Selbstlos zählte nun mal nicht zu den Eigenschaften meines ganz persönlichen Werwolfes. Wahrscheinlich stand es seinem unverbesserlichen Selbstbild einfach nicht, wobei ich mich nicht beklagen durfte, immerhin zog Isaac in meiner Anwesenheit – beziehungsweise im Bezug auf meine Wenigkeit – manchmal auch ganz andere Seiten auf und verhielt sich geradewegs vorbildlich. Dabei dachte ich konkret an seine Bemühungen, um mich bei Laune zu halten und ihm nicht weiterhin die kalte Schulter zu zeigen; unsere wankelmütige Beziehung demnach vollkommen zum Scheitern zu verurteilen. Das momentan beinahe freundschaftliche Verhältnis zwischen uns war rein seinem Eifer und Engagement zu verdanken, was ich nüchtern niemals über die Lippen bekäme, aber nun im Zuge meines Rausches durchaus als berechtigte Argumentation für meine jetzige Kooperation wertete. Dennoch musste er mich nicht so blöde angrinsen, wofür ich ihm einen finstern Blick zuwarf, doch die Neugier siegte schlussendlich ja doch und ich hakte statt eines bissigen Kommentar nach: „Dann lass mal hören.“ Womöglich bereute ich meine Ermutigung bereits in der nächsten Sekunde, gleichzeitig wusste ich aber nur zu gut, dass mir die Unwissenheit weitaus mehr zusetzen würde. Was ich von der angeblichen Flexibilität Isaacs hielt, verriet sicherlich mein amüsierter Gesichtsausdruck. Abwartend blickte ich dem jungen Mann entgegen. Gedanklich versuchte ich mir eine Vorstellung davon zu machen, was mich nun erwarten könnte, doch die Fantasie dieses Kerls war bunt und breitgefächert. Ich unterstellte ihm eine Vielzahl von Gefälligkeiten, die er sich von mir wünschen könnte und doch schaffte es mein Hirn nicht, eine konkrete Option auszuformulieren. Isaac besaß die Güte, mich nicht ewig zappeln zu lassen, sondern schloss schon bald mit meinen drei Möglichkeiten an. Schon bei der ersten Aufzählung beschleunigte sich mein Herzschlag merklich, weil ich nach den ersten wenigen Worten nicht genau einschätzen konnte, worauf er abzielte und ich deshalb direkt vom Schlimmsten ausging. Dass er mit seinen verdammten Werwolf-Sinnen jede meiner körperlichen Reaktionen detektieren konnte, fiel mir natürlich erst wieder ein paar Sekündchen zu spät ein – als ob sich irgendetwas an der Aufregung ändern ließe, die sofort einsetzte, noch bevor der werte Herr zu einer näheren Erläuterung ausholen konnte. Der Muskel hinter meinen Rippen beruhigte sich immerhin verhältnismäßig schnell wieder und ich nickte bedächtig, um ihn fortfahren zu lassen. Option 1: Körperkontakt im Bett. Bei der zweiten Gefälligkeit schoben sich meine Mundwinkel wie von selbst zu einem amüsierten Grinsen nach oben. „Sag bloß, dass du unter Verspannungen leidest?“, zog ich Isaac minimal auf, hielt anschließend aber schon wieder brav die Klappe und schaltete auf zuhören um. Option 2 – die Massage – klang ja geradezu harmlos im Vergleich zu Option 3. Auf den ersten Blick gefiel mir die Aussicht auf fünf zu beantwortende Fragen, jedoch dachte ich einen Moment länger darüber nach und besann mich eines Besseren. Irgendetwas an Isaacs ruhigem Blick machte mich im Hinblick auf das Kreuzverhör nervös. Zudem die zusätzliche Bedingungen, was darauf schließen ließ, dass er mit Unehrlichkeit meinerseits rechnete, was wiederum für mich signalisierte, dass mir die Fragen äußerst unangenehm werden könnten. Nun hieß es abwägen. Ich nahm mir die Zeit, um die Alternativen gegeneinander aufzuwägen und seufzte schlussendlich. „Dann gehen wir heute wohl ein weiteres Mal auf Tuchfühlung“, entschied ich mich mit einem resignierten, schiefen Lächeln auf den Lippen. Die Massage wäre ebenfalls noch im Bereich des Denkbaren gelegen, doch die fünf Fragen… zugegebenermaßen fürchtete ich mich ein wenig davor und umschiffte dieses Risiko lieber. Dazu fühlte ich mich definitiv noch nicht bereit, denn es gab Dinge, die ich vielleicht nicht auszusprechen bereit war und der Deal band mich dann aber an eine wahrheitsgemäße Aussage. Allein bei dem Gedanken daran, spürte ich den eisigen Griff der beklemmenden Kontrolle. Da traf es sich gut, dass ich mich mit dem Beseitigen unserer Spuren ablenken konnte und doch verfolgte mich das bissige Gefühl der entblößenden Enthüllung während unseres schweigsamen Weges bis vor die Zimmertür. Erst knapp nach dem Treppenabsatz fand Isaac eine passende Antwort, die er mir mitteilen wollte und ich reagierte mit einem schnellen Blick in sein Gesicht. „Ich schaue solche Filme normalerweise auch nicht, aber die Neugier ist manchmal einfach stärker als die Vernunft“, argumentierte – viel mehr erklärte – ich mein Verständnis dafür, was der Gestaltwandler mir mitzuteilen versuchte. Man durfte also tatsächlich nicht aus den Augen verlieren, dass ich es nun mit einer blutrünstigen Gefahrenquelle zu tun hatte. Gänzlich zufrieden gab ich mich mit dieser Aussage jedoch noch nicht, sondern wartete auf eine Fortführung, die ich aber erst erhielt, als die Zimmertür wieder im Schloss einklickte und wir zu zweit in dem Raum standen. Da ich als Erste in das Zimmer gegangen war, stand ich mit dem Rücken zu Isaac, was sich aber rasch änderte, als er mir derart neutral und nüchtern eine Zusage gab, dass mir kurzfristig die Worte fehlten. Ich brauchte merkbar Zeit, um mir diese unverfälschte Ehrlichkeit durch den Kopf gehen zu lassen. Kam ich damit klar? Wobei eine viel entscheidendere Frage darin bestand: „Und wie vereinbarst du das mit deinem Gewissen?“ Grundsätzlich hatte Isaac mir seine Anschauung bereits mitgeteilt, doch ich wäre ebenfalls stärker, würde ich Fleisch zu mir nehmen… tat es aber nicht. Ob mich eine werwölfische Bedrohung, die es gezielt auf mich abgesehen hatte, anders denken ließe, konnte ich schwer beurteilen. „Man kann gegen seine Natur wohl nichts tun“, kam ich Isaac ein wenig entgegen, der sich deutlich gegen mich abzuschotten schien, wie er da so gegen die Zimmertür gelehnt stand. Eigentlich einschüchternd, immerhin schnitt er mir dabei jeglichen Fluchtweg ab, doch ich vertraute auf seine Fassung. „Ich weiß deine Änderungsbemühungen wirklich zu schätzen, danke. Und falls es irgendeinen Wert für dich hat: ich verurteile dich längst nicht mehr für deinen Ernährungsstil, wie ich es in der Vergangenheit gemacht habe.“ Er brauchte es zum Leben und ich war an ihn für ein Leben lang gebunden. Da arrangierte man sich.
Ich war tatsächlich relativ verspannt und das nicht erst seit gestern. Allerdings war ich mir nicht sicher damit, was genau dessen Ursprung war. Entweder es war einfach das regelmäßige Trainieren und meine Muskeln waren etwas überstrapaziert, oder aber es lag tatsächlich vermehrt an meiner psychischen Anspannung. Die letzten Wochen und Monate waren einfach extrem schlauchend gewesen. Nur weil ich hier den Kopf jetzt endlich langsam wieder frei bekam hieß das nicht, dass automatisch jegliche Verspannung aus meinem Körper wich. Die Anwesenheit von Riccardas Ex-Freund im Schloss hatte mich einfach absolut kirre gemacht und dass mir das jetzt womöglich nach wie vor in den Knochen hing, dürfte Niemanden wundern. "Ja, bin ich. Schließlich bekomm' ich schon verdammt lange keine kostenlosen Massagen mehr und mein Geld ist mir dafür irgendwie zu schade.", ließ ich den Engel sarkastisch wissen. Natürlich könnte ich mir einmal die Woche eine Masseuse bestellen, aber ich gab mein Geld inzwischen deutlich sorgsamer aus mit dem Wissen nicht mehr endlos viel Erbe in petto zu haben. Es ging mir bei meinem jetzigen Vorschlag ohnehin eher weniger darum meine Muskeln zu lockern, als viel mehr darum mir meine Ehefrau weiter nahe zu bringen. Ein normales Paar würden wir sicher niemals werden und das mussten wir auch nicht, aber ich wollte einfach, dass sie irgendwann keine Angst mehr vor mir hatte. Auf jeglichen Beziehungsebenen, war vollkommenes Vertrauen anders doch gar nicht zu erreichen. Die Wahl der hübschen Blondine schien schließlich gefallen zu sein, auch wenn sie erst ein wenig darüber hatte nachdenken müssen. Ich wäre mit jeder Option zufrieden gewesen, aber mir schien als wäre das vielleicht trotzdem die langfristig wirksamste. Es blieb dabei nur zu hoffen, dass sie die Nacht über nicht heimlich wieder wegrückte, würde ich davon doch vermutlich eher nicht wach werden, um sie zurückzuholen. "Ganz wie du wünschst.", säuselte ich angetan. Auch wieder eine gewissermaßen ironische Aussage, wo sie von sich aus eher niemals auf die Idee gekommen wäre sich so zu entscheiden und ich das nur wieder so eingefädelt hatte, damit sie sich morgen nicht die Schuld für den Personalschrecken anrechnen musste, aber für mich kam es im Grunde ja auf das Selbe hinaus. Trotz ihrer gefallenen Entscheidung löste ich mich nur langsam wieder von der Tür, kurz nachdem Riccarda mich dann nach kurzzeitig eingekehrter Stille gefragt hatte, wie es bei dieser Wolfsgeschichte eigentlich mit meinem Gewissen aussah. Zugegeben wunderte es mich wirklich, dass sie überhaupt darüber nachdachte, dass ich sowas haben konnte. Schließlich hatte ich schon viele Dinge getan, die absolute Ignoranz und Egoismus erforderten. Andererseits zeigte ich dem zierlichen Engel gegenüber inzwischen immer häufiger, dass ich sehr wohl eine Portion Einfühlsamkeit aufbringen konnte, wenn ich das wirklich wollte. Die Jagd und das damit verbundene Überleben war für mich jedoch ein ganz anderes Paar Schuhe. Da ging es nur um mich und den allseits präsenten Hintergedanken, dass ich früher oder später sinnbildlich das Schwert gegen meinen Vater erheben würde. "Ich bin damit aufgewachsen und hab den Jagdtrieb sowieso genetisch in mir. Das war noch nie eine Gewissenfrage und wird's wohl auch nie sein.", erläuterte ich der zierlichen Blinde mit einem schwachen Schulterzucken. Zwar hatte ich auch so einige Leute auf dem Gewissen, die ich eher nicht aus genetischer Veranlagung, sondern aus purem Eigennutz umgebracht hatte, aber das war nun wirklich kein Thema, das ich hier und jetzt genauer eruieren wollte. Ich wusste auch ohne die Erörterung meiner sicher nicht gesunden Psyche, dass ich mich in den Jahren vor der Zwangsehe zeitweise wie ein Monster benommen hatte. Jedenfalls hatte ich wohl Glück damit den wahrscheinlich tolerantesten und am wenigsten traditionellsten Engel von allen erwischt zu haben. Zumindest kam es mir so vor, als Riccarda mir eröffnete, dass sie sich zumindest mit meiner Ernährung zu arrangieren wusste. "Schonmal eine Sache weniger, über die ich mir Gedanken machen muss.", sprach ich ihr sehr indirekt ebenfalls meinen Dank aus und warf ihr mit schiefgelegtem Kopf ein kurzes Lächeln zu. Es war zwar jetzt nicht so als würde ich mir tagtäglich den Schädel darüber zerbrechen, was die junge Frau von meinem Lebensstil hielt, aber es war eben eines der Dinge, das uns beide sehr stark voneinander unterschied. Wenn es also kein Problem mehr für sie war, war das als etwas Positives zu deklarieren. Ich ging automatisch ganz der Gewohnheit nach an der hübschen jungen Frau vorbei zu meiner Betthälfte rüber, die hier im Gästebett die gleiche wie Zuhause war. Es hatte sich damals am Anfang so eingependelt und sich seitdem nicht mehr geändert. Außerdem wollte ich noch einen Schluck aus der vorhin schon bereit gestellten Wasserflasche nehmen, weil ich keine Lust hatte mir jetzt dank dem spontanen Snack noch ein weiteres Mal die Zähne zu putzen. Danach schob ich mich das wiederum zweite Mal in der heutigen Nacht nur mit den grauen Stoffshorts bekleidet unter die Bettdecke. Alles in allem vollkommen entspannt und gemütlich, ich wollte einfach nur nicht mehr so merkwürdig im Raum oder an der Tür rumstehen. War eben kein besonders schönes Thema - zumindest nicht, wenn ich mich mit Riccarda darüber unterhalten musste.
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Anspannungen entwickelten sich nun mal bei gewissen Umständen des Lebens, von denen Isaac und ich – jeder auf seine eigene Art und Weise – mehr als genug aufgehalst bekommen hatten. Wir verhielten uns schlichtweg nicht wie ein gut eingespieltes Team, sondern brauchten nach jeder neuen Veränderung wieder Zeit, um sich einander anzunähern und mit den neuen Begebenheiten umzugehen. Die härteste Umstellung dürfte wohl mein permanent im Schloss anwesender Ex-Freund sein, mit dessen Anwesenheit höchstens meine Eltern glücklich waren. Isaacs Begeisterung befand sich irgendwo nahe des Gefrierprunktes der Hölle und mir persönlich imponierte das Gehabe der beiden kontrahierenden Männer auch nicht unbedingt. Andere Frauen fühlten sich womöglich geschmeichelt, bei mir riss es lediglich alte Wunden auf und führten mir vor Augen, was ich ohnehin niemals hätte bekommen können. Verspannungen blieben mir demnach auch nicht erspart, aber meine Beziehung zu Körperberührungen am Rücken, wo ich nicht sehen konnte, was genau passierte und ich mich sehr schutzlos ausgeliefert fühlte, führte gewiss zu anderen Situationen als tiefreichende Entspannung und Erholung der Muskeln. Wie auch immer. Isaac schien diesbezüglich nicht abgelehnt zu sein, geizte nur mit seinem restlichen Geld. Noch so ein Nachteil als verwöhnter Nachkomme einer reichen Familie: man gab sich schnell der Gewohnheit hin, finanziell jederzeit gut aufgestellt zu sein und die Erkenntnis kam meistens erst mit einem abgedrehten Geldhahn einher. Da mir der Sinn nun nicht nach wirtschaftlichen Gesprächsthemen stand, nickte ich auf seine Erwähnung lediglich. Ein wissendes Glitzern stahl sich aber dennoch in meine Augen, als ich ihn mit einem raschen Blick bedachte. Meiner Meinung nach ging es bei der Massage-Option weniger um einzusparende Geldscheinchen, sondern um einen weiteren Schritt in die richtige Richtung unserer schrägen Beziehung zueinander. Als ob ich den nicht ohnehin tat?! Immerhin hatte ich mich für die Kuscheleinheit entschieden, was mir ehrlich gesagt ein wenig Unbehagen bereitete, aber noch ließ sich der Moment herrlich – mit einem anderen teils unangenehmen, teils erschreckenden Thema – hinauszögern. Trotzdem grinste ich amüsiert bei seinem unschuldigen Säuseln, als wäre die Idee allein auf meinem Mist gewachsen und er würde sich sittsam meinem Willen beugen. „Absolut“, entgegnete ich ihm trocken, aber keineswegs schnippisch. Das zarte Grinsen lag nach wie vor auf meinen Lippen. Mir kam es – für meine unterbewusste Gelassenheit gesprochen – sehr gelegen, dass sich der hochgewachsene Kerl entschied, den Fluchtweg wieder freizugeben. Ich wollte ihm keine heimtückische Absicht unterstellen, dennoch atmete es sich gleich wieder etwas befreiter bei dem heiklen Gesprächsstoff, wenn es an mir lag, wann und ob ich das Weite suchen wollte. Mein Blick folgte dem jungen Mann ruhig durchs Zimmer bis hinüber zu seiner Seite des Bettes, von der ich tatsächlich immer einen Sicherheitsabstand gehalten hatte. Obwohl es für ein Paar das Normalste auf der Welt darstellen sollte, gemeinsam in einem Bett zu schlafen, fühlte es sich für mich manchmal noch immer so an, als würde ich die Matratze mit einem Fremden teilen müssen. Dabei war mir Isaac nicht fremd… zumindest nicht mehr so extrem, wie er es vor ein paar Monaten noch war. Außerdem halfen mir diese für beide Seiten nervenaufreibenden Gespräche, um mehr von Isaacs Essenz zu greifen zu bekommen. Wahrscheinlich fragte ich auch genau deswegen nach seinem Gewissen. Jeder Mensch hatte sowas doch – egal ob die andere Hälfte ein nach Blut dürstender Wolf oder ein über die Wiese stolperndes Lamm darstellte. Zumindest lauteten so meine Vorstellungen, die Isaac recht nüchtern korrigierte. Seiner Tonlage nach handelte es sich um einen reinen Informationsaustausch und doch spürte ich in der Wahl seiner Worte, dass seine Lust, sich weiter darüber zu unterhalten, dem Ende zuging. Das würde ich respektieren. „Okay. Danke für die Erklärung“, schloss ich das Thema laut ausgesprochen und speicherte Isaacs Aussagen ab, um mir in einem ruhigeren Augenblick – nüchtern bestenfalls – noch mal Gedanken darüber zu machen. Trotzdem revidierte ich meine Aussage nicht, sondern lächelte ermutigend in die Richtung des Wolfes. Zwar bezweifelte ich, dass er großartig darüber nachdachte, wie ich mit seiner genetischen Veranlagung zurechtkam, aber meine Akzeptanz schien mir dennoch wichtig in unserem Zusammenspiel zu sein. Nachdem dies erledigt schien, fühlte ich mich erneut mit dem spontan geänderten Schlafarrangement konfrontiert. Isaac belegte seine Seite mit gewohnter Selbstsicherheit, während ich primär skeptisch am anderen Ende aufs Bett kletterte. Hatte sich der Abstand zwischen uns schon immer so weit angefühlt oder kam es mir nur jetzt wie eine beachtliche Distanz vor, wo ich im Begriff stand, meine Komfortzone zu verlassen und mich in die Höhle des Löwen zu wagen. Ich ließ es mir nicht nehmen, Isaac einer knappen Musterung zu unterziehen, wie er da halb von der Decke versteckt lag und scheinbar nur darauf wartete, dass ich meinen Luxushintern ebenfalls mal in die richtige Position brachte. Ein schwaches Seufzen kroch über meine Lippen, ehe ich meinem inneren Schweinehund einen saftigen Tritt in den Allerwertesten verpasste und meinen Polster energisch in die Mitte des Bettes zog. Ebenso raffte ich meine Decke zusammen, denn unter derselben wie Isaac zu stecken, kam mir dann vielleicht doch noch mal ein Stück zu groß vor. Das hob ich mir für weitere Gefälligkeits-Diskussionen auf. „Ich will am Ende aber keine Klischees darüber hören, dass Frauen ja ach so viel Platz im Bett brauchen und der arme, arme Mann sich mit seinem Achtel der Matratze schön zufrieden zu geben hat“, scherzte ich halbherzig und erhob mahnend, aber nicht gerade drohend den Zeigefinger, ehe ich meinen Polster ein wenig bearbeitete und mich schlussendlich auch in eine liegende Position begab. Ich spürte Isaacs Präsenz in Form der ausgestrahlten Körperwärme dicht an meiner Haut und als ich mich in seine Richtung wandte, kam es mir ohnehin so vor, als würde ich bereits halb auf dem jungen Mann draufliegen. Und das hatte er sich gewünscht?
Ich war ganz froh darüber, dass sich der ernstere Teil unseres Gesprächs endgültig im Sand verlaufen hatte. Riccarda schien mit meinen Antworten vorerst zufrieden zu sein - zumindest so weit das eben möglich war, wenn ich ihr knallhart sagte, dass ich Menschen gewissenlos tötete - und damit war die Sache erledigt. Zwar war die junge Frau schon des Öfteren selbst mit meinem wölfischen Ich kollidiert, aber so detailliert redeten wir normalerweise dann doch nicht über diese Seite an mir. Wie man gerade gesehen hatte lag das aber eher nicht daran, dass ich nicht darüber reden konnte oder wollte. Als meine Ehefrau hatte die zierliche Blondine gewissermaßen auch ein Recht darauf zu wissen, womit sie es eigentlich genau zu tun hatte. Allerdings hatte ich wohl immer so im Hinterkopf gehabt, dass ich ihr nicht unnötig wieder Angst vor mir einflößen wollte, indem ich ihr solche Dinge sagte. Inzwischen schienen wir jedoch an einem Punkt angekommen zu sein, an dem es sie nur noch mehr oder weniger störte. Zumindest machte ihr Herzschlag mir nicht den Eindruck, als würde sie jede Sekunde aufspringen und wegrennen wollen, als sie sich schließlich ebenfalls auf der Matratze einfand. Ich beobachtete sie doch recht interessiert dabei, wie sie sich zuerst noch mit allen möglichen Dingen ablenkte, um noch etwas Zeit zu schinden. Da wurde ich zuerst einem genaueren Blick unterzogen, dann wurden Kissen und Decke rangezogen, danach galt es das Kissen dann natürlich noch ordentlich aufzuschütteln... ich war mir sicher, dass sie noch mehr Kleinigkeiten zum Aufschieben gefunden hätte, wenn sie es gewollt hätte. Allerdings entschied Riccarda sich dann doch langsam mal dazu sich zu mir zu gesellen. Alles in allem weiterhin ziemlich verhalten und auch nicht ohne die gewisse Bemerkung am Rande, aber über die konnte ich nur leise in mich hinein lachen. Es bräuchte vermutlich schon einiges, damit ich mich mehr als sonst der Bettkante nähern oder mich anderweitig eingeengt fühlen würde. Für gewöhnlich schlief ich sehr ruhig und rollte mich nur wenig bis gar nicht hin und her. Dass der zierliche Engel mich hier im Schlaf wegschieben würde, hielt ich auch für eher unwahrscheinlich. "Ich glaube nicht, dass wir beide jemals irgendwann einem Klischee entsprechen werden.", stellte ich amüsiert fest. "Und noch weniger glaube ich, dass du mich überhaupt unbemerkt von meinem Platz hier verdrängen kannst.", hängte ich dann noch ein paar Worte an. Zumindest würde ich in jedem Fall davon aufwachen. Einen Kerl mit meiner Körpergröße rollte man als zierliche Frau nicht einfach mal eben so bei Seite. Ich war nicht nur Haut und Knochen, Muskeln wogen bekanntlich auch mehr als Fett. Ich stellte mich zwar nur selten mal auf die Waage, aber irgendwas zwischen 80 und 90 Kilo brachte ich mit Sicherheit zusammen. Ich müsste mich vermutlich also freiwillig in Richtung Bettkante vor ihr flüchten, damit hier dermaßen ungleiche Platzverhältnisse entstehen würden. Dass das passieren würde, glaubte ich aber erstmal nicht. Allerdings war ich mit der jetzigen Konstellation hier im Bett noch nicht wirklich zufrieden. Riccarda lag noch ziemlich verhalten neben mir, hatte sich im Grunde nicht viel mehr als nur in meine Richtung gerollt. Das war nicht ganz das, was ich mir darunter vorgestellt hatte. "Ich seh' schon... die Nachhilfestunde ist wohl noch nicht zu Ende.", kommentierte ich meine folgende Handlung schon vorab und nicht ohne die gewisse Prise Sarkasmus. Danach schob ich meine Hand unter Riccardas Decke, griff in aller Seelenruhe nach ihrem Oberschenkel und zog ihr Bein sanft über meines, wobei nach wie vor zumindest meine Decke zwischen uns lag. Kaum hatte ich meine Hand wieder unter der Decke vorgezogen streckte ich sie nach der Hand des Engels aus, um ihre zierlichen Finger auf meiner nackten Brust abzulegen. Erst danach legte ich meinen Arm dann um sie, als wäre das vollkommen normal für uns beide. Angesichts unserem vorherigen Erlebnis im Meer fand ich nicht, dass dieses etwas mehr jetzt zu viel verlangt war. Es lag ja sogar die Decke zwischen uns, wo sie vorhin noch ihren beinahe gänzlich nackten Körper an meinen gelehnt hatte.
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Auf mein nüchternes Hirn wartete morgen jede Menge Stoff zum Nachdenken, aber für heute hatte ich mir den Kopf ausreichend zerbrochen, nur um die Gedanken anschließend wieder im dichten Nebel des alkoholinduzierten Vergessens zu verlieren. Eigentlich ein elegantes System, ginge es teils nicht um wichtige Unterhaltungen, die mir vorzugsweise im Gedächtnis haften blieben. Jedoch schien es mir gleichzeitig unmöglich zu sein, diese Klarstellung von Isaacs Jagdverhalten im Bezug auf Verständnis und Gewissensfragen tatsächlich zu vergessen. Trotzdem blieb ich dabei, mich insgesamt an seine kontroverse Ernährung – einschließlich der Art der Nahrungsbeschaffung – gewöhnt zu haben und dieses Verhalten nicht länger als abstoßend zu empfinden. Es bestätigte mich lediglich in meinem Vegetarismus, aber dieses Streitthema brachte ich nun gewiss nicht auf den Tisch. Es gab momentan ohnehin andere Dinge, auf die ich mich lieber konzentrieren wollte. Beispielsweise wirkte der Polster nicht ausreichend aufgeschüttelt. Ich fand ausreichend kleine Nebenbeschäftigungen, um mich vor dem letzten Ruck zu drücken, den ich brauchte, um neben Isaac auf die Matratze zu sinken. Normalerweise zierten sich Frauen sicherlich nicht, seine Nähe im Schlafzimmer zu suchen, doch für mich galt es wie eine vollkommen neue Erfahrung. Bei meinem Ex-Freund war es mir wie das Selbstverständlichste auf der Welt vorgekommen, mich abends auf der Couch an seine Seite zu schmiegen oder im Bett anschließend näher zu rücken, um seine Anwesenheit ohne ausgesprochener Worte zu spüren. Mit Jago hatte es dieses Widerstreben nie gegeben. Mit Jago war es aber auch eine komplett andere Geschichte gewesen. Ich mochte Isaac; mittlerweile wirklich. Aber Jago hatte ich geliebt… liebte ihn vielleicht noch immer ein wenig. Es fühlte sich beinahe wie Betrug an. Egal wie lächerlich und kindisch ich mich gleichzeitig fühlte, für mich galt diese Form der Intimität doch als ein sehr persönliches Erlebnis. Es fiel mir schwer, die Erinnerungen an die Geborgenheit dicht neben einem geliebten Menschen einzuschlafen und wieder aufzuwachen, nun mit der gleichen Situation aber eben mit Isaac an der Stelle, zu überschreiben. Mein Zögern kam also nicht von einer versteckten Angst vor meinem wölfischen Ehemann, sondern von Gefühlen, gegen die ich mich nicht ganz wehren konnte und die ich mir zu empfinden eigentlich verboten hatte. „Nein, wir sind über jegliche Vorurteile erhaben“, gab ich im Ansatz grinsend als Zustimmung zurück, lachte sogar leise, um mich von den skeptischen Hintergedanken abzulenken. Klischees bedienten wir zwei wirklich tendenziell wenig, wenn man uns mit einem Durchschnitts-Paar verglich. Aber was war an uns auch schon normal? Was war an dieser verkorksten Beziehung schon normal? Ich für meinen Teil befand die Situation im Bett eher beklemmend. Ungewohnt halt. Ein tiefes Durchatmen begleitete meinen energischen Appell – in Gedanken selbstredend –, mich nun endlich zu entspannen. Ich stellte mich gerade an, als hätte ich vorhin nicht im Meer sämtliche Grenzen überschritten und zumindest die eine oder andere Hemmung hinter mir gelassen. Nun war es aber kein verstohlenes Knutschen, wie auf einer Party von Freunden. Eben sehr viel privater. „Ich habe dich nie als den Kuscheltypen eingeschätzt“, erklärte ich recht neutral gehalten, während ich abwartend beobachtete, wie seine Hand unter meiner Decke verstand, mein Bein berührte und leicht anzog. Ich verstand seine Intention direkt, ließ ihn aber dennoch gewähren. Immerhin schuldete ich ihm den Gefallen. Ich blieb auch kooperativ, als er meine Hand aus der Decke löste und stattdessen auf seiner nackten Brust platzierte. Dieses Mal kam ich nicht umhin, meine blassen Finger auf seiner doch deutlich brauneren Haut zu betrachten. Ich spürte die ungewöhnliche Wärme in jeder einzelnen Zelle, wie ein wohliges Prickeln. Vielleicht trug Isaacs Nachhilfestunde bereits erste Früchte, denn mein Kopf fand wie von allein seinen Weg auf die Schulter des Dunkelhaarigen, wo ich zugegebenermaßen richtig gut lag. Als wäre diese kleine Kuhle sogar extra für mich gemacht worden. Ein irrsinniger Gedanke, aber es trug durchaus zu meiner Entspannung bei, bequem zu liegen. Zudem fühlte sich ein ansonsten sehr stiller Teil in mir überraschend geborgen in seinen Armen. Ausreichend, um mich in dieser Position noch etwas nachdrücklicher an ihn zu schmiegen, damit die Decke beim Becken nicht mehr komisch drückte. Isaac besaß durchaus Kuscheltier-Qualitäten. Meine Augenlider hatten sich wie von allein geschlossen, mir fiel es überhaupt nicht mehr auf. „Ich glaube, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe…“, murmelte ich leise gegen seine Haut am Schlüsselbein, wohlwissend, dass sein ausgezeichnetes Gehör mein Brummeln decodieren konnte. Ein leises Seufzen verließ abschließend noch meine Lippen, bevor die Müdigkeit obsiegte und meine Gedanken in einen dämmrigen Zustand verfielen. Alkohol machte ab einem gewissen Punkt sehr schlagartig müde und eben jenen Meilenstein hatte ich nun erreicht. Ich dämmerte nicht nur weg, ich bekam Isaacs Reaktion auf meine Feststellung nicht einmal mehr mit.
Jetzt wo Riccarda es zur Sprache brachte, konnte ich ihr eigentlich nur zustimmen - nein, normalerweise war ich nicht der Typ Kerl, der gerne stundenlang kuschelnd herumlag. Andererseits hatte es früher aber auch nicht wirklich sowas wie einen plausiblen Grund fürs längeres Kuscheln gegeben. Was hatte ich denn bei einer wildfremden Frau davon, die mich außer auf körperlicher Ebene so gar nicht interessierte? Dann wären die mir nur noch mehr am Hintern kleben geblieben, als das sowieso schon der Fall war. Kuscheln hatte nie zur Debatte gestanden und wahrscheinlich war auch dabei wieder mein Ego ein Knackpunkt. Womöglich auch meine Erziehung, wurde einem in unserem Clan doch von Beginn an eingetrichtert, dass man als Wolf stark zu sein und keine Schwäche zu zeigen hatte. Ein veraltetes Weltbild, wenn man es ganz nüchtern betrachtete. Ich hatte diese Fassade all die Jahre getrost aufrecht erhalten und sie bröckelte nun schon seit einer ganzen Weile - offenbar so sehr, dass auch Gekuschel drin war, das sogar von mir selbst ausging. "Bin ich eigentlich auch nicht.", stellte ich für Riccarda hörbar, wenn auch ein wenig gemurmelt fest. Es machte mich eben doch ein bisschen nachdenklich bewusst zu merken, was für eine Kehrtwende ich in all den letzten Monaten nach und nach hingelegt hatte. Aber auch wenn es im Grunde etwas mehr oder weniger neues für mich war, fühlte es sich nicht falsch, sondern viel mehr gut an, als der Engel seinen Kopf dann an meiner Schulter ablegte und die von mir geschaffene Situation besser anzunehmen begann. Sie machte es sich sogar noch etwas bequemer, schmiegte sich noch mehr an mich an und nuschelte mir kurz darauf ein paar Worte an die Haut. Meine Mundwinkel hoben sich unweigerlich an und ich lächelte noch einige Sekunden lang stumm vor mich hin, während ich auf die blonden Haare hinabsah. Hier und da kribbelte mich eine von Riccardas Strähnen ein klein wenig, aber ich störte mich nicht wirklich daran. Vollkommen unterbewusst strich ich ihr sogar zwei, drei mal sanft am Arm auf und ab, bis ich die Augen schließlich zumachte und dann nicht allzu viel später ebenfalls in den Schlaf abdriftete. Ich schlief nicht weniger als absolut seelenruhig. Es war meine innere Uhr, die mich aufweckte noch kurz bevor die Sonne sich durch das Fenster bemerkbar gemacht hätte. Nach einer langen Nacht dachte man leider nur selten daran die Vorhänge zuzuziehen. Ich hatte es nicht wirklich eilig damit aufzustehen, sondern bemerkte zufrieden, dass die kleine Schnapsdrossel sich in der Nacht nicht von mir weggerollt hatte. Ich musterte ihr Gesicht verschlafen blinzelnd und auf den ersten Blick schien sie noch vor sich hin zu schlummern, weswegen ich trotz der eingeschlafenen, wirklich steifen Schultern erst einmal noch liegen blieb. Ich konnte meinen Schachzug als eindeutig erfolgreich werten und allein das versüßte mir den Start in den Tag schon unheimlich, während ich noch ein paar Minuten mit geschlossenen Augen vor mich hin döste. Allerdings wurde der Druck an der Schulter schließlich so unangenehm, dass ich dann doch gerne mal aufstehen würde. Natürlich könnte ich die zierliche Schönheit einfach kurzerhand von mir runterschieben, aber das wäre wohl nicht besonders nett. Deshalb entschied ich mich nach kurzer Überlegung stattdessen dazu die freie Hand anzuheben und Riccarda ein paar sehr wirre Strähnen behutsam von der Wange, wie auch von der Stirn zurück hinters Ohr zu streichen. Ich räusperte mich leise, den Blick auf ihr Gesicht gerichtet. "Erde an Dornröschen..? Ich weiß ja, du brauchst deinen Schönheitsschlaf, aber meine Schulter ist taub." Gefühlt schon längst abgestorben traf es weit besser, aber ich wollte die Sache jetzt nicht überdramatisieren, sondern den Engel nur langsam aber sicher aus dem Schlaf holen. Primär wegen dem eingeschlafenen Arm, sekundär wegen meiner Neugier. Ich wollte nicht nur jagen gehen, sondern mich bei dieser Gelegenheit auch ein klein wenig umsehen. Eine ewig lange Erkundungstour machen wollte ich nicht, aber zumindest mal einen groben Überblick der näheren Umgebung kriegen. In Erfahrung bringen, was hier denn überhaupt so auf dem Speiseplan stand. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass eine Insel mir viel Auswahl bieten konnte, aber gut - es ging wohl in erster Linie mehr darum mich über Wasser zu halten, damit ich bei Vollmond dann nicht komplett durchdrehte, als jetzt ein fünf Sterne Menü an Frischfleisch auf den imaginären Teller zu kriegen. Das Einzige, was mir auf unserem Weg zu der Strandbar gestern schon aufgefallen war, waren die vielen Vögel. Da sah kaum einer aus wie der andere. Allerdings war Gefieder alles andere als ein leckerer Snack für mich, also waren die Flattermänner hoffentlich nicht das einzige heimische Tiergesindel.
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Die Anzeichen sprachen vom Gegenteil. Meine früheren Erfahrungen mit Isaac bestätigten aber den harten, abweisenden Mann, dem wahrscheinlich kaum etwas ferner lag, als mit einer Frau – bei der er noch nicht einmal regelmäßig ran durfte – zu kuscheln. Würde ich mich nicht auf direktem Weg in den Schlaf befinden, hätte mich diese Erkenntnis sicherlich zum Nachdenken verleitet, doch in diesem Fall floss der Gedanke in einem gleichmäßigen Strom durch meinen Kopf und wurde von meinem Bewusstsein nicht weiter wahrgenommen. Ich schlief bereits. Und ich schlief wie ein kleiner Stein. Obwohl ich selten von Albträumen oder vergleichbaren Schlafstörungen heimgesucht wurde, durfte man mich durchaus als aktive Traumwanderin bezeichnen, die durchaus hier und da das Bett während eines besonders lebhaften Traums umdekorierte. Aber nichts dergleichen geschah in dieser Nacht. Ich bewegte mich nicht von meinem Platz an Isaacs Seite. Zumindest nicht bis zu jenem Augenblick, an dem der Klang einer vertrauten Stimme an meiner Wahrnehmung streifte und mich aus den Tiefen des Schlafes in ein langsames Erwachen überleitete. Brummelnd zog ich die schmalen Augenbrauen zusammen und vergrub mein Gesicht an der warmen Haut direkt unter mir. Es fühlte sich für mich gerade eher so an, als hätte ich keine drei Stunden durchgeschlafen, weshalb es mir utopisch erschien, jetzt schon aus dem Bett geschmissen werden zu müssen. Mein Kopf nahm sich die Zeit, die vernommene Stimme Isaac zuzuordnen und kurzfristig zu eruieren, wo ich mich überhaupt befand. Ein Urlaub in den Tropen, eine vom Alkohol geprägte Nacht und ein im Prinzip recht unschuldiger Gefallen. Isaacs Beschwerde traf also ebenfalls in meinem Bewusstsein an, doch das verschlafene Ich sah darin absolut keinen dringend notwendigen Grund, um diese durchaus bequeme Position aufzugeben und die minimale Chance einer weiteren herrlichen Stunde des Schlafens zu riskieren. „Noch fünf Minuten gegen die Falten“, nuschelte ich verschlafen als geistreiche Erwiderung auf seine witzelnde Bemerkung meines benötigten Schönheitsschlafes. Ja, mein Mundwerk schien bereits wieder am Damm zu sein, was man von meinem restlichen Körper noch nicht behaupten durfte. Aber fünf Minuten hielt Isaac doch bestimmt noch aus! Schlussendlich hatte es Isaac den neugierigen Sonnenstrahlen zu verdanken, die sich in mein Gesicht stahlen, dass ich ein langgezogenes Seufzen äußerte und mir mit einer Hand über die Augen wischte. „Wie spät ist es überhaupt?“, beklagte ich mich, als ein sanftes Pochen signalisierte, dass ich dieses Mal erneut das Pech hatte und von leichten Katersymptomen geplagt wurde. Hatte ich als Abschluss des Tages noch ein Glas Wasser getrunken? Nein. Da hatten wir das Problem auch schon gefunden. Vorsicht lehnte ich mich auf meinen Rücken zurück, plumpste dann aber doch eher unelegant in den noch so gut wie frisch aufgeklopften Polster hinein. „Wolltest du nicht einen frühmorgendlichen Ausflug wagen?“, meinte ich mich zu erinnern und schielte nun doch fragend hinter der nach wie vor mein halbes Gesicht bedeckenden Hand hervor. Und hatte ich nicht vorgehabt, diese Jagd zu verschlafen und mich erst zu einem späteren Zeitpunkt an den Frühstückstisch zu begeben. Der frühe Vogel konnte mich in dem Fall gern haben. Demonstrativ zog ich die verhedderte Decke ein wenig höher, aber da sie ohnehin komplett wirr dalag, befreite ich dadurch meine Füße und das ging nun auch gar nicht: ein trotziges Strampeln resultierte aus dem Versuch, die Decke wieder schön auszubreiten und vollkommen darunter zu verschwinden.
Es war wohl schon zu erwarten gewesen, dass das Engelchen nur wenig begeistert davon war schon aufgeweckt zu werden. Allerdings verzieh ich ihr das sofort mit einem beiläufigen, nur kurz aufflackernden Grinsen. Es war einfach urkomisch, dass Riccarda sich nach dem lang anhaltenden, großen Respekt davor mir auf der Matratze mal wieder näher zu kommen, jetzt ihr Gesicht an meinem Oberkörper vergrub als würde sie das vor der unumstößlichen Tatsache retten, dass ich gleich aufstehen würde. Im Notfall auch indem ich sie einfach bei Seite rollen würde, aber das wollte ich trotzdem gerne vermeiden. Da hielt ich lieber noch fünf Minuten die unter Druck liegende Schulter aus, hatte ich doch schon weit schlimmeres überstanden. "Falten? Du bist ein Engel und grade erst in den Zwanzigern angekommen.", erwiderte ich sarkastisch und zog die rechte Augenbraue einen Moment lang nach oben. Mal davon abgesehen, dass ich bisher nur wenige Frauen gesehen hatte, die Anfang Zwanzig bereits nennenswerte Falten im Gesicht hatten, konnte ein Engel in diesem Alter erst recht keine haben. Im Gegensatz zu uns Werwölfen waren sie optisch alle mit ziemlich einwandfreien Genen gesegnet, sie sollte mir hier also nicht mit irgendwelchen imaginären Falten ankommen, die urplötzlich aus dem Nichts erscheinen würden, nur weil sie fünf Minuten weniger schlief. Dennoch ließ ich ihr die Sache durchgehen und blieb erstmal noch liegen. Riccarda bewegte sich letztendlich - sichtlich wenig begeistert davon mit dem Wachwerden konfrontiert worden zu sein - aber doch noch von selbst dazu meinen Arm in die Freiheit zu entlassen und sank zurück in ihr eigenes Kissen. Ihre Frage nach der Uhrzeit konnte ich entweder geschätzt anhand des Sonnenstands oder mit einem Blick auf den sehr dezenten Wecker auf dem Nachttisch beantworten. Zuallererst setzte ich mich jedoch ein wenig auf, dehnte mir den ziemlich verspannten Nacken mit leicht verzogenem Gesicht und versuchte anschließend die schlecht durchblutete Schulter etwas zu kreisen, während ich den Blick auf den Wecker richtete. "Es ist kurz nach Neun... die Dämmerung hab ich also schon lange verpasst, ja.", ergänzte ich die Information noch um eine Bestätigung dazu, dass ich eigentlich gerne früher aus den Federn gekommen wäre. Die morgendliche Dämmerung war der für mich mit Abstand schönste Tagesabschnitt und auch für die Jagd war sie oft von Vorteil, aber ich war ja kein Anfänger mehr. Das bisschen Verschlafen war also kein Weltuntergang. "Aber ist halb so wild, ich werd' schon was finden." Während dieser ziemlich gleichgültigen Worte begann mein ganzer Arm unangenehm zu kribbeln, weil sich das Blut wieder in sämtliche Adern ausbreitete. Fast im gleichen Moment fing Riccarda an mit den Beinen zu strampeln und ließ damit kurzzeitig die ganze Matratze wippen. Ich beobachtete sie amüsiert einen Moment lang dabei und schüttelte dann grinsend den Kopf, bevor ich zur Bettkante rutschte. Meine erste Amtshandlung des heutigen Tages war ein paar Schlucke Wasser zu trinken, ehe die Flasche zurück auf den Nachttisch wanderte. Ich stand auf und ging zum Fußende des Betts, um nach der Bettdecke des Engels zu greifen. Mit noch leicht kribbelndem Arm und einem gezielten Ruck entzog ich ihr die Decke - allerdings nur, um sie aufzuschütteln und dann vollkommen entwirrt mit einer scheinbar mühelosen Bewegung wieder über meiner Ehefrau auszubreiten. "Soll ich die Vorhänge auch nochmal zumachen, Schlafmütze?", zeigte ich mich gutmütig, wenn auch nicht ohne die gewisse neckische Betonung in ihrem neuen Kosenamen. Hach ja, was war es schön so ganz ohne Kater aufzuwachen. Zwar hatte sogar ich es schon fertig gebracht mir so viel Alkohol reinzukippen, dass nicht mal mein Wolfsmagen das aushielt, aber diese Zeiten lagen jetzt wohl begraben. Mit solchen wilden Junggesellen-Partys kam ich sicher nicht mehr in Berührung. Bei diesem Gedanken fiel mir auf, dass ich auch mit dem rein menschlichen Teil meiner damaligen Freunde absolut gar nichts mehr zu tun hatte... und weil mich dieser Gedanke wiederum beinahe schon wieder nachdenklich gestimmt hätte, schob ich ihn bei Seite und sah stattdessen fragend zu Riccarda. Jetzt jedenfalls galt es nur noch auf ihre Antwort zu warten, dann würde ich noch einen sehr kurzen Abstecher ins Bad machen und dann war ich mindestens für die nächste Stunde verschwunden. Wenn sie das wollte, dann konnte sie also noch eine ganze Weile lang weiter vor sich hin schlummern, ohne dass ich ihr bald in die Quere kam.
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Es sei dem Kater verschuldet, dass ich mir absolut keine Gedanken über die Situation im Bett machte, in der ich erwachte. Zumindest ging ich davon aus, dass es mir prinzipiell nicht so einfach von der Hand ginge, sollte ich meine Sinne unter vollständiger Kontrolle haben und keine Kopfschmerzen mein frühmorgendliches Denken verhindern. Also ja, ich besaß mehr als genug Ausreden, um mich dem zugegebenermaßen angenehmen Erwachen an der Seite einer anderen Person hinzugeben. Da durfte ein verschlafendes Brummen nicht fehlen, ebenso wenig wie die obligatorische Bitte nach einer weiteren Schonfrist von läppischen fünf Minuten. „Du hast ja keine Ahnung, wie schnell so Falten auftauchen können“, hielt ich auf meinem Einwand fest, pochte jedoch nicht auf deren Richtigkeit. Im Grunde würde ich derzeit vieles sagen oder behaupten, um meinen Hintern für eine weitere herrliche Auszeit im Bett geparkt lassen zu dürfen. Immerhin befand ich mich bereits ausreichend in der Gegenwart, um seinen Sarkasmus als solchen zu erkennen und meine Aussage mit einem schmalen Grinsen zu betonen. Selbst wenn ich nicht vor Kurzem erst in meinen besagten Zwanzigern angekommen wäre… um äußerliche Alterungserscheinungen musste sich ein Engel beim besten Willen keine Gedanken machen. Unser körperlicher Verfall im Laufe eines Lebens ging derart langsam Vonstatten, dass selbst meine Urgroßmutter frischer im Gesicht aussah als so manch menschliche Frau im mittleren Alter. Demnach brauchte ich mir tatsächlich keine Sorgen um mein Erscheinungsbild machen… viel eher bereitete mir die eben genannte Uhrzeit Kummer. Demonstrativ laut murrte ich auf, obwohl neun Uhr normalerweise eine Zeit war, zu der ich längst aktiv geworden war, doch die pochenden Schläfen und das minimale Schwindelgefühl bei jeder zu hastig getätigten Bewegung ließen mich faul werden. Isaac war freigegeben, ich hatte eine neue gemütliche Position gefunden… demnach entließ ich ihn gerne zu seiner verspäteten Jagd. Ich vertraute dabei durchaus auf sein Geschick und die jahrelange Erfahrung als Raubtier, um auch auf dieser Insel fündig zu werden; falls nicht, würde er als erster Werwolf in die Geschichte eingehen, der sich am Angeln von Meerestieren versucht hat. Ebenfalls eine witzige Vorstellung, jedoch nur halb so ablenkend wie die verhedderte Bettdecke, die sich schlichtweg nicht richten ließ. „Hey“, stieß ich überrascht aus, als mir besagter Schurke mit einem kräftigen Ruck vollständig entzogen wurde und ich bereits vom Schlimmsten ausging: Isaac warf mich klischeehaft aus den Federn. Doch es kam anders. Wahrscheinlich sah man es mir an der finsteren Miene an, dass ich kurz vor einem Gezeter stand, doch soweit kam ich erst gar nicht. Ein sanfter Wind wehte um meine Nase, als der großgewachsene Dunkelhaarige ernsthaft die Decke ausschüttelte, sodass sich alle vier Zipfel wieder dort befanden, wo ihr Platz auch angedacht war und sich das weiche Viereck federleicht über mir ausbreitete. „Danke“, nuschelte ich, im Nachhinein froh darüber, ihn nicht direkt angegiftet zu haben, dennoch ließ sich das trockene Lachen nicht vermeiden. „Spar dir den süffisanten Ton“, belehrte ich ihn mit amüsierter Strenge, fügte aber ein weitaus kleinlauteres „Ja, bitte“ schlussendlich doch noch hinzu. Isaac kam dem Gefallen sogar recht rasch nach, verzog sich anschließend im Bad und war demnach meiner Wahrnehmung entzogen. Binnen Sekunden döste ich bereits wieder, sodass mir Isaacs verschwinden vollkommen entging. Ich bekam eine zusätzliche Dreiviertelstunde Schlaf geschenkt, ehe mich der wohlbekannte Durst aufweckte und ich eine der bereitgestellten Wasserflaschen beinahe vollständig leerte, sobald ich aufrecht saß und nach dem Objekt meiner Begierde getastet hatte. Erneut dauere es ein paar Sekunden, um mich zur Gänze zu orientieren. Im Vergleich zu vorhin überwältigte mich kein Schwindel mehr und auch die Kopfschmerzen bewegten sich in einem annehmbaren Rahmen, weshalb ich die Gunst der Stunde nutzte, um die Lebensgeister in mir zu aktivieren. Das tat man am besten unter einer frischen Dusche, die ich an diesem netten Vormittag sogar unnötig in die Länge zog. Verstand sicherlich jeder, der ebenfalls schon mal in den Genuss dieser regenerierenden Wirkung des kühlen Wasser gekommen ist! Nachdem ich mich meinen heutigen Plänen entsprechend gekleidet hatte und die Vorhänge wieder zur Seite geschoben hatte, um die Fenster zu öffnen, stakste ich hinunter, um zu sehen, was ich von dem Frühstück noch abgreifen könnte. Meine Tante ließ bei meinem Erblicken augenblicklich eine kleine Unmenge an Häppchen aufdecken, an denen ich mich genüsslich gütig tat. Ich verbrachte die angeblich wichtigste Mahlzeit des Tages allein, denn Tante Eve war mit Freundinnen verabredet und mein Onkel schien geschäftlich ausgeflogen zu sein. Aber ich genoss die Ruhe auf der beschatteten Terrasse mit Panoramaausblick aufs Meer hinab. Ich schob mir eben noch einen weiteren Käsewürfel samt Weintraube in den Mund, als Isaac in mein Blickfeld trat – durchaus kultiviert und nicht einem billigen Horrorstreifen entsprungen. „Guten Morgen“, grinste ich ihn, mittlerweile besser gelaunt, entgegen und fragte mich gleichzeitig, ob er eine sehr gesittete Jagd hinter sich hatte oder bereits sämtliche Spuren beseitigt hatte. "Erfolg gehabt?", erkundigte ich mich, weniger aus richtigem Interesse, sondern mehr aus dem Verlangen, Anteil an seiner animalischen Hälfte zu nehmen und dadurch meine Akzeptanz zu beweisen.
Es war der zierlichen Blondine nicht zu verdenken gleich eine Vermutung in ganz anderer Richtung anzustellen, als ich ihr die Decke kurzzeitig entrissen hatte. Normalerweise war es wohl auch eher nicht meine Art ihr gleich früh morgens irgendwelche Gefallen zu spendieren, aber ich war heute schlichtweg auf dem richtigen Fuß aufgestanden. Gleich mit guter Laune aus den Federn gepurzelt, konnte man sagen. Ich verkniff mir den 'Ihr Wunsch sei mir Befehl, Prinzessin'-Kommentar, als ich mich vom Bett abwandte um die Vorhänge zuzuziehen. Es wäre zwar äußerst passend gewesen, aber ich wollte doch ganz gern vermeiden, dass Riccarda hier auf die Idee kam mich zukünftig als Teilzeit-Angestellten nutzen zu wollen. Ihr ab und zu einen Gefallen zu tun lag im grünen Bereich - würde sie aber ständig mit irgendwelchen Bitten zu mir kommen, dann wäre bald Schluss mit lustig. Die zukünftige Konfrontation zu vermeiden war mir wichtiger und ich wollte gerne den Zustand wahren, in dem sie solche Taten meinerseits als nicht selbstverständlich hinnahm und sie nicht einmal erahnte. Nach dem flüchtigen Gang ins Badezimmer ließ ich den Engel schließlich alleine im Haus zurück und verzog mich bewusst ohne Kontakt zu anderen Leuten im Haus nach draußen. Mein Gehör erlaubte es mir Anderen gut aus dem Weg gehen zu können und ich wollte zugegeben ungern mit einer Ausrede erklären, warum ich mich nicht an den Frühstückstisch gesellte. Ich wollte die Wahrheit nicht verschleiern, weil ich mich schlichtweg nicht für sie schämte und gleichzeitig hatte ich Riccarda aber nun mal versprochen, hier Niemandem einen Schrecken einzujagen. Es kam bei normal Sterblichen sicher nicht so gut rüber, wenn man sich als blutrünstigen Wolf darstellte - nicht in Worten und noch weniger in besagter Gestalt selbst. Also machte ich geschickt die Biege und entfernte mich zu Fuß ein Stück weit von dieser bewohnten Ecke der großen Insel, bevor ich in den Wald abbog und dort nur noch ein paar Meter weiterging, ehe ich mich auf vier Pfoten wiederfand. Ich hielt noch einen Moment lang inne und sah über meine Schulter zurück, aber mich hatte Niemand gesehen - normalerweise folgte dann auch immer der obligatorische, entsetzte Aufschrei, jedoch ging ich dabei gerne auf Nummer Sicher - und so konnte ich meinen Weg unbeirrt fortsetzen. Erstmal lief ich ein Stück, um die fast ein bisschen eingerosteten Knochen und Muskeln wieder locker zu kriegen, was bei dem hügeligen Gelände hier durchaus von Vorteil sein könnte. Ich war bisher nur selten in derartig unebenen Regionen auf der Jagd gewesen, aber ich war zuversichtlich. Jedenfalls zu Beginn noch. Je länger und je öfter ich die Nase in den Wind oder auf den Boden hielt, um potenzielle Beute zu wittern, desto frustrierter wurde ich. Ja, ich roch da schon das eine oder andere Tier - allerdings waren darunter kaum Warmblüter, kaum Säugetiere. Die erste Spur, der ich dann schließlich auf den Grund gehen konnte, gehörte zu einer Gruppe Flughunde, die ich mit ihren kahlen Flügeln ganz freiwillig ziehen ließ, obwohl sie in einem schattigen Baum hängend schliefen. Mal davon abgesehen, dass sie mir mit den Flügeln weit voraus waren, war an den Dingern ohnehin kaum etwas dran. Also folgte ich meiner Nase weiter - dieses Mal zu einem auf dem Boden hausenden Waldbewohner, der aber genauso wenig Linderung für meine Jagdtriebe versprach. Ich konnte nicht einmal zweifelsfrei identifizieren, um was es sich dabei überhaupt handelte. Waren das diese Mungos? Sah für mich aus wie eine Mischung aus Wiesel, Hund und Katze oder irgendwas anderes vergleichbares. Ganz merkwürdiges Tier, das mir mit seinen flinken Bewegungen in dem dichten, tropischen Wald beinahe noch entkommen wäre. Dafür, dass ich mich für diese mickrig kleine Mahlzeit so hatte anstrengen müssen, war sie einfach nur enttäuschend. Alles, was ich danach noch im Wald antraf, verschmähte ich gerne. Hauptsächlich bestand die Speisekarte hier nämlich scheinbar aus bunten Vögeln, Reptilien und Schlangen. Vielleicht waren jene Tierarten als solche interessant, aber schlichtweg nicht für mich zum Verzehr geeignet. Sicher - ich könnte mich schon aus der Not heraus davon ernähren, aber da verzichtete ich lieber ganz und stieg auf die menschliche Rasse um. Entweder das oder ich brauchte irgendeine andere Alternative. Das würde Riccarda zwar bestimmt nicht gerne hören, aber mein Gaumen war mir zu schade für Geschlängel und schuppige Leguan-Haut. Allein der Gedanke daran war furchtbar. Dementsprechend wenig zufrieden aussehend trottete ich am Ende auch zu dem Engel zurück. Ich war im Wald ein paar Meter weit durch einen niedrigen, klaren Bach gelaufen, um mir die blutigen Vorderpfoten zu waschen und die Schnauze ins Wasser zu halten. Zwar würde ich wohl trotzdem nach der Heimkehr noch duschen müssen, weil mir bei dem tropischen Klima im Wolfspelz doch sehr warm geworden war und das Hecheln kaum für angenehme Betriebstemperatur meines Körpers gereicht hatte, aber zumindest kam ich so nicht blutverschmiert zurück zum Haus meines Gastgebers. Wenigstens schien meine Ehefrau inzwischen wieder gänzlich auf dem Damm zu sein, so wie sie mich empfing. "Nicht wirklich, nein. Es gibt auf dieser Insel nämlich scheinbar so gut wie nichts, was überhaupt essbar ist und nicht zwischen den Zähnen knirscht.", machte ich meinem Unmut grummelnd und mit trockenem Sarkasmus Luft, als ich mich an den Tisch gesetzt hatte. Mir stand die Frustration quer übers Gesicht geschrieben, als ich genervt den rechten Ellbogen auf die Tischkante hob und den Kopf in die Hand stützte.
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Abgesehen von den irritierenden Kopfschmerzen aufgrund der vorabendlichen Alkoholeskapaden fühlte sich der Start in den Tag doch sehr gelungen an. Zumindest nach dem zweiten Erwachen. Die Sonne lächelte zwischen den schattenspendenden Palmenblättern hindurch und zeichnete dunkle Musterungen auf den reichlich gedeckten Tisch, an den ich mich allein gesetzt hatte. Mein Appetit ließ zwar noch ein wenig auf sich warten, doch das hinderte mich nicht daran, die sanfte Brise im Gesicht und das Gefühl des Ausgeschlafen-Seins zu genießen. Zumindest bis zu dem Punkt, an dem Isaac ebenfalls auf der Bildfläche erschien und meine Konzentration nun neues Futter gefunden hatte. Meine gute Laune zeichnete sich deutlich in meinem Gesicht ab, als ich dem Dunkelhaarigen entgegenblickte und mit einer schwachen Handbewegung ebenfalls einen Platz auf der Terrasse anbot. Nicht, dass Isaac meine Einladung extra benötigte, aber mir schien es dennoch angebracht zu sein. Noch während sich der junge Mann auf den angesehenen Platz zubewegte, machte er seiner Frustration deutlich Luft und ließ mich dabei in meiner Sonnenschein-Laune vorsichtiger werden. Nachdenklich beobachtete ich ihn, wie er dumpf auf dem Sessel aufkam und sich dann wenig manierlich auf die Tischplatte lümmelte. Jeglichen Kommentar verkniff ich mir wohlwissend, denn – man konnte es kaum glauben, aber – allen Anschein nach schmollte der Herr wie ein kleines Kind. Im ersten Moment hätte es mich königlich amüsiert, aber es bedarf nur eines kurzen Besinnens, um mir die vollen Konsequenzen vor Augen zu führen und ein klein wenig Empathie für seinen Misserfolg zusammenzukratzen. „Oh, über die heimische Fauna habe ich mir im Vorfeld nicht erkundigt“, da dies zuvor auch noch nie von Nöten gewesen war. Bis jetzt. „Vielleicht können wir dir Wild vom Festland oder so importieren. Mit Geld lässt sich das sicherlich regeln“, kam mir die Idee in den Sinn und schielte dabei zaghaft zu Isaac über den Tisch zwischen uns hinweg, um anhand seiner Reaktion ablesen zu können, was er von dem Vorschlag hielt. Lobeshymnen, Freudensprünge oder eine Welle der grenzenlosen Dankbarkeit erwartete ich mir nicht, jedoch käme mir Schweigen ebenfalls unpassend vor, nachdem ich die Frage auch gestellt und mir demnach eine Antwort erwartet hatte. „Es ist nicht dasselbe wie eine Jagd, aber ich hätte eine, finde ich, ziemlich coole Aktivität gefunden, die dir auch Spaß machen sollte“, versuchte ich ihn von dem Griff ins Klo abzulenken und vielleicht sogar seine Neugierde zu wecken. Erwartungsvoll schaute ich ihm entgegen. Ehrlicherweise hatte mich die Informationssuche nicht sonderlich viel Mühe gekostet, da meine Geschwister ebenfalls ihren familiären Pflichten nachgegangen waren und schon die eine oder andere Attraktion in den Tropen ausprobiert hatten. Da Männer meiner Erfahrung nach alle irgendwie gleich tickten, es meinen Brüdern den gesuchten Adrenalinkick verabreicht hatte, rechnete ich mir auch bei Isaac gute Chancen aus; in dem Wissen, das natürlich nichts seine Jagd ersetzen, ihn aber zumindest auch fröhlichere Gedanken bringen könnte.
Nein, offensichtlich hatte sie das nicht. Genauso wenig, wie auch ich mich selbst darüber schlau gemacht hatte, ob ich hier überhaupt irgendetwas Passendes auf der Speisekarte für Wölfe finden würde. Meinen bisherigen Erkenntnissen zufolge belief sich meine Auswahl auf zwei Spezies und die waren beide weder nahrhaft, noch appetitlich. Die Aussichten waren also eher wolkig bis regnerisch, das vermochte der Vorschlag des Engels nur minder zu bessern. Denn wie sie es schon sagte - es war keine Jagd, auch wenn sie das eher auf ihren folgenden, noch inhaltlosen Vorschlag bezog. Es wäre besser als meine wölfische Hälfte verkümmern zu lassen und dabei zuzusehen wie meine Form abnahm, aber mein Jagdtrieb würde keine Befriedigung darin finden. Das war wie im Restaurant zu bestellen und genau das zu kriegen, was man vorher geordert hatte. Nicht gerade Sinn und Zweck einer Jagd, die öfter mal nicht einhundertprozentig nach Plan verlief. Hier auf der Insel hatte ich ja scheinbar nicht mal irgendwelche Feinde. Natürlich musste man an dieser Stelle betonen, dass es ohnehin kaum ein Tier gab, dass es mit einem riesigen Wolf aufnehmen konnte, aber der Grizzly in den Flitterwochen war zum Beispiele eine schmerzhaft angenehme Abwechslung gewesen. Hier hatte ich weder natürlich vorkommende Beutetiere, noch irgendwelche Rivalen. Quasi das Paradies für Weicheier. Demnach würde ich früher oder später sehr sicher wieder auf die menschliche Spezies umsteigen, sollten wir tatsächlich hierher umsiedeln, um wenigstens ansatzweise einen Kick zu kriegen. Oder ich musste genug Geld verdienen, um mir regelmäßige Flüge aufs Festland zu finanzieren - Australien oder Neuseeland. Aber ob es mich zufrieden stellen würde mindestens einmal monatlich etliche Flugstunden dafür aufzubringen? Vermutlich auch nicht, wenn ich es nicht mit irgendwas Sinnvollem verbinden konnte. Geschäfte vielleicht. Was für welche auch immer, war nicht so als wäre ich auf diesem Gebiet bewandert. Meine beiden Brüder was das anging um etwas Nachhilfe zu bitten und mir so einige Grundlagen mit auf den Weg zu geben wäre sicherlich sinnvoll, wäre da nicht der Haken mit der Familienfehde. Wie auch immer. Ich zwang mich die Gedanken daran bestmöglich zu kappen, weil Riccarda mit ihren beiden Vorschlägen nach meiner Aufmerksamkeit verlangte. Dennoch dauerte es wohl einige stille Sekunden, in denen ich grimmig auf die Tischplatte starrte, bis ich einen Ton von mir hören ließ. "Keine Ahnung, schon möglich. Ist trotzdem nicht dasselbe.", zeigte ich mich vorerst nur minder begeistert vom Frischfleisch-Import. Klar, man musste im Leben irgendwo immer Abstriche machen, aber es hatte ziemlich sicher Niemand was davon, wenn ich mangels richtiger Jagd irgendwann unleidlich - um nicht zu sagen wieder aggressiver und launischer - wurde. Deswegen blieb zu hoffen, dass der zweite, nur sehr indirekte Vorschlag des Engels etwas Besserung für meine aktuell schlechte Gemütslage bot. Ich hatte dank der miserablen Jagd schon beinahe vergessen, dass ich Riccarda gestern noch versprochen hatte, dass sie mich heute hinschleppen konnte wo sie wollte. Hoffentlich musste ich das nicht bereuen. "Na dann lass hören..?", verlangte ich nach mehr Info zu dem für heute geplanten Ausflug und sah von der Tischplatte auf, um stattdessen ihre braunen Augen mit meinen zu fixieren. So ganz ohne Info konnte ich schließlich keine andere Antwort dazu abgeben. Nicht wissen, ob sie mit ihrer Annahme richtig lag oder nicht.
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Natürlich drücke der Misserfolg – aufgrund fehlender Beute auf der Insel – mächtig auf Isaacs Stimmung. Etwas anderes durfte ich eigentlich gar nicht erwarten und so bedachte ich meine Worte strenger als ich es mittlerweile gewöhnt war. Trotz unseres guten Verhältnisses durfte ich seine explosionsartigen Schübe nicht aus dem Gedächtnis verlieren und ich fürchtete, dass diese dicke schwarze Regenwolke über seinem Kopf nicht allzu bald weggeblasen wurde, sondern ihn nur weiter in die Misere dirigierte. Mit einem Mal war ich gleich noch glücklicher über das gestrig gegebene Versprechen des jungen Mannes, obwohl ein Wort im Grunde nur dann wirklich bindende Kraft hatte, solange man den Gegenüber als Respektperson betrachtete. Um Isaacs Gemüt womöglich konkreter einschätzen zu können, bedachte ich ihn mit einem langen Blick, wie er da grummelnd auf die gedeckte Tischplatte stierte und sich partout nicht aus dem mentalen Loch helfen lassen wollte. Na gut. Dieses Schmollen am, für mich, frühen Morgen nahm ich ohne weiteren Kommentar hin und überging auch die minderausfallende Begeisterung seitens des Dunkelhaarigen bezüglich meiner Import-Idee. Mir war auch ohne seiner fehlenden Euphorie bewusst, dass es eine lasche Lösung wäre… im Prinzip handelte es sich um gar keine Lösung für den Wolf in ihm. Immerhin – und es erfüllte mich zugegebenermaßen doch mit einem Gefühl der Freude – gab sich Isaac wenigstens ein klein wenig interessiert für meine Tagesplanung, die wohlgemerkt noch nicht in Stein gemeißelt wurde und sicherlich noch spontane Änderungen zuließ. Geld regelte bekanntlich ja alles. Nun, Isaacs Aufmerksamkeit wirklich sicher, nachdem er mir derart intensive Blicke zuwarf. Hoffentlich waren die Erwartungen nun nicht zu hoch angesiedelt, denn meine Programmpunkte zielten eher auf Aktivitäten ab, die im absoluten Normalo-Bereich lagen und nicht extra für übernatürliche Wesen konzipiert waren; falls es denn sowas überhaupt gab. Ich war noch nicht ausreichend in der Welt herumgekommen, um alle Länder bereist und die jeweiligen Kulturen kennen gelernt zu haben. Wenn es Werwölfe und Engel gab… wieso sollte es dann nicht auch Vampire oder Feen geben können? Irgendwo halt. Aber egal. Zurück zum Thema, da mir Isaac heute nicht mit der bestmöglichsten Version seiner ohnehin nur mäßig geduldigen Seiten ausgestattet war und ich ihn nicht unnötig provozieren brauchte. „Also es gäbe zwei Programmpunkte. Zuerst eine kleine Wanderung durch den Dschungel mit anschließender Rafting-Tour zurück an den Fuß des Berges, wo man zu einem kleinen Dörfchen kommt, wo auch Quads vermietet werden, mit denen man durch die wüstenartige Steppe brettern kann.“ Ich listete meine Ideen ohne viel Gedöns drumherum auf, anderenfalls hypte ich mich selbst und bekam von Isaac nur ein fades Auge zugeworfen. Trotzdem kam ich nicht umhin, den jungen Mann zumindest minimal erwartungsvoll anzusehen. Ich hatte zuvor in meinem Leben noch nie in einem Rafting-Schlauchboot gesessen und meine Wüstenerfahrung belief sich ebenfalls auf Null, aber der Nervenkitzel hatte mich bereits während meiner Recherchen erfasst und seitdem nicht mehr richtig loslassen wollen, wie das sanfte Funkeln meiner Augen wahrscheinlich zur Genüge verriet. "Was sagst du dazu?" Ich haschte nicht nach seiner Bestätigung, die genialste Tagesprogramm-Erstellering auf Erden zu sein, sondern bat um seine ehrliche Meinung. Bisher war unsere gemeinsame Aktivitätenplanung eher auf offizielle Empfänge oder Wiedergutmachungs-Verabredungen hinausgelaufen.
Mit sinnbildlich gespitzten Ohren schenkte ich dem zierlichen Engel mein Gehör, als mir der Vorschlag für das heutige Tagesprogramm unterbreitet wurde. Ich hatte vermutlich mit so ziemlich allem gerechnet, aber irgendwie nicht mit einer derart actionreichen Tour. Natürlich war eine Wanderung an sich eher nichts aufregendes und ich hatte das bisher nicht allzu oft gemacht. Wenn doch, dann hatte ich es aber genossen - sofern nicht meine diskutierende Familie im Hintergrund die Natur gestört hatte. So als halber Wolf war es einfach naheliegend, dass ich mich in der Natur grundsätzlich etwas wohler fühlte, als in der lauten und nicht selten tristen Zivilisation. Ich war zwar gerne der schick angezogene, nicht vornehme Gentleman, aber die Menschen, welche die Zivilisation zwangsweise mit sich brachte, waren mir nicht selten zu dumm oder zu anstrengend. Ein bisschen Gezwitscher der Vögel, von denen es hier massenweise zu geben schien, war mir da deutlich lieber. Die widersprachen einem nicht und ergriffen höchstens die Flucht, wenn sie sich gestört fühlten. Wahrscheinlich waren die Tiere den Tourismus hier aber ohnehin schon so gewohnt, dass sie unbekümmert in den Baumwipfeln sitzen blieben, wenn ein paar Wanderer vorbeizogen. Eine kleine Wandertour war für mich alles in allem deutlich weniger überraschend, als das Rafting und der anschließende Part mit den Quads. Ich hatte nicht gewusst, dass sowas überhaupt in Riccardas Interessenbereich lag. Zwar wusste ich inzwischen, dass sie nicht immer der brave kleine Engel war, den sie ihrer Familie gegenüber mimen musste, aber das kam dann doch unerwartet. Das sagte ihr mit Sicherheit auch mein Blick, als ich sie einen Moment lang fast schon leicht skeptisch musterte. Aber sie machte mir nicht den Eindruck, als würde sie ihre Idee nicht ernst meinen. "Klingt... gar nicht mal so verkehrt.", war meine erste wörtliche, noch etwas verwunderte Antwort auf ihre Idee für unsere heutige Tour. Ich richtete mich langsam wieder auf, nahm die Hand vom Kinn und ließ sie stattdessen auf den Tisch sinken. "Raften war ich noch nie, das wird dann also eine Premiere.", stellte ich weiterhin darüber nachdenkend fest. Ein Quad gefahren war ich schonmal, wenn auch nicht in einer Steppe. Dennoch wusste ich was das anging mit Sicherheit, dass es Spaß machte. Da ich gegen ein paar Wasserspritzer ebenfalls nichts einzuwenden hatte, versprach auch das Entlangfahren auf dem Fluss potenziellen Spaß. Davon konnte ich nach der absolut enttäuschenden Jagd einiges gebrauchen, vielleicht würde sich der Vorschlag meiner Angetrauten also wirklich als Retter meiner Laune erweisen. So oder so stand es aber auch gar nicht zur Debatte die Idee des Engels abzulehnen. Ich hatte ihr gestern versprochen, dass sie mich nach der Jagd hinschleppen konnte, wo sie wollte und ich stand zu meinem Wort. Ich mochte viele schlechte Eigenschaften haben, aber ich machte niemals mutwillig falsche Versprechen, die ich nicht zu halten gedachte. "Frühstück' ruhig in Ruhe zu Ende, ich muss erstmal duschen.", wies ich Riccarda an sich nicht unnötig zu hetzen, falls sie noch nicht fertig war, weil ich das auch nicht tun würde. Zwar würde ich nicht endlos lang duschen, weil sich das allein schlichtweg nicht lohnte, aber der vor der Jagd noch vorhandene Antrieb war inzwischen etwas geschwunden. Also erhob ich mich mit einem leisen Seufzen, um den blonden Engel vorübergehend zu verlassen und kurz darauf mit frischen Klamotten unterm Arm vom Schlafzimmer ins angrenzende Badezimmer zu gehen. Die Dusche nahm nur ein paar Minuten in Anspruch, da dauerte das anschließende Rasieren meines Kinns und das Haarstyling länger. Danach hängte ich das Handtuch zum Trocknen auf und zog mir die recht legeren Klamotten an - zum Wandern musste es bequem sein und auch für die sportlichen Aktivitäten im Anschluss war das ratsam. Also zog ich mir ein absolut schlichtes Shirt in eher gedecktem Grün über den Kopf. Was die Hose anbelangte war ich hin und her gerissen gewesen, weil im Dschungel sicher einige Stechmücken unterwegs waren. Andererseits hatte ich aber auch nur mäßig Lust dazu in einer langen Hose wie verrückt zu schwitzen, also blieb es ja doch bei schwarzen Shorts. Giftige Tiere, die einen ins Bein beißen wollten, gab es hier nämlich keine, wenn man Google trauen konnte. Sowas wie richtiges Wander-Schuhwerk besaß ich gar nicht, weil ich das normalerweise nicht brauchte. Deswegen waren im Zimmer dann meine einfarbig schwarzen Sneaker die einzige wirklich brauchbare Lösung für die heutigen Aktivitäten. Um die war es auch nicht schade, wenn sie dreckig wurden. Ich hatte zwar eine sehr gute, innere Uhr, aber meine mit Abstand am wenigsten teure, sehr schlichte Armbanduhr durfte dann doch nicht fehlen. Sowas wie ein Rucksack wäre sicher auch sinnvoll, weil wir eine Weile unterwegs sein würden, nur... besaß ich sowas gar nicht. Ich konnte mich auch nicht daran erinnern, wann ich zuletzt mal einen gebraucht hatte. In der Schule wahrscheinlich.
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Obwohl ich zu wissen glaubte, dass meine Vorschläge für die Tagesgestaltung prinzipiell auf Zustimmung treffen würden, bestand dennoch ein gewisses Restrisiko, dass sich Isaac überhaupt nicht in Stimmung für irgendwelche Ausflüge mit mir fühlte. In dem Fall würde ich ihn auch nicht an sein Wort erinnern oder an das Versprechen festnageln, sondern es auf unbedachte Worte während des Alkoholeinflusses schieben, um mich vor der Enttäuschung zu bewahren. Eigentlich überraschte es mich sogar ein wenig, dass mein Verstand tatsächlich eine Absage seitens des momentan mürrischen Wolfes mit enttäuschten Gefühlen meinerseits in Verbindung setzte. Im Grunde konnte es mir ebenso egal sein, ob ich meine Planung allein durchzog oder in Gesellschaft blieb… aber um ehrlich zu bleiben: es war mir nicht egal. Dementsprechend unruhig wurde ich während des stillschweigenden Wartens auch, rutschte sogar kurz auf meinem Platz hin und her, ehe ich mir dessen bewusst wurde und Einhalt gebot. Mir gefiel die Aussicht nicht, derart leicht zu durchschauen zu sein, weshalb ich meine Miene glättete und entschied, dass ich an der Entscheidung ohnehin nicht viel Einfluss nehmen könnte, sofern Isaac diese einmal gefällt hatte. Außerdem musste ich seinem musternden Blick standhalten, unter dem ich mein Kinn unbewusst ein wenig nach oben gereckt hatte und ihm entschlossen entgegenblickte. Falls Isaac nach Anzeichen für einen Rückzug suchte, so würde hoffentlich nicht fündig werden. Was schlussendlich den Ausschlag für seine positive Reaktion auf meine Vorstellungen, wie wir den Tag verbringen würden, gab, interessierte mich nach der verwunderten Offenbarung seiner Zustimmung schon nicht länger. Stattdessen knipste sich ein erfreutes Strahlen in meinem Gesicht ein und löste gleichzeitig ein zufriedenes Lächeln auf meinen Lippen aus. Dass Isaac sichtlich nicht mit derartigen Aktivitäten gerechnet hatte, hörte man deutlich aus seiner Stimme heraus, aber ich sah darüber hinweg und sprach es nicht weiter an. Am Ende bekäme ich wahrscheinlich eine Antwort, die mir nur einmal mehr verdeutlichte, wie weniger wir trotz der gemeinsam verbrachten Zeit noch über den jeweils anderen wussten. Diese Erkenntnis verschob ich auf einen anderen Augenblick. Viel lieber gab ich mich der Aufregung hin, trommelte leicht mit den Fingerspitzen auf die gedeckte Tischplatte rechts und links meines Tellers. „Ich war bisher erst einmal mit meinen Brüdern gemeinsam, aber dann haben sie mich kein weiteres Mal mehr mitgenommen“, erinnerte ich mich mit einem zarten Schmollen. Die kleine Schwester an der Backe zu haben, galt wohl in keiner Lebensphase als sonderlich erstrebenswert oder gar cool. Isaac verabschiedete sich mit der Anmerkung, dass ich mich mit dem Frühstück nicht zu beeilen bräuchte, und verschwand hinter mir im Inneren des Herrenhauses. Ich schaute dem großgewachsenen Mann nur kurz über die Schulter hinweg nach, ehe ich mich wieder meinem Aufstrich-Bagel widmete und herzhaft hineinbiss. Das frische Obst und Gemüse rundete mein Frühstück ab, wobei ich schlussendlich sogar absichtlich ein bisschen trödelte. Immerhin wären wir den ganzen Tag unterwegs und ich wusste nur zu gern, wie leidlich ich manchmal wurde, sollte der Hunger Überhand in meinem Kopf bekommen. Ich entschied deshalb aus spontaner Voraussicht, zwei Äpfel aus der Obstschale zu entwenden und später mitzunehmen, bevor ich ebenfalls zurück zu unserem Zimmer in dem Haus meiner Verwandtschaft ging. Da ich keinen splitterfasernackten Isaac hinter der Tür erwartete, marschierte ich geradewegs in den Raum hinein und zog mir eine komfortable, aber dennoch feste Leggings sowie ein geblümtes Top an. Bisher hatte ich während meiner Aufenthalte hier nie mehr als eine Tasche zum Ausgehen benötigt, aber mit Isaac zusätzlich im Gepäck, hatte ich mir bereits gedacht, dass die Ausflüge weniger an den Strand und mehr in die Natur gingen, weshalb ich Vorkehrungen getroffen hatte: unter anderem ein Rucksack meines Bruders, den er hoffentlich daheim nicht allzu dringend brauchte. Nachdem ich die dünne Sportjacke gefunden hatte, stopfte ich diese gemeinsam mit den beiden Früchten ins Innere des Rucksackes und sah mich nach verschlossenen Wasserflaschen um, von denen ich ebenfalls noch zwei in dem Gepäcksstück verstaute. Als die Tür zum angrenzenden Badezimmer aufging, schaute ich nur kurz von meiner Tätigkeit auf, wobei mein Blick eher beiläufig über die Erscheinung von Isaac hinwegglitt. Mich hätte es deutlich schlimmer treffen können… so rein physisch. Damit der werte Herr mein heimliches Grinsen nicht erkannte, sah ich schnell wieder zurück zu dem Rucksack, aber da war nicht mehr viel zu tun, weshalb ich mich nach der Suche meiner Turnschuhe in dem Koffer begnügte. Dazu kniete ich vor dem geräumigen Trolley am Boden und wühlte in den Sachen herum, die bisher noch keinen Platz im Holzschrank gefunden hatten. „Möchtest du dir vielleicht noch irgendeinen Snack in der Küche machen und einpacken, bevor es losgeht?“, erkundigte ich mich, nachdem ich endlich das Paar Schuhe gefunden hatte. Etwas unelegant ließ ich mich seitlich von meinen Fersen auf den blanken Boden rutschen und zog mir die Schuhe an, während ich fragend zu dem jungen Mann empor schaute. Wenn nicht, konnten wir genauso gut auch schon aufbrechen.
Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass ihre älteren Brüder sie nur ungerne mit auf die Tour genommen hatten. Es war sicherlich was ganz anderes, wenn es sich bei der weiblichen Begleitung um die unter Umständen nervige, kleine Schwester handelte und nicht um die Ehefrau. Kein Vorzeigepaar hin oder her, wir beide hatten eine ganz andere Beziehung zueinander und mittlerweile war ich gerne mit der zierlichen Blondine zusammen. Meine Laune mochte gerade noch nicht die beste sein, aber das würde sich bestimmt im Laufe des Tages richten. Der Trip war zwar keine Lösung für das Jagdproblem, aber er bot eine gute vorübergehende Ablenkung. Die ungewohnte Leggings an Riccardas Beinen war schon ein Highlight für sich, sollte sie mal ein paar Schritte vor mir herlaufen. Was das anging würde ich wohl immer sehr leicht zu manipulieren sein, was durchaus zu Gunsten des Engels sein konnte. Die Leggings, die ich sowieso nicht wirklich begutachten konnte, solange sie da auf dem Boden herumrutschte, verflüchtige sich aber schnell aus meinen Gedanken, als die junge Frau ihr Wort an mich richtete. Daraufhin fiel mein Blick erstmalig auf den Rucksack - zumindest einer von uns beiden schien mitgedacht zu haben. Allerdings war ich mir im Voraus auch gar nicht sicher damit gewesen, ob wir beide uns überhaupt auf ein paar gemeinsame Aktivitäten im Urlaub einigen konnten. Wie allseits bekannt unterschieden sich unsere Meinungen und Vorlieben nicht selten, da war auch hierbei mit Komplikationen zu kalkulieren. Scheinbar war das für heute jedoch nichtig und der Rucksack kam uns in jedem Fall zugute. Es wäre nicht verkehrt mir etwas Proviant einzupacken, gerade nachdem das Frühstück eher mau ausgefallen war. Zwar hatte ich gerade auch gar keinen Appetit, weil mir der vorhin vergangen war, aber der kam immer irgendwann wieder. Meistens früher als mir recht war, lag mein Energieverbrauch doch merklich über dem menschlichen. War aber auch kein Wunder, ich musste ja mehr oder weniger für Zwei essen. "Ja, besser wär's. Nicht, dass mir ein anderer Tourist zum Opfer fällt.", bejahte ich die Frage schließlich mit einem kleinen Scherz im Anhang und warf ihr nur noch einen kurzen Blick zu, bevor ich mich wieder in Bewegung setzte. Die Schuhe waren angezogen, fehlten also nur noch Geldbeutel und Handy. Ich schob beides in meine Hosentaschen und machte mich mit einem letzten Blick zu Riccarda dann auf den Weg nach unten. Die Küche war nicht so schön leer wie letzte Nacht, weil eine Bedienstete noch damit beschäftigt war die Überreste vom Frühstück des Engels zu beseitigen. Ich störte mich aber nicht wirklich daran, schien die Frau mich nach einem flüchtigen Lächeln in meine Richtung doch ganz von sich aus lieber mit einem etwas größeren Bogen zu umgehen. Entweder aus Respekt oder wegen meines noch immer nicht sonderlich freundlich wirkenden Gesichtsausdruck. Oder beides. Da ich im Gegensatz zu der zierlichen Blondine kein großer Obstverehrer war und davon im Ernstfall auch kaum satt werden würde, machte ich mir kurzerhand noch ein belegtes Brötchen. Ich ließ dabei ausnahmsweise die Extravaganz bei Seite und hielt es simpel, weil ich damit jetzt keine Zeit verschwenden wollte. Auch der Angestellten des Hauses war es sicher ganz recht, wenn ich hier nicht länger als nötig im Weg herum stand. Ich bat sie darum mir irgendwas zum Verpacken der Mahlzeit zu geben - ich kannte mich in dieser Küche eben nicht aus - ganz gleich ob es nun eine Brotbox oder Tüte wurde. Kaum war das Brötchen dann sicher in einer Box eingepackt und bereit, um verstaut zu werden, wandte ich mich zu Riccarda mit dem Rucksack um. Sie hatte in der Zwischenzeit zu mir aufgeschlossen und so wartete ich nur darauf, dass sie den Reißverschluss des leichten Gepäckstücks aufzog, damit das Brötchen hinein wandern konnte. An Getränke schien meine zwangsangetraute, bessere Hälfte bereits gedacht zu haben. "So, kann losgehen. Müssen wir ein Stück fahren oder geht's direkt zu Fuß los?", erkundigte ich mich und suchte erneut den Blick in Riccardas braune Augen. Erstens war ich einfach neugierig und zweitens wäre es schon gut für mich auch so in etwa den Ablauf der Dinge zu kennen, wo ich bei der Planung doch erfolgreich gefehlt hatte.
+ .Don't wait for the dust to settle. Don't wait til you've had enough. +
Obwohl es tendenziell nicht notwendig gewesen wäre, kramte ich dennoch ein weiteres Mal im Inneren des Rucksacks herum, um den Inhalt neu zu schlichten, sodass mit Bestimmtheit keine Ecke durch den Stoff hindurch in meinen Rücken drücken konnte. Sobald ich mich mit meinem Ergebnis zufrieden gab, kam ich selbst wieder auf die Beine, wodurch auch mein Nacken extrem entlastet wurde, da ich nun nicht länger meinen Nacken so überdehnen musste, um zu dem dunkelhaarigen Riesen empor zu schauen. Isaacs Bemerkung ließ mich nur kurz stocken, lockte aber doch eine erkennbare Reaktion hervor, die dem wachsamen Wolf wahrscheinlich nicht entging. Darüber machte ich mir aber ehrlich gesagt weniger Gedanken als die – hoffentlich als Scherz gemeinte – Anmerkung über potentielle menschliche Opfer, sollte sein Appetit frühzeitig zurückkehren und keine alternative Möglichkeit zur Essensaufnahme parat stehen. Ein gewisser Argwohn stand mir ins Gesicht geschrieben, dennoch hielt ich mich mit einem Kommentar zurück. Ich redete mir lieber ein, dass es als ein unangebrachter Witz nach der bescheidenen Jagd zu verbuchen war. Mein Gefährte verließ unser zugesprochenes Schlafzimmer ein paar Minuten vor mir, da ich sicherheitshalber noch ein zweites Paar Socken zum Wechseln, falls ich bei der Rafting-Tour nasser wurde als gedacht, einpackte und mich vergewisserte, dass ich wirklich nur die essentiellen Dinge mitnahm und nicht mit Übergepäck am Rücken den Tag fristen müsste – bei zu viel Stauraum tendierte ich zu einer überaus anstrengenden Eigenheit meiner Mutter und nahm tausend zusätzliche Utensilien mit, die man ja womöglich auch benötigen würde. Beim letzten Check fand ich nichts, was sich entbehren ließ, sodass ich den Rucksack schulterte und erleichtert feststellte, dass das Gewicht auf meinen Schultern durchaus erträglich wog. Eigentlich befand ich mich schon fast auf dem Weg aus dem Raum hinaus, als ich noch einmal umdrehte, den Rucksack ablegte und im Bad verschwand. Sicher war sicher, denn Isaac würde mich wahrscheinlich mit Blicken killen, bräuchte ich nach der ersten halben Stunde bereits eine WC-Pause. Im Badezimmer kam mir auch noch die Idee, vielleicht eine dünne Schicht Sonnencreme für alle Fälle aufzutragen, weshalb es dann doch zusätzliche Minuten brauchte, ehe ich samt Rucksack das Zimmer verließ. Mit beschwingten Schritten trabte ich hörbar die gekrümmte Treppe hinab und steckte meinen Kopf bei der halb offenstehenden Tür zur Küche hindurch, um zu überprüfen, ob Isaac vielleicht schon draußen auf mich wartete. Nein. Nun, da ich den jungen Mann ausfindig gemacht hatte, lehnte ich mich entspannt gegen den Türrahmen und sah dabei zu, wie eine Angestellte merkbar aufgescheucht in einem der hohen Regale kramte, während Isaac abwartend neben der Kücheninsel stand und zuschaute. Die vielen Beobachter schienen die Fremde offensichtlich nervös zu machen, denn das erleichterte Seufzen, als sich der Dunkelhaarige mit der Box beschäftigte und sich anschließend an mich wandte, bildete ich mir definitiv nicht ein. Reflexartig streckte ich meine Hand nach der Jausenbox aus und rutschte gleichzeitig aus einem der Riemen, sodass der Rucksack sacht gegen meine Seite schlug und ich mich nicht großartig verbiegen musste, um den Gegenstand der kleinen Ansammlung hinzuzufügen. Mit einem hörbaren Geräusch zog ich den Reißverschluss entschieden zu und winkte der Angestellten mit einem Abschiedsgruß zu, ehe ich mich aus der Küche zurückzog und in gemütlichem Tempo zur imposanten Eingangstür schlenderte. „Wir fahren mit dem Jeep an die andere Seite der Stadt, dort sollte es eh einen Parkplatz laut Internet geben und ab dann geht’s zu Fuß weiter“, informierte ich Isaac im Gehen, bevor ich an einer antik wirkenden Kommode Halt machte und in dem geflochtenen Körbchen nach einem Schlüssel mit Anhänger in Form einer Hibiskus-Blüte suchte; der Schlüssel zum Jeep meiner Tante. Als ich das Herrenhaus verließ, schlug mir augenblicklich die warme Luft entgegen. Hier schienen die Temperaturen schneller hinauf zu klettern als daheim – verständlich, mein Körper hatte sich aber längst nicht an diese Umstellung gewöhnt. Automatisch empfand ich Erleichterung, dass wir uns primär im schattigen Wald aufhielten. Die Route, die ich mir ausgesucht hatte, war etwas anspruchsvoller, sodass uns kaum Familien mit Kindern über den Weg rennen würden, aber dennoch nicht für Wanderprofis ausgelegt. Die Bilder hatten auf der Website vielversprechend ausgesehen. „Möchtest du fahren oder soll ich?“, fragte ich Isaac mit einem Schulterzucken. Normalerweise saß er immer hinter dem Steuer, aber in diesem Fall wusste ich, wohin die Reise ging und kannte auf die Gegend besser. Ich entschied kurzerhand und ohne auf seine Antwort richtig zu warten, dass ich die Rolle des Chauffeurs übernahm und öffnete den Geländewagen mit einem Klick auf die Schlüssel. Sobald auch die Beifahrertür wieder zuschlug und ich mich am Fahrersitz eingerichtet hatte – der Größenunterschied zu meiner Tante war kaum merklich, sodass eigentlich nur eine Feinadjustierung der Spiegel nötig war – parkte ich den Jeep aus und fuhr mit einem kleinen Umweg aufgrund einer Baustelle durch die bereits gut belebte Stadt. „Es findet übrigens auch demnächst irgendeine Festlichkeit am Marktplatz statt. Ich hab schon wieder vergessen, was genau gefeiert wird, aber es soll ziemlich groß aufgezogen werden mit Feuerwerk und Musik und Showeinlagen und sowas.“ Ein bisschen fremde Kulturen kennenlernen schadete bekanntlich nie. Trotz des vermehrten Verkehrsaufkommens beziehungsweise der unzähligen Fußgänger und Radfahrer, die kreuz und quer auf den Straßen ihren Tätigkeiten nachgingen, kamen wir flott voran und wir verloren kaum Zeit, ehe ich den Jeep nahe einer gewaltigen Karte mit sämtlichen notierten Routen parkte.
Riccarda ließ sich mit der Antwort auf meine Frage nicht lange Zeit und es schien erst eine kurze Strecke auf vier Rädern zurückgelegt zu werden. Mir war das recht, auch wenn ich sicher genauso wenig ein Problem damit gehabt hätte die Strecke vollständig zu Fuß zurückzulegen. Natürlich war das zeitlicher Mehraufwand, aber an Kondition und Motivation mangelte es mir nun wirklich nicht. Andererseits würde ich langfristig vielleicht etwas öfter eine einminütige Atempause machen, als das bei für mich normaler Außentemperatur der Fall wäre. Kaum war ich mit Riccarda draußen befand ich mich nicht mehr in der angenehmen Wolke der Klimaanlage, sondern wurde erneut mit dem tropisch warmen Klima der Insel konfrontiert. Für einen Wolf hatte es auf der Insel eine nicht ganz optimale Temperatur, aber das wurde sicher auch einfacher, je länger man als Gestaltwandler hier wohnte. Wir waren ja doch sehr anpassungsfähige Wesen und ohne den Pelz war es ja auch relativ gut aushaltbar. Nur mit dem Wolfsfell wurde es dann eben doch schnell etwas zu warm. Die Frage der zierlichen Blondine hätte ich beinahe automatisch mit einem 'Ja, gib her.' beantwortet. Andererseits kannte ich mich hier jedoch kaum aus und müsste den Engel demnach womöglich ständig fragen, ob es weiter geradeaus ging oder ich abbiegen musste. Ich ließ mir mit der Antwort so viel Zeit, dass Riccarda kurzerhand selbst eine Entscheidung traf. Ich rollte mit einem schwachen Grinsen die Augen nach oben, als ich rüber zur Beifahrertür ging und einstieg. "Danke der Nachfrage.", meinte ich ironisch, als ich mich anschnallte. Allerdings nicht negativ behaftet, eher amüsiert. Meine Augen tasteten die Umgebung ab, während der Engel uns beide durch die Stadt fuhr. Es war kein Wunder, dass schon viele Leute auf den Beinen waren und reges Treiben herrschte, wo wir beide heute doch ziemlich spät dran waren. Es gab für meine ohnehin dauerhaft neugierigen Augen einiges zu beobachten, während wir unseren Weg zu dem Wanderpfad zurücklegten. Das war das Gute daran, nicht selbst fahren zu müssen. Als die zierliche Blondine hinter dem Steuer auf ein Fest zu sprechen kam, drehte ich den Kopf vom Fenster weg und zu ihr rüber. "Das is aber nicht in...", ich brach noch einmal ab und rechnete gedanklich nach, sah dabei an Riccarda vorbei aufs Lenkrad. Die Rechnerei war nicht unbedingt nötig, weil sich der Vollmond auch gefühlsmäßig recht zuverlässig von mir schätzen ließ, aber fast sicher genau da reichte in diesem Fall nicht aus. "...drei Tagen, oder? Da ist Vollmond.", hakte ich inklusive knapper Erklärung nach. Sollte sich das Fest in der Vollmondnacht wiederfinden, dann hatte das nicht nur Auswirkungen darauf, dass ich kaum mit dem Engel dorthin gehen können würde. Normalerweise mied ich größere Menschenansammlungen in wölfischer Gestalt instinktiv, aber bei Vollmond wurde ich gerne größenwahnsinnig. Noch mehr, als ich das zeitweise ohnehin schon war. Ich müsste mich dann definitiv außer Hör- und Geruchsweite des Festes bringen, wenn ich auf Nummer sicher gehen wollte. Also auch möglichen Wind mit einkalkulieren, der meine Sinne bei günstiger Richtung um ein vielfaches erweiterte. Auf dem Parkplatz angekommen und angehalten zögerte ich nicht den Sicherheitsgurt zu lösen und auszusteigen. Allerdings schnappte ich Riccarda den Rucksack unter der Nase weg, weil sie den jetzt nicht zu tragen brauchte. Er mochte zwar nicht unnötig schwer sein, hatte sie doch scheinbar keinen überflüssigen Kram mit eingepackt, aber sie war schlichtweg die Frau von uns beiden. Engel waren stärker als gewöhnliche Menschen, aber wenn sie schon einen Kerl wie mich mit sich herumschleppte, dann konnte ich das Zeug auch tragen. Meine Füße brachten mich kurzum zu der Wanderkarte und ich sah mir die verschiedenen Routen etwas genauer an. "Welche ist es?", fragte ich die zierliche Blondine, ohne den Blick von den eingezeichneten Wegen zu nehmen. Teilweise kreuzten sie sich einmal. Ich brauchte zwar keine Karte, um den Weg zurück nach Hause zu finden, aber es konnte sicher nicht schaden sich die Wege grob einzuprägen. Fotografisches Gedächtnis hatte ich leider keins.
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Seinen ironischen Kommentar durfte Isaac sich dorthin schieben, wo die Sonne niemals hin schien. Entgegen meinen frechen Gedanken schenkte ich ihm ein schiefes Grinsen hinsichtlich seiner Worte, bevor ich mich hinter dem Lenkrad einrichtete und den Jeep vom Grundstück meiner Verwandten lenkte. Die Straßen wirkten geradezu verstopft, dennoch stand einem guten Vorankommen nur die Baustelle im Weg, die wir dank der Umfahrungsschilder sehr bald hinter uns lassen konnten. Der Verkehr ging flüssig, entsprach aber ganz dem Klischee von ungehaltenem Hupen und halb aus dem verbeulten Auto gelehnten, gerufenen Schimpftiraden. Zugegebenermaßen fühlte ich mich zunächst eingeschüchtert und überfordert, aber niemals gäbe ich mir freiwillig die Blöße, um vor meinem stichelnden Gefährten die Nerven offensichtlich zu verlieren – normalerweise stritten sich meine Brüder um die Rechte des Fahrens, sodass ich als Jüngste ohnehin in ihrer Gegenwart niemals zum Zug kam. Immerhin gewöhnte ich mich derart rasch an diese pulsierende Gewalt an Eindrücken, sodass ich das erspähte Plakat nicht nur erfassen, sondern auch vor Isaac ansprechen konnte. Ob er den Flyer ebenfalls entdeckt hatte? Zuerst hatte ich noch gezögert, da es mir doch nach wie vor surreal vorkam, gemeinsam mit dem jungen Mann etwas zu unternehmen. Normale Aktivitäten, keine Kämpfe um Leben oder Tod, weil zur falschen Zeit die falschen Worte ausgesprochen worden waren und die Kluft zwischen uns weiterhin zu groß war, um über kleine Fehltritte hinwegsehen zu können. Zögerlich – und maximal eine Sekunde andauernd – huschte mein Blick zu dem Beifahrersitz, auf dem der Dunkelhaarige aus dem Fenster schaute und die vorbeiziehende Kulisse in all ihrer Farbenpracht beobachtete. Ob wir zusammen ein Straßenfest besuchen konnten, ohne ein Drama loszutreten oder meine Wenigkeit zu tief ins Glas schauen zu lassen? Im Grunde galt der ausstehende Tagesauflug als Testlauf: fernab jeglicher Möglichkeit, sich mit Alkohol die Sinne zu benebeln oder auf die Schnelle Abstand zu gewinnen. Beim Aufstieg zu dem Rafting-Treffpunkt wäre die Flucht sicherlich noch eine Option, aber eingesperrt auf einem Schlauchboot inmitten von Stromschnellen entfernte es sich längst nicht mehr so einfach. Während ich meinen Gedanken nachhing, kam Isaac zu einer Antwort. „Ahm“, reagierte ich im ersten Moment nur semiprofessionell und versuchte im Kopf das lediglich flüchtig betrachtete Plakat erneut vor meinem geistigen Auge zu projizieren. Selbstverständlich spukte Isaacs animalische Hälfte stets in meinem Hinterkopf herum, aber an einem sonnigen, fröhlichen Sommertag mitten in den Tropen dachte ich nicht an die Kräfte eines Vollmondes und was dies käsige Scheibe am Himmel mit meinem Partner anstellte. „Ich werde mich später schlau machen, habe es aber als ein mehrtägiges Event über das kommende Wochenende aufgenommen“, überlegte ich laut, zuckte aber anschließend mit den Schultern. Meine Vermutungen mussten erst bestätigt werden. War ich enttäuscht? Die Erkenntnis darüber, überraschte mich doch. Obwohl noch nichts feststand, sah ich ein, dass es an egoistisch-fahrlässiger Dreistigkeit meinerseits grenzte, sollte ich nun die beleidigte Freundin spielen, weil sie ihren Willen trotz nachvollziehbarer Argumentation nicht bekam. Momentan war mir nur wichtig, dass Isaac diesen inneren Kampf nicht mitbekam, denn gerade wusste ich nicht, wie ich mich dazu äußern sollte. Dazu sah ich mich schlichtweg nicht bereit. Glücklicherweise erreichten wir schnell den – für Touristen schon mehrere Abbiegungen zuvor angezeigten – Parkplatz, der wie eine willkürlich in das Dickicht des Waldes geschlagene Lichtung auf mich wirkte. Der Jeep rumpelte über den unebenen Untergrund, als ich mir eine Lücke abseits der restlichen Autos aussuchte und bei Stillstand den Motor abstellte. Während Isaac es sichtlich eilig hatte, aus dem Gefährt zu kommen, was ich mal nicht als stummen Kommentar zu meinen Fahrkünsten wertete, ließ ich mir beim Abschnallen Zeit und fischte noch nach dem Rucksack, griff dabei aber ins Leere. Suchend wanderte mein Blick durch das leicht staubige Beifahrerfenster hinaus, wo ich Isaac bereits samt Gepäck zur großen Übersichtstafel streben sah. Ein schmales Lächeln lockerte meine Gesichtszüge auf. Da ich den großgewachsenen Kerl mit dem augenscheinlichen Bewegungsdrang nicht zu lang warten lassen wollte, beeilte ich mich dann doch, zu ihm aufzuschließend und ebenfalls einen Blick auf die verwitterte Karte zu werfen. Zuvor versicherte ich mich erneut, ob ich den Jeep auch wirklich verschlossen hatte. Erst nach dieser Vergewisserung konzentrierte ich mich richtig auf die Veranschaulichung und suchte nach dem Fluss, der unseren Rückweg markierte. „Hier, die hellblaue Route ist unsere“, tippte ich auf die bunte Linie und fuhr sie ein Stück weit mit dem Finger nach. Der Wanderweg kreuzte sich mit einer Route für ausdauernde Experten und zwei Spazierwegen im flacheren Bereich. Es gab auch eine eingezeichnete Schotterstraße, auf der wahrscheinlich die Schlauchboote, Verpflegung und dergleichen hinauf in die kleine Station befördert wurden, die unser Ziel darstellte. „Wir wollen bis zu diesem roten Punkt“, zeigte ich Isaac die Markierung. Unser Pfad verlief nicht exakt daran vorbei, aber so schwer würde das mit einem Werwolf im Handgepäck schon nicht zu finden sein. Ich fühlte mich zumindest zuversichtlich, dass wir den Treffpunkt zur vereinbarten Zeit erreichen würden.
Meine Aufmerksamkeit war unterwegs Vielem zuteil geworden und dennoch gehörte das Plakat, das auf das Fest aufmerksam machen sollte, gewiss nicht dazu. Ich fokussierte mich meistens instinktiv auf alles, was sich bewegte. Auf den Verkehr. Die Leute, die auf dem Gehweg oder über den Zebrastreifen bei einer Ampel gingen. Die Blätter einer Palme dicht an der Straße, die sich durch den Fahrtwind der Autos leicht hin und her wogen. Zwei sehr bunte Vögel, die dicht hintereinander, aber in einigen Metern Entfernung und in sicherer Höhe die Straße überquerten. Aber ein Plakat? Nein. Vielleicht hatten wir ja Glück und es war tatsächlich ein Event, das sich über mehrere Tage erstreckte. Oder es fand nur an einem Tag statt und fiel eben einfach nicht genau auf den Vollmond in drei Tagen. Zumindest eins von beidem wäre wünschenswert. "Dann mach dich einfach mal schlau, wenn wir später wieder bei deinen Verwandten sind. Ich hätte schon Lust dazu, wenn's passt.", meinte ich mit einem schwachen Schulterzucken. Es würde nicht schwer sein später in unserer vorübergehenden Unterkunft kurz das Internet dazu zu befragen, oder nochmal auf das eigentlich gar nicht mal so kleine Plakat auf dem Rückweg zu sehen, das mir bisher entgangen war. Man konnte seine neugierigen Augen eben einfach nicht überall haben, auch nicht mit zwei verschiedenen Persönlichkeiten im selben Körper. Es wäre trotzdem schön, wenn das mit dem Fest hinhauen würde. Wie allseits bekannt war, hatte ich eigentlich nie etwas gegen eine Party einzuwenden - ganz gleich in welcher Form oder wo. Ich war zumindest oberflächlich ein geselliger Mensch und außerdem tat mir jede Stunde gut, die ich direkt oder indirekt allein mit dem zierlichen Engel hatte. Jene gemeinsamen Stunden waren zweifelsohne auch einfach wichtig für uns. Gerade nach dem gestrigen, etwas sehr spontan verlaufenen Abend. Dank des Alkoholkonsums musste ich mich leider unweigerlich schon wieder fragen, was von Alledem denn nun wirklich echt war und welcher Teil nur dem Nervengift entsprang. Das Ganze hatte einen bittersüßen Beigeschmack, weil ich zu wissen glaubte, dass Riccarda mich nicht so geküsst hätte, wenn sie nüchtern gewesen wäre. Zumindest nicht so, nicht auf diese Art. Die gescheiterte Jagd heute morgen trug auch nicht unbedingt gut zu all meinen Grübeleien bei, wo meine Laune doch noch immer nicht unbedingt am höchsten Punkt des Fahnenmasts angekommen war. Es lag jetzt also wahrscheinlich an dieser Tour, das zu ändern. Mindestens meine Laune und von mir aus durfte der Tagesausflug ebenfalls gerne die Ungewissheit beiseite schaffen. Auch wenn ich gerne so tat, als wäre mir das alles egal. Das war's eben nicht, schon länger nicht mehr. Ich folgte Riccardas Finger aufmerksam mit meinen Augen, als sie die blaue Linie entlang strich. Mein Blick blieb dann an dem roten Punkt hängen, an dem offenbar die kleine Bootstour auf uns beide wartete. Schien als würden wir zumindest ein kleines Stück weit nicht nur stumpf einem vorgezeichneten Weg folgen müssen, wobei sicherlich auch vom Wanderweg weg sowas wie ein kleiner Trampelpfad erkennbar sein würde. Glaubte ich zumindest, aber an Touristen mangelte es dieser Insel eben nicht unbedingt. Die Vermutung lag also nahe, wenn sie auch keine Garantie sein mochte. Zur Not hatten wir andernfalls immer noch meine Nase, die mich zielstrebig zu dem Spot führen würde. Menschen waren leicht aufzuspüren mit ihren tausend verschiedenen Deodorants und Parfüms. "Sieht machbar aus.", stellte ich fest und zuckte schwach mit den Schultern, bevor ich einen kurzen Blick auf Riccardas Gesicht warf. Dort blieben meine Augen jedoch nicht lange kleben, weil ich mich stattdessen langsam in Bewegung setzte. Wir wollten ja heute noch ankommen, oder? Bevor schon alle Boote ohne uns den Fluss runtergeschwommen waren, oder so. "Dann mal los...", meinte ich, nachdem ich mich einen kurzen Augenblick lang umgesehen hatte und setzte mich noch dabei in Bewegung. "Den letzten beißen die Wölfe... äh, die Hunde natürlich.", wurde ich einen stumpfen Witz los und warf dem Engel ein schiefes Grinsen zu. Nein, hier wurde heute Niemand gebissen. Die streunende Hunde blieben sicherlich lieber bei den Touristen in der Stadt und Wölfe gab es hier nicht. Glaubte ich jedenfalls. In unmittelbarer Nähe waren auf jeden Fall keine, das würde ich wittern. Die Insel war jedoch zu groß, um das von meinem jetzigen Standort aus vollumfänglich zu beurteilen. Ich ging jedoch eher nicht davon aus, der miserablen Futterverhältnisse wegen. In jedem Fall war ich froh darum, dass nicht allzu viele Touristen dieselbe Route zu wählen schienen, wie Riccarda und ich. Nur in größerer Entfernung hörte ich Stimmen, sichtbar war auf den ersten Metern aber Niemand. Ein wahrer Segen.
◈ pain is the feeling of weakness leaving the body ◈