu kriegen oder gar zu streiten, wollte ich absolut nicht riskieren. Erst als wir letztendlich auf der Rückbank des sehr komfortablen Mercedes saßen, versuchte ich mich etwas zu beruhigen. Ich atmete mit Blick aus dem Fenster etwas tiefer durch versuchte mir mantramäßig in Gedanken die unliebsamen Theorien fernzuhalten, indem ich mir immer wieder selbst sagte, dass zumindest die von mir ausgedachten Worst-Case-Szenarien nicht eintreten würden. Der Weg zum Restaurant würde nicht mal zwanzig Minuten dauern und wir waren etwa auf halbem Weg, als ich im Augenwinkel zu Riccarda sah, ohne mich ihr dabei ansatzweise zuzuwenden. Erst währenddessen fiel mir auf, dass ich gerade sehr vehement versuchte sie auszusperren und sie bestmöglich nicht an meiner Unruhe teilhaben zu lassen. Fühlte ich mich durch ein Zusammentreffen mit meinem Bruder so verwundbar, dass ich alte Schilde hochfuhr? Der Engel war mitgekommen, um mich zu unterstützen - wie sollte sie das, wenn ich sie nicht ließ? Meine Familie war leider auch ein Teil von mir, um den wir nicht für immer herumschippern konnten, um uns stattdessen in den sicheren Reihen ihrer Verwandtschaft zu verkriechen. Ich tat mir schwer damit, streckte letzten Endes aber doch zögerlich meine Finger nach ihren aus und suchte für einen Moment ihren Blick. Mich ihr restlos zu öffnen würde in Worten wohl immer schwer für mich sein, aber ich suchte zumindest sinnbildlich ein bisschen Halt und Einheit im simplen Verschränken unserer Finger. Vielleicht wollte ich ihr auch einfach zeigen, dass ich das nicht böse meinte, sondern schlichtweg gerade nicht zu anderem Verhalten imstande war. Nicht, bis ich nicht wusste, was hier genau vor sich ging. Ganz der Etikette folgend stieg ich vor dem Restaurant angekommen zuerst aus, um anschließend um den Wagen herum zu gehen, Riccarda die Tür aufzuhalten und ihr erneut meine Hand entgegenzustrecken. Durch die noch geöffnete Tür hinweg ließ ich den Fahrer wissen, dass er sich in der Zwischenzeit einen Parkplatz in der Nähe suchen sollte. Nur für den Fall, dass wir hier keine zwei bis drei Stunden sitzenbleiben würden, sondern frühzeitig den Heimweg antraten. Er tat wie ihm aufgetragen und als ich die Tür hatte zufallen lassen, wandte ich mich der heute besonders gutaussehenden Blondine zu, um ihr meinen Arm hinzuhalten. Was sagte man in so einem Moment? Auf in den Kampf schien mir unpassend, weil das Abendessen bestenfalls nicht nur dazu dienen sollte, die alte Fehde aufrechtzuerhalten oder gar weiter anzufachen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Eigenlob stank; trotzdem befand ich mich in einem sehr selbstzufriedenen Zustand und fühlte mich dementsprechend erhaben. Ich benötigte die Anerkennung anderer für mein Selbstbewusstsein nicht, aber mein Ego inhalierte jede Reaktion seitens Isaac und erklärte sich vorerst als befriedigt. Zwar dürfte er meinem Stolz ruhig ein wenig mehr schmeicheln, jedoch behielt meine Vernunft glücklicherweise die Kontrolle über mein gesammeltes Denken und das damit verbundene Verhalten, sodass ich mich mit zarten, bestens einstudierten Lächeln einmal um die eigene Achse drehte und der Musterung präsentierte. Ich wusste, dass ich bestand. Ich wusste um die Wirkung dieses betonten Kleides, das der Fantasie kaum Spielraum bot – es gab unter anderem einen Grund, weshalb es bisher ungetragen samt Etikette seine Frist absaß und noch nie zur Schau gestellt worden war. Ein Jammer, der hiermit sein Ende fand. „An deinen Komplimenten arbeiten wir ein anderes Mal“, merkte ich mit einem verschwörerischen Grinsen an, das gleichermaßen mein Verständnis für seine Anspannung suggerierte. Isaac machte sich nach wie vor einen Kopf über den Verlauf des Abends, zermarterte jede erdenkliche Absicht seines Bruders und verwandelte sich dabei in einen gereizten Kotzbrocken in schickem Anzug. Auch der Herr Garcia ließ sich sehen. Neugierig tastete sich mein Blick über das gutsitzende Hemd, welches formell in die passende Hose gestrickt war und mit dem farblich angeglichenen Sakko harmonierte. Kein Wunder, dass der junge Mann damals – vor meiner, unserer Zeit – auf sicherlich ausnahmslos offenstehende Türen in der Frauenwelt stieß. Diesbezüglich hätte es mich leicht schlechter treffen können. Mein dünner Mantel, der im Grunde lediglich der Vollendung des Outfits diente, lag über die Couchlehne drapiert und wartete nur auf seinen Einsatz. Bevor ich in das elegante, an der Taille eng geschnittene Kleidungsstück glitt, checkte ich noch einmal im Innenleben meiner Handtasche ab, ob ich alle essenziellen Mitbringsel für den Abend eingesteckt hatte und nickte als Bestätigung für mich, als ich die kleine Liste an Utensilien erfolgreich abarbeitete. Isaac stand vollkommen unter Strom, wie mir sein ungeduldiges Gebären nur allzu offensichtlich verriet – trotz der höflichen Geste des Aufhaltens der Tür, überholte er mich auf dem Gang bereits mit wenigen Schritten und eilte in einem in High Heels unmöglich mitzuhaltenden Tempo durch die Korridore des großzügig angelegten Palasts. Zugegebenermaßen spürte ich meine eigenen Nerven flattern, sonst würde mir dieses Hervorkrempeln alter Verhaltensformen seitens des Dunkelhaarigen nicht derart sauer aufstoßen. Ich rief mir in Erinnerung, wie viel womöglich für Isaac von diesem Treffen abhing, denn seine Gefühle waren weit mehr als meine eigenen involviert, weshalb ich mich nicht ebenfalls auf das frühere Niveau unserer zwischenmenschlichen Interaktionen begeben wollte. Kommentarlos duldete ich diese Ausnahmesituation und ließ mir bestmöglich nichts meiner Gedanken anmerken, sondern grüßte den engagierten Chauffeur in der Mercedes-Limousine, nachdem ich Platz genommen und den Rock des Kleides sorgfältig sortiert hatte. Isaac bewahrte sein stures Schweigen, weshalb ich es ihm gleichtat und meinen Blick ebenfalls aus dem verspiegelten Fensterglas warf. Ich kannte das Restaurant vom Namen und dessen Ruf, hochwertige und ausgefallene Speisen für Feinschmecker und kritische Kulinarik-Genießer zu kreieren. Über den Weg zu unserem Ziel hatte ich keinerlei Informationen eingeholt, sodass ich unser Ankommen schlichtweg auf mich zukommen ließ und mich versuchte zu entspannen. Natürlich merkte auch ich Anflüge von Anspannung oder gar Nervosität, jedoch längst nicht in dem Ausmaß, welches Isaac befallen hatte und immer noch mit eisernem Griff festhielt. Es gefiele ihm sicherlich nicht, dennoch tat er mir leid: niemand verdiente es, soweit getrieben zu werden, um aufgrund eines Treffens mit dem eigenen Bruder dermaßen gestresst in einem Schneckenhaus Zuflucht zu suchen. Vielleicht sollte ich den Anfang machen, ihm eine helfende Hand entgegenstrecken, aber Erfahrungen lehrten mich, dass Isaac die Dinge gerne mit sich selbst ausmachte. Umso überraschender kam es also für mich, als ich eine zögerliche Berührung an meiner rechten Hand spürte. Instinktiv flog mein Blick zuerst zur Kontaktstelle unserer Hände, bevor ich zu Isaac aufschaute und ihm ein kleines, erbauliches Lächeln schenkte. Das war es schon, aber es reichte. Der Name des Restaurants wurde von mehreren Spots hell erleuchtet und bereits von außen sah man, dass es nicht von Laufkundschaft am Leben gehalten wurde, sondern lediglich elitäre Kundschaft das Geschäft am Laufen hielten – mein Vater wickelte in derartigen Ambiente gerne Geschäftsabschlüsse ab. Ob Chad Ähnliches im Sinn hatte? Isaac half mir galant aus dem Auto hinaus, wies den Fahrer mittels genauen Instruktionen an und schon standen wir auf dem penibel sauberen Gehsteig vor dem Eingang unseres Ziels. Ganz der britische Gentleman, bot mir meine Begleitung den Arm zum Einhaken an. Ich kam der Aufforderung bereitwillig nach, hielt Isaac aber noch einen kurzen Moment zurück, als dieser sich sofort ins Gebäudeinnere begeben wollte – voller Tatendrang direkt ins Getümmel. Ich legte meine noch freie Hand seitlich auf seine Wange und drehte damit sein Gesicht mit sanftem Nachdruck zu mir, weil sein Blick längst an der blitzblanken Glastür haftete. „Du schaffst das. Ich bin bei dir und außerdem will Chad etwas von dir, nicht du von ihm. Es steht dir frei, zu gehen, wenn es dir zu bunt wird“, zählte ich ihm noch einmal die sachlich betrachteten Fakten einen nach den anderen auf. Man sah ihm an dem dunklen Ausdruck in den Augen an, wie viele Unannehmlichkeiten ihm diese Situation aufzwang und ich wünschte, ich könnte ihn leichter davon befreien. „Wenn du bereit bist, geht’s los“, überließ ich Isaac die Entscheidung, ob er noch einen tiefen Atemzug brauchte oder wir den Schritt über die Schwelle wagten, und nahm die Hand wieder zurück. Innerlich straffte ich mich, fokussierte meine Gedanken. Es war schließlich doch nur ein Abendessen… keine Friedensverhandlungen in Kriegszeiten. Oder?
Vielleicht würde ich später, wenn wir diesen ganzen familiären Zirkus hinter uns gebracht haben, eher ein paar passende Worte für Riccardas Anblick finden. Das setzte allerdings entweder einen positiven Ausgang der Dinge, oder sehr effektive Ablenkung des Engels im Anschluss an ein schief gelaufenes Abendessen voraus. Es war fraglich, wie realistisch diese beiden Optionen waren, aber das war in diesem Moment ohnehin noch nicht relevant. Die zierliche Blondine bremste meine Ungeduld, die eigentlich nur aus Unsicherheit rührte, indem sie mich vor dem Restaurant unerwartet anhielt. Ich dachte zuerst, sie würde sich nur das Kleid richten oder irgendwas in ihrer Handtasche suchen, aber da lag ich gründlich falsch. Ich spürte Riccardas schmale Finger an meiner Wange und mein starrer Blick löste sich vom Restaurant, um stattdessen verwirrt in ihren Augen zu landen. Dabei wendete ich mich ihr auch mit dem Oberkörper etwas mehr zu, um den Nacken nicht weit drehen zu müssen. Sie mischte sich mit ihren Worten erneut in den Wirbelsturm an Gedanken ein, der sich gerade in meinem Kopf drehte und unterbrach das schwindelerregende Tempo. Vielleicht brachte mich das nicht vollständig auf den Boden der Tatsachen zurück, der eigentlich gar nicht so schlecht für mich aussah - genau das betonte sie schließlich noch einmal nachdrücklich - aber es half trotzdem ein bisschen. Es bedeutete mir wirklich etwas, dass sie diesen Abend trotz meines aktuell eher unangenehmen Verhaltens mit mir durchstehen wollte. Dass sie sogar versuchte mir etwas Ruhe zu vermitteln, weil ich davon in diesem Moment offensichtlich absolut gar keine inne hatte. Mittlerweile war mir wirklich schleierhaft, wie ich früher nur so unendlich viel Schlechtes in ihr hatte sehen können. Es geschah unterbewusst, dass ich mich von Riccardas Worten dazu angehalten fühlte, ein weiteres Mal etwas tiefer durchzuatmen. Nach besagtem Atemzug beugte ich mich zu ihr hin, um meine Lippen ganz leicht an ihre Stirn zu lehnen - dafür war ihre Körpergröße ideal und außerdem ich wollte nicht, dass die zwei Passanten, die jeden Moment Hand in Hand auf dem Gehweg an uns vorbeilaufen würden, die folgenden Worte mithörten. "Ich bin wirklich froh, dass du mitgekommen bist.", nuschelte ich an ihre Haut und hauchte noch einen Kuss an dieselbe Stelle, bevor ich den Kopf zurückzog. Ich warf nur noch einen kurzen Blick in ihr Gesicht, bevor ich mich dann doch final in Bewegung setzte, um dem Übel ins Auge zu blicken. Ich zog die Eingangstür mit den vergoldeten Griffen auf, um Riccarda dabei den Vortritt zu lassen. Unweit des Eingangs wartete bereits ein Concierge an seinem kleinen Stehtischchen mitsamt Tablet. Als er uns erblickte huschte ihm sofort ein überfreundliches Lächeln ins Gesicht. "Mrs. Keerlow, Mr. Garcia - herzlich Willkommen. Ihr Bruder ist bereits eingetroffen. Wenn sie mir bitte folgen würden, ich führe Sie zu ihm.", richtete er sich ab dem zweiten Satz vermehrt an mich und machte abschließend eine einladende Handgeste. Ich nickte bloß und gab damit ganz und gar den ungehobelten Kerl, den ich überwiegend schon die ganzen letzten Jahre über in der Öffentlichkeit gemimt hatte. Trotzdem ließ der junge Mann sich nicht irritieren und ging voran in den hinteren Bereich des Restaurants. Auf dem Weg dorthin verteilte ich den einen oder anderen eisigen Blick an die ringsum sitzenden Gäste - überwiegend Männer, von denen manche ihre Augen meiner Meinung nach in eine falsche Richtung verloren. Der Ring an Riccardas Finger würde wohl nie mein besitzergreifendes Verhalten eindämmen, weil ich allzu gut wusste, wie unecht das kleine Stück Metall in Wahrheit war. Einer der schick gekleideten Kellner stand bereits vor der kleinen Flügeltür am hinteren Ende des Gebäudes und öffnete sie, als er uns kommen sah, mit einem Lächeln und einer angedeuteten Verneigung. Auch ihn bedachte ich nur mit einem direkten Blick, der wie in Stein gemeißelt war. Chad und Ava saßen direkt im Sichtfeld, als wir die Tür passierten. Mein Bruder stand gleich auf und schenkte uns ein Lächeln, obwohl er ganz genau wusste, dass ich das nicht erwidern würde. Allerdings war er da genauso stur wie all die Kellner. Es fiel kein Wort, bis die Türen sich hinter Riccarda und mir geschlossen hatten - der Kellner schloss sich dabei mit in den Raum. Chad stand auf und bedeutete seiner Frau mit einer beiläufigen Handgeste sitzen zu bleiben, als sie gleiches tun wollte. "Riccarda, Isaac...", er bedachte uns jeweils mit einem sehr bewussten Blick bei Nennung unserer Namen, "...es freut mich sehr, dass ihr die Einladung angenommen habt." Er klang durch und durch ehrlich und ich ließ meinen Arm sinken, um mit beiden Händen Riccarda den Mantel abzunehmen. Ich ließ auch mein Sakko an einem der goldenen Kleiderhaken zurück, die unweit der Tür die Wand verzierten. Danach schloss ich zum Tisch auf. Er war eigentlich für weit größere Personengruppen ausgelegt, war aber so gedeckt, dass wir uns direkt gegenübersitzen würden. Wenigstens ersparte mir das künstliche Umarmungen zur Begrüßung, weil hier jetzt Niemand gefühlte zwei Kilometer um den Tisch herumlaufen wollte. Ich reichte meinem Bruder also lediglich kurz die Hand und schenkte seiner überwiegend unschuldigen Frau ein gedrücktes Lächeln, als Geste für meinen guten Willen. "Ist auch nicht selbstverständlich, nachdem ich nicht wusste, was ich mir hier heute einbrocken werde.", ließ ich ihn gleich mal wissen, dass ich die Umstände nicht schätzte. Anschließend ließ ich mich neben Riccarda an den Tisch sinken. Chad ging jedoch gar nicht auf meine Worte ein und der Kellner nutzte natürlich gleich die Chance des stummen Moments, um uns danach zu fragen, ob uns Wein oder Champagner lieber war. Ich hielt mich an den Rotwein, dessen Marke mir schon geläufig war. Als alle Anwesenden ihr Glas gefüllt hatten - wobei Ava gänzlich auf Alkohol verzichtete, was mir spanisch vorkam - verschwendete mein Bruder jedoch keine Zeit an einen Toast. Stattdessen wanderte sein Blick kurz zwischen Riccarda und mir hin und her, ohne das er sein Lächeln verlor. "Wie geht's euch?", startete Chad mit Smalltalk.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Nach außen für vorbeischlendernde Passanten mochte unser kleiner Moment vor dem Restaurant mit Gleichgültigkeit betrachtet werden, doch für mich erzählte dieser Akt der Zuneigung für die riesigen Schritte, die Isaac und ich in den letzten Wochen gemeinsam erklommen hatten. Um diesen kostbaren Augenblick voll aufzunehmen, schloss ich bei der sanften Berührung auf meiner Stirn kurz die Augen und ließ die dankenden Worte auf mich wirken. Zwar ließ sich meine Aufregung keinesfalls mit der Anspannung von Isaac vergleichen, aber dieses unerwartete Treffen stimmte auch mich zu einem gewissen Grad unruhig – ohne düsterer Vorahnung oder schlimmen Befürchtungen, es fühlte sich schlichtweg unangenehm an, nicht zu wissen, worauf man sich eventuell einließ. Aber wir standen das zusammen durch, niemand musste sich der Situation allein stellen und so hoffte ich, dass ich Isaac diesen Gedankengang mittels eines erbaulichen Lächelns übermittelte, nachdem ich wieder aufgeblickt hatte. Im Inneren des noblen Restaurants schlug mir neben der warmen Luft auch ein angenehmer Duft um die Nase, was mich ausreichend lang ablenkte, um nicht sofort auf den abgestellten Bediensteten zu achten, der uns aber seinerseits direkt erkannte. Bei Erwähnung meines Namens schnellte meine Aufmerksamkeit zu dem jungen Mann im Frack hinüber. Automatisch präsentierte sich ein perfekt einstudiertes Lächeln auf meinen zart geschminkten Lippen, welches für derartige Situationen hervorragend diente. Die Presse hatte sich eine lange Zeit darum zerrissen, intime Bilder oder Informationen über Isaac und mich zu erhaschen, weshalb mein Verhalten samt Mimik und Gestik in der Öffentlichkeit nur ein sehr schwacher, gefilterter Abklatsch meines Naturells darstellte. Meine reservierte Zurückhaltung dürfte den Concierge nicht sonderlich beeindrucken, nachdem er sich ohnehin überwiegend an meinen Begleiter wandte und ich demzufolge nicht viel mehr zu tun bekam, als mir erhobenen Hauptes und sicheren Schrittes den Weg durch das gut besuchte Restaurant weisen zu lassen. Früher hatten mich derartige Treffen inmitten der unwissenden Bevölkerung unsicher gemacht, die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke, das Getuschel hinter meinem Rücken und die Artikel am folgenden Tag in der Boulevardzeitung – all das prallte nun an einer hochgezogenen Mauer von Ignoranz und Selbstsicherheit ab. Mittlerweile labte ich mich sogar ein wenig an den neiderfüllten Blicken anderer Frauen oder den lüsternen Funkeln in dem Gesicht diverser Männer. Trotzdem schenkte ich niemandem gezielt meine Beachtung, bis wir zu der geflügelten Schwingtür kamen und sogleich hindurchgeleitet wurden: dahinter warteten Chad und Ava. Instinktiv spannte ich mich an. Die seltsame Atmosphäre innerhalb dieses separaten Raums ließ sich mit ausgestreckter Hand greifen, jedoch spielten alle Anwesenden – bis hin zu dem Kellner am Rande meines Blickfeldes – ihre Rollen perfekt. Isaacs Bruder drängte sich regelrecht in den Mittelpunkt, wies aber seine Frau an, einfach am Tisch sitzen zu bleiben. Mir blieb nichts anderes übrig als das Schauspiel mit leicht angehobener Augenbraue mitzuverfolgen. Ich wusste nicht, wie ich diese Geste zu interpretieren hatte, aber aus einem bisher ungeklärten Grund stieß es bei mir nicht unbedingt auf Wohlwollen. Daher traf den jungen, zugegebenermaßen ebenfalls gutaussehenden Mann – so Wolfsgenetik schien ebenfalls primär schöne Personen auszuspucken – ein verhältnismäßig unterkühlter Blick bei der Nennung meines Namens. Nachdem mein Mantel und Isaacs Sakko an den edel geschwungenen Kleiderhaken einen Platz bekommen hatten, widmeten wir uns erst dem stilvoll gedeckten Tisch, wo die eigentliche Begrüßung stattfand. Ich hasste dieses aufgesetzt-höfliche Händeschütteln, ließ die Etikette aber sang- und klanglos über mich ergehen, bevor wir uns schlussendlich setzten. Isaac hielt seinen dezenten Seitenhieb nicht zurück, sondern stellte direkt seinen unzufriedenen Gemütszustand klar. Ich hielt mich mit meiner Meinung über diese Essenseinladung vorerst noch zurück, passte mich ein wenig an die schweigsame zweite Frau am Tisch an, die bisher nur lächelnd genickt hatte. Auch der Verzicht auf einen Aperitif nahm ich zur Kenntnis, bestellte mir dennoch ebenfalls ein Glas des exzellenten Rotweins. Unser persönlicher Kellner verschwand mit den Getränkewünschen und gab damit indirekt den Startschuss für Smalltalk, den ich eigentlich gerne überspringen würde. „Gut, danke der Nachfrage. Aber deutlich besser, wüsste ich, warum wir hier sind“, erwiderte ich mit einem süßen Lächeln auf den Lippen, ohne die diplomatische Gegenfrage zu stellen. Ich fühlte mich definitiv nicht auf Krawall gebürstet, aber gewisse Grenzen sollten direkt zu Beginn abgesteckt werden, um zu keinen Missverständnissen zu verleiten. Ich richtete meinen Blick kurz auf Isaac neben mir, danach weiter zu Ava, die mir aber anhand ihrer Mimik nichts verriet, ehe er abwartend auf Chad hängen blieb.
Ich genoss es mittlerweile sehr, dass der blonde Engel und ich uns hin und wieder auch mal einig waren. Obwohl wir aus sehr verschiedenen Lagern stammten und Missverständnisse dementsprechend manchmal vorprogrammiert waren, gab es durchaus auch Ansichten, die wir generell teilten. In diesem Moment war das die stumpfe Tatsache, dass uns beiden wohler damit wäre, wenn wir endlich wüssten, was dieser Zirkus hier bezwecken sollte. Riccarda zupfte mit ihren Worten unweigerlich kurz an meinen Mundwinkeln, weil ich ihren Gegenwind hinsichtlich Chads Smalltalk allzu gerne unterstützte - sei es auch nur mit einem kurzen Blickwechsel und meiner Mimik, weil mein älterer Bruder mit einem unterschwellig genervten, tiefen Atemzug auf die Antwort meiner Angetrauten reagierte. "Schön, wenn's euch so lieber ist... dann warten die Gespräche eben noch einen Moment.", gab er sich der Situation gleichgültig hin, bevor ein unangenehmes Schweigen eintrat. Ich musterte sein Gesicht währenddessen und er hielt meinem Blick sehr konsequent stand, bis er sich an den Kellner wenden musste, um die Vorspeise schon jetzt bringen zu lassen. Es dauerte eine kleine Weile, bis ich dahinter stieg, was das nun mit dem Aufschieben des Gesprächs zu tun hatte. Als wir jeder unseren Teller mit irgendeiner ausgefeilten Suppenkreation - die für Riccarda selbst scheinbar sogar absichtlich vegetarisch ausfiel - und Beilage hatten, verzog sich der Kellner vorübergehend und ließ die Prominenz der Stadt alleine. Mein Bruder wollte also schlicht und ergreifend sicher gehen, dass uns auch ja Niemand zuhörte, was ich eher als schlechtes Omen wertete. Chad sah dem Kellner nach, als er den Raum verließ und danach fokussierten seine Augen meine Wenigkeit. "Ich habe dich hergebeten, weil ich diesen Krieg nicht aufrecht erhalten möchte... und weil ich will, dass du weißt, welche massiven Auswirkungen es hat, dass du das Rudel verlassen hast." Ich war mir ehrlicherweise nicht einhundertprozentig, von welchem Krieg er sprach. Von dem zwischen Engel und Wölfen oder von unserer eigenen Familienfehde? Vielleicht von beidem, weil es stellenweise zusammenhing? Sein Blick löste sich von mir und richtete sich stattdessen auf die zierliche Blondine neben mir. "Und du solltest das auch hören, weil du ein Teil davon bist. Ich weiß, dass ihr euch diese Ehe nicht ausgesucht habt und wir aus sehr unterschiedlichen Quartieren kommen, aber du gehörst trotzdem zur Familie... in meinen Augen zumindest.", mimte er mit milder Formulierung durch und durch freundliche Absichten, die ich absichtlich missverstand, um ihm eins reinzuwürgen. "Also sind wir hier, damit ich mir deine Vorwürfe anhören kann?", fiel ich ihm trocken ins Wort, als er eigentlich gerade selbst erneut zum Reden ansetzte. Ich sah ihn nicht an, sondern brach in der Zwischenzeit etwas von dem mitgelieferten Brot über meinem Teller ab. Ich konnte Chads Augenrollen nicht sehen, aber gefühlt hören. "Nein, Isaac.", er klang nach außen noch immer völlig ruhig, aber meine trotzige Sturheit hatte ihn schon immer mehr gereizt als alles andere. "Ich erwarte weder von dir, dass du dich für irgendetwas entschuldigst, noch möchte ich mich hier mit euch beiden streiten. Aber es steht in vielerlei Hinsicht nicht unbedingt gut um uns und ich dachte, dass dich das vielleicht zumindest noch ein kleines bisschen interessieren könnte. Korrigier' mich aber gerne, wenn ich damit falsch liege.", spielte er den Ball stumpfer Annahmen mit Ironie im Abgang einfach wieder zu mir zurück, als er nach seinem Löffel griff. Nun war ich an der Reihe damit, einmal tief ein- und mit einem genervten Stöhnen wieder auszuatmen. Ich behauptete immer ganz gerne, dass meine Familie mir gestohlen bleiben konnte und sie in ihrem Schloss tun konnte, was sie wollte, solange ich selbst nicht mehr dort war. Die Angelegenheit war aber leider nicht so schwarzweiß, wie ich sie gerne hätte, also animierte ich Chad mit einer Handgeste, einfach fortzufahren, während ich mich der Suppe widmete. "Vater gibt seit einer Weile immer mehr Aufgaben an mich ab. Ich weiß nicht, ob er das nur tut, weil er keine Lust mehr hat es selbst zu machen, weil er der Presse stur aus dem Weg gehen will seit der Beerdigung ", hoppla, war das etwas mein Fehler? Gern geschehen! "oder weil er das Ende seiner Regentschaft einleiten will.", vollendete er seinen Satz. Nun sah ich plötzlich hellhörig geworden doch wieder vom Teller auf. "Aber es ist in jedem Fall wahnsinnig schwer für mich den Geschäftskarren allein aus der Scheiße zu ziehen und gleichzeitig die Familie in Schach zu halten. Seit du weg bist und ich mich kaum noch blicken lasse, mimt Vernon Zuhause den König höchstpersönlich und mischt ständig alle auf... zusätzlich dazu, dass er in meinen Augen absolut unqualifiziert dafür ist, sich um die Finanzen zu kümmern, die eigentlich deine Angelegenheit hätten werden sollen. Er wurde als Aasfresser geboren und das hätte sich zum Wohl der Familie besser nie ändern sollen." Chad warf mir nur einen kurzen, vielsagenden Blick zu und aß dann weiter, während ich ihn zehn Sekunden lang schweigend musterte und abwägte, was er jetzt von mir hören wollte. Dass er das schon noch hinbekam und eine Balance zwischen beidem finden würde? Dass er als Lieblingssohn einfach Vater um Hilfe bitten sollte? Oder doch lieber, dass er sein Leben lang darauf vorbereitet worden war und sich jetzt gefälligst nicht so anstellen sollte? Eigentlich klang es für mich einfach nur nach einem indirekten Hilfeschrei. "Falls du willst, dass ich zurückkomme, um unseren Bruder für dich in die Schranken zu weisen, hättest du dir den ganzen Aufwand hier sparen können.", ich klang fast etwas zu gleichgültig. So unberührt, dass es unglaubwürdig klang. Dabei war ich eigentlich nur ziemlich perplex davon, dass er seine Probleme mit der neu gewonnenen Verantwortung derartig offensichtlich vor uns ausbreitete - so als würde ihm alles durch die Finger rinnen und er das hier als letzten Ausweg sehen. Normalerweise schwieg er solche Dinge lieber tot. Doch Chad ging gar nicht auf meine Worte ein, sondern schnitt gleichzeitig noch ein völlig anderes, auf den ersten Blick zusammenhangloses Thema an. "Eure Beziehung zueinander ist besser geworden, oder? Ihr wirkt ganz anders, als noch vor ein paar Monaten." Sein Blick glitt von mir weg zu Riccarda und nicht nur Avas Augen folgten seinem Beispiel, sondern auch meine eigenen. Ja, wir beide kamen jetzt deutlich besser miteinander aus. Mehr als das, fand ich - ehrlicherweise überließ ich es aber gerne dem Engel, das in Worte zu fassen. Auch wenn ich diesbezüglich nicht mehr das Gefühl hatte permanent auf dünnem Eis zu gehen und wir im karibischen Urlaub einige Worte darüber ausgetauscht hatten, wollte ich an dieser Stelle nichts falsches sagen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Mir ging es bei diesem Essen nicht um ein subtiles Kräftemessen oder gar meinen Gegenübern das Leben unnötig zu erschweren, dennoch vergas ich zu keinem einzelnen Augenblick, dass es Isaacs Bruder war, der uns um dieses Treffen bat – nicht umgekehrt. Wahrscheinlich würde unsere scheinheilige, kleine Luftblase nicht ewig halten, da mein Partner nach wie vor mit einer Pfote irgendwie in diesem vertrackten Familiendrama feststeckte, aber in unserem Lager brannte der Hut nicht lichterloh. Dieses Wissen sicherte mich gewissermaßen ab und reichte mir, um meine Meinung auch offensichtlich kundzutun, ohne mit fatalen Konsequenzen rechnen zu müssen. Was sollte mir schlimmstenfalls passieren? Die Fehde zwischen Engeln und Wölfen zeichnete sich nach wie vor nicht unbedingt als friedvollen Waffenstillstand ab, demnach würde ich die Umstände diesbezüglich durch ein klein wenig aufmüpfiges Verhalten gewiss nicht verschlechtern. Also blieb ich dabei, erwiderte Chads taktlos-offensichtlich genervte Reaktion unbeeindruckt und setzte erst den Hauch eines zufriedenen Lächelns auf, als der Gestaltwandler auf der anderen Seite des Tisches kooperierte. Trotzdem ließ Chad uns warten, beorderte ohne jeglichen Hinweis auf Eile den ersten Gang und begnügte sich damit, sich in eisernes Schweigen zu hüllen, ehe der Kellner samt ausladenden Tablett zurückkehrte, die hübschen Teller samt Inhalt vor uns abstellte und sich zurückzog – Chads Stichwort. Isaac stand nun im Mittelpunkt des Geschehens. Nicht nur sein Bruder fokussierte ihn, auch Ava schien ernsthaft an seiner Reaktion interessiert zu sein, was mich dazu verleitete, meinen Blick ebenfalls auf dem Dunkelhaarigen neben mir ruhen zu lassen. Es gelang mir grob geschätzte fünf Sekunden, dann hing meine Konzentration überdeutlich an Chad fest, verbiss sich regelrecht in jedem ausgesprochenen Wort. Von welchem Krieg sprach er? Für meinen Geschmack fingen die Schuldzuweisungen in der Einleitung eine Spur zu früh an, aber ich hielt mich mit einem Kommentar wohlweislich zurück. Glücklicherweise, denn Chads Augenmerk galt nun meiner Person. Mir, die angeblich ebenfalls zur wölfischen Familie zählte, obwohl keine Seite – auch ich nicht – jemals Bemühungen angestellt hatte, um ein aufwärmen der kalten Beziehung zueinander überhaupt erst zu ermöglichen. Unweigerlich schlich sich ein misstrauischer Ausdruck in meinen Augen, bevor ich jedoch zu einer Erwiderung ansetzen konnte, brillierte Isaac mit einer provokanten Unterstellung, die sogleich verneint wurde. Ich folgte Avas Beispiel, die sich aus der brüderlichen Kontroverse heraushielt und sich stattdessen anschickte, ihre Suppe still zu löffeln. Ich erfreute mich nur eines mäßigen Appetits, obwohl die Speisen in diesem Restaurant kaum zu überbieten waren, fesselten mich die niederprasselnden Anfeindungen um ein Vielfaches mehr, weshalb die Nahrungsaufnahme zur nebensächlichen Tätigkeit wurde. Immerhin gingen sich Isaac und Chad nicht direkt an die Gurgel, sondern zeigten sich nur extrem genervt von dem jeweils anderen – wow. Meine Brüder und ich pflegten kein sonderlich inniges Verhältnis, dennoch war unsere Bande als Geschwister stark, weshalb ich diese desaströse, passive Aggression nur schwer nachvollziehen konnte. Stopp. Ich – und alle anderen am Tisch – merkte sofort, dass nun die ausschlaggeben Aussage getätigt worden war: der Alpha begann Schwäche zu zeigen und Isaac sprang sofort darauf an. Seine gesamte Körperhaltung verriet ihn. Für mich beinhielt diese Ansprache sehr viele Informationen, mit denen ich aber nicht ausnahmslos etwas anzufangen wusste. Zwar kannte ich den Namen des jüngsten Bruders, aber sonst fehlten mir sämtliche Einblicke in die Rollen- und Arbeitsverteilung innerhalb des Rudels inklusive der Geschäfte. Leider verriet mir dieser vage Blick hinter die Kulissen nicht ausreichend, um die wahre Absicht hinter dieser Einladung zu erraten und überließ Isaac weiterhin die Gesprächsführung. Die emotionale Kälte in seiner Stimme ergriff sogar kurzfristig von mir Besitz und ließ mich in der Bewegung innehalten. Es klang einen Tick zu viel aufgetragen; ich für meinen Teil kaufte es ihm zumindest nicht zur Gänze ab. Aber der eisige Ton wurde ohnehin übergangen und Chad blieb Isaac eine Erwiderung schuldig. Ob er später noch einmal darauf zurückkam? Wahrscheinlich, aber vorerst sollte ich wieder an der Reihe sein. Die Feststellung könnte ebenso gut einfach im Raum stehen gelassen werden, wirkte sie nur sehr unterschwellig wie eine ernstzunehmende Frage nach weiteren Erklärungen und so nickte ich im ersten Moment nur abwägend, legte mir eine passende Antwort gedanklich zurecht. „Wir konnten uns schließlich nicht bis zum letzten Atemzug das Leben unnötig erschweren und fanden Wege, um uns mit der neuen Situation zu arrangieren. Wäre unser Verhältnis noch wie vor ein paar Monaten, säße einer von uns beiden wahrscheinlich nicht mehr hier“, merkte ich spitz an und beobachtete dabei ganz genau Chads Reaktion. Ich wusste nicht, wie viele unserer Auseinandersetzungen bis in die Wolfshöhle oder gar an die Presse gedrungen waren, aber er durfte ruhig wissen, dass Isaac mit eigenen Problemen zu kämpfen und diese allein bewältigt hatte, ohne zu einem Bruder zu rennen, sobald es ein wenig unbequemer wurde. Es sollte nur ein schwacher Gedankenanstoß sein und kein Ankreiden vergangener Fehltritte, weshalb meine Miene augenblicklich weicher wurde, sich sogar ein ehrliches Lächeln zeigte und ich hinzufügte: „Irgendwann zwischen den verkrampften Versuchen, friedvoll miteinander umzugehen, und dem Hinwegsehen von diversen Meinungsverschiedenheiten hat es dann zu funktionieren begonnen. Darauf haben wir, denke ich, erfolgreich aufgebaut. Zumindest ernten wir relativ viel positives Feedback zu unserer Entwicklung.“ Dabei grinste ich Isaac nun verschwörerisch von der Seite an. Das zweite Paar durfte sich gerne ein bisschen den Kopf darüber zerbrechen, wie vertraulich wir bereits miteinander umgingen und in welchem Ausmaß diese Bindung auch für die anderen Mitglieder meiner Familie galt. Dennoch galt, dass Isaac dank meiner Zuneigung mehr oder weniger einen gesamten Clan von Engeln im Rücken hocken hatte, falls Chad sich an dieses Wissen herantasten wollte. Dass der Zuspruch eventuell primär von meiner Verwandtschaft in den Tropen kam, musste ja niemand zu genau in Erfahrung bringen, aber auch die Klatschzeitungen ergötzten sich an unseren Auftritten in der Öffentlichkeit und es vergingen selten mehr als fünf Tage, ohne im Lokalblatt eine Abbildung von uns samt dämlich-kitschiger Aufreißerschlagzeile zu finden. Wie das dem angeblich perfekten Traumpaar wohl schmeckte? Isaac hatte erwähnt, dass Chad gerne mit seiner Beziehung zu Ava prahlte, was ich ebenso auf einem subtileren Weg schaffte.
Chad lachte leise wissend in sie hinein und nickte, als Riccarda sagte, dass einer von uns beiden womöglich schon abgedankt hätte, wenn wir uns nicht am Riemen gerissen hätten. Geheimnisse blieben innerhalb eines Wolfsrudels selten lange wirklich geheim. Ich war mir sicher, dass mein Bruder diese Feststellung gerade eben auch nicht einfach nur in den Raum geworfen hatte, weil er ab und zu eine Zeitung oder ein Klatschblatt las. Er brauchte das alles theoretisch gar nicht, weil er in diesem Moment in meiner unmittelbaren Nähe saß und zumindest vage spüren konnte, wie ich mich in Riccardas Nähe fühlte. Dass uns beide etwas verband, das mit bloßem Auge nicht sichtbar war und das tiefer ging, als ein blankes Arrangement mit dem Umstand der Zwangsheirat. Auch da hatten Wölfe leider einen siebten Sinn - ein Mitgrund dafür, dass mir auch eine Veränderung am Paar gegenüber auffiel. Ich tat mir allerdings schwer damit, es genauer zu definieren, obwohl ich eigentlich nur eins und eins hätte zusammenzählen müssen. Bei Riccardas letzten Worten fanden meine Augen die ihren wieder und meine Mundwinkel ließen sich von ihren anstecken. Ehrlicherweise genoss ich die Heimlichtuerei - Paparazzis mochten viele Fotos knipsen und sich die wildesten Storys ausdenken, aber die wahren Begebenheiten kannte am Ende Niemand - außer uns beiden. "Ich hätt's nicht besser ausdrücken können.", stimmte ich dem Engel voll und ganz zu. Vielleicht war das überflüssig, aber ich rieb Chad die gewonnene Einigkeit gerne unter die Nase. Meine Mundwinkel waren noch immer angehoben, als mein Blick zurück zu meinem älteren Bruder glitt. Er sah einen Moment lang fast schon analytisch zwischen dem Engel und mir hin und her, bevor er am Ende an mir hängen blieb. "Ihr beide hättet die besten Voraussetzungen dafür, diese dumme Fehde zu beenden. Ihr könntet als gutes Beispiel vorangehen. Warum liegt dir nichts daran, Isaac?" Man konnte ihm die Neugier förmlich anhören. Von mir erntete Chad allem voran allerdings einen verständnislosen Gesichtsausdruck. War das sein Ernst? "Weil ich damit nicht angefangen habe. Ich bin vielleicht Schuld an dieser Zwangsheirat", ich zeigte mit dem Finger zwischen Riccarda und mir hin und her, "aber an dem Rest ganz bestimmt nicht. Niemand hat euch darum gebeten, in ein Schloss zu marschieren und Engel zu massakrieren. Würdet ihr Vater nicht so dumm und blind folgen, wäre zumindest das gar nicht erst dermaßen ausgeartet… und warum ich seinen Kopf rollen sehen will, muss ich dir nun wirklich nicht erklären.", schnaubte ich und hielt mich nicht mit dem verächtlichen Unterton zurück. Ich sah kurz mit funkelnden Augen zu Ava, die daraufhin erst zu Riccarda und dann zurück in ihren Teller sah. Sie war doch sonst nicht so still, hatte sie ihre Stimmbänder Zuhause vergessen? "Also ist es dabei geblieben, dass du ihn herausfordern wirst?", wollte Chad sich anschließend ganz direkt vergewissern. Ich nickte ohne zu zögern, die Suppe vor meiner Nase war für den Moment vergessen. Mein älterer Bruder seufzte und wendete sich erneut mit dem Löffel seinem Teller zu, wobei ich ihn nicht aus den Augen ließ. Es zogen ein paar Sekunden ins Land, in denen er die Suppe löffelte, bevor er weitersprach. "Und was passiert, wenn du deine sturen Rachegelüste endlich befriedigt hast?", fragte er weiter. Ich antwortete jedoch nicht, weil ich nicht wusste, worauf er exakt hinauswollte. Also forderte ich ihn mit fragenden Gesichtsausdruck dazu auf, weiter auszuholen. "Du weißt, dass du mich automatisch degradierst, wenn du Vater besiegst. Du wärst der Alpha, sofern das Niemand anzufechten gedenkt… und es ist unwahrscheinlich, dass sich dir anschließend noch Jemand in den Weg stellt. Wie geht es dann also weiter?", forderte er mit einem Seufzen eine spezifische Auskunft. Statt auf Anhieb verbal zu antworten, zog ich die rechte Augenbraue nach oben und sah ihn an, als säße ich hier gerade im falschen Film. Nicht mal er selbst würde darum kämpfen, das zu kriegen, wofür er im Grunde schon mindestens sein halbes Leben arbeitete? Wollte er mit knapp 30 Jahren auf dem Buckel lieber nochmal einen Neustart wagen? "Ich versteh dich wirklich nicht. Du hast schon so viel da reingesteckt und würdest das einfach hinnehmen? Wo bleibt dein Ehrgeiz?", fragte ich ihn fassungslos, dicht gefolgt von einem leichten Kopfschütteln und anschließend weiteren Worten. "Ich will dieses kaputte Rudel gar nicht, kann ich's dir nicht einfach überschreiben?" Meine Worte klangen trocken und reichlich ironisch, dabei meinte ich diese Frage tatsächlich mehr oder weniger ernst. Natürlich funktionierte das so normalerweise nicht. Aber wenn er jetzt doch sowieso schon Teile der Führung übernahm und die anderen merkten, dass sie mit ihm ganz gut dran waren - zumindest in jedem Fall besser, als mit unserem Vater - könnte das funktionieren, oder? Die Beta-Wölfe würde Chad problemlos niedermachen. Er war mir vielleicht nicht ebenbürtig, aber er war trotzdem direkter Nachkommen eines Alphas. Höchstens Vernon könnte ihm in die Quere kommen, aber um ihn machte ich mir als schwächsten von uns Brüdern eigentlich auch keine Sorgen. "Weil meine Prioritäten anders gesteckt sind als deine, Isaac. Der Alphaposten interessiert mich wenig, aber ich würde ungerne Vernon die Familienführung überlassen... ich möchte nur einfach jedem Kampf aus dem Weg gehen, den ich tot beenden könnte.", erwiderte Chad, bevor er sich den letzten Happen des Beilagenbrotes in den Rachen schob und anschließend zu seiner Frau sah. Es folgte ein kurzer Blickwechsel, er nickte ihr kaum sichtbar zu. Ich griff nach meinem Weinglas und Ava lächelte zwischen Riccarda und mir hin und her. "...weil ich seit drei Monaten schwanger bin. Es war..." Ihre Stimme klang süß und unschuldig, ich unterbrach sie mit einem plötzlichen Husten. Der Rotwein hing mir quer im Rachen und ich stellte mich stark räuspernd das Glas zurück neben meinen Teller. "Es war nicht geplant, aber es ist jetzt so und wir freuen uns darüber. Ich möchte den Kleinen allerdings nicht alleine großziehen müssen.", beendete sie den vorher begonnenen Satz und ihre Augen schwenkten von Riccarda zurück zu mir.
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Tut mir leid - bei mir war nur so viel los und ich bin schlussendlich in einem mentalen Zusammenbruch plus Erkältung gelandet, sodass an einen Post nicht zu denken war. v-v Zusätzlich muss ich auf zwei anstehende Prüfungen in den kommenden Wochen verweisen, weshalb meine Anwesenheit weiterhin nicht unbedingt glänzen wird. :/ __________
In diesem Augenblick der verschwörerischen Vertrautheit fühlte ich mich unerwartet wohl, obwohl wir weiterhin lediglich den Ball vager Vermutungen von einer Tischseite zur anderen spielten – ich genoss diesen analytischen Schlagabtausch, wohlwissend, dass die Stimmung jederzeit umschlagen konnte und ich mich dann weit weniger beflügelt fühlen könnte. Schrecklich ironisch, dass es ausgerechnet Isaacs Bruder brauchte, um mich mit Isaac richtig verbunden zu fühlen. Der Ring an meinem Finger diente rein symbolischen Zwecken für die Öffentlichkeit, ebenso gefiel mir die langsam anwachsende Toleranz meiner Familie gegenüber dem Werwolf, aber schlussendlich die unterschwellige Bestätigung eines Außenstehendenden aus Isaacs Rudel in Bezug auf die Funktionalität unserer schweren Beziehung zu erhalten, assoziierte ich mit der Kirsche auf dem Eisbecher – eine Art Bestätigung, die ich unterbewusst und ohne mein akutes Zutun gebraucht und nun auch erhalten hatte. Ich schenkte meinem Gefährten ein schiefes Grinsen für seine Bestätigung, richtete mich danach erst wieder an Chad und Ava, die sich weiterhin überraschenderweise im Hintergrund verbarg. Ein Umstand, der mich unweigerlich neugieriger machte. Der schräg gegenübersitzenden Frau dürfte mein Interesse auffallen, denn sie sich meinem Blick immer wieder geschickt aus, indem sie sich vermehrt auf die Suppe vor ihrer Nase konzentrierte. Irgendetwas stimmte nicht… zumindest suggerierte mir mein Bauchgefühl ein schwammige Vermutung, dass da noch etwas im Busch lauerte. Etwas Großes, das auch uns im übertragenen Sinne tangierte. Doch bevor ich mich an dieser Intuition verbeißen konnte, eroberte Chad meine Aufmerksamkeit zurück. Ich dürfte Isaacs Argwohn ziemlich gut widerspiegeln, versuchte aber keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und übte mich in Geduld. Der Dunkelhaarige neben mir wartete ohnehin sehr rasch mit einer scharfen Antwort auf, der ich innerlich beipflichtete. Wir zwei hatten die gesamte Familienfehde vielleicht im kleinen Rahmen zwischen uns in eskalierenden Ausmaßen aufblühen lassen, aber ich sah die Verantwortung für das große Ganze sicherlich nicht in unseren Händen liegen – Isaac und ich hatten unsere Bestrafung ausgefasst und gegen aller Erwartungen etwas Schönes daraus konstruieren können, aber das hieß noch lange nicht, dass wir eine generationsübergreifende Abneigung beseitigen würden. Der zweite Gestaltwandler am Tisch ging gar nicht richtig auf die Aussage seines Bruders ein, sondern feuerte eine weitere Frage nach, deren Antwort ich bereits kannte. Mein Gesichtsausdruck blieb neutral, verriet nichts über die unzähligen Gedanken in meinem Kopf. Meine Präsenz spielte halt auch keinerlei Rolle mehr im weiteren Verlauf der Unterhaltung – Chad verlangte nach Zukunftsplänen, von denen ich ebenfalls noch nicht viel wusste. Ich traute mich zu behaupten, dass Isaac selbst noch keine konkreten Ideen für ein zerstörtes Rudel besaß und schob dieses auch sogleich in den Aufgabenbereich des ältesten Sohnes. Seine Art – wie immer unvergleichlich provokant-sarkastisch. Am liebsten hätte ich frei heraus gegrinst und mich an dem finsteren Blick von Chad erfreut, aber auch ich bediente mich einer gewissen diplomatischen Erziehung und behielt meine Emotionen unter Kontrolle. Auf einmal verspürte ich das dringliche Verlangen, mich doch wieder in die Konversation einzumischen, obwohl ich den Redefluss nur bedingt unterbrechen wollte. Uneinig, wie ich mich integrieren sollte, verharrte ich weiterhin still und grübelte selbst über Isaacs Prioritäten nach. Natürlich stand da der Tod seines Vaters an oberster Stelle, aber was würde diese Position nach erledigter Arbeit ausfüllen? Ich fand beim besten Willen keine zufriedenstellende Erkenntnis, von der ich aufrichtig überzeugt war. Was auch immer mein Partner in den dunkelsten Ecken seines Gedächtnisses ausheckte, auch ich tappte diesbezüglich im Dunkeln und würde erst mit der Zeit mehr erfahren. Jedoch schien zuerst eine andere Offenbarung am Programm zu stehen: beinahe verpasste ich den geheimnisvollen Blickwechsel zwischen Ava und ihrem Mann. Als hätte sich ein Schalter in der jungen Frau umgelegt, strahlte sie auf einmal aus großen Augen und schien am heuten Abend zum ersten Mal aufzuwachen. Schwanger. Eigentlich nichts Ungewöhnliches und doch hatte ich mit nichts derart Banalem gerechnet – denn die Kaskade an Konsequenzen schien alles andere als banal zu werden. Isaac brauchte noch einen Augenblick, räusperte sich vernehmlich und so fand ich meine Fassung schneller wieder: „Dann darf man euch beiden anscheinend gratulieren.“ Ein sanftes Lächeln zierte meine Lippen, das primär Ava gehörte. Der freundliche Ausdruck fror minimal ein, als ich mich an Chad richtete: „Und was heißt das nun im weiteren Sinne?“ Zog sich der angehende Rudelführer vollständig aus dieser Angelegenheit zurück, schob all die damit einhergehende Verantwortung Isaac in die Schuhe und weiter? Chad musste doch einen Plan verfolgen oder sich zumindest gewisse Vorstellungen ausgemalt haben, wie dieses Familiengeschäft weiterlaufen sollte. Ich kannte mich dummerweise zu wenig in diesem wölfischen Gefüge aus, um mir selbst eine Erklärung aus den gegebenen Puzzlestücken zu bauen. Die Suppe oder eher das ganze Essen spielte nur noch eine untergeordnete Rolle.
Ich war noch immer damit beschäftigt den Wein wieder aus dem falschen Hals zu kriegen, als Riccarda sich zu der Problematik äußerte. Ja, was wollten Chad und Ava uns jetzt damit sagen? Vielleicht sollte es mich nicht so sehr überraschen, dass die beiden Nachwuchs erwarteten. Inzwischen waren sie schon eine ganze Weile lang zusammen und im Gegensatz zu mir hatte mein älterer Bruder schon immer damit geliebäugelt, irgendwann selbst kleine Wolfsbälger in die Welt zu setzen. Aber warum musste das jetzt einen Einfluss darauf haben, was ich zu tun plante? Noch essentieller - warum sollte ich mich nach Wünschen und Ersuchen meines Bruders richten, wenn er mir diese Ehre bisher auch nie hatte zuteilwerden lassen? Wieso musste es mein Problem werden, dass die beiden zu dumm zur Verhütung waren? Chads Augen lagen auf der schlanken Blondine neben mir und er nickte ihr zum Dank zu, bevor er auf ihre Frage einging. "Das heißt, dass Isaac sich für irgendeine sinnvolle Lösung entscheiden muss. Die Auswirkungen bleiben zwangsläufig schließlich auch an dir hängen... sofern ihr nicht gedenkt euch scheiden zu lassen, wonach es aktuell ja offenbar nicht aussieht.", zog er den für sich eindeutigen Schluss der Dinge und warf meiner Frau noch ein verhaltenes Lächeln zu. Mit einem hörbar genervten Schnauben schüttelte ich kurz darauf den Kopf und griff wieder zum Löffel, um mich für einen Moment mit der plötzlich ganz praktischen Suppe aufzuhalten. Ich wollte mich nicht davon abbringen lassen, dieser Bestie von Vater irgendwann das Licht auszuknipsen, wenn der richtige Moment dafür gekommen war. Genauso wenig wollte ich jedoch das Rudel anführen. Ich mochte den Großteil meiner Familie nicht besonders gerne und sie mich genauso wenig. Zumindest dachte ich das, weil Dank meines Vaters grundsätzlich fast alle einen Bogen um mich gemacht hatten. Die einzige Ausnahme davon bildeten meine Alpha-Brüder und mein Cousin. Letzterer zahlte dafür mit einem sehr niedrigen Rang im Rudel. "Isaac?", forderte mein älterer Bruder mich zu einer Antwort auf, weil ich auch nach ein paar Löffeln noch keine gab. "Was zum Teufel willst du jetzt von mir hören? 'Aber natürlich stecke ich liebend gerne wieder alle meine eigenen Wünsche zurück, damit du in Frieden dein Leben leben kannst.'? Das kannst du vergessen. Von mir aus kann Vernon den Karren endgültig an die Wand fahren, wenn du wie immer zu feige bist, mal für dich und das was dir wichtig ist, einzustehen.", schnauzte ich ihn über den Tisch hinweg an, was Avas Augenbrauen in die Höhe schießen und mich entsetzt ansehen ließ. "So wie du nicht erwachsen wirst, sondern weiter in deinen Rachegelüsten feststeckst und dich aus der Verantwortung ziehst?", hielt Chad mir ebenfalls den Spiegel vors Gesicht, wobei er einen deutlich neutraleren Ton anschlug als ich - weil er wusste, dass mich das provozierte. Sofort zog ich die Augenbrauen tiefer und ich begann ihn förmlich mit meinem Blick zu durchlöchern. Hatte er jetzt vergessen, dass er derjenige war, der etwas von mir wollte und nicht umgekehrt? Ich mochte ein Spätzünder sein, aber ich entwickelte mich sehr wohl weiter... warum war das überhaupt ein wunder Punkt? Ich sah es doch an mir und Riccarda. "Ich brauche dich und deine Bestätigung nicht, Chad. Weder dich, noch den Rest dieses verlogenen Packs, das dich in den Nacken beißt, sobald du ihm den Rücken zukehrst.", knurrte ich, während meine Augen ihn gereizt anfunkelten. Mein Bruder reagierte jedoch kaum darauf, ihm zuckte nur einmal kaum sichtbar der rechte Augenwinkel. "Wenn du es nicht für die Familie tun möchtest, dann tu es für dich? Für euch beide?" Sein Blick rutschte für einen kurzen Moment zu Riccarda, bevor er weitersprach. "Wenn du nicht auf Mord verzichten möchtest, dann werde der Alpha. Du müsstest dich nicht einmal wirklich an den Geschäften beteiligen, die kann ich schließlich ohne deine Hilfe gerade biegen. Vater wird mir alles überschreiben - vorausgesetzt du lässt ihn dafür noch lange genug am Leben - und ich würde dir ohne mit der Wimper zu zucken 49% zuschreiben. Du könntest sämtlichen Papierkram mir überlassen und müsstest nur dafür sorgen, dass in der Familie endlich wieder Ruhe einkehrt. Wo ist für dich der Haken? Wenn alles so läuft, wie ich mir das vorstelle, würde dir das in wenigen Jahren ein ziemlich angenehmes Einkommen bescheren, für das du nur gelegentlich mal Jemandem auf die Schnauze hau'n musst. Ist das nicht genau dein Ding?", machte mein Bruder mir erstmalig einen ganz konkreten Vorschlag, mit bitterem Sarkasmus im Abgang. Im ersten Impuls wollte ich auf der 49 herumreiten - er hätte damit die Entscheidungsgewalt weiterhin auf seiner Seite, obwohl ich in diesem Konstrukt der Alpha wäre. Ob man genug Klauseln in diesen Vertrag einbauen konnte, um das Risiko übers Ohr gehauen zu werden, komplett zu eliminieren? Ich traute ihm diesbezüglich nicht, obwohl er wirklich nur mehr Zeit und Ruhe für künftige Familienangelegenheiten haben zu wollen schien. Eigentlich war es wohl eine ganz andere Sache, die mich an alledem störte und als mir das klarwurde, sah ich zu der zierlichen Blondine neben mir und musterte ihre Gesichtszüge, wie ich es schon so oft getan hatte. Mein Augen funkelten noch immer sehr unruhig, aber das galt eigentlich nicht dem Engel. Ich fühlte mich schrecklich zerrissen, auch wenn ich beteuerte, dass mir der Verbleib der Familie vollkommen am Allerwertesten vorbeiging. Trotz allem wollte ich nicht, dass Chads Sohn - keine Ahnung, ob das Geschlecht wirklich schon mittels Ultraschall feststand, aber die Chance auf einen Jungen lag bei mindestens 90% - so aufwachsen musste, wie ich. Nur mit Ava als menschliche Mutter hatte er Niemanden an der Seite, der ihm aktiv den Rücken stärkte, sollte meinem älteren Bruder tatsächlich etwas zustoßen. Ein unschuldiges Kind verdiente es nicht ohne Vater in einem kaputten Rudel aufzuwachsen, nur weil ich meinen Ego-Trip beibehalten wollte. Kein Vater war zwar besser als ein gewalttätiger, aber da ging es nur um Pest oder Cholera. Man sah das an Vernon - während unser Vater Chad in den Himmel erhoben und mich in die Hölle geschickt hatte, bekam sein jüngster Sohn nur noch die Brotkrumen seines völligen Desinteresses. Er hatte ein gestörtes Sozialverhalten und bei Wölfen prägte sich sehr schnell sehr stark aus - dafür war auch ich selbst bekanntlich ein ausgezeichnetes Beispiel. "Wir haben schon andere Pläne. Ich werde nicht hierbleiben und ich kann ein Rudel nicht über tausende Kilometer Distanz hinweg in Schach halten. Es geht ganz einfach nicht.", entschied ich mich dennoch dafür, den alten Plan beizubehalten und zuckte genervt mit den Schultern. Ich warf Chad aber nur einen kurzen Blick zu, bevor ich auf die Tischdecke sah. Eigentlich hatten Riccarda und ich nicht wirklich einen völlig festen Plan für unsere Zukunft. Wir mussten erst einmal ausloten, ob es wirklich einen Sinn hatte, wenn wir langfristig zusammenblieben und ob wir das wirklich wollten. Also ich wusste eigentlich schon, dass ich das wollte... nur war das eben nicht nur von mir abhängig. Sollten die Dinge so ihren Lauf nehmen, wie ich mir das insgeheim wünschte, würden der Engel und ich früher oder später unsere Sachen packen und endgültig von hier verschwinden. Ich hatte es satt, hier in der Vergangenheit leben zu müssen und wollte einen Neubeginn. Am besten sehr weit weg, zusammen mit Riccarda. Jetzt aber kam mir Chad mit seinem dummen Balg in die Quere und versuchte mir einen fetten Strich durch die sowieso schon auf wackeligen Beinen stehende Rechnung zu machen. Der verblüffte Blick meines Bruders löste sich von mir und schweifte zu gleichen Teilen interessiert zu Riccarda. Er schien wohl mit Vielem gerechnet zu haben, nur nicht damit. Blöd war jetzt nur, dass... naja, unsere Pläne noch gar nicht so genau definiert waren.
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Scheidung?! Eine Option, die mir schon lang nicht mehr in den Sinn gekommen war. In der Vergangenheit gab es eigentlich keine freie Minute, in der ich nicht nach einem Ausweg aus der Zwangsehe gesucht hatte und die streng-ermahnenden Worte meines Vaters hallten noch immer wie ein Echo in meinem Gedächtnis nach: ich hatte mir diese Konsequenzen selbst zuzuschreiben und müsste endlich erwachsen werden. Der genaue Wortlaut verschwand in einem Rausch aus Wut, aber der Sinnesinhalt blieb derselbe. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, wie durch Zauberhand aus diesem über meinem Kopf hinweg entschiedenen Deal aussteigen zu können, die Koffer zu packen und einfach zu verschwinden. Eine Trennung so kurz nach der öffentlichen Hochzeit käme niemals in Frage und so begann eigentlich unsere wenig romantische Geschichte mit all ihren Hürden und Stolpersteinen. Gewisse Entwicklungsphasen misste ich bestimmt nicht, aber Isaac zählte inzwischen zu meinem vertrauten Umfeld – ihm galt ein fixer Platz in meinem Leben – und nun existierte da plötzlich die Möglichkeit, wieder getrennte Wege zu gehen. Ich wusste nicht, wie ich mit diesem Vorschlag umgehen sollte und fühlte mich versucht, hilfesuchend zu Isaac zu blicken. Aber ich hielt mich zurück. Mein Stolz ließ nicht zu, dass irgendjemand meinem inneren Aufruhr entdeckte. Das hatte ich mit mir selbst auszumachen. Wie auf Befehl formte sich ein Knoten in meinem Magen und verdrängte damit auch die kläglichen Reste meines Appetits auf die Suppe oder geschweige denn einen der folgenden Gänge. Hing ich bereits so sehr an dem mürrischen Werwolf neben mir? Die Zeichen sprachen einstimmig dafür. Isaacs Schweigen quälte mich, jedoch besaß ich momentan nicht die Ruhe, um ihn meinerseits zu einer Antwort aufzufordern. Diese Aufgabe übernahm dankenswerterweise Chad. Und somit wurde auch er über den Tisch hinweg angeschnauzt. Mein Kopf brauchte ein bisschen, um bei dem gepressten Wortschwall nachzukommen. Zudem blieb ich bei Isaacs Wünschen hängen. Ja, darüber stolperte ich für den Bruchteil einer Sekunde, ehe mich die ebenso bissige Erwiderung des zweiten Werwolfes am Tisch zurück in die Auseinandersetzung beförderte. Chads geradezu gelassene Miene brachte Isaac neben mir zum Beben, weshalb ich ihm meine Hand beruhigend auf den Unterarm lenkte und sanft drückte. Er durfte sich von seinem Bruder nicht unnötig provozieren lassen – dieser Weg führte zu nichts. Nun spiegelte sich doch Sorge in meinen Augen, während ich Isaac lang musterte. Dieses Rudel wieder auf gerade Linie zu bringen, würde eine Menge Arbeit bedeuten und stand im starken Kontrast zu meinen eigenen Zukunftsplänen. Natürlich belauerte uns auch im Falle der Karriere die Ironie des Schicksals mit einer unerwünschten Überraschung. Aber Isaac sah sich nicht als Alpha eines vor dem Ruin stehenden, illoyalen Rudels. Worauf spielte Chad also an. Noch dazu brachte mir ein funktionales Rudel im Territorium meiner Familie überhaupt keinen Vorteil. Argwöhnisch zog ich die feinen Augenbrauen zusammen. Mein Blick verfinsterte sich sogar noch, während Chad seinen Vorschlag auf dem Tisch ausbreitete. Er unterstellte Isaac ganz offensichtlich, dass er scheinbar nur für die grobe Arbeit zu haben sei und die wahren Geschäfte um die entscheidende Mehrheit weiterhin in Chads Besitz bliebe. Nun war ich es, die ihre Hand vom Tisch zog und auf meinen Oberschenkel zur Faust ballte. Mir gefielen diese Unterstellungen nicht. Zusätzlich irritierte es mich, wie persönlich ich mich angegriffen fühlte, sobald Isaac unter verbalem Beschuss stand. „Ich verstehe deinen Wunsch, für deine Familie da zu sein und dennoch nicht mit leeren Händen am Ende dazustehen. Dennoch machst du es dir verdammt leicht, die Drecksarbeit an deinen Bruder abzuschieben, der halt irgendwem beizeiten auf die Schnauze geben soll, wie du es so nett formuliert hast und selbst wahrscheinlich höchstens einen Kugelschreiber in die Hand nimmst, um irgendeinen Wisch zu unterschreiben.“ Ich funkelte den Mann gegenüber erbost an, als dieser zu einer Rechtfertigung ansetzte, denn ich war längst nicht fertig. „Zudem sehe ich keinerlei Vorteile für uns“, dabei deutete ich mit meiner Hand, die die ganze Zeit über auf Isaacs Unterarm geruht hatte, eine vage Geste zwischen uns an, „bei diesem Vorschlag, obwohl du Isaac dazu anhältst, an uns beide zu denken.“ Ich bezweifelte stark, dass Chad einen Augenblick zu viel an die Privilegien für das erzwungene Ehepaar dachte, das er aber unweigerlich für seinen Plan brauchte. Ich fühlte mich abgespeist und überlegte bereits fieberhaft, was ich dem Mann noch so an den Kopf werfen könnte, ohne mich dabei zu weit aus dem Fenster zu lehnen, als Isaac mit einer Aussage auftrumpfte, die für angespannte Stille am Tisch sorgte. Chads Verblüffung wirkte wie Balsam auf meiner Seele. Avas Entsetzen versetzte mir hingegen einen Stich – ihre naive Hoffnung zerbrach vor unser aller Augen in tausend Scherben und Verzweiflung nistete sich stattdessen in ihrem Blick ein, mit dem sie nun Chad regelrecht aufspießte. Zuerst hatte ich Schadenfreude empfunden, doch nun bröckelte diese boshafte Emotion unter der Last des schlechten Gewissens und ich presste die geschminkten Lippen kurz zu einer dünnen Linie zusammen. Naja, ein kleiner Funken puren Glücks wirbelte da doch durch mich hindurch: Isaac entschied sich für unseren kaum ausgesprochenen, höchstens als Hirngespinst existenten Plan. Chad musste von dieser Problematik nichts wissen, ebenso wenig gedachte ich, ihn allzu viel Einblick in familiäre Erbangelegenheiten zu gewähren. „Wir konnten schließlich schlecht warten, bis sich einer von euch dazu herablässt und womöglich den Kontakt sucht. Am Ende hätten wir ein Leben lang auf das falsche Pferd gesetzt. Jeder wünscht sich eine Absicherung für die Zukunft“, dabei funkelten meine Augen wissend, Chads 51% der Anteile entsprachen schließlich nichts anderem, „und wir haben eine gute Möglichkeit erhalten, diese für uns zu erschaffen. Fernab von Blutsfehden, einem zerrissenen Rudel oder übergriffigen Familienmitgliedern.“ Mein Blick strich nur beiläufig über Ava, die auf einmal in sich zusammengefallen wirkte und erneut überkam mich Mitgefühl für die junge Frau, aber unterm Strich zählte lediglich Isaac an diesem Tisch wirklich etwas für mich. Deshalb landete meine Aufmerksamkeit abschließend auf ihm. Abwartend, ob er noch etwas hinzuzufügen hatte. Ich für meinen Teil war hier fertig und jederzeit bereit zum Aufbruch, versuchte ich ihm mittels meiner Augen zu verstehen zu geben.
Das würde Chad exakt so in den Kram passen, wie Riccarda es eben formuliert hatte - nur hier und da ein bisschen was aufs Papier kritzeln und die Aufgabe, der er sich selbst offenbar nicht gewachsen fühlte, schön an mich abschieben. Ich hätte doch selbst keinen Spaß daran. Früher hatte ich immer gedacht, dass mir all das Blut zwischen den Zähnen und die auslösende Gewalt irgendeine Art von Zufriedenheit gaben, aber das war überhaupt nicht so. Natürlich würde ich immer ein Werwolf bleiben und ich kam ohne die Jagd auf frisches Fleisch nur schlecht aus. Ich brauchte das, um bei Kräften zu bleiben und meine bestialische Hälfte im Zaum zu halten. Schon lange tat ich es jetzt aber nicht mehr so exzessiv wie zu meinen damaligen Zeiten im Rudel - ich hatte aufgehört gewissenlos auch abseits der Vollmondnächte Unschuldige niederzumetzeln und ich jagte nur noch, wenn ich es brauchte oder ein gewisser Ausgleich hermusste. Eigentlich war ich also gar nicht mehr so, wie Chad mich noch immer sah. Gewalttätig, mordlustig, immer bereit für eine harte Auseinandersetzung. Durch Riccarda und ihre Familie hatte ich ein stabiles Umfeld bekommen, seitdem schwanden meine extremsten negativen Eigenschaften quasi stetig weiter. Auch im Engelsschloss lief nicht immer alles so rosig, wie man das gerne der Presse vermittelte, aber im Großen und Ganzen war mir die ursprünglich verfeindete Spezies eine deutlich bessere Familie, als mein eigentlicher genetischer Ursprung es war. Dass die zierliche Blondine neben mir nun selbst einen Gang hochschaltete und das auch noch, um für mich - uns beide - einzustehen, ließ mich trotz des gereizten Funkelns in meinen Augen lächeln. Es war einfach ein schönes Gefühl und ich konnte mich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal Irgendwer etwas ähnliches für mich getan hätte. Gefühlt schon seit ich denken konnte, stand ich allein für mich ein. Wenn Riccarda sich dazu entschied an meiner Seite zu bleiben, musste das nicht mehr so sein. Mein älterer Bruder schien seinem leicht entgleisenden Gesichtszügen nach nicht wirklich mit so viel Gegenwind von dem Engelchen gerechnet zu haben. Mir war schleierhaft wieso, denn er hatte mein verbranntes Gesicht damals mit eigenen Augen gesehen. Sie war im Gegensatz zu Ava auch kein Mensch, sie brauchte keine Angst vor ihm zu haben. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, wie Riccarda zur Abwechslung mal einem anderen Wolf den Pelz versengte. "Nun...", setzte Chad dazu an mit einem tiefen Atemzug bemüht seine bröckelnde Fassung wiederzufinden. "...Isaac ist ein Alpha. Bis jetzt nur in der Theorie, aber das interessiert andere Wölfe nicht. Unsere Gene sind ja auch ohne Rudel im Nacken trotzdem stärker als die der meisten anderen, er wird grundsätzlich immer als Bedrohung angesehen werden. Ihr sucht euch also besser ein Plätzchen, an dem er weit und breit der einzige Wolf ist, solange er dabei bleiben möchte, diese Einsamer-Wolf-Nummer durchzuziehen. Du gerätst automatisch mit ins Visier... als Engel wahrscheinlich erst recht. Man riecht euch im Doppelpack ja quasi zehn Meilen gegen den Wind. Du bist mit Isaac an deiner Seite hier in der Stadt dank unserer Familien - Blutfehde hin oder her - sicherer als überall sonst." Während dieser Erklärung ruhte sein Blick die ganze Zeit über auf Riccarda und zum Abschluss zuckte er mit den Schultern. Ich musste zugeben, dass ich an diese Problematik bisher noch keinen einzigen müden Gedanken verschwendet hatte. Mein ganzes Leben hatte ich hier gelebt, wo sich nur selten mal ein außenstehender Wolf hin verirrte und dementsprechend hatte ich auch nie darüber nachdenken müssen. Ob Riccardas Onkel noch andere Geschäftszweige hatte als den in den Tropen? Dass ich zwischen den Palmen nicht glücklich werden würde, hatten wir ja leider schon mehr oder weniger abschließend festgestellt. "Ich suche mir liebend gerne irgendeinen wolfsfreien Bezirk im Nirgendwo, wenn das bedeutet, endlich von dieser ganzen Scheiße hier loszukommen.", trat ich auch was das anging weiterhin sehr entschieden auf. Zugegeben fühlte ich mich unwohl mit dem Gedanken, vielleicht nie wieder die Gemeinsamkeit mit wenigstens einem einzigen anderen Wolf pflegen zu können. Aber das war eine Sache, die sich nicht hier und jetzt entscheiden würde - weder Chad noch seine zunehmend unruhiger werdende Frau hatten diesbezüglich ein Mitspracherecht. Trotzdem behielt er im Kern leider Recht. Werwölfe waren, wenn es um Klärung von Rangfolge, Territorium und ähnlichem ging, leider sehr skrupellos. Der Schwachpunkt in Form des Partners wurde gerne genutzt, wenn vorhanden. Mein Blick traf auf Riccardas und wir waren uns offenbar einig - der Abend hier konnte nun gestrichen werden, dann doch lieber Takeaway oder Essen im Schloss ohne meinen Bruder. Ich stand also auf, um mit ihr das Weite zu suchen. "Triff nicht wieder irgendwelche kurzsichtigen Entscheidungen, Isaac.", bat Chad mich nun mit etwas schärferem Ton um mehr Nachsehen. Das ließ mich aber nur verächtlich meine Augenbrauen nach oben ziehen und den Kopf schütteln, bevor ich mich vom Tisch abwendete und die Garderobe ansteuerte. Seine manipulative, um Nachsicht bittende Ader sollte er sich sonst wohin schieben, ich war hier fertig. Doch mein älterer Bruder wäre nicht er selbst, würde er nicht weiterhin versuchen, mir Zweifel in den Kopf zu streuen. Ich war mit Riccarda schon beinahe bei den Jacken angekommen, als ich seine Stimme hinter mir hörte. "Du liebst sie, oder?" Ich blieb sofort wie angewurzelt stehen. "Hör auf, dich zu verrennen. Sie ist immer noch ein Engel, Isaac. Wie glaubst du, wird das enden? Zu zweit auf einer Veranda, während ihr ein paar geflügelten Wolfskindern mit Heiligenschein dabei zuseht, wie sie sich gegenseitig durch den Garten jagen?! Wach endlich auf, verdammt nochmal!" Je länger er sprach, desto lauter wurde er. All die Förmlichkeit, seine geheuchelte Sympathie und sein angeblicher Respekt für Riccarda als Familienmitglied waren dahin, sobald er sonst keine Möglichkeit mehr dafür sah, mich umzupolen. In jenem Augenblick wusste ich nicht weshalb genau, aber mir platzte von jetzt auf gleich gefühlt die Halsschlagader. Als ich mich fast schon in Zeitlupe wieder zu Chad umdrehte, der inzwischen selbst aufgestanden war, hätte mein Blick ganze Städte einfrieren können. "Du hast genau fünf Sekunden, um dich dafür zu entschuldigen. So lange brauche ich noch, um mich zu entscheiden, wem von euch beiden ich sonst den Kopf abreiße." Ich sprach eher leise, während ich mit gänzlich unter Strom stehendem Körper zwei Schritte wieder auf meinen älteren Bruder zuging. Der Unterton war so unmissverständlich drohend, dass Jeder in diesem Raum sich sicher sein konnte, dass die Wut in mir jeden Moment überkochen würde. Chads Frau brachte mit einem verängstigten Fiepen erstmal ihr Kind in Pseudo-Sicherheit, indem sie so viel Distanz von mir suchte, wie es ihr in diesem langen Raum möglich war. Dabei lag mein Blick auf ihr und dem nun gut sichtbaren, leicht vergrößerten Bauch. Sie war schon immer schlank gewesen, der Unterschied war nicht zu übersehen. Es war also leider nicht nur ein erfundenes Druckmittel, um mich zurück ins Rudel zu locken.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Meine eben gewonnene, beflügelnde Selbstsicherheit verpuffte mit einem dramatischen Knall, als Chad von wölfischen Angelegenheiten zu sprechen begann und ich mich als Laie damit automatisch auf dünnem Eis der Unwissenheit bewegte. Ich verstand diese Anspielung der Alpha-Gene nur begrenzt, denn darüber hatten wir bisher zu wenig gesprochen beziehungsweise war unser Hauptaugenmerk immer auf andere Verbindungen zu diesem Thema gelegen. Ich rutschte für einen kurzen Augenblick unruhig auf meinem Platz herum, ehe ich mir diesem Verhalten bewusst wurde und damit stoppte. Immerhin entging mir auch Chads beginnende Offenbarung seiner wahren Natur nicht, ebenso wenig überhörte ich das in seiner Stimme mitgetragene Knurren, während er mir mit abfälligem Unterton die Sachlage erklärte. Die Ansage schlug in meinem Bewusstsein wie eine Bombe ein – mit verheerenden Auswirkungen. Binnen weniger Sekunden zischten ausreichend Gedanken durch meinen Kopf, um einen zweiten Menschen damit zu füllen, aber meine Miene blieb hart; eine sture Version meiner Ablehnung seines angeblich so vorteilhaften Angebots. Obwohl Isaac ebenfalls hartnäckig gegen seinen Bruder aufbegehrte, wusste ich bereits jetzt, dass wir diesen gewaltigen Brocken an potenzieller Herausforderung – in einer anderen Region, einem anderen Land Fuß zu fassen – ausgiebig diskutieren müssten. Momentan fühlte ich mich durch diese Aussicht nicht bedroht und ich wusste mich zu wehren, aber Isaacs Abhängigkeit von rudelspezifischen Kontakten… naja, da durfte ich mich keiner Illusion hingeben. Mein Kopf fühlte sich dem Platzen nahe, weshalb ich meinem Partner sehr verbunden war, dass er meine Andeutungen richtig interpretierte und mit über den Boden knarzenden Stuhl aufstand. Ich folgte seinem Beispiel mit weniger theatralischen Soundeffekten, wollte mich auch bereits abwenden, würde Chad endlich locker lassen und erkennen, dass er für diesen Abend nichts weiter ausrichten konnte. Der Mann hatte ohnehin für genug Gesprächsstoff zwischen Isaac und mir gesorgt, da durfte er nun nicht auf eine spontane Entscheidung aus dem Bauch heraus hindrängen. „Welche wirklich wichtigen Entscheidungen durfte er denn alleine treffen, ohne dass kurzsichtige Gemüter ihre Finger mit ihm Spiel hatten?“, fuhr ich ihn scharf an, denn diesen Schlamassel in seiner Gesamtheit verdankten wir zum Großteil einem spontanen Einfall bei einem Krisentreffen zwischen den beiden Familien, wo sich zwei um ihren Ruf besorgte Väter gegenseitig mit einer Zwangsehe sicherlich keine weitgreifenden Gedanken über zukünftige Vorkommnisse gemacht hatten. Chad war anwesend gewesen, er hätte gemeinsam mit uns dagegen aufbegehren können und seine ach so intelligenten Argumente vorbringen sollen. Hatte er aber nicht. Fertig. Aufgewühlt, da auch meine Emotionen langsam in Mitleidenschaft gezogen wurden, wandte ich mich ruckartig von dem Tisch ab und steuerte zielgerade auf meinen Mantel zu, konzentrierte mich rein auf das Erreichen des Kleidungsstücks, um anschließend verschwinden zu können. Gerade als ich meine Hand nach dem weichen Stoff ausstreckte, erklang Chads gehässiger Tonfall in meinen Rücken, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken und brachte meine Muskeln zum Erlahmen. Ich steckte für ein paar Herzschläge in der Bewegung fest. Ich schöbe es gerne auf die triefende Verachtung oder Chads wahres Gesicht, das mich einfrieren ließ, aber der wirkliche Auslöser war dieser gehässige Hohn in seiner ersten Frage – nicht als Schadenfreude zu deklarieren, eher mehr als spöttische Herablassung. Mich verletzte der Tonfall im Grunde nur bedingt, denn Chads Anerkennung zählte nicht unbedingt zu jenen Dingen meines Lebens, aus denen ich Kraft für jeden weiteren Schritt zehrte. Trotzdem stach es in fein in meiner Brust, wie lächerlich der Alpha-Sohn unsere potenzielle Zukunft darstellte. Zuerst sprach er von Liebe und schoss anschließend direkt mit Nachwuchs hinterher, wahrscheinlich zur Sicherheit, um wirklich sein Ziel zu treffen. Ich für meinen Teil schluckte schwer, gewann aber endlich wieder die Kontrolle über meine Motorik zurück und krallte meine Hand in den Mantel, bevor ich ihn energisch vom Haken riss. Ich wollte nur Abstand zu diesem furchtbaren Rudelmitglied und seiner armen Frau gewinnen, meine Gedanken sortieren und… durchatmen. Wie konnte sich Chad das Recht herausnehmen und von Liebe sprechen, wenn er keinerlei Anhaltspunkte dafür besaß? Isaac und ich verstanden uns inzwischen ausgesprochen gut und es existierten zärtliche Annäherungsversuche, aber deshalb gleich davon auszugehen, dass Isaac dem Rudel aufgrund von romantischen Gefühlen den Rücken zuwendete, war verrückt. Mir fehlten die Worte. Chad wusste absolut nichts über seinen eigenen Bruder… oder war ich diejenige, die im Dunkeln tappte? Ich rutschte in eine Achterbahn aus Irritation und Wut, was für ein konstruktives Vorgehen äußerst ungeeignet blieb, jedoch übernahm Isaac ohnehin bereits den Part des brodelnden Vulkans. Alarmiert schnellte mein Blick über die Schulter zurück zum Geschehen und sah mit an, wie sich Chad nun ebenfalls zu seiner vollen Größe aufbaute und knurrend vor seine fliehende Frau schob. Ava eilte stolpernd bis ans andere Ende des Raums, dabei müsste sie eigentlich wissen, dass ein Werwolf diese Distanz mit Leichtigkeit binnen weniger Sekunden überwand und ihre Chancen als Mensch ohnehin auf dem abfallenden Grat lagen. „Drohst du gerade meiner Frau und meinem Kind, Isaac?“, grollte Chad mit tiefer, kehliger Stimme und haderte dabei offensichtlich mit seiner Beherrschung. Von der verlangten Entschuldigung fehlte jegliche Spur und so stieß ich ein flüchtiges Stoßgebet gen Himmel, dass Isaac nicht wirklich auf dieses Eingeständig pochte. Mein Blick fiel auf den Dunkelhaarigen – auf seine verkrampfte Haltung, die verspannten Schultern, das unheilverkündende Beben seiner Gliedmaßen – und ich wusste, dass ich keine Sekunde mehr zögern durfte, um bestenfalls das Schlimmste zu verhindern. Der Mantel fand seinen Platz wieder an dem Haken, bevor ich mich hastig direkt vor Isaac pflanzte und ihm beide Hände auf die Brust legte, um ihm damit mit sanfter Bestimmtheit Einhalt zu gebieten. „Er ist es nicht wert“, versuchte ich ihm in Erinnerung zu rufen, bekam dafür aber nur einen kurzen und sehr aufgebrachten Seitenblick geschenkt. „Isaac, bitte. Steig auf seine Provokationen nicht ein. Genau das will er doch“, redete ich auf ihn ein, schien endlich zu ihm durchzudringen und wurde im nächsten Augenblick schwungvoll zur Seite gestoßen. Mit einem dumpfen Laut landete ich auf dem polierten Boden, drehte mich perplex und weit aufgerissenen Augen um, nur um die beiden Brüder verkeilt über den Boden rollend vorzufinden. „Chad“, schrie Ava mit beiden Händen seitlich am Gesicht und mir gefror ebenfalls das Blut in meinen Adern.
Hasste ich Chad genauso, wie ich meinen Vater hasste? Es fühlte sich in diesem Augenblick so an, obwohl ich ganz genau wusste, dass ich die Situation irgendwann in ein paar Stunden wahrscheinlich schon deutlich rationaler betrachten würde. Später, wenn die Wut und die Empörung vorüber waren. Jetzt war davon jedoch noch keine Spur und ich hielt auf meinem sturen Weg in Richtung meines älteren Bruders nur inne, weil mir Riccardas bittenden Stimme zu Ohren kam, während ihr Körper als Wellenbrecher fungierte. Als mein Blick sie streifte, dachte ich noch nicht ernsthaft darüber nach, das Ganze gut sein zu lassen. Ich fand einfach, dass Chad diese Genugtuung absolut nicht verdiente. Seiner Liebsten zu drohen, war in diesem Moment das einzige Druckmittel, das ich aufbringen konnte, um eine Entschuldigung aus ihm heraus zu quetschen. "Zwei Sekunden.", erinnerte ich ihn an die äußerst kurze Frist, statt seine Frage richtig zu beantworten. Erst als die schlanke Blondine direkt vor mir erneut an meinen Verstand appellierte, der eben doch noch etwas leichter zu erreichen war als bei Vollmond - Wut hin oder her - schenkte ich ihr richtig Aufmerksamkeit. Sie hatte eigentlich schon Recht. Ich war unfassbar sauer, aber was hätte ich von dieser Auseinandersetzung, außer ihm eine wahrscheinlich sowieso nicht langfristig fruchtende Lektion zu erteilen und danach meine eigenen Wunden lecken zu müssen? Chad konnte mir gestohlen bleiben und ich wusste auch ohne einen blutigen Kampf, dass ich der stärkere von uns beiden war. Es war meinen übernatürlichen Reflexen zu verdanken, dass es Riccardas Kopf in diesem Raum nicht als erstes erwischte. Ich war einen kurzen Augenblick unaufmerksam geworden und hatte es mir dabei beinahe anders überlegt. Doch mein Bruder nutzte diesen einen Augenblick, in dem ich ihm keines Blickes würdigte. Über Riccardas Kopf hinweg sah ich ihn auf uns zu springen, legte meine Hand an die Schulter des Engels und brachte sie aus der Schusslinie, bevor Chad mich unter sich begrub. Ich hatte nicht einmal Zeit dazu, mich zu verwandeln, weil ich sofort seine gefletschten Zähne vor dem Gesicht hatte. Er versuchte, meinen Hals zu erwischen und ich hielt ihn mit aller Kraft gerade so weit genug auf Abstand, um hier nicht unplanmäßig selbst in die Kehle gebissen zu werden. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich wusste, wie ich ihn loswerden konnte und ich brauchte zwei Versuche. Doch dieser Tritt an das Gelenk seines Hinterbeins saß, er verlor mit einem Jaulen den festen Stand und ich konnte ihn von mir runter werfen. Das räumte mir genug Zeit ein, um selbst den Pelz nach außen zu lassen. Seine beste Chance hatte er verspielt, jetzt floss Blut. Ein Biss hier, eine Kratzspur dort, zwischendrin schmerzerfülltes Jauchzen beider Seiten - das Spektakel zog sich bestimmt fünf Minuten dahin, weil keiner sich bereit dazu sah, aufzugeben. Wie sollte ich das auch, nach Chads unverblümtem Mordanschlag?! Letztendlich konnte er sich davon nichts kaufen, als er beim letzten Biss in seinen Nacken wehklagend mit einem Zappeln in sich zusammensank. Trotzdem biss ich nochmal fester zu, bis er sich letztendlich gar nicht mehr regte. Nur das wölfische Gejammer hielt weiter an, als ich von seinem Hals abließ und meine Schnauze mit tiefem Knurren über seine bewegte. Blutiger Speichel tropfte auf seine zerkratzte Nase, während er um Gnade winselte. Es war zuerst nur die blanke Angst in seinen gebrochen schimmernden Augen, die mich davon absehen ließ, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Auch wenn ich selbst Blessuren davon getragen hatte, wäre es mir leicht gefallen, diese Sache ein für alle Mal zu beenden. Die brüderlichen Bande waren jetzt ohnehin für alle Zeit zerschnitten und Chad würde mir nicht fehlen - doch es würde auch nichts als Probleme bringen, die ich nicht brauchen konnte, würde ich ihm hier und jetzt den Garaus machen. Dabei dachte ich nicht nur an mich, sondern auch an Riccarda. Zögerlich ließ ich Gnade walten und schritt über ihn hinweg, meine Augen huschten instinktiv zu dem blonden Engel. Dabei verstummte das Knurren und ich begann sie zu mustern. Auf den ersten Blick fehlte ihr nichts und dennoch wollte ich mich dessen vergewissern. Ich schlüpfte mit einem letzten Blick auf Chad also zurück in meine menschliche Haut. Nur langsamen Schrittes ging ich auf den zierlichen Engel zu. Auch wenn ich glaubte, dass sie es eigentlich wusste, wollte ich durch meine jetzt schon sichtbar entspanntere Körperhaltung unmissverständlich ausdrücken, dass für sie gewiss keine Gefahr von mir ausging - trotz blutbeflecktem Hemd und ebenso blutigem Gesicht. "Hab ich dir weh getan?", erkundigte ich mich und suchte mit meinem Blick schon wieder nach Anzeichen für eine durch den groben Schubs entstandene Verletzung. Ja, in diesem Augenblick war das tatsächlich meine einzige richtige Sorge. All die Fragen hinsichtlich unserer Zukunft, die durch das unangenehme Gespräch entstanden waren, hatten gerade noch keine Priorität - das kam später, wenn die Wunden geleckt wurden. Ich hörte Avas Schritte im Hintergrund, als sie zu dem Häufchen von Wolf eilte, das sie ihren Ehemann schimpfte. Ich warf zur Sicherheit einen Blick über meine Schulter, als Chad sich verwandelte, doch er blieb genau dort liegen, wo ich ihn in den Boden gestampft hatte. Der Restaurantinhaber wusste glücklicherweise schon, wohin er die Rechnung hinsichtlich Schadensbegrenzung bei Garcia-Besuch senden konnte. Da waren ein paar hässliche Kratzer auf dem Boden und das Mobiliar war auch nicht ganz heil geblieben.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Noch während ich zu Boden ging, wusste ich sofort, dass die befürchtete Eskalation ausgebrochen war, die ich eben noch zu verhindert versucht hatte. Ich landete zugegebenermaßen eher unsanft seitlich an der Hüfte, was mir wahrscheinlich einen unansehnlichen, blauen Fleck eintrug, aber wirklich verletzt fühlte ich mich nicht. Dazu bekam ich dank des pulsierenden Adrenalins in meinen Adern auch gar nicht erst die Gelegenheit: nun riss ich selbst die Augen weit auf, als sich Chad allen Ernstes auf seinen eigenen Bruder stürzte. Aufgrund einer Meinungsverschiedenheit… oder eher, weil besagter Werwolf nicht die Dinge so regeln konnte, wie er sich seine kleine Fantasiewelt zuvor ausgemalt hatte. Deshalb wollten Engel – und im Speziellen meine Wenigkeit – eigentlich nichts mit der verfeindeten Rasse am Hut haben: dieser impulsive Hang zur Gewalt, wenn es nicht nach Plan lief. Ich wusste tief in meinem Herzen, dass ich Isaac nur noch einen vernünftigen Satz davon entfernt hatte, den Abend auf sich beruhen zu lassen und friedlich das Feld zu räumen. Chad besaß diese Größe und Reife nicht. Unweigerlich blühte ein Hass in mir auf, wie ich ihn schon lange nicht mehr empfunden hatte – ehrlicherweise hatte diese intensive Form der Ablehnung dazumal ebenfalls einem hier im Raum befindlichen Werwolf gegolten, nur änderten sich die Dinge… man entwickelte sich weiter und auf einmal spürte ich Angst um Isaac. Isaac, der mir bereits mehrfach – manchmal subtiler, manchmal sehr unverblümt – erklärt hatte, dass er im Geschwistergespann die Nase vorne behielt und seine Brüder ihm an Stärke und Kraft nichts anhaben konnte. Trotzdem schien mir der Kampf vorübergehend sehr ausgewogen. Zumindest bis zu dem Augenblick, als mein Gefährte sich vollkommen seinem Zorn hingab und Chad in ein winselndes Häufchen Elend verwandelte. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Mir fiel auch erst nach einiger Verzögerung auf, dass Ava hysterisch weinte. Ich selbst war zu keinem Ton in der Lage. Meine Stimmbänder schienen wie gelähmt zu sein, aber immerhin reagierte mein Körper in einem Anflug von unkontrolliertem Zittern. Nach und nach sickerte die Erkenntnis in mein Bewusstsein, dass es eigentlich vorrangig mich getroffen hätte – Chad wäre mir geradewegs in den Rücken gesprungen und trotz diverser Vorteile der Engel-Genetik… einen gebrochenen Nacken oder zertrümmerten Schädel heilte auch mein übernatürlicher Körper nicht mehr. Eine eisige Kälte ergriff von mir Besitz. Meine Gedanken überschlugen sich noch immer, während mein Blick auf das blutige Spektakel gerichtete war. Isaacs stand mit gefletschten Zähnen über seinem Bruder. Er schien einen inneren Konflikt auszutragen. Mir war klar, um welche Entscheidung es sich handeln musste, aber mir blieb nur zu hoffen übrig, dass Isaac das Richtige tat. Ich wusste zu meinem eigenen Entsetzen nicht, wie ich in diesem Moment handeln würde. Trotzdem überkam mich ein sanfter Hauch der Erleichterung, als Isaac über den wimmernden Fellhaufen hinwegstieg und Chad keines weiteren Blickes mehr würdigte. Auf lange Sicht bedeutete der Tod des ältesten Alpha-Sohns sicherlich nichts Gutes, weshalb wir vorerst vor diesen schwerwiegenden Konsequenzen verschont bleiben würden. Ava sank am Rande meines Sichtfeldes schluchzend zu dem zerstörten Werwolf, der sich stöhnend zurück in einen Menschen verwandelte, aber die Gefahr dürfte gebannt sein. Eine Schwangere würde sicherlich nicht ebenfalls zu einer vergleichbaren Verzweiflungstat schreiten. Dennoch schrie alles in mir, von diesem schrecklichen Ort zu fliehen, nur kam die Botschaft nicht bis in meine Beine an. Ich hockte noch immer wie erstarrt am Boden, etwas zu blass um die Nase und mit vor Schreck geweiteten Augen. Mein Herz polterte noch immer in seinem spontan erfundenen Rhythmus in meiner Brust, aber sonst… sonst ging es mir gut. Isaac wirkte ebenfalls nicht grob verletzte. Er ging mit kerzengerade Haltung, aber entspannten Schultern auf mich zu. Ich las Sorge in seinen Augen, verstand aber erst ein paar Sekunden im Nachhinein, dass diese mir zählte; gab in Kombination mit seiner Frage natürlich Sinn. Benommen schüttelte ich den Kopf. „Nein. Alles in Ordnung“, versicherte ich ihm, wobei ich mich immer noch keinen Millimeter geregt hatte und nur langsam wieder ein Gefühl in meine Nervenstränge zurückkehrte. Schlussendlich obsiegte wohl der Wunsch, möglichst schnell zu verschwinden, denn auf einmal gehorchten meine Beine wieder und ich rappelte mich wieder auf. Im Stand rieb ich mir nun doch ein bisschen das piksende Becken, aber es sollte nichts Schlimmeres passiert sein. „Lass uns bitte einfach gehen“, murmelte ich. Einzelne Strähnen hatten sich aus meiner Frisur gelöst und fielen mir schwer auf die Schultern hinab. Einem Drang nachkommend, griff ich nach Isaacs Hand, wollte seine Nähe spüren und angelte mir erst danach meinen Mantel vom Haken. Bevor wir durch die Flügeltür aus dem Raum verschwanden, sah ich noch einmal zu dem am Boden kauernden Paar hinüber. Mein Blick schlich über die zwei zerschmetterten Sessel und zu den großzügig verteilten Scherben im unmittelbaren Radius des Kampfes. „Es war eine dumme Idee, dich dazu zu ermutigen, herzukommen. Es tut mir leid“, richtete ich mich leise an Isaac, bevor ich mich endgültig abwandte und hoffte, das Restaurant möglichst ohne weiterer Schikanen verlassen zu können – taten wir auch, was ich sicherlich Isaacs grimmiger Miene und seinem Aufzug zu verdanken hatte. Jaja, die Klatschblätter würden sich spätestens morgen wieder das Maul über den Vorfall zerreißen, aber wir waren die reißerischen Schlagzeilen ohnehin schon gewohnt. Gerade ging es mir primär darum, endlich nach Hause hinter verschlossene Türen zu kommen.
Obwohl Riccarda mir zeitnah bestätigte, dass ihr nichts fehlte, wollte ich das nicht so recht glauben. So reflexartig, wie ich den Rettungsversuch ausgeführt hatte, konnte sie wirklich nicht sanft gelandet sein. Es war um Sekundenbruchteile gegangen, ich war also wahrscheinlich nicht zimperlich mit dem Schwung gewesen. Genau wusste ich es aber nicht, weil ich mich eindeutig mehr auf das aufgerissene Maul voll spitzer Zähne direkt vor meinem Gesicht fokussiert hatte. Ich musste es dem schlanken Engel wohl einfach vorübergehend glauben. So lange, bis ich mich selbst abschließend davon überzeugt hatte. Das ginge am besten ohne das Kleid an ihrem Körper, aber ich würde heute wohl kaum mehr einen Blick auf ihre nackte Haut erwischen. Ich nickte ohne Umschweife, als Riccarda beteuerte, einfach nur noch von hier weg zu wollen. "Nichts lieber als das.", willigte ich überflüssigerweise auch wörtlich noch ein, kurz bevor ich ihre zierlichen Fingern nach meinen greifen spürte. Verspürte sie gar keine Abscheu? Nicht mal ein bisschen? Einen Moment lang sah ich fast ungläubig auf unsere Hände. Der Kampf war unausweichlich für mich geworden, aber ich hätte Chad nicht ganz so schlimm zurichten müssen, wie ich es getan hatte. Ich war nur der Ansicht gewesen, er hätte es in mindestens diesem Ausmaß verdient, zu leiden. Trotz dieser Gedanken verschränkte ich meine Finger ohne zu zögern mit Riccardas. Noch einmal kurz lösen musste ich sie dennoch, als ich das schwarze Jacket überwarf. Es verdeckte die meisten Spuren des Kampfes. Ich versuchte auch mein Gesicht einigermaßen zurück in den Normalzustand zu kriegen, indem ich mit dem Ärmel des ohnehin schwarz schimmernden Stoffes das Gröbste wegwischte und mir die Haare wieder richtete. Meine Finger suchten anschließend erneut nach denen des Engels und als sie nochmal einen Blick auf die anderen beiden warf, tat ich es ihr gleich. Chads Blick traf ein letztes Mal auf meine Augen und meine eisige Miene war sofort wieder präsent. Er sollte sich das gefälligst hinter die Ohren schreiben: Heute würde das erste und das letzte Mal gewesen sein, dass er so eine Aktion überlebte. Auf Riccardas Worte hin schüttelte ich jedoch den Kopf und wandte den Blick von meinem Bruder ab. Sie hatte nicht wissen können, wie dieses Abendessen enden würde. Ich hatte ja nicht einmal selbst damit gerechnet, mir tatsächlich die Zähne blutig machen zu müssen. "Das konntest du nicht wissen.", versuchte ich ihr diese Gedanken also auszureden. Riccarda traf nun wirklich keinerlei Schuld am werwölfischen Temperament oder der Unverschämtheit meines älteren Bruders. Es war unvermeidbar gewesen, dass der Kampf auch im vorderen Bereich des Restaurants zu hören war, da brachten verschlossene Türen nur wenig. Das sagten die Blicke der anderen Gäste unmissverständlich, aber die Stimme erhob natürlich Niemand. Vielmehr war es bis auf die leise Musik im Hintergrund kurzzeitig totenstill und selbst die Augen wurden von Allen sofort wieder abgewendet, kaum trafen sie auf mein Gesicht. Schon auf den letzten Metern durch das Gebäude zog ich das Handy aus der Tasche des Jackets, um dem Fahrer Bescheid zu geben. Ich wollte nicht nach dem Auto suchen müssen, da wartete ich lieber eine Minute an der kühlen Abendluft. Letztere tat gut und half mir dabei, noch einmal tief durchzuatmen. Die Wut Stück für Stück ziehen zu lassen und mich zumindest ansatzweise wieder zu erden. Ich hielt den blonden Engel dicht neben mir, bis das Auto vorfuhr und ich ihr die Tür aufhalten konnte. Danach verschwendete ich keine Zeit damit, um den Wagen herumzugehen und selbst einzusteigen, damit wir hier zügig wegkamen. Erst blieb ich kurz auf dem äußeren Sitz hocken, entschied mich dann aber kurz nach Beginn der Fahrt, doch auf den mittleren Sitz zu rutschen. Auch wenn jener im ganzen Auto mit Abstand am unbequemsten war, wollte ich Riccarda gerade nahe sein und suchte erneut nach ihrer Hand. Ich zögerte einen Moment, lehnte meinen Kopf dann jedoch ein klein wenig an ihren. "Ich bin nur froh, dass dir nichts passiert ist…", nuschelte ich an den blonden Haaransatz und schloss einen Moment lang die Augen. Allzu gerne ließ ich mich vom Duft ihres Shampoos einnehmen, weil es mich zusätzlich beruhigte. Mir war in dem Augenblick, als ich Chad auf uns hatte zuspringen sehen, wirklich das Herz in die Hose gerutscht. Was, wenn ich Riccarda verloren hätte? Wegen einem dermaßen unnötigen Kampf?! Allein der Gedanke daran sorgte dafür, dass sich mir der Magen umdrehte und ich meine eigenen Handlungen und Worte hinterfragte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Nur zu gerne würde ich behaupten, dass mich nach wie vor der Schock fest im Griff hielt und dafür sorgte, dass ich wie mechanisch mit abweisendem Blick durch den öffentlichen Bereich des Restaurants schritt, aber in Wahrheit handelte es sich um ein eisiges Entsetzen in meinem Inneren, das jegliche andere Emotion untergrub und mich beschäftigte, eher ablenkte. Wie knapp war ich gerade dem Tod entronnen? Warum musste es überhaupt erst so weit kommen? Hatten wir – ich – Chad zu stark provoziert oder galten seine Pläne bereits im Vorfeld diesem niederträchtigen Vorhaben? Zugegebenermaßen verstärkte sich das flaue Gefühl mit dem abklingenden Adrenalinspiegel in meinem Blut. Immerhin lag mir die Suppe nicht schwer im Magen und ich musste mir diesbezüglich keine Sorgen machen. Trotzdem glich es einer herrlichen Erlösung, als wir endlich aus dem schicken Restaurant mit all seinen schaulustigen Gästen traten und frische Luft mein Gesicht umspielte. Die angenehme Kühle des Abends klärte meinen Geist, sorgte dafür, dass die Anspannung aus meinen Schultern wich und ich endlich wieder richtig durchatmete. Isaac hatte noch versucht, mit den Gedanken an meine Mitschuld an dem Debakel auszureden, aber die fixe Idee hatte sich bereits in mein Bewusstsein eingenistet. Immerhin war ich voller Tatendrang und naiv wie ein dummes Schaf in dieses Treffen gestolpert. Nach dieser grausamen Erfahrung glaubte ich zum ersten Mal wirklich zu verstehen, weshalb sich bei meinem Partner überhaupt erst so eine enorme Abneigung gegen sein eigen Fleisch und Blut entwickeln konnte. Bei dieser Familie musste man über kurz oder lang die Reißleine ziehen, um nicht ebenfalls ins Verderben zu stürzen. Hartnäckige Fassungslosigkeit belagerte meine Stimmbänder, hielt mein Schweigen aufrecht. Hätte ich nur gewusst, wie impulsiv und kleinlich Isaacs älterer Bruder reagierte, wäre ich weitaus diplomatischer vorgegangen – jedoch sagte man sowas bekanntlich im Nachhinein immer leichter als im Eifer des Gefechts. Dabei fühlte es sich auch nicht richtig an, die Schuld allein auf unserer Seite zu suchen, denn Chads Verhalten zeichnete sich weder durch Einsicht noch durch Breitschaft zu fairen Verhandlungen heraus. Vielleicht wunderte ich mich über den Verlauf der Dinge, aber für die Geschwister hätte es ohnehin keinen anderen Ausweg aus diesem Treffen gegeben. Womöglich war dieses blutige Kräftemessen unumgänglich gewesen? Hoffentlich verstand Chad diesen Denkzettel und überlegte es sich für die Zukunft zweimal, ob und wie er mit Isaac umsprang; und wie viel Publikum er mit in die Gefahrenzone ziehen wollte. Zu meiner eigenen Überraschung fühlte ich kein Bedürfnis nach Abstand, um mich zu sortieren, sondern suchte weiterhin Isaacs Nähe. Ich wollte nicht alleine mit meinem Chaos im Kopf sein, zudem fühlte ich mich mit seiner Anwesenheit sicherer. Unwahrscheinlich, dass Chad in tierischer Form aus dem Restaurant gestürzt kam und einen weiteren Versuch startete, aber die Aufruhr in mir ließ sich besser händeln, umso näher ich dem Dunkelhaarigen war. Wir warteten schweigend auf den Wagen, der schon bald vor uns zum Stehen kam und mir von Isaac die Tür geöffnet wurde. Geschwind stieg ich in das Auto, sank tiefer in die Ledersitze und rutschte ein paar Zentimeter hinunter, ehe ich mich wieder gerader aufrichtete, als Isaac es ebenfalls in den Wagen schaffte. Der Fahrer brauchte keine überflüssigen Anweisungen, immerhin kannte er den Weg und so lenkte er kurz darauf bereits den Luxusschlitten in den abendlichen Verkehr. Mein Blick haftete nur ein paar Augenblicke lang an den vorbeiziehenden Schaufenstern und Hausfassaden, denn eine Regung an meiner Seite lenkte mich von dem eintönigen Schauspiel auf der anderen Seite der Fensterscheibe ab: Isaac rutschte sehr zielgerichtet auf den mittleren Platz der Rückbank und legte seinen Kopf gegen meinen. Als handelte es sich dabei um ein stummes Zeichen, kapitulierte mein Körper beinahe in der Sekunde und die letzte Kraft, die mich aufrecht gehalten hatte, zog sich zurück. Ich sackte tonlos seufzend gegen meinen Partner. „Mir geht es gut“, versicherte ich ihm erneut leise, aber irgendwie musste ich mich selbst auch erst davon überzeugen. „Du warst der, der unter einem schnappenden Wolf begraben lag“, rief ich ihm das kürzliche Erlebnis in Erinnerung und schauderte. ICH hatte mir Sorgen um IHN gemacht – nicht anders herum. Ich spürte deutlich, wie sich Isaac verspannte und reagierte einzig richtig: ich entfernte mich ein kleines Stück von ihm und unterzog ihm einer strengen Musterung. Seine Haare standen ihm teilweise wild vom Kopf und verschmiertes Blut haftete in seinem markanten Gesicht. Trotzdem suchte ich nach etwas anderem: „Bist du verletzt?“ Natürlich interpretierte die kurze Verkrampfung seines Körpers als Anzeichen für eine Bisswunde oder dergleichen.
Na und? Auch wenn ich am Ende mehr unter Chads Angriff gelitten hatte, wäre er trotzdem Riccarda zuerst mit Anlauf in den Rücken gesprungen. Ich wusste nicht einmal, auf wen von uns beiden er es am Ende tatsächlich abgesehen hatte. Vielleicht wirklich nur auf mich und Riccarda hatte einfach absolut ungünstig im Weg gestanden. Aber vielleicht hatte er eigentlich den Engel erwischen wollen - ich traute es ihm zu, dass er dachte, ich würde zurückkommen, wenn ich keinen Grund mehr dafür hätte, im Engelsschloss zu bleiben. Letzteres war allerdings völlig abwegig für mich - ich wäre höchstens nochmal zurück zu meiner Familie gegangen, um die länger gewordene rote Liste abzuarbeiten. "Trotzdem warst du ihm im Weg gestanden.", stellte ich hörbar für Riccarda fest und schloss zumindest diesen Teil des Themas gleichzeitig gedanklich ab. Es brachte nichts, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich müsste Chad danach fragen, um eine Antwort darauf zu bekommen. Als die zierliche Blondine sich plötzlich von mir distanzierte, verstand ich erst gar nicht, warum sie das tat. War ihr das doch zu viel? Nein, der Grund dafür lag woanders. Sie fing an mich zu mustern, fragte nach meinem eigenen Wohlergehen und erst dabei fiel mir auf, dass ich meine Angst tatsächlich nach außen getragen haben musste. Ich hatte keine Ahnung, wann mir sowas das letzte Mal passiert war, aber es musste eine halbe Ewigkeit her sein. "Nichts Schlimmes.", versicherte ich ihr mit einem schwachen Kopfschütteln und ruhiger Stimme, dass sie sich um meine Verletzungen keine Sorgen zu machen brauchte. Nur die Bisswunde an der ihr abgewandten Schulter war schmerzhaft, die restlichen Blessuren waren nicht mal der Erwähnung wert. Außerdem heilte bei mir ja nach wie vor fast alles ungewöhnlich schnell. Ich löste meine Hand von Riccardas, um stattdessen den relativ unverletzten Arm um ihre Schultern zu legen und sie wieder zu mir hinzuziehen. "Ich…", setzte ich an, hielt aber nochmal kurz inne. Es auszusprechen fiel mir wie so oft etwas schwer, aber ich gab mir dann doch einen Ruck. "Ich hab mich nur gefragt, was ich machen würde, wenn… dir etwas zustoßen würde.", murmelte ich und musterte über ihren Kopf hinweg die seitliche Armatur der Autotür. Ein paar Sekunden lang schwieg ich, hängte dann aber doch noch mehr Worte an. Es war mir wichtig, dass sie mich nicht missverstand und kein Raum für Eigeninterpretation war. "Ich will dich nicht verlieren. Erst recht nicht wegen einem so überflüssigen Kampf… er hätte dich erwischen können." Besonders laut sprach ich noch immer nicht, aber das war auf diese kurze Distanz auch nicht nötig. Ich atmete einmal tief durch. Es war nichts passiert, ich hielt die zierliche Blondine mehr oder weniger unversehrt in meinen Armen. Alles war gut gegangen und sollte es jemals wieder eine ähnliche Situation geben, würden wir besser auf derartige Konflikte vorbereitet sein. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis wir Zuhause ankamen und der Fahrer den Wagen nahe des Eingangs hielt. Ich hätte gut noch ein paar Minuten im Auto sitzen bleiben können. Jetzt, wo das hochgekochte Adrenalin sich ziemlich verflüchtigt hatte, wurden auch die Schmerzen stärker und dementsprechend wenig motiviert war ich, mich zu bewegen. Es half aber nichts und ich sehnte mich nach einer Dusche, um das Blut loszuwerden. Außerdem sollte Riccarda vielleicht zumindest kurz nachsehen, ob die Bisswunde einigermaßen sauber war. Eigentlich dürfte das Hemd nicht fusseln und auch sonst dürfte da kein Dreck reingekommen sein, aber man konnte nie wissen. Als wir ausgestiegen waren, ging ich neben dem Engel her zur Eingangstür und kaum hatte ich sie hinter uns wieder geschlossen, blickte ich in das entsetzte Gesicht eines Dienstmädchens, das den Eingangsbereich durchquerte. Die hatten sich hier wohl noch immer nicht ganz an Blut gewöhnt. Als wir die Treppenstufen nach oben gingen, wandte ich mich mit einer Bitte an Riccarda. "Würdest du gleich kurz nachsehen, ob die Wunde sauber ist, bevor ich duschen gehe? Er hat mich gebissen." Die Erklärung hängte ich eigentlich nur an, falls sie in dem Tumult nicht gesehen hatte, wer eigentlich genau wen wie verletzt hatte. Ein bisschen vielleicht auch, damit sie sich mental auf die Art der klaffenden Wunde vorbereiten konnte.
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Ja. Daran gab es nichts zu rütteln: unterm Strich hätte es mich als Erste erwischt. Abgesehen davon, dass ich darüber nicht diskutieren wollte, gab es auch eigentlich gar keinen richtigen Grund für eine Auseinandersetzung. Ich fühlte mich auch nicht unbedingt in der Lage, um nachvollziehbare Argumente vorzubringen, weshalb ich betreten schwieg und diesem erdrückenden Gedanken nachhing. Zumindest gönnte ich mir diese schreckliche Gedankenrichtung für ein paar Sekunden, ehe ich einen Cut setzte und versuchte, das Thema zu beenden. Wir waren beide mit einem blauen Auge davongekommen, wie man sprichwörtlich so gern sagte und dafür sollte ich dankbar sein, nicht in trübsinnigen Vorstellungen oder Überlegungen festhängen. Am Ende siegte Chad auf der mentalen Ebene; diese Genugtuung würde ich dem wahnsinnigen Köter nicht zugestehen. Zwar galt mein guter Vorsatz, aber das Bild des Kampfes blieb unwiderruflich in meine Netzhaut – und somit auch in mein Gedächtnis – gebrannt. Da fehlte es wohl gerade noch, dass Isaac ernsthaft von seinem eigenen Bruder verletzt wurde. Neben der Sorge empfand ich ein weiteres Gefühl: Wut. Mich zerfraß der Anflug von Zorn während der Suche nach offensichtlichen Wunden an seinem Körper, aber mir fiel auf den ersten Blick nichts Verdächtiges auf. Inwiefern Isaac mit der Wahrheit rausrückte, stand zudem ebenfalls auf einem anderen Blatt, nachdem ich ihn ganz direkt nach Beschwerden ausfragte. Streng blickte ich ihm in die Augen und hakte nach: „Was bedeutet nichts Schlimmes in Werwolf-Empfinden?“ Wir maßen hier mit zweierlei Maß. Allein seine übernatürlichen Heilkräfte würden zur schnellen Wundverschließung beitragen, aber wie reagierte diese Superfähigkeit auf Verletzungen durch Gleichgesinnte? Bereitwillig entließ ich Isaac aus meiner Musterung und lehnte mich stattdessen gegen seinen Oberkörper. Er hatte mich zuvor noch nie in einem ähnlich emotionalen Kontext so an sich herangezogen, meine Nähe aktiv verlangt. Bisher waren diese Annäherungen immer nur in sehr entspannten, guten Situationen möglich gewesen und davon befanden wir uns momentan meilenweit entfernt. Dennoch funktionierte die Nähe – für mich zumindest, hoffentlich half sie Isaac ähnlich wirkungsvoll. Geduldig gab ich dem jungen Mann die nötige Zeit, um die passenden Worte herauszufiltern und begnügte mich damit, auf die Lehne des Beifahrersitzes zu schauen. Es gab nicht viel zu sehen, aber das kam mir gerade recht. Kurz weiteten sich meine Augen überrascht. Mit dieser verletzlichen Ehrlichkeit rechnete ich nicht und doch wärmte sie mich von innen auf. „Hey, so darfst du gar nicht erst denken“, erklärte ich ihm sanft, aber mit belegter Stimme. Vielleicht war mir noch immer nicht zur Gänze bewusst, wie verdammt knapp sich die Sache doch noch zum Guten für uns gewendet hatte. „Du wirst mich auch sicherlich nicht durch eine dumme Auseinandersetzung mit deinem Bruder verlieren. Du wirst mich überhaupt so bald nicht verlieren, Isaac“, versicherte ich ihm ruhig und entschieden. Mir fiel spontan kein Szenario ein, in dem ich von seiner Seite wich oder gerissen werden könnte. Noch einmal würde uns nämlich etwas Vergleichbares nicht mehr passieren, denn ab nun würde ich ebenfalls mehr Vorsicht walten lassen. Das dürfte die Gefahr einer Wiederholung sicherlich um ein Vielfaches einschränken. Die Fahrt endete direkt vor der Eingangstür des Engelpalast. Manchmal – und es waren wirklich seltene Momente – verspürte ich nichts als Erleichterung, hinter den hohen Mauern abzutauchen und die Welt vor der Tür stehen zu lassen. An diesem Abend fühlte ich mich mehr als bereit, das Erlebnis auszusperren und erst am nächsten oder sogar übernächsten Tag die Pforte zu öffnen, um mich damit auseinanderzusetzen. Es war noch nicht so spät, als dass wir vollkommen unbemerkt bis in unser Zimmer gelangten, aber das Dienstmädchen schien nach dem barschen „Familienangelegenheit“ meinerseits den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden zu haben und gewann schnell an Land, indem es im erstbesten Korridor abbog und nur ihre verhallenden Schritte noch an ihre Anwesenheit erinnerten. Wir bogen in die entgegengesetzte Richtung ab, erklommen die Treppen hinauf in den zweiten Stock. Beinahe beiläufig stellte Isaac seine Bitte an mich, die ich ihm natürlich erfüllen würde, aber auf die Zusage musste der Dunkelhaarige einen Augenblick warten. „Er hat dich gebissen“, wiederholte ich scharf und ein erbostes Blitzen trat für den Bruchteil einer Sekunde in meine Augen. „Wenn ich den Kerl einmal in die Finger bekomme…“, grummelte ich eine halbe Drohung leise vor mich her und stiefelte nun energischer die restlichen Meter bis zu unserem Rückzugsort in dem Schloss. Erst hinter verschlossener Tür schlüpfte ich aus den hohen Schuhen und wackelte mit den dezent schmerzenden Zehen. Meine Handtasche wurde unachtsam auf die niedrige Kommode gepflanzt, denn mein nächstes Ziel stellte das Badezimmer dar. „Dann sehen wir uns die Wunde einmal an“, teilte ich ihn beschäftigtem Tonfall mit und erwartete dementsprechend auch, dass mir Isaac in den gekachelten Raum folgen würde. „Hinsetzen“, wies ich ihn mit einem Deut auf den Badewannenrand an, anderenfalls würde ich mir eine Erhöhung beschaffen müssen, um einen guten Blick auf die Schulter werfen zu können. Während ich nach Wattetupfern und Desinfektionsmittel kramte, entledigte sich Isaac bereits der blutbesudelten Kleidung. Ich rechnete nicht mit einer derart aufgerissenen Fleischwunde, bei der man die Eintrittsstellen der Reißzähne erahnen konnte. Ich sog scharf die Luft ein. „Hast du nicht gemeint, es sei nichts Schlimmes?“, echauffierte ich mich im anklagenden Tonfall. „Das wird bestimmt unangenehm“, warnte ich meinen unfreiwilligen Patienten vor, bevor ich begann, die blutverkrusteten Ränder zu säubern und die Wunde zu desinfizieren.
Mein Bruder war nur leider nicht der einzige Wolf in der nahen Umgebung, der Riccarda gefährlich werden konnte. Ich wollte dem Engel gerne glauben, dass nichts passieren würde. Es fiel mir dennoch schwer, nachdem mir erst vor ein paar Minuten so unmissverständlich vor Augen geführt worden war, wie vergänglich das Leben war. Chad hätte Riccarda oder anschließend auch meine Kehle erwischen können, dann hätte einer von uns beiden plötzlich verwitwet alleine dagestanden. "Ich hoffe, dass du damit Recht behältst.", murmelte ich. Es war mir unmöglich zu verstecken, dass diese Angst sich zumindest temporär ziemlich tief in mein Hirn gebrannt hatte. Vielleicht war das auch diesem meistens überzogenen Beschützerinstinkt zu verschulden, auch wenn er in diesem Fall doch ziemlich angebracht war. Als Riccarda die leise Drohung vor sich hin wetterte, musste ich doch ein wenig schmunzeln. Es klang zwar ein bisschen falsch, es als schön zu betiteln, wenn sie Rachegelüste für Jemanden hegte, der mir Schmerzen zugefügt hatte, aber es verlieh mir einfach ein gutes Gefühl. Es fühlte sich toll, dass wir inzwischen ein Team waren und für den jeweils Anderen gerne eingestanden. Ich hätte auch definitiv nichts dagegen, wenn sie Chad mal ordentlich das Gesicht verbrannte. Er war fast so eitel wie ich und aus Erfahrung konnte ich sagen, dass es hochgradig unangenehm war, bei jeder noch so kleinen Regung der Gesichtsmuskulatur sofort stechenden Schmerz zu spüren. Es war auch ganz süß anzusehen, wie die zierliche Blondine unterschwellig wütend weiterging. Es hätte sicher weniger putzig ausgesehen, wenn sie keine Absätze getragen hätte. Mit denen ließ es sich einfach nicht so richtig wütend davon stapfen. "Du bist ein bisschen süß, wenn du dich aufregst.", beschloss ich meinen ersten Gedanken doch noch mit dem Engel zu teilen und musste dabei ein klein wenig grinsen. In unseren Gemächern angekommen, wurde ich zuerst die Schuhe los und knöpfte das Jacket auf. Ich folgte Riccarda anschließend ohne Umschweife ins Badezimmer, weil ich es selbst ebenso eilig hatte, aus den Klamotten zu kommen. Schließlich rieb der Stoff bei jeder Bewegung über die Verletzungen und das war grundsätzlich sehr unangenehm. Bevor ich mich hinsetzte, wurde ich aber erst die hinderlichen Klamotten los. Es war einfacher, das Jacket und das Hemd im Stehen auszuziehen. Schon dabei verzog ich wegen der Schulter aber einmal das Gesicht. Beide Kleidungsstücke landeten vorübergehend in der Badewanne, nur für den Fall, dass das Blut irgendwo schmierte. Lieber in der Wanne, als auf den Bodenfliesen. Mit einem doch etwas erschöpften Seufzen ließ ich mich schräg auf den Rand der Badewanne sinken, damit Riccarda möglichst gut an die Wunde kam. Ich warf selbst so gut es ging einen Blick auf den Biss, kurz bevor die junge Frau sich über meine vorherige Formulierung aufregte. Ich rollte flüchtig die Augen nach oben. "Ich hab wirklich schon viel schlimmer ausgesehen, so schlimm ist es echt ni…", setzte ich an und zuckte dann aber knurrend zusammen, weil Riccarda mit der Wundreinigung begann. Ich grummelte. Auch wenn die Wunde an sich halb so wild war - zumindest in meinen Augen - brannte das Desinfektionsmittel bestialisch. Immer wieder fluchte ich leise vor mich hin, auch wenn Riccarda vorsichtig hantierte. "Die Kratzer kannst du so lassen.", verbot ich ihr, sich der Spur zweier Krallen an meinem unteren Rücken auch noch anzunehmen. Die war nicht tief, also auch nicht der Wundversorgung wert. Der Biss ging durch sämtliche obere Hautschichten und das war auch der einzige Grund für meine Vorsicht diesbezüglich. Als die schlanke Blondine damit fertig war, stand ich auch gleich auf, um sie an weiterem Getupfe gekonnt zu hindern. "Die anderen werden beim Duschen sauber." Jaaa… nein, ganz so einfach funktionierte das wahrscheinlich nicht. Aber es war trotzdem ziemlich unwahrscheinlich, dass sich eine der anderen Wunden entzünden würde und ein bisschen kaltes Wasser würde meine Muskeln allgemein entspannen. Ich war dem Engelchen dankbar für die Hilfe mit der Bissverletzung, war dank der Schmerzen aber gerade einfach zu grummelig, um mich auch tatsächlich dafür zu bedanken. Ich wollte nur noch unter die Dusche, die Abendroutine erledigen und anschließend ohne Umwege ins Bett. Noch nicht unbedingt deshalb, um sofort zu schlafen, weil ich dafür innerlich noch zu unruhig war, aber viel bewegen wollte ich mich mit den Wunden sowieso nicht. Ich konnte also getrost schon mal ein paar Minuten darin investieren, eine einigermaßen schmerzfreie Liegeposition zu finden.
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