Mein anfängliches Misstrauen gegenüber der Stabilität des Schlauchbootes versank sehr schnell in dem Strudel aus auf mich einprasselnder Eindrücke. Natürlich behielt ich gerne den Überblick und gab die Kontrolle nur ungern ab, aber ich sah in Matthew einen kompetenten Rafter, sodass ich seinem Urteil unvoreingenommen vertraute und mich auf das Abenteuer einließ, ohne an tausend Unglücke und Katastrophen zu denken. Dieser Urlaub galt nicht nur als Anstandsbesuch bei der verrufenen Verwandtschaft meines Vaters oder als Ablenkungsprogramm für Isaak, um sein aufgeheiztes Gemüt endlich wieder auf eine normale Betriebstemperatur herabzukühlen – Abstand zu meinem Exfreund erschien als die klügste und vor allem effektivste Lösung – und an unserer komplexen Beziehung zueinander zu arbeiten. Es ging auch zu einem gewissen Anteil um mich: ich musste mir über die eine oder andere Angelegenheiten klar werden und das funktionierte nicht unter der permanenten Anwesenheit meiner Familie, alter Erinnerungen oder anderweitiger Einflüsse, wie mein weiterer Karriereweg und dergleichen schrecklich alltäglicher Herausforderungen. Ich wollte diese Zeit zum Ausschalten genießen, den Kopf frei bekommen und mich diesen ausstehenden Pflichten ausgeruhter widmen. Warum ich Wildwasser-Rafting als Entspannung deklarierte, durfte man mich momentan nicht fragen, denn die Aufregung wirbelte wie ein freudig-motivierter Orkan durch mich hindurch und riss sämtliche Gedanken, die nichts mit der derzeitigen Aufgabenstellung zu tun hatte, mit sich mit… womit wir wohl doch noch zu einer adäquaten Antwort gefunden hätten. Ab der angekündigten Kurve im Flussverlauf reduzierte sich meine Aufmerksamkeit auf die Anweisungen des jungen Mannes in meinem Rücken, meinem Paddel und hier und da Isaac, da ich mein Umfeld nicht gänzlich aus dem Auge verlieren wollte. Allein dieser minimalen Paranoia – obwohl ich keinen hinterlistigen Seitenhieb von meinem Gefährten erwartete – verdankte ich es, das rare, von ehrlicher Freude sprechende Grinsen in den markanten Zügen des Dunkelhaarigen aufzuschnappen. Allein deshalb lohnte sich diese Tour. Ohne dem sprichwörtlich stinkenden Eigenlob verfallen zu wollen, aber ich ernannte meine Programmentscheidung als erfolgreiche Mission. Nicht nur Isaac hatte zu beweisen, dass es sich mit ihm aushalten ließ und er die Bereitschaft zusammenkratzen konnte, um sich an meinen Lebensstil anzupassen; ich musste ebenfalls einen Schritt in seine Richtung machen und zeigen, dass seine Erwartungen ans Leben nicht unerfüllt bleiben müssen, nur weil er an mich gekettet war. Ich dachte, dass der Plan vorerst gut aufging und ja, dementsprechende Zufriedenheit erfüllte mich und schickte weitere Energie in jede Faser meines Körpers. Die Strömung riss an den Paddeln, spielte mit dem teils schwer händelbaren Schlauchboot und forderte Muskelkraft in den Oberarmen der Crew. Ich verlor sämtliches Zeitgefühl, während mir immer wieder Wasser ins Gesicht spitzte, Matthew mit lauter Stimme Kommandos rief oder wir das eine oder andere Mal in eine bedenkliche Schieflage gerieten, da ein unter der schäumenden Wasseroberfläche versteckter Stein Schwierigkeiten bereitete. Niemand ging über Bord, tat sich weh oder verlor das unabdingbare Ruder aus den Händen. Die gesamte Gruppe arbeitete nach einer Zeit zusammen, mir schien, als hätten alle ungeheure Freude an der Aktivität, obwohl wir untereinander kein einziges Wort gewechselt hatten – dieses Bedürfnis verspürte ich auch nicht unbedingt – und anschließend wieder getrennte Wege gehen würden. Meine Arme samt Schulterpartie begannen gerade dann nachdrücklicher zu demonstrieren, als sich die Wasserfluten merkbar beruhigten und auch das Gefälle des Flusses sachter auslief.
Ich wusste nicht wie lange wir schlussendlich tatsächlich in dem Schlauchboot saßen. Es war auf jeden Fall lange genug, damit für den heutigen Tag definitiv sämtliche Gedanken an die fehlgeschlagene Jagd heute Morgen gestorben waren. Wobei die eigentlich ohnehin schon wahnsinnig tief begraben lagen, seit der blonde Engel sich am Wasserfall auf das kleine Spiel eingelassen hatte, das nicht unwesentlich zu meiner Unterhaltung und meiner Freude beigetragen hatte. Der Tag schien in seinem Verlauf auf jeden Fall tendenziell weiter bergauf zu gehen, denn obwohl ich nicht in den schadenfrohen Genuss einer aus dem Boot fliegenden Persönlichkeit kam, kam das Rafting definitiv auf eine Liste mit Dingen, die ich gerne ein zweites oder auch drittes Mal machen würde. Ich war noch jung, Gelegenheiten würde ich dazu noch genügend kriegen. Wenn das durch die Steppe brettern mit den Quads ähnlich gut wurde, wusste ich später womöglich gar nicht mehr wohin mit meiner guten Laune. Ich fühlte mich schon jetzt merkwürdig beflügelt, als die Fluten sich wieder gesitteter zu verhalten begannen und damit den Ausklang des Ausflugs einläuteten. Es wäre nicht weit hergeholt zu sagen, dass ich mich in letzter Zeit nie so gut gefühlt hatte wie heute, obwohl der Tag so desaströs gestartet war. Riccarda hatte wahrlich ein Händchen dafür bewiesen, mich aus einem vermeintlich tief sitzenden Stimmungstief zu holen. Genau deshalb fanden meine Augen letztendlich auch zu ihr zurück, als die nervliche Anspannung aus meinen Gliedern gewichen war und ich das Paddeln guten Gewissens für einen Moment einstellen konnte, weil der Fluss wieder ruhig und gerade verlief. Ich beugte mich zu ihr rüber, während die Teenager im vorderen Teil des Schlauchboots erneut zu plappern anfingen. "Ich hab dich wohl unterschätzt.", machte ich grinsend und nicht allzu laut eine allgemeine Feststellung, bevor ich ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte und mich wieder zurückzog. Es war sowohl darauf bezogen, dass ich zuvor nicht geglaubt hatte, dass sie sich für diese Art von Ausflügen begeistern könnte, als auch darauf, dass sie es ziemlich eisern durchgezogen hatte. Dabei war nicht relevant, ob ihr das Ganze morgen vielleicht einen Muskelkater bescheren würde. Eigentlich käme mir das sogar gelegen, dann hätte ich einen guten Grund sie ein bisschen zu massieren. Für den Moment war das allerdings die falsche Richtung für Gedanken, weshalb ich die Augen wieder von der hübschen Blondine löste und für den Rest des Bootstrips die Natur um uns herum genoss. Matthew lobte unseren Einsatz, aber ich hörte ihm nicht wirklich zu. Interessierte mich einfach nicht dafür, weil ich ganz genau wusste, dass ich mein Bestes gegeben hatte, um uns vorm Kentern zu retten, auch wenn das am Ende leider nicht nur mein Verdienst war. Ein paar Minuten später näherten wir uns laut unserem Anleiter der Anlegestelle und sollten das Schlauchboot dementsprechend mit den Paddeln zur linken Seite des Flusses dirigieren, wo kaum Strömung gegeben war. Kurz darauf hatten wir das auch geschafft und wurden dabei bereits von anderen Mitgliedern des Organisationsteams am Steg erwartet. Einer der jungen Männer stand schon direkt am Ufer und half das Boot festzumachen, bevor wir aussteigen konnten. War fast schade, dass es schon vorbei war, aber der Tag war ja zum Glück noch gar nicht zu Ende und es wartete ein weiteres kleines Abenteuer auf uns. Allerdings würde ich doch tatsächlich vorher in der Zwischenzeit gern mein Brötchen verputzen. Der lange Lauf auf vier Pfoten vorhin mit zusätzlichem Gewicht und jetzt das Rudern forderten zumindest hungermäßig spürbar ihren Tribut. Kein Wunder eigentlich, wo ich heute Morgen kaum was gegessen hatte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Aus dem nicht länger wild von den brechenden Wellen von einer Seite zur andere schaukelten Schlauchboot, folgerte ich, dass unsere abenteuerliche Fahrt den vorerst noch mühsam erklommenen Berg langsam ihr Ende fand. Meine Armmuskulatur sah darin kein Problem, ich fand es jedoch für einen kurzen Augenblick schade. Zu meiner eigenen Überraschung fand ich Gefallen daran, mich todesmutig den Stromschnellen zu stellen und dem Nervenkitzel nachzugeben. Die Rafting-Tour mit meinen Brüdern fiel damals etwas kinderfreundlicher aus, da ich anderenfalls nicht mit an Bord gedurft hätte – meine Eltern hatten keine Motivation für den Ausflug oder meiner Betreuung aufbringen können und deshalb mussten meine Geschwister die Köpfe hinhalten und sich nach mir, der kleinen Nervensäge, richten – und war dementsprechend nicht mit diesem anfangs höllischen Trip zu vergleichen. Man sah dem mittlerweile friedlich fließenden Gewässer nicht an, zu welcher Geschwindigkeit es ein Boot an so manch anderer Stelle beschleunigen konnte. Erstmals seit dem Überstreifen der Rettungsweste konnte ich wieder ein bisschen entspannter durchatmen, immerhin hatte ich die Herausforderung gemeistert und durfte mich nun von dem sanften Schwanken begleitet zu unserem Ziel treiben lassen. Allgemein änderte sich die Atmosphäre innerhalb der Schlauchboot-Besatzung. Das konzentrierte Schweigen fand ein jähes Ende, die Teenager gestikulierten ausgreifend mit Händen samt Paddel und teilten ungefiltert ihre ganz persönliche Erfahrung bei dem Trip – die Emotionen standen nach wie vor hoch im Kurs, umso unerwarteter traf mich Isaacs Aktion. Er hatte mich also unterschätzt. Unweigerlich erschien ein triumphales Lächeln auf meinen Zügen und ich war bereits versucht, nachzuhaken, was er genau damit meinte. Um ehrlich zu sein, wusste ich es rein intuitiv, dass seine Antwort den Moment ordentlich sabotieren könnte und so entschied ich mich für das Gegenteil und schwieg stattdessen. Es fühlte sich gut an, Anerkennung für meine Bemühungen einzustreichen, obwohl es mir definitiv nicht darum gegangen ist. Vielleicht verstand ich Isaac nun sogar ein Stückchen besser, wieso er nach den ersten verhaltenen Dates der Wiedergutmachung doch am Ball geblieben war und vor allem aber, wieso es auch in der Rolle des mehr oder weniger Überraschten unabdingbar war, Begeisterung offen zu zeigen. Allein aufgrund dieser minimalen Bestätigung freute ich mich direkt einen Tick mehr auf die letzte Etappe des aktuellen Programms. Der hauchzarte Kuss auf meiner von dem während der Fahrt aufgespritzten Wassers kalten Wange zauberte eine beschämende Hitze in mein Gesicht und färbte eben jene Region in einen zarten Rosaton. Wunderbar. Glücklicherweise schaltete sich Matthew keine zehn Sekunden später wieder ein und mäßigte die Euphorie der Jugendlichen mit ein paar letzten Kommandos, um das Schlauchboot zum linken Flussufer zu manövrieren, wo wir bereits erwartet wurden. Der Leiter der Tour sparte kaum mit Lob und warb gleichzeitig für weitere Rafting-Erlebnisse mit unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen auf der Insel, worauf der Rest unserer Gruppe direkt in unrealistische Planungen verfiel. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, sehnte dem festen Boden unter meinen Füßen entgegen und ließ mir schlussendlich bereitwillig von einem Mann im Alter meines Vaters – der Insulaner hier hatte aber ein derart sonniges Grinsen auf den Lippen, weshalb das Baujahr wahrscheinlich die einzige Ähnlichkeit zu meinem Dad darstellte – aus dem Boot helfen. Im ersten Augenblick schwankte ich, fing mich aber ebenso schnell wieder und machte Platz für Isaac. Um einen kleinen Platz herum, in dessen Mitte eine leere Feuerstelle errichtet worden war, standen drei kleine Häuschen und ein paar Autos samt Hänger, die wahrscheinlich die Schlauchboote an den Startpunkt transportierten. Ebenfalls hatte man an ein paar Picknickbänke gedacht, die ohne konkret ersichtliches Muster auf dem begrünten Plätzchen aufgestellt worden waren. Einer der neuen Angestellten verwies auf zwei größere Truhen, in die wir sowohl Rettungswesten als auch die bunten Helme getrennt abgeben sollten, ehe wir uns in einem der Häuschen Erfrischungen oder einen Snack kaufen könnten. Hier hatte man wohl an alles gedacht. Selbstverständlich verschlug es die lärmende Truppe an jungen Erwachsenen sofort in besagte Richtung, während ich mich fragend an Isaac richtete: „Ich könnte eine kleine Pause vertragen und du?“ Es gebot allein meiner Höflichkeit ihn zu fragen, denn eigentlich schrie alles in mir nach einem kurzen Verschnaufen, ehe ich mein Herz erneut auf Touren brachte; im wahrsten Sinne des Wortes. Auf das Angebot der Imbiss-Hütte konnten wir dank unseres vorausschauenden Denkens gut verzichten, weshalb schon bald die beiden Brotboxen samt Wasserflaschen auf dem in Beschlag genommenen Tisch lagen. Verstohlen schlenkerte ich ein wenig mit den Armen, um meine Muskeln zu lockern, bevor ich ihnen schon wieder Arbeit zumutete.
Würde es immer so sein? Wahrscheinlich nicht, oder? Ich hatte mir bisher nur selten bis niemals Gedanken darüber gemacht, wie es wohl war, wenn ich mit einer Frau mehr als nur einen Monat verbrachte. Wie sich das nicht nur auf der Gefühlsebene, sondern auch auf das Zusammenleben auswirken würde. Es würde kaum immer so sein, dass Riccarda und ich neue Seiten aneinander entdeckten, weil es bestimmt irgendwann einen Punkt geben würde, an dem so ziemlich alles enthüllt war, dass es zu finden gegeben hatte. Würde mich das langweilen? Die Chance darauf erschien mir nicht allzu klein, wo ich doch ohnehin schnell angeödet war. Die Frage war also vielleicht eher, ob es mich stören oder ob ich es zu schätzen wissen würde, wenn der Engel mir restlos alles von sich offenbarte und umgekehrt. Oder vielleicht sogar beides? Ich wollte eigentlich nicht an einem so zwiespältigen Punkt ankommen, was die zierliche Blondine anging... niemals. Weil ich wusste, dass ich mich dann meistens für den egoistischen, ignoranten Pfad entschied, der mir kurzfristig lieber war. Ich fing besser schon mal an zu beten, dass meine charakterliche Kehrtwende schwerer wiegen würde als meine Vergangenheit, ermahnte mich gleichzeitig jedoch zu nicht zu viel Schwarzmalerei - es lief gut im Moment und ich erfreute mich dem rosa Schimmer auf Riccardas Wangen. Sie sah süß aus damit. Ich nutzte den Moment, in dem der Engel noch mit dem Aussteigen beschäftigt war, dazu innerlich noch einmal tief durchzuatmen. Zum einen wegen dem schwülen Wetter und zum anderen, um damit die etwas konfusen Gedanken in meinem Schädel fein sortiert bei Seite zu räumen, um sie in einem einsamen Augenblick irgendwann später wieder auszupacken. Als Riccarda sich zurück an Land gekämpft hatte und der Weg damit auch für mich frei war, stand ich ebenfalls auf und stieg aus dem leicht wankenden Schlauchboot. Im Gegensatz zu meiner Angetrauten verzichtete ich dabei auch dankend auf Hilfe, weil ich sie schlichtweg nicht brauchte. Die Schnalle des Helms öffnete ich sobald ich den Steg unter den Füßen hatte, zögerte auch nicht mir das blöde Ding vom Kopf zu ziehen. Wie das mit Helmen eben so war drückten sie einem die Haare platt, weshalb ich die rechte Hand prompt dazu anhob meine dunklen Strähnen wieder in halbwegs annehmbare Form zu bringen. Ich war zu eitel, um den Rest des Tages wie ein begossener Pudel herumzulaufen. Ebenso wie den Helm in der einen legte ich dann schließlich auch die Weste in der anderen Kiste ab, fühlte mich auf Anhieb besser damit. Riccarda schien ebenso sehr der Sinn nach einer Pause zu stehen wie mir selbst und ich nickte auf ihre Frage hin ohne zu zögern, was sicherlich Antwort genug war. Sie wusste ja selbst, dass die Flussfahrt hier und da durchaus anstrengend gewesen war. So ließ ich mich ihr gegenüber an den Tisch fallen und nahm kurz darauf meine Brotbox an mich. Ich trank jedoch zuerst noch ein paar Schlucke aus der Wasserflasche und widmete mich danach dem Essen. Der leise knurrende Magen beruhigte sich nach ein paar Bissen schließlich spürbar, auch wenn ihm eine frisch blutige Mahlzeit zweifelsfrei lieber gewesen wäre. Ich würde wohl bis zur Vollmondnacht damit warten müssen und mir bis dahin noch Gedanken darüber machen, wo ich am leichtesten eine Person entwenden konnte, ohne dass es auffällig wurde. Es wäre dumm einen Touristen zu verspeisen, damit würde ich mit Abstand am meisten Aufmerksamkeit erregen. Meine Wahl würde wohl oder übel also auf einen Inselbewohner fallen müssen, der bestenfalls keine Verwandtschaft hatte. Das ließ sich aber schlecht aus Gesichtern lesen, also würde es wahrscheinlich auf Glücksspiel hinauslaufen. Im Augenblick war ich auch mit einer gewöhnlichen Mahlzeit zufrieden, die das Hungergefühl ausreichend stillte. War froh einen Moment lang im Grunde einfach nur sitzen und kauen zu dürfen, während ich den Engel kurzzeitig dabei beobachten konnte, wie er die Flügel zu lockern versuchte. Es entlockte mir unweigerlich ein dezentes Grinsen. "Da wird doch nicht Jemand morgen Muskelkater kriegen..?", wurde ich nach dem Runterschlucken eine indirekte Frage an sie los, ehe ich ein weiteres Mal vom Brötchen abbiss.
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Meine ach so geheime Mission mit dem Ziel der Entspannung meiner wehklagenden Oberarmmuskeln scheiterte kläglich, sobald ich meinen Blick von dem ausgepackten Lunchpaket anhob und auf das süffisante Grinsen meines Begleiters traf. Augenblicklich verfinsterte sich meine Miene. „Es nervt wirklich, dass deinen blöden Wolfssinnen kaum etwas entgeht“, echauffierte ich mich einen Kleinkind ähnelnd. Meine Beschwerde entwuchs durchaus einem wahren Kern, denn es strengte tatsächlich an, wenn seine permanente Aufmerksamkeit wie ein Radar über mir hing, gleichzeitig wählte ich meine Tonlage doch passend, um zu signalisieren, dass meine Nerven nicht ausreichend blank lagen, um hier wirklich noch eine Szene zu veranstalten. Ja, mir wurde mein konditioneller Zustand innerhalb eines Tages zum zweiten Mal auf höchst unangenehme Weise unter die Nase gerieben und Isaac mit seinem durchtrainierten Körper sollte da bloß die Luft anhalten. Er durfte da überhaupt nicht mitreden, wenn man meine Meinung wissen wollte. Schmollend rupfte ich einzelne Körnchen von meinem belegten Kornspitz runter und steckte sie mir nach und nach in den Mund, ehe ich dazu überging, richtig von meiner Stärkung abzubeißen. Dabei ließ ich mir Isaacs Kommentar länger als nötig durch den Kopf gehen. Die Zeit verstrich zunehmend, während ich den Bissen bedächtig kaute und hinunterschluckte. „Ich werde morgen einfach als Häufchen Elend im Bett liegen bleiben und du kannst selbst schauen, wo du ein Beschäftigungsprogramm findest“, brummelte ich ihm als indirekt seine Anmerkung bestätigende Erwiderung zurück. Auf den anstehenden Muskelkater freute ich mich gewiss nicht, noch dazu befürchtete ich, dass meine Chancen auf eine milde oder kaum spürbare Version utopisch blieben – wieso sollte ich da auch Glück haben, wo ich meiner Fitness doch nur das Nötigste an Training zugestand? Immerhin bekam ich noch eine minimale, befristete Schonfrist eingeräumt, sodass sich meine Vorfreude auf den letzten Programmpunkt nicht schmälern ließ, gleichzeitig würde die Quad-Tour sicherlich die gemütlichste Unternehmung werden. Hier bestand lediglich die Gefahr eines mörderischen Sonnenbrandes, gegen den ich mich aber wappnen konnte und auch würde! Aber eines nach dem anderen: zunächst vertilgte ich mein Weckerl in aller Ruhe, streckte die Beine unterm Tisch aus und genoss den Platz, immerhin war meine Bewegungsfreiheit innerhalb des Schlauchbootes doch sehr eingeschränkt gewesen. Um die allgemeine Belustigung von meinem anstehenden Muskelkater weg zu losten, schnitt ich ein neues Thema an: „Wir müssen dann ein kleines Stück zurück zum Auto gehen und dann zirka eine Viertelstunde fahren, um aus der Stadt rauszukommen. Die haben dort ein größeres Gelände bebaut und in eine Art Männer-Spielplatz verwandelt, wo man mit allerhand Gefährt durch die Gegend brettern kann und damit niemand unabsichtlich unter die Räder kommt, liegt das außerhalb.“ Eine kleine Instruktion, damit Isaac sich nicht fürchtete, weil ich ihn irgendwo zwischen den Sanddünen aussetzen wollte oder welch Vorstellungen auch immer seine Fantasie zusammenbastelte. „Meine Brüder sind dort eigentlich immer gewesen, wenn sie mit dem Anstandsbesuch dran waren und nicht wussten, wohin mit der Zeit, bis sie endlich wieder im Nachtleben eintauchen konnten.“ Was im Urlaub passierte, blieb auch im Urlaub; zumindest galt das für normale Menschen und nicht für bekanntere Persönlichkeiten, deren Eskapaden sehr schnell mal in Boulevardzeitungen ausgeschlachtet wurden. Das mussten auch die beiden Hohlbirnen erst lernen. Meine Gedanken schweiften unweigerlich zu meinen Geschwistern ab, drifteten in vergangene Zeiten und legten einen abwesenden Schleier über meine Augen, als ich die von der Witterung gezeichneten Holzbalken des Tisches betrachtete, ohne wirklich etwas zu sehen.
Es war kaum das erste Mal, dass ich einem Menschen damit auf die Nerven ging, ihn fast ununterbrochen etwas zu akribisch im Blick zu haben. Wahrscheinlich war es auch nicht das erste Mal, dass Riccarda genervt davon war, dass ich so ziemlich alles mitbekam was sie tat, während sie sich in meiner Nähe aufhielt. Außer eben ich fand etwas Besseres oder in dem Moment Wichtigeres zum Angucken, aber das kam wohl immer seltener vor, wie mir gerade bewusst wurde. Wie so vieles andere auch immer seltener wurde - dass ich den Engel grundlos blöd anschnauzte nur weil ich selbst schlechte Laune hatte, beispielsweise. Oder dass ich augenblicklich alles hochgradig persönlich nahm, was sie kritisierte, was früher mit Abstand eine meiner größten Macken gewesen war. Manchmal empfand ich es inzwischen sogar als gut, wenn der blonde Engel mich auf Dinge hinwies, die mir sonst gar nicht auffielen. Ich war scheinbar an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem ich mich gerne weiterentwickeln, wachsen und verbessern wollte. Deswegen kaute ich ein paar Sekunden lang recht nachdenklich auf dem Brötchen herum, während ich die Maserung des hölzernen Picknicktisches mit den Augen entlangwanderte. "Ich fürchte das ist eines der wenigen Dinge, die sich nur schwer von mir unterdrücken oder ändern lassen.", meinte ich schließlich mit einem kaum sichtbaren Schulterzucken. Ich meinte es gewiss nicht böse, wenn ich sie ständig ansah und dabei gerne sämtliche noch so winzigen Regungen ihres Körpers aufschnappte. Sie interessierte mich eben einfach, das konnte - und wollte - ich nicht ändern. Da saß mein innerer Wolf am längeren Hebel. Außerdem schien ich mit meiner Vermutung ja auch goldrichtig zu liegen, wenn Riccarda sich den morgigen Tag im Bett totschlagen wollte. Ich konnte mich nur knapp daran hindern, einen anzüglichen Kommentar dazu abzugeben und wich mit einem leisen Räuspern und einem Lächeln - das eigentlich lieber ein Grinsen hätte werden wollen - auf ein paar andere Worte aus. "Hältst du's für so abwegig, dass ich nicht auch mal einen Tag nur rumliegen kann oder willst du mich dabei einfach nur nicht bei dir haben?", erkundigte ich mich zum Ende hin etwas sarkastisch nach ihrer Einschätzung. Zugegeben kam es wirklich nicht oft vor, dass ich mir einen richtig faulen Tag in den Kalender packte. Ich bewegte mich gerne, hatte an den meisten Tagen von Natur aus etwas Bewegungsdrang. Erst recht immer dann, wenn der Vollmond näher kam. Solange es aber nicht ständig vorkam, konnte ich gut und gerne auch mal einige Stunden lang gefühlt gar nichts tun und mich nur von einer Faulenzerposition in die andere rollen. Ich lauschte der Blondine aufmerksam, als sie mir den Rest unseres heutigen Plans offenbarte und nickte als Zeichen des Zuhörens leicht vor mich hin, während ich auf dem letzten Bissen Brot herumkaute. Nebenbei schloss ich auch die Brotbox und gönnte mir dann nach dem Runterschlucken zuerst noch etwas zu Trinken, ehe ich zu einer Antwort ansetzte. Erst als ich schon sprach bemerkte ich, dass der Engel in diesem Moment etwas in Gedanken festzuhängen schien. Normalerweise hätte ich vielleicht nachgehakt - tat es jetzt aber bewusst nicht, weil sie ja offensichtlich nicht so gerne beobachtet wurde. "Klingt ganz nach meinem Geschmack.", stellte ich zufrieden fest, meine Augen wieder auf die ihren geheftet. Ein sprichwörtlicher Männerspielplatz konnte mir ja eigentlich nur gefallen, alles andere würde mich stark wundern. Leider würde das Nachtleben danach für mich auf der Strecke bleiben müssen und ja, ich trauerte dem manchmal noch immer hinterher. War auch nicht verwunderlich, wo mir meine Freiheit damals doch so schlagartig geraubt worden war. "Fährst du wieder oder willst du den Part abgeben?", hakte ich völlig neutral nach, weil mir das tatsächlich in etwa so egal war wie vorhin auch schon. Ich konnte mit Riccardas Fahrstil ganz gut leben, sie konnte sich von mir aus also ein weiteres Mal hinters Steuer setzen. Oder eben ihre armen geplagten Ärmchen und Beinchen auf dem Beifahrersitz ausruhen. Bevor wir hier wieder aufbrachen suchte ich erstmal noch nach einem der Riegel im Rucksack. So als kleine Nachspeise für meinen Teilzeit-Gourmet-Gaumen.
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Mit einer Rechtfertigung seitens Isaac rechnete ich nicht unbedingt, weshalb ich fragend zu ihm aufschaute. Mir war aufgefallen, dass sich seine Wortwahl und auch die Tonlage maßgeblich verändert hatten und ich instinktiv positiv darauf reagierte. Auch in diesem Fall zeichnete sich ein ruhiges Lächeln auf meinen Lippen ab. „Eigentlich stört es mich nicht, obwohl ich auch nicht behaupten kann, dass ich mich daran gewöhnt hätte. Es ist nur anstrengend zu wissen, jederzeit unter Beobachtung zu stehen, wenn ich mir noch nicht sicher bin, wie gut ich das eigentlich finde“, besänftigte ich meine harten Worte von vorhin ein wenig, zumindest hoffte ich, dass diese Erklärung ihren Zweck erfüllte. Es käme mir nicht in den Sinn zu erwarten, dass ein halber Wolf aufhörte, kleinste Veränderungen in seinem Umfeld mitzubekommen, aber vielleicht ließe sich ja daran arbeiten, mich darauf hinzuweisen. Es stellte sich gewiss in einigen Fällen als praktisch heraus, derart feinfühlig für seine Mitmenschen zu sein, aber diese Überlegenheit in Form von Sarkasmus auszuleben, forderte sicherlich noch früher oder später ihren Tribut. Anderenfalls wünschten sich doch viele Frauen mehr Aufmerksamkeit von ihrem Partner, also durfte ich mich auf dieser Beschwerde nicht festbeißen. Isaac überraschte mich ohnehin immer wieder aufs Neue und eröffnete mir dadurch Blickwinkel, die mich meine Meinung in gewissen Punkten gründlich überdenken ließen. Beispielsweise das Ausbleiben eines dummen Kommentars bezüglich meiner morgigen Absichten im Bett zu bleiben. Ich hatte durchaus damit gerechnet, zweideutige Anspielungen als Retourkutsche geliefert zu bekommen, stattdessen richtete der Dunkelhaarige eine Frage an mich, die tatsächlich zu einem kurzfristigen Schweigen meinerseits führte. Fand ich einen entspannt daliegenden Werwolf ohne Drang nach Action abwegig? Ja. Wollte ich ihn vielleicht wirklich nicht bei der Erholungszeit dabeihaben? Das zu beantworten, stellte sich als eindeutig schwieriger heraus. „Ich tu mir mit der Vorstellung schwer, dich nicht binnen einer Stunde als zappelndes Etwas neben mir zu haben“, gab ich mit einem leise mitklingenden Lachen zu. „Je nachdem, wie gut du deine überschüssige Energie unter Kontrolle hast, hab ich dich dann auch lieber oder weniger gern neben mir“, beantwortete ich möglichst diplomatisch sein ironisches Nachhaken. Überraschenderweise fand ich die Aussicht auf einen gemütlichen Tag gemeinsam weitaus verlockender als gedacht. Da ich dieses Zugeständnis vorerst für mich behalten wollte, genoss ich die andere Hälfte meines Kornspitzes und unterbrach die Mahlzeit nur für einen gelegentlichen Schluck von der Wasserflasche, die schräg vor mir auf dem Tisch stand. Isaacs Zustimmung zu meiner Vermutung bestätigte mich in meiner Zufriedenheit weiter und löste den versteckten Knoten bestehend aus unsicherer Nervosität zur Gänze – welch fatale Erfahrung wäre es, würden die einzelnen Programmpunkte vermehrt zu Diskussionen oder Missfallen führen und nicht das Gegenteil bewirken? Da bestand durchaus Grund zu einem gewissen Grad an Aufregung, die hiermit aber soweit abgeschwächt war, um sich keine weiteren Sorgen mehr machen zu müssen. Überhaupt nahm ich mir vor, weniger an Befürchtungen zu hängen, sondern zuversichtlicher auf unsere gemeinsame Zeit zu blicken. Also schickte ich, dieser Eingebung folgend, auch die Gedanken an meine Familie ins Abseits und antwortete recht schlagartig auf Isaacs Frage: „Ich fahre noch hin und du darfst dann die Rückfahrt übernehmen.“ Ein einfacher Beschluss, immerhin traute ich seinem überdurchschnittlichen Orientierungssinn zu, dass er den Weg zum Herrenhaus meiner Verwandtschaft ohne Navigation fand und ich der Erschöpfung des Tages nachgeben durfte. Doch noch steckte Energie in meinem Körper. Ich beendete meinen Snack mit einem großen Schluck Wasser und räumte dann alles in den Rucksack hinein, ehe ich ihn über den Tisch hinweg Isaac reichte, der sich noch einen Müsliriegel mit Früchten genehmigte. Nach dieser zusätzlichen Stärkung brachen wir auf und folgten dem breiten, auch befahrbaren Kiesweg bis zur asphaltierten Straße, der wir noch ein paar Meter folgten, ehe der Parkplatz sichtbar wurde. Da wir die Frage des Fahrers schon längst geklärt hatten, verloren wir keine weitere Zeit und düsten zu dem außerhalb der Stadt liegenden Spielplatz für junge und ältere Männer. Auch hier hatte ich eine Reservierung angegeben, sodass wir bereits erwartet wurden. Dieses Mal begrüßte uns ein bärtiger Riese mit Sonnenbrille und Baseball-Kappe am Kopf mit festem Handschlag. „Hast du deinen Brüdern Fahrverbot erteilt oder wo stecken die zwei?“, erkundigte er sich mit bellendem Lachen bei mir. „Wäre wohl besser aber nein, sie sind zuhause geblieben. Ich bin in Begleitung meines Mannes hier“, erklärte ich die Umstände, stolperte dabei kaum merklich über die Bezeichnung für Isaac, kaschierte dies aber mit einem charmanten Grinsen bestmöglich. „Die kleine Ricci ist verheiratet, sag bloß. Da lässt du aber mindestens ein Herz bluten“, sinnierte der Betreiber des Fuhrparks amüsiert und musterte meinen großgewachsenen Begleiter wohlwollend. Sein jüngster Sohn hatte sehr offensichtlich für mich geschwärmt, was automatisch zum gefundenen Fressen für seinen Dad und meine Bruder geworden war. Es gab nie ernsthafte Annäherungsversuche, immerhin sprachen wir von einem sehr unschuldigen Alter, aber die Witze wurden wohl niemals alt. „Das ist mittlerweile wie lang her, Chris? Wir waren elf, wenn überhaupt… ich bitte dich.“, stieg ich ihn sein spitzbübisches Glucksen mit einem gutmütigen Grinsen ein und verdrehte abtuend die Augen. Außerdem wusste ich aufgrund von Socialmedia-Seiten, dass sein Sohn in einer langjährigen Beziehung steckte und mir keine einzige Träne nachweinen würde. „Also, was hast du für uns?“, wechselte ich das Thema und sah mich dabei aufmerksam nach den Quads um.
Gut, wenn sie es so formulierte... ich würde wohl auch nicht besonders viel Gefallen daran finden ständig beobachtet zu werden, wenn ich mal so darüber nachdachte. Blicke auf mir spürte ich sofort und ich unterband sie meistens zügig dadurch, dass ich einen giftigen Blick zurückwarf. Zumindest immer dann, wenn ich nicht gerade am Strand in Badeshorts oder lässig elegant an eine Bar gelehnt dastand - ich genoss Blicke schließlich in den meisten Fällen, aber auch nicht immer. Meine Ausstrahlung reichte dann jedoch schon aus, um ungewollte Blicke abzuwenden. Diese Möglichkeit hatte der Engel nur bedingt. Sie könnte noch so feindlich gesinnt gucken, der Blick eines tödlichen Raubtiers würde ihr dennoch verwehrt bleiben. "Hilft es dir bei der Entscheidung, wenn ich dir sage, dass du immer gut aussiehst?", stellte ich ihr eine Frage, die im ersten Moment vielleicht blöd klang, aber ich meinte das wirklich so. Natürlich hatte auch Riccarda ihre attraktivsten und weniger glanzvollen Momente - so wie jedes Lebewesen auf diesem Planeten - aber sie bewegte sich dennoch anders als jede menschliche Frau. Wahrscheinlich hatte sie dank ihrer himmlischen Gene einfach eine natürliche Begabung dafür, sich immer irgendwie anmutig zu bewegen. Ihre Figur kam ihr noch zusätzlich dabei zugute, grundsätzlich leichtfüßig zu wirken. Zumindest wenn sie sich nicht gerade mühselig einen Berg im Dschungel nach oben kämpfte. Es war naheliegend, dass die Blondine sich ein bisschen davor fürchtete, dass ich schon nach kurzer Zeit wie ein ungeduldiges Kind neben ihr im Bett liegen würde. Die Chancen standen morgen wohl ungefähr 50 zu 50, wenn ich mir die aktuellen Umstände besah. Der Vollmond rückte eben näher und das war spürbar. Ich lächelte ihr versonnen entgegen, während ich den Riegel weiter verputzte. "Die Chancen auf einen entspannten Wolf stehen immer dann am besten, wenn du ihn am Vortag gut ausgelastet hast. Würde der Vollmond nicht näher rücken, könnte ich dir sogar versprechen, mich morgen brav... naja, zumindest für meine Verhältnisse brav nur von einer Seite auf die andere zu rollen.", grinste ich scheinheilig vor mich hin, kaum hatte ich den Rest des Snacks runtergeschluckt. Ich kannte mich gut genug um zu wissen, dass ich selbst das Faul-Im-Bett-Rumlungern dazu nutzen würde, dem Engel irgendwann zwischendurch auf die Pelle zu rücken. Für mich würden Betten auf ewig viel mehr dafür konzipiert sein sich darin zu lieben, statt nur darin zu schlafen. Ich war ein Wolf, mir reichte auch ein bequemer Waldboden um in den Schlaf zu finden. Was wiederum aber nicht heißen sollte, dass ich die seidigen Laken eines Königshauses nicht genoss. Als alles eingepackt war traten wir den Rückweg an, der bald abgehakt war. Bergab fielen die Schritte leichter und der Weg war dank unserer Talfahrt angenehm kurz. Es war nicht so als hätte ich keine Energie mehr in petto, aber ich war nicht traurig heute keine weitere Wanderung mehr unternehmen zu müssen. Auf vier Rädern ließ es sich ebenso leichter vorwärts kommen, wie auf vier Pfoten. Wir waren schon bald aus der Stadt raus und dort begrüßte uns nicht nur das nächste Abenteuer, sondern auch sengende Hitze. Ich vermisste die Bäume schon, als wir freudig vom nächsten mir fremden Gesicht begrüßt wurden. Riccarda kannte den Kerl hingegen offensichtlich - seit sie ein Kind war. Ich hörte dem Gespräch dementsprechend zu Beginn sehr aufmerksam zu. Allein deswegen schon, weil sie mich von vornherein als ihren Angetrauten vorstellte, was für mich irgendwie nicht selbstverständlich war. Zuhause schon, aber nicht hier. Es änderte nicht wirklich was, hätte sie Chris was anderes erzählt. "Isaac Garcia.", nahm ich es mir raus, mich auch persönlich vorzustellen. Der Händedruck dabei war leider Pflicht, ich hätte ihn auch dieses Mal gern weggelassen. Der Einheimische reagiert mit überrascht hochgezogenen Augenbrauen. "Nicht Keerlow?", hakte er nach, was mich belustigt die Mundwinkel nach oben ziehen ließ. "Nein... ich schätze, kein Adel legt seinen Nachnamen wirklich gerne ab.", antwortete ich sarkastisch, um fröhlich um die Wahrheit der arrangierten Zwangsehe herumzusteuern. Chris nahm es mit Humor und lachte, kurz bevor er uns mit einer einladenden Handgeste bat ihm zu folgen. Er führte uns zu einer Reihe mehr oder weniger präzise in einer Reihe eingeparkter Fahrzeuge und sagte wohl auch irgendwas zu der Auswahl, aber ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Ich suchte mit akribischem Blick nach dem einen Zielobjekt, das mir am meisten Spaß versprach. Schließlich blitzten meine Augen auf, als ich ein Motocross-Bike ins Augen fasste, das mir einen Heidenspaß versprach. Allein schon deshalb, weil zwei Räder schwerer unter Kontrolle zu halten waren als vier. Ich liebte Herausforderungen und ich liebte Adrenalin - also zehn Punkte für ein Bike im Sand. "Kann ich auf ein Bike umsteigen oder hast du Einwände?", schnitt ich Chris vielleicht ein bisschen unhöflich das Wort ab und fokussierte einzig Riccarda bei meiner Frage.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Es tut mir leid, dass es doch ein bisschen länger mit der Antwort gedauert hat. v-v ____
Isaacs Einwand half nicht. Als einzige Tochter im engsten Verwandtschaftskreis zog es automatisch die Aufmerksamkeit auf mich, was ich vor allem in jüngeren Jahren sehr genossen hatte, immerhin zwang mein Meckern mindestens einen meiner Brüder stets dazu, sich mit mir zu beschäftigen und mein Bedürfnis nach energieaufwändigeren Aktivitäten zu stillen, um meinen Eltern nicht permanent bei geschäftlichen Abwicklungen oder wirtschaftlichen Entscheidungen im Weg zu sein. Spätestens mit dem Eintreffen meiner pubertären Phase wendete sich das Blatt und die brüderliche Fürsorge wurde zum ernsthaften Streitfall innerhalb der Familie – mit anderen Worten: ich lebte mich niemals so aus, wie andere Mädchen in dem entsprechenden Alter und durfte aufgrund der Argusaugen wenig bis gar nichts ausprobieren. Meine Freunde und potentielle Beziehungspartner blieben nie lang ein Geheimnis, da es einer kleinen Unmöglichkeit gleichgekommen war, irgendetwas vor der Hellhörigkeit der Engel versteckt zu halten. Sah mich nicht zufällig irgendein Verwandter auf der Straße oder bei einer Feier, dann lichteten es eben diverse Paparazzi ab, die Hoffnungen auf das schnelle Geld mit einem skandalösen Schnappschuss hofften. Ich war nie allein gewesen, immer unter Beobachtung gestanden. Also nein: es verbesserte mein Empfinden bezüglich der automatisieren Beobachtungen durch Isaac nur sehr bedingt, aber das implizierte gleichzeitig nicht, dass mich das Kompliment kalt ließ. Ich freute mich über die schmeichelnden Worte, lächelte deswegen auch in Isaacs Richtung. Während es in der Natur des Werwolfes lag, die Ausstrahlung eines Raubtiers zu übernehmen und eine dementsprechende Ausstrahlung vorzuweisen, zeichneten sich Engel durch ihre grazile Eleganz und eine oberflächliche Vollkommenheit aus. Als ob unsere Genetik uns mittels Schönheit vor dem Aussterben bewahren wollte; welch evolutionären Sinn dies auch entsprechen mochte, ich befasste mich schon lang nicht mehr mit der Wirkung eines Engels auf Menschen. Wozu auch? An meiner Seite lauerte ein wachsamer Gestaltwandler mit überdimensionalen Wolf im Petto, der meine volle Aufmerksamkeit beanspruchte, wenn ich keinen an die Decke gehenden Partner wollte, wie er mir im weiteren Zuge verdeutlichte. „Ich werde es mir merken“, versicherte ich ihm grinsend auf die Auslastung bezogen, machte mir gleichzeitig jedoch wenig Erwartungen auf einen ruhigen, faulenzenden Isaac. Vielleicht sprangen ja doch zwei oder drei entspannte Stunden für mich raus, schoss es mir bei der Betrachtung der zur Verfügung stehenden Todesfallen durch den Kopf, die mir Chris voller Euphorie vorstellte, als handle es sich um seine Haustiere. Mit ausladenden Handbewegungen schilderte der zugezogene Insulaner diverse Anekdoten zu einzelnen Maschinen, klopfte hier und da eine Lenkstange ab und sah mich dabei immer wieder erwartungsvoll an. Ich lachte, wenn es angebracht war und nickte staunend, wenn Chris sich stolz in die Brust bei einer Erzählung warf und mit seinen Empfehlungen um sich warf. Er fokussierte sich dabei primär auf mich, was ich auf eine unterschwellige Annahme schob, die sich darauf berief, dass sich Frauen mit motorisierten Gefährten nicht auskannten – dummerweise in meinem Fall der Wahrheit entsprechend. Schlussendlich deutete er auf ein leicht verstaubtes Quad und stützte sich gewollt lässig mit beiden Händen auf der Sitzfläche ab. „Die hier sollte für dich gut passen, weil…“, weiter kam der Inhaber nicht, da Isaac sich mit einer sehr konkreten Frage an mich wandte. Es überraschte mich, dass der Dunkelhaarige mich sozusagen um meine Zustimmung bat und nicht lediglich seinem Willen folgte. „Ähm nein… tu, was du nicht lassen kannst“, zeigte ich mich unbekümmert und zuckte kurz mit den Schultern. Isaac wusste schon, was er tat und aufgrund seiner Unzerstörbarkeit sorgte ich mich weniger um männlichem Übermut verschuldete Knochenbrüche oder dergleichen. „Ich mag den Kerl“, strahlte Chris begeistert und setzte bereits an, sein vielfältiges Wissen nun auch bei Isaac zum Besten zu geben, aber mit ein paar charmanten, diskreten Bemerkungen saßen wir doch schneller als gedacht auf unseren ausgewählten Maschinen – Helmpflicht galt auch hier am Gelände – und bekamen grünes Licht zum Starten. Das Areal war mehrere Quadratkilometer groß, sicherheitshalber umzäunt, und umfasste auch Parkours unterschiedlicher Schwierigkeiten. Chris hatte uns auf einem Folder kurz die verschiedenen Strecken gezeigt, aber man bekam in dem weitläufigen Geländeabschnitt überall Hilfestellungen durch kleine Schildchen.
Es hätte mich gewundert, wenn der Engel etwas gegen meinen Umstieg auf ein anderes Fahrzeug einzuwenden gehabt hätte. Allerdings hielt ich es doch für richtig zu fragen, weil es ihr lieber sein könnte, wenn wir beide mit Quads vor uns hin tuckerten - übertrieben heruntergespielt. Schließlich konnte ich ihr nicht in den Kopf sehen und wollte einfach sicher damit gehen, dass sie mir später nichts ankreiden würde. Darauf konnte ich sehr gut verzichten, wo der Tag doch ziemlich hervorragend lief. Nicht nur für mich, weil ich kleine und große Abenteuer gerne mochte, sondern auch für Riccarda und die angeknackste, leicht merkwürdige Beziehung zwischen uns. Ich fuhr Dinge öfter mal gerne mit Vollgas an die Wand, aber das gehörte tatsächlich zu den wenigen Ausnahmen. Es lagen in dieser Hinsicht schon genug Steine auf meinem - unserem - Weg, da musste ich jetzt nicht noch künstlich welche dazu legen, an Stellen wo es sich eindeutig vermeiden ließ. "Sehr schön.", gab ich mich nicht ohne das gewisse Grinsen sehr zufrieden mit ihrer Antwort. Natürlich würde ich diese Aussage ihrerseits auch gerne wieder auf andere Bereiche unseres Lebens ausweiten und sie nicht nur auf die Auswahl meines Gefährts beziehen, aber in Gesellschaft schien mir ein entsprechender Kommentar dazu doch ein klein wenig unpassend. Dafür war das Eis vermutlich noch zu dünn. Allerdings wanderten meine Augen zwangsweise ohnehin sehr bald wieder von Riccarda zu Chris, weil er der Meinung war, dass ich ganz bestimmt auch noch mehr Informationen von ihm brauchen konnte. Tat ich natürlich nicht. Ich wusste, wie man ein Motorrad fuhr und das reichte in meinen Augen vollkommen aus. Zwar würde ich zu Beginn testen müssen, wie sich der Sand dabei genau unter den Reifen verhielt, weil das eben Neuland war, aber dabei konnte mir der Kerl sowieso nicht helfen. Ich versuchte ihn halbwegs galant loszuwerden, um sein Bild von mir nicht doch noch ins Negative zu kippen und er überließ uns dann glücklicherweise bald unserem Schicksal - nicht aber ohne die nächsten blöden Helme, natürlich. Vielleicht war mir das abgesehen von der Optik aber doch ganz recht, dann flog mir wenigstens kein Sand in die Ohren. In menschlicher Form waren sie zwar ein wenig unempfindlicher vom Gefühl her, aber es würde sich trotzdem unangenehm laut anhören, wenn die winzigen Steinchen in meine Ohrmuschel flogen. Als wir beide startklar waren und losfuhren, wurde bald klar, dass Riccardas Umschreibung des Geländes als Männerspielplatz äußerst treffend formuliert war. Es dauerte zwei, drei Minuten, bis ich mich mit dem Bike vollständig arrangiert hatte und auch den gewöhnungsbedürftigen Untergrund richtig zu kalkulieren schaffte. Unfälle gab es bei den ersten kleinen Tests noch keine und wir konnten uns getrost dem ersten Parcours widmen, der im Nachhinein betrachtet wenig anspruchsvoll war. Für mich zumindest - vielleicht taten sich unerfahrene Menschen schon etwas schwer damit, weil sie nicht mit meinen Reflexen und meiner Körperbeherrschung gesegnet waren. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Hitze auch noch auszuhalten, obwohl die Sonne ziemlich unbarmherzig war. Ich kam quasi gerade erst in Fahrt, als wir uns dem zweiten Parcours widmeten. Es war gewiss nicht mein Ziel heute alle bestehenden Parcours abzuarbeiten, weil das selbst mir zu viel werden würde. Bei angenehmen 15 Grad gar kein Problem, aber in dem schwülen Klima hier brauchte auch ich des Öfteren Mal eine kleine Pause und nicht ganz so viel Auslauf wie gewöhnlich. Mein Ziel war also etwas anderes - eine auf Chris' Karte markierte Anhöhe am anderen Ende des Areals, die angeblich eine schöne Aussicht in Richtung des türkisblauen Meeres bot. Wenn das schon extra auf der Übersicht erwähnt wurde, musste da ja was dran sein. Bis dahin galt es aber erst einmal noch die restliche Strecke zu absolvieren und der letzte, tendenziell bergauf führende Parcours vor dem Ziel schien selbst für mich eine kleine Herausforderung zu werden, der Streckenführung wegen. Wir hielten davor kurz an - zum Durchatmen im Schatten zweier sehr einsamer, nicht besonders großer oder gar buschiger Bäume, um deren Stämme vereinzelte Grashalme aus dem sandigen Boden ragten, aber auch um noch einen flüchtigen Blick auf die Hinweistafel unweit des Start-Punkts zu werfen. Darauf war unter der grob aufgezeichneten Parcours-Führung nochmal explizit erwähnt, dass es sich um einen tückischen Kurs handelte und man ihn nur fahren sollte, wenn man wirklich genügend Erfahrung mitbrachte - der übliche Haftungsausschluss eben, damit der Betreiber auf der sicheren Seite war. Ich sah ziemlich sicher wenig prinzenhaft aus, als ich mit ziemlich verstaubtem Shirt das Visier des Helms kurz hochklappte und meine verschwitzte Stirn zum Vorschein kam. Nicht, dass es irgendjemanden überraschen dürfte, dass man bei solchen Temperaturen unweigerlich förmlich in sich zerlief. "Kommst du mit oder fährst du außenrum? Weit ist's ja nicht mehr.", hakte ich unvoreingenommen nach und nickte währenddessen in Richtung des mehr oder weniger gut ersichtlichen Weges, der um die Strecke herum auf die nicht weit entfernte Anhöhe führte.
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Zugegebenermaßen verliefen die ersten Minuten auf dem Quad sehr ruckelig – meine Eingewöhnungsphase nahm mehr Zeit in Anspruch. Dennoch kämpfte ich mich verbissen durch den ersten Parkour auf unserer spontan gewählten Strecke und bemerkte erst nach und nach, wie ich mich auf dem Gefährt entspannte und den Nervenkitzel zu genießen begann. Die Umstellung von einem Jeep im mehr oder weniger sicheren Straßenverkehr zu einem Quad im heißen Sand bedarf eben eines konstanten Ausprobierens. Auf einem Motorrad hätte ich den Boden wahrscheinlich relativ bald geküsst, in dem Fall aber händelte ich meinen motorisierten Untersatz recht geschickt für den Anfang und düste mit einem unter dem Helm versteckten Grinsen hinter der Staubwolke von Isaac her, der sich aufführte, als gäbe es kaum eine andere Freizeitbeschäftigung in seinem Leben. Mir gefiel diese Ausgelassenheit. Vielleicht bedingten die ausgeschütteten Endorphine meine Losgelöstheit, aber ich machte mir inmitten der glühenden Tropensonne und dem flimmernden Sandterrain keinerlei Sorgen über gewisse Problematiken innerhalb meines Lebens mit Isaac. Es tat allen Anschein nicht nur dem Dunkelhaarigen gut; auf mich wirkte definitiv ebenfalls ein positiver Effekt, dessen Ausmaß noch ausgetestet werden musste. Auch der zweite Parkour voll mit aufgeschütteten Dünen, engen Wendungen und Sprungrampen forderte mich, machte deshalb aber nicht weniger Spaß. Die Zeit flog förmlich mit uns um die Wette, wie ich bei der nächsten Pause unter einem halbwegs schattenspendenden Bäumchen feststellte. Mein Herz schlug mir noch immer ein bisschen zu schnell hinter den Rippen, selbst als ich das verstaubte Visier raufgeklappt und wieder zu mehr Luft zum Atmen gekommen war. Mein Blick aus zusammengekniffenen Augen wanderte über unsere Umgebung, blieb schlussendlich an der Anhöhe hängen, die das derzeitige Ziel unserer Etappenfahrt darstellte. Mir fiel anbei das riesige Hinweisschild mit entsprechenden Empfehlungen zur Befahrung der Strecke auf. Kritisch überflog ich die dick geschriebenen Zeilen. Ein mulmiges Gefühl stieg mir im Magen auf, denn die Beschreibung bezüglich der Erfahrungswerte traf nur sehr bedingt auf mich zu. Als hätte Isaac meine Gedanken – oder eher mein Zögern – gewittert, hakte er nach meiner Entscheidung hinsichtlich des Trails nach. Ich blieb unentschlossen. Zu gern wollte ich den Versuch wagen, andererseits würde mein Ego stark unter einer Niederlage leiden, was furchtbar kindisch in meinem vernunftbegabten Bewusstsein widerhallte, denn ich musste Isaac nichts beweisen, aber der Ehrgeiz in mir loderte dennoch hell empor. Die Entscheidung fiel dementsprechend indirekt, getrieben durch meinen Wunsch, mir etwas zu beweisen. Ganz so, als wäre ich noch ein dummer Teenager in einer anstrengenden Rebellion gegen die Verbote im elterlichen Haushalt. „Ich komm mit.“ Meine Stimme kickste mittendrin ein wenig, der Aufregung verschuldet, aber spätestens bei meinem erhöhten Herzschlag wusste Isaac schon bestens, wie der Hase lief… es um mich bestellt war. Wie um meinen Beschluss zu unterstreichen, atmete ich noch einmal tief die trockene Wüstenluft ein und klappte energisch das von Sandkörner gespickte Visier zu. Trotz meinem zittrigen Wagemut, dem Drang zum Vorpreschen überließ ich erneut Isaac den Vortritt und überließ das Austesten der einzelnen Hindernisse auf dem ansteigenden Gelände. Obwohl ich nicht genau seine Spur nehmen konnte, half mir diese kleine Unterstützung im Sand ebenfalls erfolgreich durch den Parkour zu gelangen und mit einer kurzen zeitlichen Verzögerung auf der Anhöhe der Erhebung aufzuschlagen.
Eine andere Antwort war seitens Riccarda eigentlich nicht zu erwarten gewesen. Ich kannte sie inzwischen lange genug, um zu wissen, dass sie nur selten eine Herausforderung scheute und genau das war wohl auch eine der Eigenschaften, die ich an ihr besonders mochte. Sie war eben keine klischeehafte Prinzessin, wenn es um solche Dinge ging - zierte sich nicht aus Angst davor, dass ein Fingernagel abbrechen oder die Klamotten dreckig werden konnten. Scheute auch keinen potenziellen Sturz, obgleich er mit dem Quad sicherlich unwahrscheinlicher war als bei mir mit dem Bike. Es war zwar auch genau diese teils blinde Sturheit ihrerseits, die in Kombination mit meiner eigenen schon oft einen Streit vom Zaun gebrochen hatte, aber das kümmerte mich wenig, solange wir das mit Ausflügen wie dem heutigen wieder gut machten. Also klappte ich mit einem wissenden Grinsen und einem schwachen Nicken den Helm wieder zu, während Riccardas Herz sich mit dem engen Freund Adrenalin auf den nächsten Höhenflug begab. Dann ging es vorfreudig in die nächste Etappe der actionreichen Fahrt - natürlich mit mir voran, mir war das sowieso ganz recht. Erstens, weil ich grundsätzlich immer gerne der Erste in der Reihe war und zweitens, weil ich mit dem Motorrad eben auch etwas flexibler und demnach voraussichtlich schneller war. Bergauf damit stehen zu bleiben, weil der Engel mir mit dem Quad zu langsam oder im Weg war, wäre ziemlich nervig. Also nahm ich die Poolposition gerne in Kauf und machte mich auf den Weg nach oben. Noch verschwitzter als vorher kam ich da dann auch an. Die letzten Meter waren richtig anstrengend geworden, weshalb der Hügel mich mit beschleunigter Atmung auf seinem höchsten Punkt willkommen hieß. Schon durch das verdreckte Visier des Helms war das Meer in der Ferne zu sehen, als ich den kurz geratenen Kamm des Hügels noch ein Stück entlangfuhr. Nun aber in eindeutig gedrosseltem Tempo - ganz in Ruhe, damit sich meine Finger an den Griffen des Lenkers langsam wieder entspannen konnten. Werwolf hin oder her, man krallte sich ja doch instinktiv daran fest. Als ich schließlich zum Stehen kam, schaltete ich den Motor für den Moment ab und blieb locker auf dem Bike sitzen. Natürlich waren die Fahrzeuge anderer Kursbesucher trotzdem im Hintergrund zu hören, aber zumindest der Motor unmittelbar unter mir verstummte. Ich nahm auch den Helm ab, um meinem Kopf etwas Luft zu gönnen. Hier oben war sie etwas besser - auch wenn das eine oder andere Gefährt durch die Abgase seine Spuren in der Luft hinterließ, ging hier oben auf der Anhöhe ein ganz leichter, sehr angenehmer Wind. Er war nicht kalt, aber doch zumindest ein kleines bisschen kühler als die stehende Luft in der Senke. Es fühlte sich zumindest so an. Auch als der Engel erfolgreich kurz darauf zu mir aufgeschlossen und es mir gleich getan hatte, blieb mein Blick mit einem schmalen, unbewussten Lächeln noch auf der glitzernden Wasseroberfläche hängen. Vielleicht hätten wir bis zum Sonnenuntergang warten sollen, denn wenn ich mich nicht irrte, würde die Sonne ziemlich genau in dieser Richtung untergehen. Und ich irrte mich mit solchen Dingen nie, mein Orientierungssinn war hervorragend. Leider war auch hier oben kaum ein schattiges Plätzchen zu finden. Während ich mich gedanklich also fragte, wie wir den Abend später stattdessen verbrachten, kam mir plötzlich die in Vergessenheit geratene Frage des Engels wieder in den Sinn. Deshalb wendete ich den Blick auch vom Meer ab und sah zu ihr rüber, mein Puls hatte sich schon weitgehend beruhigt. "Um auf deine Frage zurück zu kommen... ich würde nicht sagen, dass es genetisch bedingt ist. Es ist nur das, was wir als erstes lernen... ein Rudel um sich zu haben bedeutet Sicherheit, also schützt man es. Ich bin aber das beste Beispiel dafür, dass auch diese Philosophie ihre Grenzen hat und man sich sehr wohl dagegen entscheiden kann.", beantwortete ich ihre Frage nach der Prioritätenliste eines Wolfes. Ein Rudel lebte von seinem Zusammenhalt - war der nicht gegeben, konnte man es sich schließlich sparen. Ausnahmen bestätigten aber die Regel. Ich kannte mich und meinen Egoismus wirklich gut genug, um felsenfest behaupten zu können, dass ich auch als Mitglied eines anderen Rudels nach meinen eigenen Regeln und Grundsätzen leben würde - deswegen kam das ja auch nur sehr bedingt für mich in Frage.
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Der unwegsame Trail über die teils tückisch angelegten Hindernisse den Berg hinauf verdiente jede einzelne Zeile auf dem Warnschild – Chris, der Besitzer und damit auch Kopf hinter dieser Herausforderung des Nervenkitzels, tat gut daran, unerfahrene Fahrer mit gewissen Hinweisen abzuschrecken. Die Erfolgsquote hielt sich in meinem Fall zwar stark in Grenzen, doch bei weniger ehrgeizigen Sturköpfen fand diese Sicherheitsvorkehrung sicherlich mehr Anklang, um potentielle Unfälle zu vermeiden oder allgemein das Verletzungsrisiko der Kundschaft so gering wie möglich zu halten. Ich selbst wäre zweimal fast in die Gelegenheit geraten, von meinem motorisierten Ross auf unfreiwilliger Basis abzusteigen, nachdem mir einmal eine Staubwolke von Isaac die Sicht genommen hatte und ich zu euphorisch gehandelt hatte, die paar Sekunden natürlich nicht abwarten konnte und in eine Senke hineingeschlittert war, die mir den Magen kurzfristig aushob. Beim zweiten Mal nahm ich eine enge Kurve gar sportlich… und bekam die Quittung binnen weniger Millisekunden zurück. Da alles gut ausging, regte sich in mir doch ein zarter Funken Stolz, sobald ich endlich auf diesem vermaledeiten Hügel angekommen war. Ich schnaufte unter dem Helm tief aus der Lunge heraus auf, ehe ich ein bisschen Gas gab und im weitaus gemächlicherem Tempo zu Isaac auf seinem Bike aufschloss. Die Sonne knallte auch hier erbarmungslos vom Himmel herab und heizte den Sand unter uns auf. Erst als ich den Helm abnahm, spürte ich die belebende Brise, wie sie mir spielerisch in die losen Strähnen fuhr und die ohnehin plattgedrückte Frisur wieder aufzulockern versuchte. Mein Aussehen spielte nur in dem Augenblick sehr untergeordnete Rolle, denn die pure Lebensfreude tanzte immer noch durch meine Adern und brachte meine Augen zum Strahlen, während ich den Anblick von unserem Standort aus begutachtete. Das Meer glitzerte verheißungsvoll in der Ferne; zu gern würde ich nun in das kalte Nass springen und mich erfrischen. Stattdessen saß ich aber auf dem Quad und hielt eine Hand schützend über meine Augen, um von der Sonneneinstrahlung nicht geblendet zu werden. Meine Beobachtung schloss kurzerhand auch die restlichen Teilnehmer auf dem Areal ein, die meist lediglich als bewegliche Staubwolken zu identifizieren waren. Das Grinsen blieb haften. Hier erlebte wohl ausnahmslos jeder eine gute Zeit, ließ das innere Kind regieren und tobte sich aus. Vielleicht hatten Isaac und ich genau diese Pause vom Erwachsensein gebraucht, von all den auferlegten Verpflichtungen und Zukunftsplanungen. Ich genoss das schon sehr. Instinktiv drehte ich mich ein bisschen zu besagtem Mann hinüber, als hätte ich im Vorhinein schon spüren können, dass er zum Reden ansetzte – tat ich zwar nicht, aber das Timing passte einfach – und musterte sein leicht gerötetes Gesicht. Angenehm zu sehen, dass diese hohen Temperaturen auch an einem Werwolf nicht unbemerkt vorbeigingen. „Oh stimmt, da war ja was…“, murmelte ich leise dazwischen, nicht mit der Intention, Isaac absichtlich ins Wort zu fallen. Ich erinnerte mich lediglich an das zuvor geführte Gespräch zurück und knüpfte gedanklich daran an, obwohl es mir ein bisschen schwerfiel, den Faden wieder aufzunehmen. „Aber du bist eher die Ausnahme, gehörst dem kleinere prozentuellen Anteil an?“, hakte ich mittels einer fragenden Feststellung sicherheitshalber nach. Ich befasste mich nur sehr oberflächlich mit Werwölfen und bezog meine primären Informationen von Isaac persönlich beziehungsweise meinen Erfahrungen mit ihm; also alles sehr subjektiv und wenig empirisch belegt. „Ist es dann normal oder… ich weiß nicht genau, wie ich dazu sagen soll, dass so ein Ausbrecher aus dem System in ein anderes Rudel eintritt oder bleiben diese Wölfe dann für gewöhnlich Einzelgänger?“ Es existierten sicherlich individuelle Vorgehensweisen, aber ein Schema musste sich doch ganz oberflächlich betrachtet herauskristallisieren. Interessiert bedachte ich Isaac weiter, mittlerweile war meine Hand aus der Position des Sonnenschirms locker hinunter gesunken. Es handelte sich hier um ein sehr tiefverwurzeltes Thema, wenn von Kindesbeinen an eingeimpft wird, wie wichtig und prioritär das Rudel eigentlich war. Da wollte ich ihm nur ungern zu nahe treten oder unbedacht – metaphorisch – auf die Zehen steigen.
Ja, ich hätte es auch fast vergessen. Es hätte sich vorhin im Auto schon angeboten, dieses nicht für fremde Ohren bestimmte Gespräch wieder aufzunehmen, aber da hatte ich noch nicht dran gedacht. Hätte ich jetzt nicht zufällig daran zurückgedacht, weil ich angefangen hatte darüber zu sinnieren, wie unser heutiger Abend aussehen würde, wäre es vielleicht ganz in Vergessenheit geraten. Wäre kein Beinbruch gewesen, aber je mehr Riccarda über mein wölfisches Dasein wusste, desto besser. Früher hatte ich das anders gesehen. Hatte nicht gewollt, dass sie mich mehr einschätzen und durchschauen konnte, als zwingend nötig war. Diese Abwehrhaltung hatte ich irgendwann im Verlauf der Dinge abgelegt und bereute es nicht. Zumindest bis jetzt nicht und ich hoffte auch, dass sich daran nichts ändern würde. Ich hatte jedenfalls kein Problem damit noch tiefer in die Sache einzusteigen, als der Engel weiter nachhakte. Bevor sie jedoch eine Antwort bekam, musste ich selbst erstmal darüber nachdenken. Es passierte wohl nicht allzu oft, dass sich Jemand tatsächlich von seinem Rudel lossagte. Das hatte in meinen Augen nichts mit einer kleinen Anzahl an Rebellen zu tun, die Wenigsten davon jedoch waren direkte Nachkommen eines Alphas, was schlichtweg daran lag, dass die meisten - vernünftigen - Anführer nur einen Nachkommen zeugten. Das beugte einem Zwist hinsichtlich der Übernahme des Rudels vor. Drei Söhne zu haben war ungewöhnlich und ich war mir nicht sicher, ob das mehr am immensen Kinderwunsch meiner Mutter, oder an der Machtgier meines Vaters lag. Vielleicht auch beides. Erstaunlicherweise hatte es ohnehin nie Streit um die Nachfolge als Rudelführer gegeben. Ich hatte mich noch nie um diese Aufgabe gerissen und mein jüngerer Bruder hatte seinen beiden älteren Geschwistern gegenüber gewöhnlich kleine Brötchen gebacken. War auch besser so, wo er mir doch noch weniger gewachsen war als mein älterer. Jetzt wo ich so darüber nachdachte, könnte ich glatt anfangen die beiden zu vermissen. Mir fehlte der brüderliche Wettstreit. "Ich bin denke ich aber nur die Ausnahme, weil es wenige Alphas... also direkte Alpha-Nachkommen gibt, die sich von dem Rudel abkapseln, das sie übernehmen könnten. Theoretisch zumindest, ich war ja sowieso nie als Nachfolger gedacht. Aber ein Durchschnittswerwolf überlegt es sich doppelt und dreifach, ob er wirklich austreten will. Die wenigstens ziehen es letztendlich auch durch und - grob von mir geschätzt - überlebt davon dann vielleicht noch die Hälfte. Die wenigsten Alphas lassen ein Mitglied völlig friedlich gehen... und selbst wenn man diesen Part heil übersteht, ist das erst die halbe Miete. Man muss das Revier verlassen und wenn man alleine bleiben will, darf man auch keinen Fuß in ein anderes setzen. Der Eintritt in ein neues Rudel gestaltet sich auch nicht so einfach... wobei es für einen gewöhnlichen Werwolf wiederum sicherlich einfacher ist, als für einen wie mich." Ich folgte einfach meinen Gedanken mit Worten und sortierte dabei nicht wirklich nach wichtigen und unwichtigen Details, die Riccarda vielleicht gar nicht interessierten. Kein Rudelführer würde mich mit offenen Armen empfangen. Dafür war ich allein meiner Erscheinung nach schon eine viel zu heikle Bedrohung - gemischt mit meinem explosiven Charakter durfte man erst recht nicht darauf hoffen, dass ich brav die Schnauze senkte, mich unterordnete und das würde fast jedem Wolf auf den ersten Blick klar sein. Keine schöne Erkenntnis. "Deswegen bleiben die meisten alleine, obwohl es gefährlicher ist. Es ist schwer sich an neue Strukturen in einem anderen Rudel zu gewöhnen, weil eben doch jedes seine Eigenheiten mit sich bringt... Wenn man als Einzelgänger ein möglichst wolfsfreies Stück Land für sich findet, ist das relativ sicher. Es ist aber auch einsam und die meisten verbittern irgendwann, man sollte also mit Bedacht wählen.", schloss ich ab und zuckte mit den Schultern. Es machte mit Sicherheit auch nochmal einen sehr großen Unterscheid, ob diese Wölfe wirklich allein waren, oder ob sie sich eine Partnerin suchten und eine eigene Familie gründeten. So entstanden schließlich neue Rudel, aber das dauerte ein paar Generationen und man selbst als einstiger Gründer bekam davon gar nicht mehr viel mit. Ich hatte zwei Mal einen einsamen Wolf die Grenze zum Territorium meiner Familie überschreiten sehen, mit einem davon hatte ich mich etwas länger unterhalten. Mehr aus Neugier, als aus ernsthaftem Interesse an seine Herkunft und seinen Plänen. Es hatte nie zur Debatte gestanden, dass er diesen Fehltritt überlebte. Auch jetzt, wo ich alleine war, hatte ich nur wenig mit diesem Wolf gemeinsam und allgemein waren die Umstände meines Austritts ziemlich außergewöhnlich. Es dürfte kaum einen anderen Wolf geben, der anschließend in einem Schloss voller Engel hauste und auch noch einen solchen seine Angetraute nennen konnte.
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Mir ginge die Sprache von einem Instinkt dann doch zu weit, als ich mich absichtlich in Geduld übte und zurücknahm. Mein Bauchgefühl riet mir schlichtweg, Isaac die Zeit zu geben, um seine Gedanken zu sortieren und eine passende Formulierung zu finden. Die Thematik behandelte ein schwieriges Milieu, ging in die persönliche Tiefe und setzte an gewohnten – im Laufe der Erziehung eventuell antrainierte – Weltanschauungen an, die man einem Laien möglichst verständlich darlegen will. Keine leichte Aufgabe. Deshalb hielt ich mich bedacht, drängte nicht und wartete ab. Allein die erste Aussage versetzte mich in stillschweigendes Nachdenken, während mein Blick ohne festem Ziel über den Horizont glitt und sich von in der ferne schreienden Möwen anlocken ließ, nur um im nächsten Moment schon wieder weiterzuziehen. Meine Gedanken hingegen blieben sehr fokussiert, ich wusste im Prinzip, was ich erfragen wollte, überdachte aber noch die Klugheit meiner Neugier oder ob ich den Bogen damit überspannte. Schlussendlich entschied ich mich doch für die Offenheit meinerseits – sollte ich mich zu weit aus dem Fenster lehnen, scheute Isaac bestimmt nicht vor einer Zurechtweisung meines Wissensdurst zurück. „Warum bist du als Nachfolger nie angedacht gewesen?“ Ging es da um die Reihenfolge der Zeugung oder gab es bei Werwölfen mehr als die animalischen Parameter, wie Kraft und Dominanz, um als Rudelführer in Betracht gezogen zu werden. „Wieso lässt man ein Rudelmitglied nicht gehen, wenn man in direkter Konsequenz bei einem Zurückhalten mit anhaltenden Problemen rechnen muss?“ Wahrscheinlich sprach die Naivität aus mir, aber ich verstand die Logik hinter dem Niedermetzeln eines Mitgliedes nicht, das den Wunsch des Verlassens in sich trägt. Schlussendlich gibt es einen Wolf weniger im Rudel… so oder so. Den Teil mit einsam in der Wildnis überleben zeichnete sich da schon wieder sehr viel nachvollziehbarer für mich ab. Ebenso die Wiedereingliederung in ein bestehendes Rudel brächte sicherlich mehr als genug Schwierigkeiten mich sich, immerhin handelte es sich bei jeder Integration in ein neues soziales Gefüge von bereits eng vernetzten Individuen um kein leichtes Unterfangen. „Deine Schwierigkeit läge darin, dich unterordnen zu müssen“, tippte ich geradewegs meinen Überlegungen entsprechen ins Blaue, obwohl ich spontan betrachtet auf keinen sinnvolleren Schluss kam. Wir wussten beide, dass ich richtig lag, also bedarf es im Grunde keiner Bestätigung. „Wie ist das bei uns daheim mit dem Revier. Du bist nicht mehr wirklich im Rudel und hältst dich dennoch direkt vor deren Nase auf. Verstößt das nicht irgendwie gegen die Regel oder haben wir Engel ein eigenes Terrain, das du nun als Wolf indirekt für dich beanspruchen kannst?“ Sollte es Grauzonen in diesem territorialen Verhalten geben, so wusste ich gerne darüber Bescheid. „Wie kommst du mit dieser Einsamkeit zurecht?“, rutschte es mir nach einer kurzen Pause zwischen uns über die Lippen. „Tut mir leid“, ruderte ich ebenso schnell zurück und hob abwehrend beide Hände, „das geht mich eigentlich nichts an.“ Ich konnte es ohnehin niemals vollständig nachvollziehen.
Obwohl ich selbst schon oft genug darüber sinniert hatte, regte mich Riccardas Nachhaken erneut zum Nachdenken an. Es war schon früh ans Tageslicht gekommen, dass ich im Vergleich mit meinen Brüdern wohl der eigensinnigste und am wenigsten kooperative Wolf war, wenn mir Irgendetwas nicht in den Kram passte. Ich war auch schon immer sehr impulsiv gewesen und hatte allgemein nur wenige Führungsqualitäten bewiesen. Rückblickend betrachtet würde ich dennoch behaupten, dass der Einfluss von Gewalt in meine Erziehung immensen Einfluss darauf genommen hatte. Es war nicht abwegig, dass ein anderer Mensch aus mir geworden wäre, wenn ich nicht so viel physischem und emotionalem Schmerz ausgesetzt gewesen wäre. Denn rein körperlich gesehen würde die Wahl des Nachfolgers auf mich fallen - ich war der Stärkste von uns dreien. Mein kleiner Bruder Vernon besaß durchaus den nötigen Ehrgeiz, sich mir in einem Kampf zu stellen, aber er war der kleinste und schwächste von uns. Mein älterer Bruder hingegen besaß gar nicht den nötigen Biss für einen Kampf um die Spitze und regelte Angelegenheiten jedweder Art sehr viel lieber einfach diplomatisch. Eine Eigenschaft, die ihn sicherlich zu einem guten Nachfolger machte, jedoch nicht bei jedem Wolf im Rudel für den nötigen Respekt sorgen würde. Manchmal mussten es eben leider Krallen und Zähne sein, wenn Jemand seine Grenzen etwas zu häufig austestete. Ich hatte eine ganze Minute lang mit leerem Blick auf das Meer gestarrt, während die eine oder andere Kindheitserinnerung Revue passiert hatte. Die Gedanken kappend blinzelte ich einmal und setzte zum Reden an. "Ich hab Zuhause nie sowas wie gute Führungsqualitäten bewiesen..." Ich warf einen etwas nachdenklichen Blick zu der zierlichen Blondine rüber. "Und der Älteste bin ich auch nicht. Ich könnte es wahrscheinlich erfolgreich anfechten, weil ich der Stärkste bin, aber darin sehe ich bis jetzt keinen Sinn.", hängte ich noch ein paar mehr Worte an und zuckte schwach mit den Schultern. Meine Familie bekam schließlich nichts davon mit, dass ich im Begriff war mich stetig weiter zu verändern. Sie hatten jetzt genauso wenig einen Grund dafür mir als Anführer folgen zu wollen wie früher. Ein Rudel voll skeptischer, möglicherweise illoyaler Wölfe konnte man sich sparen. Womit wir dann auch bei Riccardas nächster Frage waren: "Weil man die Probleme in den eigenen Reihen wenigstens kontrollieren kann und ein abtrünniger Wolf grundsätzlich gefährlich werden kann. Du bist entweder Freund oder Feind, da gibt es nicht wirklich Grauzonen. Auch gemeinsames Blut schützt davor nicht." Natürlich bestätigten auch hier Ausnahmefälle wieder die Regel, aber das Wolfsleben war keine Demokratie, in der sich alle irgendwie friedlich miteinander arrangierten. Da zählte bis heute noch friss oder stirb, man ließ einen Wolf mitsamt seines Risikos also nicht ohne guten Grund laufen. Dass ich mich nicht freiwillig unterordnen würde, erkannte der Engel ganz richtig, weshalb ich daraufhin schwach nickte. "Das ist das Hauptproblem, ja.", bestätigte ich überflüssig, bevor ich mich schon der nächsten Frage stellen musste. "Nein, habt ihr nicht. Euer Revier ist unseres und eigentlich ist eure Anwesenheit sogar praktisch für uns. Wie du weißt vertragen sich unsere Arten nur bedingt, also machen die meisten Wölfe freiwillig einen Bogen um eure Seite der Reviergrenze... was mich betrifft ist die Angelegenheit weit komplizierter. Zum einen durch die arrangierte Ehe und die Tatsache, dass unsere Familien beide stark in der Öffentlichkeit stehen, was ja nicht bei jedem Rudel so ist. Die Öffentlichkeit weiß ja, dass ich mich abgekapselt habe, seit meinem Auftritt nach der Beerdigung meiner Mutter... wenn ich jetzt plötzlich von der Bildfläche verschwinden würde, würde das viele unangenehme Fragen aufwerfen. Meine Familie stand in der Vergangenheit - meistens berechtigt - ja ohnehin ständig im Verdacht hier und da irgendwas vertuscht zu haben. Von Mord bis zu zwielichtigen Geschäften war da schon Vieles dabei. Außerdem würde mein Vater nicht nochmal einfach bei euch einmarschieren... das hat ihn letztes Mal schon zu viel gekostet." Allem voran die Liebe seines Lebens, auch wenn von dieser Liebe zum Ende hin vermeintlich nichts mehr übrig gewesen war. "Euch Engel im Rücken zu haben schadet mir also nicht gerade... trotzdem bin ich immer auf der Hut, wenn ich alleine unterwegs bin. Ich will nicht gegen sie kämpfen müssen..." Ich redete schon wieder wahnsinnig viel, aber all diese Dinge waren einfach schwer in nur einem kurzen Satz erklärt. Ich mochte nicht zu allen meinen Verwandten ein gutes Verhältnis haben, aber der einzige, dem ich wirklich schaden wollte, war mein Vater. Die anderen traf wenig bis keine Schuld an dieser ganzheitlichen Misere. Als Riccarda nach meinem eigenen Empfinden hinsichtlich der Einsamkeit fragte, senkte ich den Blick mit einem wehmütigen Seufzen auf den Lenker des Motorrads. "Schon gut.", meinte ich allem voran, war ihr deswegen nicht böse. Es freute mich gewissermaßen, dass sie sich dafür interessierte - die Frage war aber zwangsweise schmerzlich behaftet. "Ich glaube etwas besser als die meisten anderen, weil ich mehr oder weniger schon immer einsam war... ist aber trotzdem ein Scheißgefühl.", hielt ich meine ohnehin nicht notwendige Auskunft sehr knapp und klang dabei etwas kühler als zuvor. Anschließend griff ich nach dem Helm, um ihn mir wieder über den Kopf zu ziehen. Die Konversation war für mich vorerst beendet - genug in der Vergangenheit herumgestochert.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Während ich Isaacs Gesicht aufmerksam beobachtete, überkam mich einmal mehr die Erkenntnis, welch riesige Gedankenwelt hinter dieser locker-lässigen Fassade eines provokanten Draufgängers verborgen lag, anderenfalls würde er mir salopp ein paar knappe Erklärungen hinwerfen und die Dinge wohl darauf beruhen lassen. Doch Isaac ermöglichte mir den Einblick, versuchte die Regelungen und Abläufe auch für mich als Außenstehende verständlich zu schildern. Vielleicht war es dem jungen Mann sogar ein Anliegen, dass ich mehr Bewusstsein für sein Naturell entwickelte. Ein kleiner Teil in mir wünschte sich diese Aufklärung unbedingt, wiederum warnte mich eine andere Stimme vor den Konsequenzen, die eine Einführung in diese grausame Welt der Wölfe für mich im weitesten Sinne bedeuten würde. Ich hörte nicht auf den gegnerischen Part zu der erweckten Neugier in meinem Kopf, sondern spitzte noch einmal die Ohren, als Isaac wieder zum Reden ansetzte. Automatisch rutschte ich in eine bequemere Position auf dem Quad-Sitz, um der voraussichtlich weitreichenderen Ausführung zu folgen. Direkt beim ersten Argument huschte ein sehr trockenes, kurzes Grinsen über meine Lippen hinweg: „Da haben wir anscheinend endlich mal etwas gemeinsam.“ Meine Eltern sahen in mir das ewige Küken der Familie. Die kleine Tochter, das unschuldige Mädchen. Ich durfte ausstaffiert werden, kostspielen Schmuck tragen und als Aushängeschild dienen… und darauf beschränkte sich meine Funktion auch schon, wenn man die praktische Eheschließung mit einem Exemplar der Todesfeinde meiner Art nicht berücksichtigte. Stets wurden meine älteren Brüder als die Kandidaten für das Erbe und die Nachfolge angesehen, weshalb ich meine kindische Trotzphase sehr bewusst ausgedehnt hatte und mich auch derart unpassend verhalten hatte, um jegliche Überlegung an eine Chance gezielt zu sabotieren. Damals verfolgte ich mit Leidenschaft und Rachegelüsten das Ziel, all ihren Unterstellungen und Erwartungshaltungen gerecht zu werden, wobei ich glücklicherweise permanent von einer halbwegs annehmbaren Vernunft begleitet worden war, die mich vor den dümmsten Fehlern behüten konnte. Trotzdem verstand ich Isaacs Punkt, wenngleich aus einem etwas anderen Blickwinkel. Ich hätte nie eine konkrete, animalische Hierarchie anfechten müssen, aber gewisse Bestrebungen und Bemühungen wären auch mir nicht erspart geblieben und so sah ich es ebenfalls wieder sehr ähnlich: ich wollte diesen chaotischen Haufen doch gar nicht unter meine Fuchtel nehmen, wenn jeder von ihnen einen anderen Anführer für den Clan als geeigneter erachtete. Ich stimmte Isaac schweigend mit einem leichten Nicken zu. Die sich zart abzeichnenden Parallelen in unseren doch unterschiedlichen Leben versetzten mich in eine nachdenkliche Stimmung, weshalb der Dunkelhaarige ungehindert mit seinen Erklärungen fortsetzte. Entweder Freund oder Feind. Keine Grauzonen dazwischen. „Etwas primitiv, oder nicht?“, murmelte ich sehr leise vor mich hin, sodass sich meine Stimme beinahe vollständig in der bestehenden Brise auf der Anhöhe verlor. Ich übte keine aktive Kritik an diesem kleinkarierten Denken, immerhin handelte es sich um eine generationsübergreifende Einstellung, die man nicht einfach so neu überschreiben konnte, nur weil es mit den moderneren Zeiten weniger konform ging. Auch die Engel verhielten sich in so vielerlei Hinsicht konservativ bis hin zu verklemmt, aber es galt dennoch eine sehr dehnbare Meinungsfreiheit, die mit weniger radikalen Sanktionen beziehungsweisen Strafen ausgelebt werden durfte. Isaac und ich wandelten in so unheimlich konträren Welten. Ein kurzer Schauer der Erleichterung, dass er die Chance zum Ausbruch erhalten und genutzt hatte, rieselte über meinen Rücken, obwohl dies im weiteren Sinne auf Kosten meiner eigenen Freiheit geschehen war. Eine ohnehin sehr beschränkte Freiheit, aber dabei handelte es sich um ein anderes Kapitel, das ich nun nicht auch noch aufschlagen musste. Viel mehr interessierte mich der angeblich praktische Teil der Anwesenheit meiner großen Familie im Revier eines verrufenen Rudels von Gestaltwandlern. Unbemerkt hob sich eine Augenbraue fragend, ehe sich mein Gesichtsausdruck wieder zu einer neutralen Miene glättete. Ich lauschte seiner Richtigstellung meiner Vorstellung, bewahrte aber Stillschweigen. Gerade in dem Moment wusste ich nichts dazu zu sagen und behielt deshalb vorzugsweise meine Gedanken für mich. Eventuell teilte ich sie noch irgendwann mit meinem Gefährten, aber noch schien mir nicht der richtige Zeitpunkt dafür zu sein. Die brodelnde Gerüchteküche um sämtliche Skandale erlag nie dem Stillstand und allein in diesem langen Satz lag mindestens eine große emotionale Wunde Isaacs offen; der Tod seiner Mutter. Schlussendlich fügte er aber doch noch, nach seinem offensichtlichen Vorteil einer Scharr Engel im Rücken, eine Kleinigkeit an, die mich unruhig werden ließ: irgendjemand trachtete aufgrund der vergangenen Ereignisse meinem – aufgezwungenen – Partner nach dem Leben. Mir gefiel die Aussicht überhaupt nicht und die Erkenntnis legte sich wie ein dunkler, schwerer Schleier über mich. Mehr oder weniger immer einsam. Der nächste Stich in meiner Brust. Instinktiv überwand ich den geringen Abstand zwischen uns und legte meine kleine Hand auf seinen braungebrannten Handrücken, übte sanften Druck auf. Einsamkeit war ein wirklich mieses Gefühl, das ich für Isaac nicht ausradieren könnte und doch wünschte ich mir, dass er wusste, dass er zumindest nicht allein war. Ich zog mich sehr schnell wieder zurück, denn man musste ja nichts übertreiben und akzeptierte das Ende der Unterhaltung. Schon beim Aussprechen meiner Frage hatte ich gewusst, dass dies die letzte Frage zu diesem verstrickten Thema wäre. Und mir sollte es recht sein. Diese häppchenweise Heranführung tat meiner Psyche sicherlich besser als ein direkter Stoß ins kalte Wasser mit all seiner kaltherzigen Realität. Trotzdem sehnte ich mich nun nach einer Ablenkung, um die Schwere von meinen Schultern zu schütteln und wieder auf erfreulichere Gedanken zu kommen. „Ich schätze, dass sich noch ein oder zwei Trails ausgehen“, bemerkte ich nach einem raschen Blick auf meine Smartphoneuhr, bevor das Ding wieder im Rucksack verschwand und ich ebenfalls den Helm über meinen Kopf zog. Mit einer abgehackten Kopfbewegungen forderte ich Isaac dazu auf, den Vortritt zu übernehmen. Ich würde mich sicherlich nicht im halsbrecherischen Tempo die Anhöhe hinabstürzen, nur weil ich ansonsten einen übermotivierten Kerl im Nacken kleben hätte. Aufgrund der Einbahnregelung mussten wir sowieso den sanfteren Weg hinab in die Wüstendünen nehmen, worüber ich mich gewiss nicht beschwerte. Wir jagten noch über zwei weitere Parkour, danach wurde es wirklich Zeit, die motorisierten Transportmittel wieder abzugeben. Chris schien anderweitig beschäftigt zu sein, weshalb ich mich an meinen Erinnerungen an vorrangegangene Besuche hielt und mein Quad an dem gewohnten Platz abstellte.
Hatten wir das? Ich musste erst einen Moment lang darüber nachdenken, um zu merken, dass wir uns in dieser Hinsicht nicht unähnlich waren. Es äußerte sich nur auf verschiedene Weisen, was kaum verwunderlich war. Wir unterschieden uns ja nicht nur geschlechtlich, sondern auch genetisch ein ganzes Stück voneinander. Als Mann war mir sowieso schon etwas mehr Hang zur Gewalt in die Wiege gelegt worden - wenn da auch noch ein verspielter junger Wolf mit drinsteckte, konnte es im Grunde nur bissig enden. Bei Riccarda war hingegen eher die typisch weibliche Zickigkeit mit einer Prise überheblichen Engels eingeflossen. Für Eltern konnte beides ähnlich anstrengend sein, auch wenn der Engel im Gegensatz zu mir nicht gedroht hatte ihren älteren Geschwistern den buschigen Schwanz abzubeißen. Durchgezogen hatte ich das zwar nicht, aber mein älterer Bruder hatte da bis heute eine kahle Bissspur. Sah ziemlich blöd aus und amüsierte mich bis heute jedes Mal, wenn ich es zu Gesicht bekam. Primitiv war sicher eine treffende Beschreibung für dieses Schwarz-Weiß-Denken. Wahrscheinlich konnte man das als Engel, der von Gewalt ganz und gar nichts hielt, aber auch nicht wirklich verstehen. Ihr wurde halt maximal auf die Finger geklopft, wenn sie Jemanden - nicht böswillig - mit einer herbeigezogenen Lüge hinterging, sofern sie denn aufflog. Da wurde bei uns auf ganz andere Art durchgegriffen. Wer aus der Reihe tanzte, der musste im Regelfall mit schmerzhaften Konsequenzen rechnen. Da bildeten nur die menschlichen Frauen eine Ausnahme, die normalerweise ohnehin nicht blöd genug waren, sich etwas zu Schulden kommen zu lassen. Wer hart erzogen wurde, der wusste auch als Erwachsener, wo die Grenzen lagen. Außer natürlich, wenn man - so wie meine Wenigkeit - auf 99% aller Regeln einen gepflegten Scheißdreck gab. Die zierliche Blondine setzte mit der Berührung meiner Hand einen kurzzeitigen Cut in die düsteren Gedanken und Erinnerungen. Ich sah automatisch für die zwei, drei Sekunden auf unsere Hände runter. Zum Ende hin zuckte mein linker Mundwinkel sogar kurz nach oben, aber ich war froh darüber, dass Riccarda die Güte besaß jetzt nicht noch weiter nachzubohren. Als die Helme wieder auf den Köpfen saßen, konnte die Rückfahrt glücklicherweise für effektive Ablenkung sorgen. Der Tag neigte sich also mit zwei weiteren holprigen Kursen dem Ende, bevor die beiden Metall-Esel zurück in den imaginären Stall durften. Chris liefen wir nicht mehr über den Weg, was mir ganz recht war, weil mir nicht nach weiterer Konversation unter alten Freunden war. Einer der Angestellten musste uns aber gesehen haben und nahm uns bald zuvorkommend die beiden Helme ab. Fragte noch, ob alles zu unserer Zufriedenheit gewesen war und verabschiedete uns kurz darauf mit dem Wunsch eines schönen Abends. Der anstehende Rollenwechsel hinsichtlich des Heimwegs gestaltete sich kommentarlos, weil wir das vorhin schon geklärt hatten - Riccarda warf mir fast beiläufig den Schlüssel zu, nachdem sie mittels Taste den Wagen geöffnet hatte. Hinterm Steuer angekommen nahm ich dann aber doch erst die paar letzten Schlucke Wasser aus der Flasche, bevor ich den Motor anwarf und mich von dem Engel zurück zum Haus ihrer Verwandten lotsen ließ. Wir waren beide etwas erledigt vom Tagesprogramm, weshalb wir abgesehen von der Wegbeschreibung nicht miteinander redeten, was leider erneutes in Gedanken versinken meinerseits begünstigte. Wir hatten uns heute wohl einfach über zu viel verhältnismäßig schwere Kost unterhalten, weshalb ich immer wieder versuchte meine Gedanken umzulenken. Lag wohl auch am Vollmond, dass ich tendenziell unruhig war... Wir waren bald in unserer Bleibe für den Urlaub angekommen und gingen nach oben, weil wir beide eine Dusche eindeutig schrecklich nötig hatten. Ich ließ Riccarda den Vortritt ins Badezimmer, weil wir ohnehin nicht allzu viel Zeit hatten. Wir waren den ganzen Tag unterwegs und in etwa einer halben Stunde gab es Abendessen, das wir der Etikette wegen natürlich bestenfalls mitnehmen sollten, wenn schon für uns gedeckt wurde. Außerdem meldete sich mein Magen schon längst wieder. Allerdings war ich auch da eher schweigsam. War nicht so als würde ich dasitzen wie ein vor sich hin schmollendes Kind, aber ich gab eine für mich untypisch ruhige Gestalt ab, in der es lediglich innerlich weiter brodelte. Ich machte den Mund nur wegen einer Sache auf, die mir spontan wegen der anstehenden Vollmondnacht wieder in den Sinn kam. Meine angetraute bessere Hälfte hatte auf unserer Fahrt zur Wanderung ein Fest angesprochen, von dem wir bis jetzt noch nicht wussten, ob es sich mit dem Vollmond in drei Tagen kreuzte, oder ob wir gefahrlos daran teilnehmen konnten. Da auch sonst eher gefräßiges Schweigen am Tisch herrschte, unterbrach ich die Stille mit eingangs leicht gesenkter Stimme, um Niemanden unangenehm aufzuschrecken. "Riccarda hat auf dem Weg zum Ausflug ein großes Fest erwähnt, das hier bald stattfinden soll... wann ist das genau?", bot ich mir selbst gedankliche Abwechslung. Nachdem ihre Tante und ihr Onkel hier schon eine ganze Weile lebten, waren die beiden dahingehend sicher auf dem neuesten Stand.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
All die neugewonnenen Informationen flatterten wie aufgewühltes Laub im Wind durch meinen Geist und rotierten in einem verspielten Wirbelwind. Wieder und wieder erschien die Abfolge der diversen Einblicke in Isaacs Psyche vor meinem geistigen Auge, lenkte mich ab und drosselte damit hier und da merkbar das Tempo des Quads, auf dem ich die hügelige Sandlandschaft bekämpfte. Erst die zweite Passage des Trails schüttelte mich soweit durch, dass die mentalen Ablenkungen zerstoben und vorerst Ruhe in meinem Kopf herrschte. Ich baute absichtlich eine mentale Mauer um mein Bewusstsein auf, indem ich mich rein auf die Lenkung und meine Balance konzentrierte, während ich der gewaltigen Staubwolke nachhetzte, die der einzige Hinweis über Isaacs Präsenz blieb. Ich vergönnte ihm den Spaß, wie er da die feinen Sandkörnchen aufwirbelte und großzügig durch die Luft spritzte. Trotzdem zehrte der gesamte Tag – mit all seinen unerwarteten Gesprächen, körperlichen Aktivitäten und neuen Erfahrungen – an meiner Substanz. Ich fühlte mich furchtbar ausgelaugt, als ich von dem Quad runterkletterte und die Meter zu unserem Wagen auf meinen eigenen Beinen zurücklegen musste. Den Helm drückte ich einem freundlich wirkenden, braungebrannten Mitarbeiter in die Hand, der uns abschließend einen schönen Abend wünschte. Ich erwiderte den Gruß, zollte dem Einheimischen ansonsten aber keine weitere Aufmerksamkeit, wobei ein beinahe automatisiertes Lächeln auf meinen Zügen klebte. Ich war wirklich müde. Froh darüber, dass Isaac die Heimfahrt übernahm, passte ich eine Gelegenheit ab, um ihm den klirrenden Schlüsselbund zuzuwerfen, nachdem ich den Jeep aufgesperrt hatte. Unsere Wege trennten sich um das Auto herum. Seufzend plumpste ich – wenig von der Grazie eines Engels besitzend – auf den Beifahrersitz und wandte mich lediglich an den Fahrer hinterm Lenkrad, wenn wir uns einer Kreuzung näherten, weitere Instruktionen für das Erreichen des Herrenhauses erforderlich wurden. Erneut kamen wir an einigen bunten Plakaten mit großen, geschwungenen Buchstaben vorbei, die das kommende Volksfest anpriesen und mit unterschiedlichen Attraktionen lockten. Obwohl ich mich eigentlich keinen Zentimeter mehr rühren wollte, flammte ein Funken Motivation in meinem Inneren auf. Nur nicht mehr heute… heute sehnte ich mich lediglich nach einer reinigenden Dusche und einer ordentlichen Mahlzeit, um dem Tag ein angenehmes Ende zu verleihen. Isaac erwies sich als geduldig genug, um mir den Vortritt im Badezimmer zu gewähren, weshalb ich mich um Eile bemühte, aber die feinen Dreckpartikel hatten sich gefühlt in jede Pore gefressen und meine Haare fühlten sich ebenfalls ekelhaft an. Aus der schnellen Katzenwäsche unter dem Wasserstrahl wurde leider nichts. Dafür aber erschien ich als gutgelaunte, nach Blumen duftende und in ein flauschiges Handtuch eingewickelte Version meiner Selbst aus dem angrenzenden Zimmer. Als mich der dunkle Blick meines Gefährten traf, drückte ich mich mit einem entschuldigenden Grinsen an ihm vorbei und gab den Weg ins Bad frei. Und als ob Isaac mir beweisen müsste, wie man schnell duschte, hatte ich kaum ausreichend Zeit, um mich in Unterwäsche und ein luftiges Sommerkleid zu werfen, ehe er schon wieder auf der Matte stand und aufbruchbereit den Ausgang zu unserem Quartier anpeilte. Ich schloss schnell zu ihm auf, nachdem ich meine ausladenden Locken bestmöglich getrocknet hatte und tappte neben ihn hinunter auf die beschattete Veranda, wo der gewaltige Tisch unter den unzähligen Speisen unterzugehen drohte. Meine Verwandtschaft belegte bereits die eine Hälfe der gemütlichen Korbsessel und blickte uns erwartungsvoll entgegen. Es folgte eine Schilderung unserer heutigen Erlebnisse, obwohl ich wohlwissend um die pikanteren Unterhaltungen herumschiffte und die Lücken mit meiner Meinung ausfüllte. Hin und wieder sah ich kurz zu Isaac hinüber, der sich erstaunlich ruhig im Hintergrund hielt. Wahrscheinlich war dem Dunkelhaarigen nicht nach den neugierigen Fragen meines Onkels oder dem erfreuten Schildern eigener Erfahrungen meiner Tante. Ich nahm ihm diese verbale Isolation nicht übel, da die Konversation ohnehin immer wieder erstarb und dem leisen Klappern von Besteck wich. Isaacs Frage sprengte die angenehme Atmosphäre kaum merklich, zumindest mein Onkel bekam nichts von der unterschwelligen Anspannung, die hinter der Bitte um weitere Informationen lauerte, mit und überlegte deshalb fröhlich: „Das müsste dieses Wochenende sein, nicht war Liebes?“ Dabei sah er sich nach Bestätigung suchend zu meiner Blutsverwandten um, die kurz den Kopf von einer Seite auf die andere wog, dabei einen kleinen Kreis mit der Gabel über ihrem Teller in der Luft zeichnete. „Stimmt. Das Blumenfest ist mit vielen Traditionen verbunden und beginnt in zwei Tagen. Der Vollmond ist der Höhepunkt des Festes. Danach kann man meistens noch ein oder zwei Tage mit kleineren Partys verstreut über die Insel rechnen, aber das Highlight ist die Nacht vor und während dem Vollmond.“ Bei der Schilderung leuchteten die Augen meiner Tante ganz verzückt, auch Harry genoss seine Erinnerungen an potentielle Ausschweifungen dieser Festtage, sodass meine kurzfristig entrückte Miene unbemerkt blieb. Unweigerlich heftete sich mein Blick auf den Teller vor mir: natürlich musste sich das groß angekündigte Spektakel um den Vollmond drehen.
Ich schenkte mein Gehör aufmerksam dem Ehepaar, das nicht lange auf eine Antwort warten ließ. Mein Blick schwenkte unweigerlich zwischen den beiden hin und her, weil Harry das Beantworten der Frage bald an Riccardas Tante abgab. Vielleicht war er sich selbst nicht ganz sicher ob er richtig lag, weil er dank seiner Firma noch einen ganzen Haufen anderer Daten im Kopf behalten musste. Vielleicht war Harald auch einfach nur vergesslicher als seine bessere Hälfte, was das genaue Datum betraf, weil er eigentlich nicht unbegeistert von dem anstehenden Fest wirkte. Seine Körpersprache jedenfalls verriet, dass er gewöhnlich gerne bei Vollmond mit einer Hibikus-Blume hinterm Ohr und ordentlich Alkohol im Bauch umher tanzte... was man von mir leider nicht behaupten konnte. Während Riccardas Tante damit beschäftigt war ihren Gatten an dasselbe Fest vor zwei Jahren zu erinnern, weil da augenscheinlich etwas besonders Lustiges passiert war, schwenkte mein Blick zu meiner eigenen Angetrauten. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass es mir jemals leid tun würde, dass ich bei Vollmond vermehrt zum blutrünstigen Wolf wurde und doch passierte es in dem Augenblick, als ich Riccardas enttäuschte Mine sah. Natürlich könnte sie theoretisch dennoch hingehen, aber alleine - oder mit ihren Verwandten - zu feiern schien mir nicht wirklich vielversprechend. Ich hätte das Fest eigentlich gerne auf unsere imaginäre Liste mit schönen gemeinsamen Erfahrungen gesetzt, doch es wäre mehr als fahrlässig mich bei Vollmond durch Menschenmassen zu zerren, wo an jeder Ecke ein leckerer Snack auf mich wartete. Die Gerüche würden mich unter Einfluss des Mondes förmlich erschlagen und ich würde nicht dagegen ankommen. Es würde auch nicht das Gleiche sein, wenn wir nur die kleinen Festlichkeiten im Anschluss mitnahmen. Vielleicht besser als gar nichts, aber es wäre ein schwacher Trost. Harry beendete gerade sein Gelächter hinsichtlich der ausführlichen Festgeschichte. "Lasst euch das lieber nicht entgehen, wie ihr hört passieren auf diesem Fest die besten Geschichten für künftige Enkelkinder.", witzelte er weiter. Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht wusste, ob Engel und Wölfe ihre Genetik überhaupt kreuzen konnten, wollte ich bis dato keine Kinder und wurde mir ein weiteres Mal darüber bewusst, wie wenig ich darüber wusste, was Riccarda sich überhaupt für ihr Zukunft wünschte. Vielleicht konnte oder wollte ich ihr manches davon gar nicht erfüllen. "Kreuzt sich leider mit anderen Plänen, mal sehen.", begrub ich das Thema eher kühl klingend. Ich schlug diesen Tonfall allerdings nicht an, weil mich dieser ungünstige Zufall kalt ließ, sondern weil es deutlich machte, dass ich nicht weiter darüber reden wollte. Harry und Evangelina waren wegen des abrupten Schlussstrichs leicht verwirrt, aber das würden sie mit mir am Tisch potenziell noch häufiger erleben müssen. Es nahm uns nach dem langen Tag keiner übel, dass wir uns relativ zeitnah vom Esstisch verdünnisierten und nicht ewig lang in die Nacht hineinplaudern wollten. Weil ich die langsam kühler werdende Abendluft aber noch nicht missen wollte, führten meine Füße mich oben im Zimmer trotzdem zum Fenster. Ich machte es noch für ein paar Minuten auf, ohne mich davon zu distanzieren. Seitlich mit der Hüfte ans Fensterbrett gelehnt sah ich erst noch einen Moment nach draußen, bevor mein Blick mit einem leisen Seufzen zurück zu dem blonden Engel fand. "Ich wär gern mit dir da hingegangen... ist wirklich blödes Timing." Zum Ende hin murmelte ich etwas und drehte den Kopf wieder zum Fenster, als würde mir der Blick auf den Strand irgendwie dabei helfen, eine gute Lösung für mein Wolfsproblem zu finden. Es ließ sich eben leider nichts dran rütteln, dass der Vollmond den Werwolf in mir exzessiv reizte. "Und ich würde dir gerne eine gute Alternative vorschlagen, aber..." Mit den Schultern zuckend ließ ich den Satz offen auslaufen, weil er mehrere Enden haben konnte. ...aber ich will dir nicht versehentlich die Hand abbeißen. Ich glaubte zwar nicht, dass ich Riccarda noch was antun konnte, war allerdings auch nicht scharf darauf etwas Gegenteiliges herauszufinden. ...aber ich weiß nicht, inwiefern ich an Vollmond überhaupt zu irgendwas zu gebrauchen bin. Ich war um diese Zeit nun mal sehr aufgekratzt und es würde schwierig sein meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes als eine ausgiebige, blutige Jagd zu polen. ...aber ich kann mich sowieso nicht in der Nähe anderer Menschen aufhalten. Es fiel also grundsätzlich alles flach, was irgendwo in oder nahe um die Stadt und umliegende Dörfer herum stattfand. Was blieb da denn noch als Freizeitbeschäftigung mitten in der Nacht übrig?
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈