Genau in diesem Moment befanden wir uns an einem maßgeblich entscheidenden Wendepunkt für zukünftige Annäherungen. Mir bedeutete die verbale Versicherung seitens Isaac durchaus etwas und ich schenkte seiner Überzeugung gerne Glauben, aber wirklich sicher würde ich mir erst sein, wenn auch seine Taten diesen Worten entsprachen. Mir wäre es doch selbst ebenfalls sehr viel lieber, wenn diese unterschwellige Angst endlich verschwinden würde und ich mich bereitwilliger auf Isaacs Nähe einlassen könnte, doch die Prägung dank unserer ersten körperlichen Berührung erfolgte zu verletzend, zu negativ… es hatte lang gebraucht, um dem jungen Mann wieder Vertrauen entgegen bringen zu können, doch dieser letzte, noch ausstehende Schritt des Fallenlassens in körperlicher Hinsicht fehlte noch. Dazu fühlte ich mich allen Anschein nach noch nicht imstande und würde deshalb auf die Verlässlichkeit seines Versprechens hoffen müssen. Zwar gehörte ich gewiss nicht zu den devoten, schwachen Persönlichkeiten der Gesellschaft, aber gegen die wölfische Übermacht meines Partners richtete ich vergleichsweise wenig aus, sofern ich ihm keinen ernsthaften Schaden zufügen wollte; und dafür widerstrebte mir bereits der alleinige Gedanken und galt dementsprechend nicht als Option. Ohne es aktiv zu denken beziehungsweise bewusst zu erleben, fürchtete sich ein kleiner Teil in mir vor seiner Reaktion auf diese sachte, aber deutliche Zurückweisung. Wir waren an einer unsichtbaren Stopplinie angekommen, die ich noch nicht bereit war zu überschreiten, während Isaac mit den Pfoten am Boden scharrte – metaphorisch gesprochen, denn der Dunkelhaarige schien meinen Rückzug vollkommen gelassen zu antworten: seine warme Hand verschwand von meinem Hals und auch sein Gesicht tauchte nun wieder unmittelbar vor mir auf. Automatisch suchte ich in seinen Augen nach einem Funken Wut oder Bitterkeit, aber ich fand nur eine unerwartete Ausgeglichenheit in seinem Blick. Ich dachte nicht, dass ich eine Antwort auf meine eingeworfene Frage erhalten würde, doch Isaac war es noch nicht müde geworden, die lauernden Bedenken aus meinem Kopf zu verjagen. Dankbarkeit wogte in kleinen Wellen durch mein Inneres hindurch. Unweigerlich zeigte sich ein kleines Lächeln auf meinen Zügen. Ich wusste, wie viel Beherrschung ihn dieses Loslassen und rasche Anleinen seines Verlangen kostete oder zumindest besaß ich eine gute Vorstellung vom Ausmaß der Angelegenheit, um mir im Klaren darüber zu sein, dass er meine Komfortzone auch in Zukunft stetig herausfordern und ausdehnen würde; mit dem Ziel, sich endlich frei darin bewegen zu dürfen. Mein Gedankengang zerstob bei dem kurzen Kuss. Das Thema galt hiermit als beendet und ich stellte fest, dass ich mich gar nicht so dämlich oder unwohl in meiner Haut fühlte, wie ich anfangs angenommen hatte, nachdem meine Bereitschaft zu Körperkontakt zusehends schrumpfte. Die spitze Anmerkung auf meine Kosten quittierte ich mit einem feixenden Verziehen meines Mundes, bevor sich der Ausdruck wieder glättete. Wie subtil. Dank Erfahrungen kannte ich aber die direkte Alternative auch, weshalb mir dieser minimale Seitenhieb keinen Zacken aus der Krone brach. Doch Isaac legte einen obendrauf, natürlich. Dezent amüsiert beobachtete ich den großgewachsenen Mann dabei, wie er sich demonstrativ von mir abwandte und sich dann von sämtlichen Stoffschichten befreite. Ich beschwerte mich nicht, denn allein der von Muskelsträngen fein definierte Rücken ließ sich hübsch ansehen und es trug immerhin zu meinem Vorteil bei, dass er meinen (eventuell gaffenden) neugierigen Blick nicht mitbekam. Selbstverständlich sah ich ihm nach, wie er mit sportlicher Eleganz in das Wasser tauchte. Ich schenkte ihm diese paar Minuten der Erfrischung, froh über die unbeobachteten Momente für mich, in denen ich die Augen schloss und mir mit beiden Händen über die Haare nach hinten fuhr, dabei tief durchatmete. Mein Herzschlag erholte sich nur langsam, aber das leichte Beben war bereits verebbt. Trotzdem schaffte ich es kaum länger, ruhig am Boden hocken zu bleiben, weshalb ich hinüber zu dem Rucksack marschierte und in dem Gepäckstück nach der Wasserflasche suchte, um ein paar Schlucke zu trinken. Ja, mein Mund fühlte sich noch immer ein bisschen zu trocken an. Willkürlich flatterte mein Blick immer wieder zu dem planschenden Kerl hinüber, der in der Zwischenzeit wieder dem Verlangen nach Luft nachgebend aufgetaucht war und nun gemütlich durchs Wasser paddelte. "Kommst du? Wenn du unbedingt schwimmen möchtest, schubs ich dich später aus dem Schlauchboot", erinnerte ich Isaac an unser ausstehendes Programm. Dabei ließ ich mir die sarkastische Bemerkung nicht nehmen. Es wäre höchstens seltsam den restlichen Weg über, wenn ich nun in Gedanken versunken Konversationen auswich oder allgemein den Kontakt zu Isaac mied.
Das Wasser begrüßte mich nicht mit eisiger, aber angenehm kühler Temperatur. Es entpuppte sich als ein wahrer Segen für meinen unter Strom stehenden und von der Sonne allgemein sehr aufgeheizten Körper, als das kühle Nass meine Haut umspülte. Trotzdem dauerte es auch unter Wasser noch einen kurzen Moment, bis ich die Gedanken an Riccarda mit einem unbewussten Lächeln endgültig verbannt hatte. Es war wirklich ein gutes Gefühl, dass wir beide Fortschritte miteinander machten. Nur langsam, aber nach der Aussprache heute Vormittag ging es ab jetzt sicher etwas stetiger voran. Zumindest hoffte ich das, die etwas hitzigere Annäherung von gerade eben sprach schonmal dafür. Vorerst wurden aber alle Gedanken an unser heißes Aufeinandertreffen verdrängt und ich genoss es ein paar Minuten meine Bahnen durch den kleinen See zu ziehen. Sowohl unter, als auch oberhalb der Wasseroberfläche. Meinem Kopf tat die Abkühlung auf jeden Fall gut, weshalb ich zu Anfang überwiegend unterhalb des Wasserspiegels zugange war, wenn ich nicht gerade Luft holte. Als ich dann genug vom Tauchen hatte, drang mir jedoch schon bald die Stimme des Engels an die Ohren und ließ mich unwillkürlich grinsen. Jaja, die Zeit... das Rafting. So spät war es doch noch gar nicht, oder? Ich schwamm erst noch ein Stück, bevor ich mich dazu bewegen konnte wieder zurück in Richtung meiner Begleitung zu schwimmen, damit sie mich beim Antworten auch verstehen konnte. "Kannst ja schonmal loslaufen, wenn du's sonst nicht rechtzeitig schaffst..?", formulierte ich meine Widerrede zum sofortigen Aufbruch in einer indirekten Frage, während ich nur langsam zu ihr zurück schwamm. Wohlwissend, dass Riccarda im Gegensatz zu mir keine tierischen Ortungssinne besaß und sich im schlimmsten Fall schrecklich hier im Wald verlaufen könnte, falls sie den Weg, von dem wir vorhin bewusst abgekommen waren, nicht auf Anhieb wiederfand. Hätte sie als Kind mal lieber eine Pfadfinderschule besucht, dann bräuchte sie nicht meine tierische Spürnase. "Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich hol' dich schon ein.", fügte ich bester Laune leicht summend und grinsend an, so als wüsste sie das nicht längst. Es war eben schon praktisch, wenn man sich aussuchen konnte, wie schnell man vorwärts kommen wollte, weil man sich zwischen zwei Gestalten entscheiden konnte. Das blieb dem Engel verwehrt. Flügel hatte sie keine, also blieb ihr höchstens Joggen oder Rennen übrig. Beides war in dieser Hitze allerdings absolut nicht zu empfehlen, vielleicht sollte sie also wirklich lieber langsam loslaufen. Zugegeben amüsierte mich der Gedanke ungemein, wie sie sich halb zu Tode erschreckte, wenn ich plötzlich hinter ihr auftauchte und ich sie auf ihrem Weg einsammelte, um sie zurück in die richtige Richtung zu lotsen. Wobei es an dieser Theorie den immensen Haken gab, dass sie Zeit verlieren würde, wenn sie erstmal fröhlich in die falsche Richtung weiter wanderte. Was wiederum unweigerlich zurück zu dem Gedanken führte, dass ich sie dann tragen müsste, damit wir's noch rechtzeitig schafften. Herrje, menschliche Beine waren so schrecklich einschränkend. Natürlich konnte ich mich nicht immer und überall willkürlich in einen Wolf verwandeln - wenn ich inmitten des Großstadtverkehrs spät dran war, dann konnte ich nicht mal eben ein Taxi zu meiner Verwandlungskabine umfunktionieren und danach den Bürgersteig entlangsprinten. Auf relativ anspruchsvollen und deshalb eher leblosen Wanderwegen inmitten eines Dschungels waren vier Pfoten aber doch sehr praktisch. Ich brauchte den Weg gar nicht zu nutzen, sondern konnten mich problemlos in einigen Metern Entfernung an ihm orientieren, ohne gesehen zu werden, selbst wenn sich Menschen auf jenem Weg befanden. Gerade in einem dichten Wald wie diesem hier war das ein leichtes Spiel, mein schwarzes Fell war in den Schatten der Bäume erst recht schlecht zu sehen. Wie auch immer das hier jetzt weiterging, sollte ich wahrscheinlich so oder so aber schonmal langsam raus aus dem Wasser. Also begann ich langsam nach einer Stelle am Ufer Ausschau zu halten, die sich am besten zu einem unkomplizierten Ausstieg eignete. Das war bei Seen leider immer schwieriger als am Meer.
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Die Hände in die Hüften gestemmt, um eine möglichst drängende Haltung zu signalisieren, stand ich am Ufer des Gewässers und verließ mich darauf, dass Isaac trotz des tosenden Lärms der herabstürzenden Wassermassen meine Worte oder eher den Inhalt meiner Aussage richtig verstand und sich dementsprechend auch anschickte, seine Karriere als Meerjungfrau vorerst an den Nagel zu hängen. Es überraschte mich nicht im Geringsten, dass der Dunkelhaarige sich von meiner zur Eile beschwörenden Mahnung kaum beeindrucken ließ und in gemütlichen Schwimmzügen näherkam, bevor er mir seine Antwort lieferte. Im ersten Impuls wünschte ich mir sehnlichst, seinen Hitzkopf unter die Wasseroberfläche drücken zu können oder vielleicht irgendetwas Hartes nach ihm zu schmeißen. Diese Optionen standen mir leider nicht offen, weshalb ich mich mit einem gekünstelten, deutlich übertriebenen Lachen äußerte. Wie witzig er doch wieder war. Eigentlich freute mich seine Kühnheit tatsächlich, immerhin bedeutete diese freche Provokation nur, dass zwischen uns alles beim Alten war und sich höchstens in eine positive Richtung weiterentwickelt hatte. Trotz dieser konstruktiven Auseinandersetzung mit unseren jeweiligen Standpunkten verspürte ich gerade große Lust danach, ihn an Ort und Stelle den Rücken zuzuwenden und mein Glück tatsächlich auf eigene Faust herauszufordern – leider erwies sich mein Orientierungssinn noch nie als sonderlich zuverlässig und ich traute mich sehr viel Geld zu verwetten, dass ich beim Versuch, den Weg zurück auf unsere zugedachte Wanderroute zu finden, einen Irrweg einschlug. Isaac müsste mich im schlimmsten Fall irgendwo einsammeln und dann dürfte ich mir seinen Sarkasmus gefallen lassen. Die Dosis machte bekanntlich ja das Gift, weshalb man nicht an einem einzelnen Tag direkt mehrfach über das Ziel hinausschießen musste. Ein Gespräch über Gefühle und eine hitzige Begegnung plus damit einhergehende, indirekte Bemerkungen reichten mir für den Augenblick, da müsste ich die Liste nicht noch gezwungen um einen Punkt erweitern, mit dem mich der junge Mann aufziehen würde. Da fuhr wohl die Eisenbahn drüber. Außerdem meinte ich diese Zukunft im funkelnden Ausdruck seiner Augen erkennen zu können. Diese Schlacht gewann eindeutig Isaac. Die Erkenntnis traf mich nur halb so hart, wie sie vielleicht sollte und ich schlussendlich vorgab: brummend verschränkte ich die Arme vor der Brust und verdrehte mit besonders viel Nachdruck die Augen. „Also meine Optionen liegen darin, dass ich entweder auf gut Glück den Rückweg suche und Gefahr laufe, dass ich mir dann zumindest für den restlichen Urlaub anhören darf, wie du zu meiner Bergrettung eilen musstest, weil ich mich heillos verlaufen habe oder ich warte hier und darf dann hinter dir nachhetzen.“ Die Zusammenfassung meiner Auswahlmöglichkeiten schmiss mich nicht unbedingt vom Hocker, aber unterm Strich entschied ich mich für das geringere Übel. Bewusst seufzend suchte ich mir einen hübsch großen Stein, auf den ich mich setzte, um mein geduldiges Warten nonverbal zu vermitteln und sah dabei zu, wie sich Isaac ein paar Meter das Ufer entlangarbeitete. Ich wusste nicht so ganz, wonach er suchte, blieb aber gespannt – mehr Unterhaltung bot sich mir derzeit nicht. Erst nach ein oder zwei weiteren, verstrichenen Minuten verstand ich, dass er nach einer Ausstiegsmöglichkeit suchte und richtete meinen Blick ebenfalls kritisch auf die unwegsame Uferböschung. Entweder versperrte die Botanik samt großer Felsbrocken den Weg oder schlammiges Erdreich versprach eine Rutschpartie auf allen Vieren beim Weg nach oben. Mal schauen, ob Isaac ebenso elegant aus dem Wasser kam, wie er vorhin noch darin eingetaucht war. Im Herzen vergönnte ich es im zutiefst, dass es ihn auf die Schnauze legte; ohne Verletzung natürlich, aber einfach, um sein Ego wieder auf den Boden der Tatsachen zu befördern. Zu viel des Guten schadete sicherlich nur. Schlussendlich durfte ich mit vor Schadenfreude glänzenden Augen dabei zusehen, wie der athletisch gebaute Kerl sich über einen erdig-felsigen Teil an Land kämpfte. „Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“, flötete ich süßlich und klimperte mit den langen Wimpern als mich sein Blick traf. Gerade verspürte ich doch enorme Erleichterung hier draußen zu hocken, denn bei mir wäre der Anblick dieses Kampfes mit den Elementen sicherlich zum Schießen gewesen und das ersparte ich meinen Stolz dann doch ganz gerne. Glücklicherweise hatte ich mich gegen einen vorschnellen Aufbruch meinerseits entschieden, anderenfalls hätte ich dieses Schauspiel und damit einhergehend eine Gelegenheit verpasst, breit grinsend in den Genuss eines ansehnlichen Oberkörpers bei der Arbeit zu gelangen. Als er endlich draußen war, lachte ich ihm bereits entgegen: "Die volle Punkteanzahl kann ich dir leider nicht geben, aber für acht von zehn Punkten hat es dann doch gereicht." Ein spitzbübisches Funkeln belagerte meine Augen während ich ihm die Worte zuschickte.
Wirklich begeistert wirkte die zierliche Blondine nicht, als sie auf meinen wenig ernst gemeinten Vorschlag reagierte. Er war ein bisschen fies, aber sie kannte mich eigentlich nicht anders. Auch wenn ich all die kleinen Gemeinheiten, die ich ihr jetzt noch zukommen ließ, nie böse meinte. Es hätte ganz andere Ausmaße, wenn ich ihr wirkliches etwas Böses wollte, das wussten wir aus gemeinsamen Erfahrungen. Die Neckereien konnte ich mir leider nicht nehmen lassen, die brauchte ich. Das nicht zu übersehende Augenrollen des Engels hätte mich beinahe lachen lassen, aber das verkniff ich mir noch rechtzeitig. "Tja, wenn du's so formulierst... klingt's tatsächlich wenig verlockend für dich.", stellte ich absolut unschuldig grinsend fest, was ich längst wusste. Ich würde ihr nicht wortwörtlich unter die Nase reiben, dass sie mich fast schon zwingend brauchte, um ihre Bootstour noch antreten zu können, weil sie sich vorhin dazu entschieden hatte uns diesen privaten Moment am Wasserfall gönnen zu wollen, aber eigentlich war genau das der Fall. Man konnte diese Tatsache nur schwer anzweifeln, nachdem ich ihre Richtung schon vorhin leicht hatte korrigieren müssen und da hätte sie eigentlich nur ihrem Gehör folgen müssen. Ihr Orientierungssinn schien echt nicht der beste zu sein, was ihr offensichtlich bewusst war. Meine Schadenfreude verblasste zügig, als ich selbst mit den aktuellen Umständen zu kämpfen hatte. Ich war kurz davor zu meinen mit Krallen bestückten Pfoten greifen zu wollen, weil Hände und Füße im direkten Vergleich sehr schlechten Halt am teils rutschigen Ufer des Sees boten. Das Karma holte mich auf direktem Wege ein, weil aufgrund jener Tatsache Riccarda schnell diejenige war, die von uns beiden plötzlich mehr zu lachen hatte. Ich stellte mich beim Ausstieg zwar nicht völlig blöd an, aber auch mit meinem übermenschlichen Sinn für Gleichgewicht war es schlichtweg unmöglich, nicht einen oder zwei wackelig rutschige Schritten zwischendurch zu machen. Natürlich ließ meine Ehefrau es sich nehmen das Ganze amüsiert zu kommentieren, was ich mit hochgezogener rechter Augenbraue quittierte, als ich wieder mit beiden Beinen im Trockenen stand. Ich war drauf und dran einen scharfen Konter wegen ihres Lachens loszuwerden, besann mich dann aber eines besseres und kniete mich nochmal ans Wasser. Vermeintlich um mir die Hände vom restlichen Schlamm zu befreien, was ich auch tat - nur nahm ich mit dem rechten Daumen danach ein bisschen was von dem Schlamm am Rand des Wassers mit. "Sei nicht so geizig, der Schlamm war echt fies.", erwiderte ich trocken, als ich tropfend nass auf die junge Frau zuging. Nahm dann mit der sauberen Hand vorsichtig ihr schmales Kinn in die Hand und schmierte ihr die nasse Erde sowohl rechts, als auch links in Form eines Streifens großzügig auf die Wangen. "Lass es lieber ganz trocknen, bevor du versuchst es wegzuwischen. Geht dann effektiver.", gab ich ihr grinsend einen gut gemeinten Rat, bevor ich ihr Kinn ebenso behutsam wieder losließ und an ihr vorbei zu meinen Klamotten ging, um sie in den Rucksack zu stopfen. Dann griff ich ebenfalls noch einmal nach meiner Flasche, um einige Schlucke Wasser zu trinken. Riccarda sollte besser in den Tarnmodus mit Erde im Gesicht schalten, wenn sie mir durchs Dickicht folgte. War ja wichtig, dass sie genauso wenig gesehen wurde, wie ich selbst. Ich hatte mich unterbewusst wohl längst dazu entschieden, dass ich den Rest des Weges lieber auf Pfoten zurücklegen wollte, weil das für mich sehr viel weniger anstrengend war. Der Nachteil daran war allerdings, dass der weitere Weg für das Engelchen kräfteraubender wäre, weil es dann eben kein platt getrampelter Wanderpfad sein würde, den wir entlang schritten. Ich wollte nur ungern, dass sie mir dann die ganze Zeit in den Ohren lag. "Wobei... nein, lass die Erde gleich dran. Kann zur Tarnung kaum schaden, wenn du mit einem Wolf unterwegs bist.", klärte ich die junge Frau über meine eigenen Entscheidungen auf und zuckte mit den Schultern, als ich den Rucksack schloss. Die Erde würde kaum helfen ihren Geruch oder ihre förmlich in reinstem Gold schimmernden Locken zu verbergen, weswegen es sich dabei nur um einen Scherz handelte. Den Rucksack würde sie dann auch nehmen müssen, worüber sie sicher nicht begeistert sein würde. Zumindest nicht unter der Prämisse dabei auch alle Schritte selbst tätigen zu müssen. Ich schloss erneut zu ihr auf und stellte mich mit nach wie vor nass glitzernder Haut vor sie, sah einen Moment lang noch nachdenklich zu ihr runter und hielt ihr den Rucksack entgegen. Erst, als sie das Gepäck entgegen nahm, setzte ich etwas zögerlich zum Reden an. "Finger weg von meinen Ohren... und wenn du mir Haare aus dem Nacken zerrst oder mich wie einen Gaul antreibst, fliegst du sofort in hohem Bogen runter. Verstanden?", stellte ich mit eindringlichem Blickkontakt sehr simple Regeln auf, die zu befolgen nicht schwer sein würde. Es war nüchtern betrachtet schlichtweg die einfachste Variante für beide von uns. Es war wenig verlockend für mich, jetzt sofort mit den nassen Boxershorts zurück in die Shorts zu schlüpfen und wir konnten auch eher nicht mit dem Weiterlaufen warten, bis der Stoff irgendwann trocken war. Ich würde von ein paar Metern Engel tragen keine Rückenschmerzen kriegen, Riccarda musste mir nicht die Ohren vollkeuchen und konnte ihre Kräfte fürs Rafting sparen. Den Rucksack musste sie so auch nicht wirklich selbst tragen und ich konnte auf direktem Weg in entspanntem Tempo durchs Holz schreiten, wenn wir sofort aufbrachen. Das ließ sich mit dem dünneren Sommerfell bei diesen Außentemperaturen wahrscheinlich besser aushalten, als später zügig traben zu müssen. Außerdem hatte es noch einen anderen positiven Effekt - der Engel kam nur selten mit meiner wölfischen Gestalt in Kontakt und wenn doch, dann waren es meistens stressige bis wirklich schmerzvolle Situationen gewesen. Es war ein guter Weg dazu ihr zu vermitteln, dass sie vor meiner kalten Schnauze absolut keine Angst zu haben brauchte, solange wir beide uns auf einem solch guten Level miteinander bewegten und sie dem Wolf mit dem nötigen Respekt begegnete. Nein zu meinem indirekten Angebot zu sagen stand ihr natürlich ebenfalls frei, aber dann wollte ich auch kein Gejammer hören.
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Nein, die Versuchung eine der beiden miesen Optionen zu wählen fiel eher mittelmäßig aus – ich konnte mich gerade so zurückhalten; oder so. Isaacs Bestätigung klang nicht unbedingt nach Mitleid oder nach tiefgreifender Schadenfreude für meine Situation, er schien es lediglich ein wenig zu genießen, dass er mir ein Schnippchen geschlagen hatte. Mein emotionales Überleben stand dabei nicht auf dem Spiel, trotzdem funkelte ich ihn kurz aus zusammengekniffenen Augen an, um meine Empörung visuell durchsickern zu lassen. Eine Beschwerde, die kaum erstgenommen werden durfte, denn mir gefiel dieses unberührte Fleckchen Natur sehr gut. Wären da nicht weitere Programmpunkte am Plan, stünde ein paar erholsamen Stunden hier abseits der Wanderrouten nichts mehr im Wege. Hier ließ es sich definitiv aushalten, wie mir ein langgezogener Rundblick über meine Umgebung erneut verdeutlichte. Das Rauschen des Wasserfalls in Kombination mit den hellen Vogelstimmen in den säuselnden Baumkronen hatte eine geradezu meditative Wirkung auf mich. Dass sich Isaac schlussendlich sogar ein bisschen plagte, um wieder aus dem Wasser rauszukommen, stellte sozusagen die Kirsche auf meinem metaphorischen Eisbecher dar. Nun behagte mir unser Verhältnis wieder mehr, nach diesem dezenten Ausgleich der Schadenfreude. „Ich hab meinen Geiz schon maximal reduziert. In die acht Punkte ist der Freunde- und Familienbonus bereits eingeflossen“, informierte ich Isaac immer noch mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen und wechselte aber schnell zu einem skeptischen Gesichtsausdruck als der großgewachsene Dunkelhaarige wie ein angegossener Pudel auf mich zukam. Die Lufttemperatur strebte einem regelrecht unangenehmen Hoch entgegen, weshalb es mir nicht viel ausmachen würde, in eine feucht-kalte Umarmung geschlossen zu werden, nur fürchtete ich intuitiv, dass Isaacs Rache gemeiner ausfallen würde. Argwohn nistete sich in meine Augen ein, während er mit seinen kühlen Fingern nach meinem Kinn griff und dadurch meinen Kopf stabilisierte. Ich war bereits im Begriff zu fragen, was ihm denn jetzt schon wieder durch den Geist jagte, als ich die kalte, schlammige Erde auf meinen Wangen spürte. Da ich bereits zum Sprechen angesetzt hatte, stand mir der Mund schon halb offen, aber statt der süffisanten Frage drang nun ein echauffiertes Brummen aus meiner Kehle: „Das musste jetzt wieder sein?!“ Automatisch fuhr ich mir mit meinen Händen übers Gesicht, zumindest verlangte ein Reinlichkeitsdrang in meinem Verstand stark danach, aber bevor ich mir eine Schlammmaske verpasste, stoppten meine Finger vor den zwei glitschigen Streifen Dreck. Hatte Isaac recht und ich machte den Schaden nur schlimmer? Kritisch sah ich über die Schulter zu dem jungen Mann hinüber, wog die Eventualitäten ab und entschied mich – semiüberzeugt – dazu, dass ich ihm glaubte. Immerhin trocknete der Schlamm bei der Sonneneinstrahlung sicherlich schnell genug, redete ich mir gut zu und schloss zu Isaac auf, der sich am Rucksack zu schaffen machte. Ich blendete sein Gerede zu einem angenehmen Rauschen im Hintergrund aus, stolperte unterbewusst aber über eine Bemerkung, die für mich sehr nebensächlich klang, aber definitiv nicht so gemeint wäre. Verdutzt sah ich zu ihm auf. „Du willst das als Wolf weitergehen?“, hakte ich mit dem Anflug von Verzweiflung in der Stimme nach. Ich sorgte mich weniger um andere Wanderer hier im Regenwald, viel mehr ging es um mich und meine katastrophale Kondition. Isaac meinte es ernst. Erwartungsvoll streckte er mir den wieder verschlossenen Rucksack entgegen, den ich einen Atemzug lang anstarrte, als würde mein Partner mich zwischen eine lebende Giftschlange angreifen zu müssen. Aber was blieb mir anderes übrig? Meinem Schicksal ergeben kooperierte ich und streckte seufzend die Hand nach der Schlaufe des Rucksacks aus, um ihn mir auf den Rücken zu schwingen. Das konnten ja erfreuliche Kilometer bis zum Ziel werden. Um mir die gute Laune nicht gänzlich vermiesen zu lassen, verbat ich jeden weiteren, selbstmitleidbelasteten Gedanken und straffte meinen Rücken. Ich schaffte das schon irgendwie… ohne einen Kollaps. Mental steckte ich bereits tief in meinen Vorbereitungen für die ausstehenden Höhenmeter, weshalb ich Isaac erneut relativ effektiv verdrängte und wieder nur durch das atypische Zögern in seiner Stimme in die Gegenwart geholt wurde. „Hm?“ Irritiert zogen sich meine Augenbrauen kurz zusammen. Wieso sollte ich an seinem Fell zerren – höchstens, dass ich ihm einen Zweig nachschoss, wenn er mir zu schnell davonlief, aber dann klärte sich schlagartig meine Verwirrung und Verständnis trat an deren Stelle. „Du meinst… ich soll auf dich drauf?“, wiederholte ich verdattert, was Isaac im Grunde nur angedeutet hatte. Ich dachte, dass diese Bemerkung vorhin als Scherz gemeint war! Unsicher suchte ich nach dem schelmischen Grinsen in seinem Gesicht als Zeichen, dass er mich nur verarschte und meinen Gesichtsausdruck sehen wollte. Dergleichen kam aber nichts, deshalb nickte ich zögerlich. „Okaaay“, erklärte ich gedehnt. Die Verhaltensregeln würden sich in ihrem vollen Ausmaß schon noch zeigen, wenn ich wie ein verängstigtes Klammeräffchen auf ihm draufhing. Mir rutschte bereits jetzt das Herz in niedrigere Etagen meines Körpers, da bekam ich sicherlich keine Lust mit seinen zuckenden Ohren zu spielen oder mich auf Laussuche in seinem Pelz zu begeben. Andererseits: ich ritt auf Pferden seit ich denken konnte, so groß konnte der Unterschied doch kaum sein. Oder? Nun, wo mein erster Schock verklungen war, obsiegte eine neugierige Aufregung in mir. Sein wölfisches Sein gruselte mich zwar immer noch, aber sein Geist blieb ja mehr oder weniger derselbe – ich stellte hoffentlich trotz meiner Fähigkeit keinen Feind mehr für den Wolf dar – und deshalb durfte ich wohl darauf vertrauen, dass es zu keiner unerfreulichen Situation käme. „Aber keine ruckartigen Manöver zum Angeben, ja“, mahnte ich Isaac sicherheitshalber noch. Damit wäre meine Einverständniserklärung wohl abgegeben. Wo konnte ich unterschreiben, dass im Fall meines Todes der Betreiber nicht haftbar war? Knisternde Vorfreude jagte durch meinen Körper, sodass der Verdacht in mir laut wurde, dass ich das eventuell (womöglich und nur vielleicht) eh schon unbewusst immer mal ausprobieren wollte.
"Ja, musste es.", bestätigte ich Riccarda grinsend, was sie längst wusste. Ich ließ eben nur sehr selten mal was auf mir sitzen. Während ich selbst mich nur bedingt vor Dreck zierte, war die junge Frau wie erwartet wenig begeistert über ihr spontanes Streifen-Peeling im Gesicht - Ziel erfüllt, es konnte weitergehen. Meine mehr oder weniger bessere Hälfte nahm mir den Rucksack nicht gerade voll motiviert ab und ihr Seufzen sprach Bände, auch wenn es sich schnell in Verwunderung wandelte. Die leise Verzweiflung in ihrer Stimme war dabei wie Musik für meine Ohren. Nicht weil ich mich weiter darüber lustig machen wollte, dass ihre Ausdauer aktuell sehr zu wünschen übrig ließ, sondern weil ich ich ja schon im Begriff war ihr des Problems Lösung zu unterbreiten. Ihr resigniertes Seufzen unterstrich ebenfalls wunderbar, wie wahnsinnig wenig Lust Riccarda dazu hatte, nun auch noch unser Gepäck tragen zu müssen, das bis hierhin von mir getragen worden war. Dabei glichen Klamotten und Schuhe von mir höchstens das Gewicht aus, das wir bereits vom Wasser weggetrunken hatten. Vielleicht sollte ich den Engel zukünftig mal ein bisschen in mein eigenes Trainingsprogramm einbinden. Ich könnte ihr amüsiert dabei zusehen, wie sie schon nach ein paar Minuten gerne kapitulieren wollte und wir würden bei künftigen Wanderungen wahrscheinlich nicht mehr auf solche Probleme stoßen. Es hätte also sogar zwei sehr gute Bonuspunkte - zumindest für mich. Die Ungläubigkeit, die im ersten Moment in den Gesichtszügen der Blondine aufblitzte, ließ mich versonnen lächeln. Ich war mir ja nicht einmal selbst sicher damit, ob das wirklich eine gute Idee war. Sie war zweifelsfrei gut angesichts all der Pluspunkte, die uns diese Form der Weiterreise bot, aber vielleicht weniger gut in Hinsicht auf die Nebeneffekte, die das mit sich bringen könnte. Es durfte halt nichts schiefgehen und ich betete schon jetzt darum, dass Riccardas Gleichgewichtssinn in dieser Hinsicht wirklich so gut war, wie er immer aussah, wenn sie sich auf einen Ausritt zu Pferd begab. Es würde mich unfassbar nerven, wenn ich sie permanent mit ausbalancieren müsste, obwohl ich mich ohnehin schon darum bemühen würde, sie nicht allzu sehr durchzuschaukeln. "Muss ich's noch wortwörtlich formulieren?", ließ ich meine Bedenken in der Konversation außen vor und stellte dem Engel stattdessen eine rhetorische, ironische Frage. Allerdings dauerte es daraufhin dann tatsächlich nicht mehr lang, bis sie zögerlich einwilligte. Es war mir so auf jeden Fall lieber, als wenn sie sofort euphorische Luftsprünge machte. In meinen Augen war dieses aus berechtigter Vorsicht entstehende Herzflattern absolut angebracht, denn das signalisierte mir eindeutig, dass sie diesen Vorschlag nicht als selbstverständlich deklarierte. "Es ist auch in meinem Interesse, wenn du da oben nicht mehr klammerst und wackelst, als unvermeidbar ist. Also keine Sorge, es wird kein besonders wilder Ritt.", zeigte ich mich inklusive Sarkasmus sehr einverstanden damit, Riccarda vor potenziell gefährlichen Stürzen und Fast-Herzinfarkten zu bewahren. Ich war halt doch ein bisschen größer als die Pferdchen im Stall, dadurch wurde ein Fall auf den verwachsenen Waldboden nicht unbedingt weniger schmerzhaft. "Ach und... vielleicht besser keine übermäßig frechen Kommentare. Ich kann wölfisch nicht mit Worten kontern, also bleibt mir nur Knurren und Ähnliches.", erinnerte ich den Engel mit schiefem Grinsen daran, dass mir auf vier Pfoten die menschliche Sprache verwehrt blieb und mein Konter dementsprechend anders ausfallen würde, wenn sie sich einen Scherz auf meine Kosten zu viel erlauben würde. Schon während dieser Worte ging ich mit einem beiläufigen Schulterzucken einige Schritte rückwärts von Riccarda weg. Die Form unserer Weiterreise schien beschlossen und viel zu sagen gab es dazu nicht mehr. Ich würde sie nicht unnötig durchschaukeln und sie würde mich nicht unnötig reizen - der Deal war geritzt, es gab also keinen guten Grund die Verwandlung weiter aufzuschieben. Als ich eindeutig mehr als nur genug Abstand zu dem Engel gewonnen hatte, blieb ich stehen. Es folgte ein tiefer Atemzug, bei dem ich mir die Schultern noch etwas auflockerte und mich mental wappnete, bevor ich mich mit geschlossenen Augen der Verwandlung widmete. Es dauerte dank meiner jahrelangen Erfahrung kaum länger als fünf Sekunden, bis der Schmerz der knöchernen Veränderung vorüber war und ich fellbewachsen aus der aufrechten Körperhaltung nach vorne auf die Pfoten kippte. Zuerst schüttelte ich mir gründlich den letzten kleinen Rest an Feuchtigkeit aus dem Fell, bevor ich innehielt und die goldbraun schimmernden Augen öffnete, um Riccarda mit meinem Blick zu fokussieren. Ich ging die wenigen Schritte wieder auf sie zu, bevor ich mich seitlich von ihr auf den Boden sinken ließ und den Kopf mit abwartendem Blick in ihre Richtung drehte. Es war auf diese Weise zweifelsfrei am einfachsten für den Engel, auf meinen Rücken zu klettern. Ohne einen Höhenausgleich, der jetzt eben durch das Hinlegen meinerseits erfolgte, käme sie da nicht mal mit Anlauf und Sprung hoch, sondern würde mir höchstens unangenehm in die Seite krachen. Darauf konnten wir beide gut verzichten.
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Ob Isaac sich diese Schnapsidee auch wirklich gut überlegt hatte, blieb lediglich zu hoffen übrig, denn ein Rückzug kam für mich nun längst nicht mehr in Frage. Natürlich war ich mir der unangenehmen Konsequenzen bewusst beziehungsweise des Rückschlags bezüglich unserer jüngsten Fortschritte in Sachen zwischenmenschlichem Verhalten, sollte dieses Experiment nach hinten losgehen und uns sozusagen um die Ohren fliegen. Doch ich überließ der Negativität und potentiellen Bedenken keinen Platz zwischen all der Aufregung und dem aufglimmenden Nervenkitzel, der mein Herz zum Flattern brachte. Ich hatte mir diese Erfahrung per se nie gewünscht, doch nun befand sich die Chance zum Greifen nah und zu offensichtliche Zweifel könnten uns nur allzu schnell wieder von diesem Versuch abbringen. Vor allem schlichen sich erst jetzt die Vorteile in mein Bewusstsein ein: ich ersparte mir den schwierigsten Teil des Aufstiegs, hatte Gepäck am Rücken ohne die Last wirklich tragen zu müssen und käme damit auch mit der Aufarbeitung meiner Ablehnung dem Wolf in Isaac gegenüber einen Schritt näher. Irgendwann musste ich mich dieser Problematik insofern stellen, nicht nur kommunikativ mehr Informationen über diese zweite Seite meines Partners zu sammeln, sondern am eigenen Leib erfahren, dass das eingesperrte Wolfswesen nicht nur schlechte Seiten besaß – Seiten, die mir an die Gurgel wollten. Mir gefiel die sachte Bitterkeit in Isaacs Stimme nicht, interpretierte aber keine Genervtheit hinein, sondern ebenfalls eine zarte Nervosität. Hatte er jemals einen Menschen auf seinem Rücken sitzen gehabt? Falls ja, dann würde es mich tatsächlich wundern und falls nicht, dann verübelte ich ihm diese vorzeitige Anspannung keineswegs. Wir begaben uns an diesem Tag zum zweiten Mal auf dünnes Eis. Seinen Sarkasmus wertete ich als Schutzschild seinerseits, weshalb er ein halbherziges Grinsen geschenkt bekam. „Den wilden Ritt heben wir uns für ein anderes Mal auf“, merkte ich bewusst doppeldeutig an, wobei das Grinsen kurzfristig einen diabolischen Hauch annahm, ehe sich Neutralität zurück auf meine Züge schob. Das war hiermit auch der letzte Scherz, den ich mir erlauben würde – konnte, immerhin musste man sein Glück ja nicht auf Gedeih und Verderb herausfordern. Mir reichte es bereits zu wissen, dass Isaac die Sache ruhiger angehen ließ und sich nicht in halsbrecherischem Tempo durch das Dickicht kämpfte. Außerdem bestätigte er meine stumme Annahme, dass er als Wolf zu anderen Mitteln greifen musste, um sich verständigen zu können und ich besaß dann eine sehr weitgefächerte Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten, was unterm Strich zu einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit in einem Missverständnis endete und zum Streit führte. „Ich halt einfach die Klappe“, erklärte ich leichthin, wohlwissend, dass diese Worte leichter ausgesprochen als umgesetzt waren. Mir lagen meist so viele Dinge auf der Zunge, die ich nicht immer hinunterschlucken konnte, aber Ausnahmen bestätigten für gewöhnlich die Regel. Angesichts der bevorstehenden Verwandlung zum Wolf trat ich automatisch zwei kleine Schritte zurück, vertraute aber auf Isaac, der den benötigten Platz für sein Vorhaben sicherlich am besten einschätzen konnte. Mit großen Augen und unverhohlener Neugier beobachtete ich den Vorgang. Er entsprach nicht unbedingt den Klischees von Filmen und es erschien auch kein strahlendes Licht oder ein düsterer Nebel. Gliedmaßen dehnten sich, ich bildete mir ein, das Knacken von Gelenken zu vernehmen und aus den Hautporen spross in Sekundenschnelle ein dichtes, dunkles Fell. Hätte ich ein paar Mal geblinzelt wäre mir die Verwandlung entgangen – ob die Geschwindigkeit mit der Übung des Gestaltwandlers zusammenhing? Abwartend blieb ich auf meinem sicher wirkenden Plätzchen Erde stehen und starrte über die wenigen Meter Distanz zu dem großen Raubtier hinüber. Isaac musste definitiv den ersten Schritt machen, denn sämtliche Sicherheitsvorkehrungen in mir wehrten sich gegen die Aussicht, mit dieser Bestie in Kontakt zu treten. Wie auf Kommando juckte es mir in den Fingern und ich spürte das verheißungsvolle Prickeln meiner Gabe unter der Haut. Doch ich ermahnte mich zur Ruhe, atmete tief durch und versuchte damit auch die spontan aufkeimende Panik klein zu halten. Isaacs Augenfarbe hatte sich geändert. Ich fand keine Erklärung, wieso mir das als Erstes auffiel, noch bevor der Wolf auf mich zukam und sich geschmeidig hinlegte. Mehr Einladung bekam ich gewiss nicht mehr und so fasste ich mir ein Herz, schluckte die Aufregung hinunter und nickte kurz. Okay, kein Problem. Auf ein Pferd kam ich ebenfalls ohne Probleme mit den richtigen Hilfsmitteln hinauf, also klappte das bei Isaac ebenfalls. Bemüht locker legte ich meine Hände auf seinen Rücken und wuchtete mich dann möglichst schwungvoll aus dem Sprung heraus über sein Rückgrat. Immerhin kam mir hier die jahrelange Erfahrung mit teils sattelscheuen Pferden zugunsten, weshalb ich nicht wie ein Sack in seinen Rücken fiel, sondern den Schwung abfederte und dementsprechend sanft in dem Fell zum Sitzen kam. Ein bisschen Geduld musste er mir schenken, denn ich rutschte probeweise – nach dem besten Halt ohne ihm Fellbüschel einzuzwicken suchend – herum und lehnte mich dann aber leicht vor. Mit abgestützten Unterarmen beugte ich mich soweit, wie mein Gleichgewichtssinn es eben zuließ, nach vorne und grinste ein wenig: „Ich hab dann für später doch wieder ein paar Fragen hinsichtlich deiner wölfischen Gestalt.“ Eine Vorwarnung dürfte sicherlich nicht schaden, obwohl es im Grunde keine problematischen Themen wurden, sondern eher Banalitäten glich, die mich eben interessierten. Ich richtete mich wieder ein wenig auf und suchte mir eine Stelle an der Schulterpartie, wo ich mich halbwegs gut festhalten konnte. Ich schätzte, dass sich Isaac entschieden gegen ein Halsband zum Anklammern wehren würde, sollte ich ihm den Vorschlag darlegen. Vielleicht ja eines mit gefährlich spitz aussehenden Stacheln oder so? Ich grinste heimlich vor mich hin, bevor ich ein „bin startklar“ laut aussprach.
Sie wusste, dass ich mir diesen Satz sehr genau einprägen und dann immer wieder darauf anspielen würde, oder? Denn wenn es etwas gab, das ich ganz gewiss nicht so schnell aus meinem Gedächtnis strich, dann waren es zweideutige Anspielungen aus Riccardas Mund. Sie konnte also schon mal darauf wetten, dass ich sie nicht selten daran erinnern würden, dass wir uns beiden noch einen wilden Ritt schuldeten. Ich für meinen Teil dachte dabei ganz und gar nicht daran mit ihr auf dem Rücken über irgendeine weitläufige Wiese zu preschen, aber das verstand sich wohl von selbst. Ohne zu zögern hätte ich die Wanderung gegen Sex eingetauscht, aber das brauchte ich hier Niemandem zu erzählen. Ich hatte dank der Szene am nach wie vor tosenden Wasserfall ein sehr genaues Bild davon, wie sehr diese Art von Intimität aktuell noch nicht im Bereich des Möglichen lag. Dass sie den ganzen Weg über die Klappe halten würde hielt ich bisher für unwahrscheinlich, aber ich ließ mich gern vom Gegenteil überzeugen. Ich wartete äußerlich recht geduldig darauf, dass die junge Frau sich auf meinen Rücken schwang, aber in meinem Inneren brodelte es doch ein wenig. So leicht ich es vorhin über die Lippen gebracht haben mochte, fiel es mir nun doch schwer das ganze Unterfangen einfach so zu akzeptieren. Vielleicht lag das nur an meinem wölfischen Stolz, weil es auf den ersten Blick so wirkte, als würde ich mich Riccarda damit unterordnen, was eigentlich aber nicht der Fall war. Ich gestattete ihr diese Möglichkeit, ja - aber nur, weil ich das so wollte. Weil es in meinem Interesse lag, dass sie den Wolf, den ich zur Hälfte verkörperte, nicht mehr nur mit der Furcht betrachtete, die ich selbst und auch ihre Gene ihr eingetrichtert hatten. Einen gesunden Respekt vor meiner tierischen Hälfte sollte sie behalten, aber ich war eben nicht nur ein blutrünstiges Monster. Gewann man mich erst einmal für sich, dann war ich getreu meinem tierischen Vorbild - dem normalen Wolf - sehr loyal. Wie sich mein wölfisches Ich in einer tatsächlich auf Liebe basierenden Beziehung auswirkte konnte ich bisher nur anhand meiner Verwandtschaft erahnen. Es war bei Jedem Wolf etwas anders, weil sich dort auch der menschliche Charakter mit einmischte. So wie ich mich kannte, würde mein Verhalten aber auch was das anbelangte wieder extrem ausfallen. Extrem war mein zweiter Vorname. Ein kurzes Zucken meines Kopfes ließ sich nicht verkneifen, als Riccarda sich gerade erfolgreich auf meinen Rücken gekämpft hatte. Es war eben das erste, was ich sonst tat, wenn sich Jemand meinem Rücken näherte - zuschnappen und ihn da runterziehen, weil Bisse an der Wirbelsäule furchtbar schmerzhaft und gefährlich waren. Ich unterdrückte diesen tierischen Instinkt jedoch rechtzeitig und drehte lediglich den Kopf etwas zur Seite, um sehen zu können, was der Engel auf meinem Rücken trieb. Es war nicht unangenehm, als sie versuchte einen geeigneten Platz zum Sitzen auf meinem Rücken zu finden, aber doch ein sehr ungewohntes Gefühl, das mir noch nicht geheuer war. Dementsprechend spiegelte sich auch unweigerlich ein Funken Misstrauen in meinen hellen Augen, als ich den Kopf noch etwas weiter zu Riccarda nach hinten drehte, weil sie sich nach vorne lehnte. Mehr Fragen? Das sollte kein Problem sein, solange sie nicht extra-kompliziert waren. Ich blinzelte mit etwas Nachdruck, um ihr dadurch ein 'Okay' zu signalisieren und drehte endgültig den Kopf nach vorne, als sie mir das Go zum Aufbruch gab. Ja, also dann... los? Ich versuchte möglichst wenig schwungvoll aufzustehen, um dem Engel keinen allzu großen Ruck dabei zu verpassen. Einen Moment lang blieb ich noch stehen und warf im Augenwinkel einen Blick nach hinten, aber bisher schien Riccarda noch keinen Schreck davongetragen zu haben. Also reckte ich die Nase nach oben, um in der sehr milden Brise bewusst Gerüche einzufangen. Ich wusste längst in welche Richtung wir mussten, aber ich wollte natürlich keine Menschen kreuzen. Langsam setzte ich mich in Bewegung und warf über die ersten paar Meter immer wieder flüchtige Blicke nach hinten. Zum einen um zu sehen, ob bei dem Engel trotz ihres nach wie vor zügig pochenden Herzens alles soweit okay war und zum anderen, weil ich mich permanent daran erinnern musste, dass mir keine Gefahr im Nacken saß, sondern tatsächlich nur die zierliche junge Frau. Als wir uns beide einigermaßen mit der ungewöhnlichen Situation vertraut gemacht zu haben schienen hörte ich damit auf ständig nach hinten zu sehen, sondern fokussierte meine Augen fast ausschließlich auf die Umgebung und beschleunigte meine Schritte ein wenig. Meine Nase wanderte immer mal wieder nach oben in den lauen Mittagswind oder nach unten auf den kühlen Boden. Ich versuchte die ganze Zeit über den tief hängenden Ästen so gut es ging auszuweichen oder mich etwas kleiner zu machen, wenn ich unter ihnen hindurch ging. Manchmal blieb Riccarda aber trotzdem nichts anderes übrig, als eine Hand auszustrecken und das Laub beiseite zu schieben, damit sie nicht von meinem Rücken gewischt wurde. Nach etwas über der Hälfte des Weges machte ich ab und zu kleine Umwege, um uns bewusst an dem einen oder anderen schönen, entspannenden Plätzchen entlang zu führen. Vorbei an kleineren Wasserfällen und Bächen, sowie über eine Lichtung hinweg, auf der sich in einem gleichbleibend flachen, kleinen See Wasser staute. Ich ging eigentlich nur hindurch, um mir die heiß laufenden Pfoten zu kühlen und einige Schlucke von dem klaren Wasser zu trinken, aber die im Sonnenlicht glitzernde Wasseroberfläche war dennoch schön anzusehen. Wir kamen auch an ein paar Vogelnestern mit buntem Gefieder darin vorbei, wo ich jedoch grundsätzlich zeitnah vom Muttervogel verscheucht wurde. Die große Boa, die mit ihrem fett gefressenen Bauch von einem Ast schräg über unserem Weg hing, war interessant anzusehen. Derartig große Schlangen gab es bei uns Zuhause nicht und sie störte sich absolut nicht an meiner Präsenz, weshalb ich einen Moment lang stehenblieb und sie musterte, bevor ich schließlich weiterzog. Es war nicht mehr weit bis zum Rafting-Treffpunkt und auch wenn mir der Rücken nicht wirklich schmerzte, hatte ich für heute genug davon Riccarda herumzutragen. Mit der unebenen Steigung und dem ständigen Ausweichen von Bäumen und Ästen war das langfristig bei dieser Hitze doch anstrengender, als ich angenommen hatte. Präzise geschätzte hundert Meter von unserem Ziel entfernt blieb ich schließlich im dichten Wald stehen und ließ mich hechelnd auf den Boden sinken. Legte dabei auch den Kopf ab und schloss die Augen, um einfach erstmal einen Moment durchzuatmen und wieder zur Ruhe zu kommen. So viel Zeit musste noch sein.
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Zwar saß ich oben, aber das Gefühl der Sicherheit, das ich im Sattel automatisch empfand, wollte sich nicht bemerkbar machen. Dabei fühlte sich das Tier unter mir einfach zu ungewohnt an. Zögerlich, um mit keiner falschen Bewegung Isaac aufzuscheuchen, positionierte ich mich auf seinem Rücken und nahm eine vertraute Haltung ein. Bereits im Vorfeld fürchtete ich, dass meine Reiterfahrung hier nur zu einem gewissen Grad aushelfen würde und ich mich beim Rest auf meinen natürlichen Gleichgewichtssinn sowie Isaacs nachsichtigen Tritte verlassen musste. Keine rosige Aussicht, aber gleichzeitig der ultimative Vertrauensbeweis zwischen uns beiden. Noch immer hatte ich es nicht so richtig realisiert, welches Privileg der stolze Gestaltwandler mir mit dieser Möglichkeit entgegenbrachte und ich würde sicherlich auch noch eine Weile brauchen, ehe ich in Ruhe über die Tragweite dieses Unternehmens nachgedacht hatte. Derzeit galt es, mich auf das wilde Tier unter mir zu konzentrieren und vielleicht sogar diese Chance zu genießen. Die Situation nahm mich vollkommen ein, weshalb ich Isaacs Blick aus den großen, goldenen Augen erst bewusst wahrnahm, als dieser bereits im Begriff war, sich noch ein bisschen mehr zu verrenken. Für ihn musste es eine geradezu absurde Neuheit darstellen, jemanden permanent auf sich zu spüren, obwohl ich anmaßte, dass mein Gewicht nun nicht den Ausschlag für seine Unruhe gab. Meine Eitelkeit verlangte durchaus eine Kontrolle über meine Ernährung, wodurch ich mir meine sportlichen Aktivitäten nach Lust und Laune gestaltete konnte. Der sich widerspiegelnde Argwohn in den braunschimmernden Seelenspiegeln trug nicht unbedingt zu meiner Entspannung bei, aber ich versuchte mich dennoch an einem Ruhe ausstrahlenden Lächeln. Er brauchte sich nicht zu sorgen, dass ich die Verhaltensregeln so schnell aus dem Gedächtnis verlor oder anfing, Faxen zu machen. Meine Flausen im Kopf beliefen sich auf ein absolutes, risikoloses Minimum. Mir schlug doch selbst das Herz bis zum Hals, weshalb ich jeden Muskel in meinem Körper extra vorsichtig anspannte beziehungsweise wieder lockerte, sobald mir die Verkrampfung auffiel. Ich wertete das kurze Blinzeln als Hinnahme meiner Anmerkung und gleichzeitig galt es wohl als Startsignal zum Aufbruch. Unwillkürlich zuckte ich bei dem unvermeidbaren Schwanken ein wenig zusammen, mutierte zu jenem prophezeiten Klammeräffchen, aber sobald der Wolf aufrecht stand, fiel auch die Anspannung weitestgehend von mir ab. Zaghaft wagte ich einen raschen Blick zur Seite nach unten: glücklicherweise war ich schwindelfrei und es von dem einen oder anderen Pferd mit hohem Stockmaß gewohnt, den Boden unter mir entfernter zu erleben – ein Vergleich mit der Größe und der damit einhergehenden Distanz zum Erdreich von Isaac resultierte dennoch darin, dass ich hier definitiv einen längeren Sturz vor mir hätte, sollte ich – aus welchem Grund auch immer – von Isaacs Rücken fallen. Um einen potentiellen Schädelbasisbruch effektiv aus meinen vordergründigen Gedanken zu verbannen, konzentrierte ich mich auf das Verhalten des Wolfes, der in dem Augenblick die feine Nase in die sommerliche Brise hielt und witterte. Ich sah das zarte Zucken seiner Nase, wie sich seine Ohren bei von mir ungehörten Geräuschen leicht bewegten und vor allem spürte ich das Muskelspiel unter dem dichten Fell, nachdem der mächtige Wolf sich in Bewegung gesetzt hatte. Es brauchte einige Meter, ehe ich mich an die geschmeidige Schrittabfolge gewohnt hatte und mich an das Schaukeln anpassen konnte. Trotzdem irritierte mich der ständige Blick von Isaac nach hinten – sorgte er sich darum, dass ich jederzeit von einer Seite runterrutschen konnte. Oder welche Bedenken geisterten ihm durch den Kopf? Gelassenheit erfüllte mich erst mit dem Moment, an dem Isaac endlich damit aufhörte, alle paar Sekunden über seine Schulter nach hinten zu linsen und einen kontrollierenden Blick über mich gleiten zu lassen. Dadurch fühlte ich mich unangenehm beobachtet und verspannte höchstens, also nicht unbedingt der Situation zuträglich. Es dauerte eine Weile bis er das Gefühl des Ungewohnten überwunden hatte, aber nachdem er sich mehr seinen Instinkten und unserem Weg widmete, atmete ich auch leichter und fühlte mich weniger befangen auf seinem Rücken. Ich fand sehr schnell die Sicherheit, verdächtig tief hängende Zweige mit einem Arm wegzuschieben oder anzuheben, um mir nicht den Kopf zu stoßen oder wie eine nervige Fliege vom Rücken gefegt zu werden, hielt mich aber mit einer Hand stets gut fest. Mir war vollkommen bewusst, dass wir auf zwei menschlichen Beinen – insbesondere meinen Füßchen – diese Geschwindigkeit niemals erreicht, geschweige denn von gehalten hätten und so begann ich sehr schnell, diese unbeschwerte Art der Fortbewegung zu genießen, sah mich neugierig in alle Richtungen um und gab mich dem Entzücken aufgrund der im Verborgen liegenden Plätzchen hin. Uns wären einige schöne Szenarien anderenfalls entgangen. „Oh, wie niedlich“, entlockte mir einer der frecheren Exemplare, das neugierig den Kopf mit einer zerzausten Federhaube aus dem Nest streckte und erst von einer alarmierend rufenden Mutter zurück in die behütete Sicherheit gescheucht wurde, ehe es an die Abwehr durch uns Eindringlinge ging. Die verzückte Bemerkung war das Einzige, was meine Lippen verließ und erst das Erblicken der riesigen Boa klappte mir den Mund wieder auf. Ich fühlte mich sehr versucht, eine Hand nach dem Reptil auszustrecken, besann mich aber zügig eines Besseren. Lieber nicht antatschen. Obwohl ich von keinem wölfischen Gehör profitierte, hörte ich auch bald die Stromschnellen eines nahen Flusses – unser Ziel und damit auch das Ende dieses interessanten Ausflugs. Isaac signalisierte das Aus, indem er sich nicht mehr ganz so nachsichtig wie zuvor niederließ und ich damit unmissverständlich die Aufforderung erhielt, von seinem Rücken zu klettern. Mit Bedacht schwang ich ein Bein über seinen Nacken, sodass ich – im Gegenteil zum Absteigen vom Pferd – am Hintern seine Seite hinunterrutschen konnte und dadurch vermied, dass ich auf seinem Hinterlauf oder Fell landete. Sicher auf dem Boden angekommen, schwankte ich kurzfristig, fand meine Balance aber ebenso schnell wieder, lehnte mich dann aber doch mit ausgestreckten Armen – eine zu kleine Umarmung für den Ausmaß des Körpervolumens vor meiner Nase – noch einmal gegen ihn. Natürlich stellte Isaac kein überdimensionales Plüschtier für mich dar, ich verfolgte eine andere Intuition: „Danke für die Erfahrung.“ Damit löste ich mich auch wieder recht zügig von dem Wolf und trat ein paar Schritte zurück, um ihm den nötigen Freiraum zu lassen. Er brauchte offensichtlich ein paar Momente für sich, weshalb ich in der Zwischenzeit den Rucksack von meinen Schultern nahm, mal wieder gegen die Dehydrierung einen Schluck aus meiner Wasserflasche machte.
Im Grunde war mir gerade ziemlich egal, wie sich der Engel von meinem Rücken schwang. Hauptsache nur es erfolgte schmerzlos und zeitnah. Das tat es auch, weil Riccarda die stumme Botschaft umgehend zu verstehen schien. Ich hatte das Gefühl wieder freier atmen zu können, jetzt wo das Gewicht nicht mehr auf meinem Rücken lag und so tätigte ich einen etwas tieferen Atemzug. Sehr darauf fokussiert meine Körpertemperatur runterzufahren rechnete ich nicht wirklich damit, dass sich noch einmal Hände nach mir ausstreckten. Deshalb öffnete ich die Augen instinktiv wieder, als die junge Frau sich gegen mich lehnte und beobachtete sie ohne den Kopf zu bewegen, weil mir gerade so gar nicht nach einer Kuschelstunde war. Riccardas Körper war warm und alles, was gerade noch mehr Wärme versprühte, als es die Außenluft ohnehin schon tat, war in diesem Augenblick eher mein Feind. Glücklicherweise war die junge Frau aber wider meiner Bedenken gar nicht darauf aus, sich mir jetzt hier an den Hals zu hängen, sondern bedankte sich lediglich für den... gemeinsamen Ausflug. Ich würde mich weiterhin strikt weigern, es als einen Ritt zu betiteln. Im Grunde war dieser Dank auch sehr angebracht - gerade weil sie die Einzige war, der ich jemals diese Möglichkeit angeboten hatte - nur hatte ich irgendwie nicht damit gerechnet. Deshalb hob ich kurz nachdem sie sich von mir distanzierte auch langsam wieder den Kopf an und stellte das Hecheln ein, um sie einige sehr zähe Sekunden lang zu mustern. Ich begann mir langsam Sorgen um meinen eigenen Geisteszustand zu machen und das war gruselig. Normalerweise war ich mir selbst immer der Nächste und in manchen Belangen war das sicher auch noch immer so, aber ich ertappte mich inzwischen immer öfter dabei, wie ich Riccarda kleine bis größere Gefallen tat. Sei es nur das Entfalten ihrer Bettdecke, damit sie verkatert weiterschlafen konnte, das Wahren ihrer Komfortzone oder ein sehr großes Privileg wie das, das sie während der letzten Minuten von mir bekommen hatte. Es häufte sich auf jeden Fall. Ein Bindungsphobiker zu sein lag mir nicht in den Genen, mein Wolfsblut verlangte nach emotionaler Nähe. Es war allerdings mehr als nur ironisch, dass ich mir ausgerechnet einen störrischen blonden Engel für diese Art von Bindung ausgesucht zu haben schien... und auch wenn ich schon immer mit großer Vorliebe auf dünnem Eis herumtrampelte, ganz gleich in welcher Hinsicht, begann ich mich unweigerlich zu fragen, ob die dünne Eisschicht, die sich über der tiefen Kluft zwischen Riccarda und mir gebildet hatte, mir womöglich einen ganz besonders verheerenden Sturz bescheren würde. Ich bewegte mich auf vollkommen unbekanntem Terrain, während ich versuchte mir den Weg zu ihr auf die andere Seite zu bahnen und ich wusste nicht, was wirklich unter dem Eis lauerte, falls es brach und mich mit sich in die Tiefe riss. Ich kappte diesen Gedanken damit, dass ich mich mit einem fast stummen Jauchzen auf die Seite fallen ließ und die Verwandlung kurzerhand auf dem Boden durchlief. In etwa ebenso zügig wie schon beim ersten Mal, aber ich blieb noch einen Moment lang mit angewinkeltem Bein auf dem Rücken liegen und sah in die Baumwipfel, während ich mich an die wieder schmälere und farbenfrohere Sicht gewöhnte. Da die vorherigen Gedanken sich gleich wieder anzuschleichen versuchten, kämpfte ich mich zurück auf die etwas müden Beine und begann mir grob die Blätter und Erdkrümel vom Körper zu streifen. "Was sind's für wölfische Fragen? Schaffen wir die in 100 Metern?", bereitete ich mir selbst mit neutraler Tonlage einen einwandfreien Themenwechsel, während sich meine Brust noch etwas stärker als gewöhnlich anhob und absenkte. Nachdem der Dreck vermeintlich beseitigt war, ging ich die paar wenigen Schritte auf die junge Frau zu, um ihr den Rucksack mit meinen Sachen abzunehmen. Es schien mir doch eine ganz gute Idee zu sein mich wieder anzuziehen und danach selbst ein paar Schlucke zu trinken. Das Wasser aus der Naturquelle vorhin war längst nicht mehr genug und ich sollte meinen Körper wieder auf normale Betriebstemperatur kriegen, bevor wir uns in die Fluten stürzten. Deshalb kippte ich mir auch einen kleinen Anteil des Wassers über den Kopf, der gerade ganz besonders schwer und durcheinander war.
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Gefühlsduselei gegenüber Isaac stand mir nun nicht im Sinn. Wahrscheinlich hatte ich diese Eigenschaft ohnehin irgendwo in den tiefer liegenden, dunklen Winkeln meines Seins weggeräumt, weil mir diese Fähigkeit – Eigenschaft – in Gegenwart eines dem Engel natürlichen Feindes nicht besonders effektiv vorgekommen war. Dass ich dieses Können eines Tages wieder an den Tag beförderte, stand noch in den Sternen, aber ich sah mich mittlerweile durchaus dazu gewillt, zumindest auf die Suche nach diesem verwinkelten Versteck zu gehen. Dennoch musste Isaac keinerlei Gefühlsausbrüche meinerseits befürchten, ich sprach ihm lediglich meine Wertschätzung aus. Nach wie vor tanzten die Endorphine durch meine Blutbahnen und meine Augen behielten ein eigenes Leuchten inne – diese zufälligen Einsichten in das verborgene Leben der Fauna eines tropischen Regenwaldes beflügelten meine gute Laune und manifestierten sich schlussendlich in einem strahlenden Blick. Ich sah diese Gelegenheit eher als einmalige Chance, nicht als Selbstverständlichkeit, die mir nun zur Verfügung stand. Mir kam der Wolf doch ein wenig mitgenommen vor, was ich mir zum Großteil selbst zurechnete; ohne in egozentrische Denkweisen fallen zu wollen, aber ein dichter Pelz bei der Hitze und dann noch das zusätzliche Gewicht am Rücken… ich zog mir zumindest meine eigenen Schlüsse, während sich Isaac seine wohlverdiente Pause genehmigte. Wir hatten sicherlich ausreichend Zeit eingespart, um nun verschwenderisch mit ein paar Minuten umgehen zu dürfen. Ohne erkennbarer Eile rollte sich der schwarze Wolf bald schon auf die Seite; die Verwandlung zurück zu einem Menschen erfolgte beinahe binnen eines Blinzeln, sodass ich beim Aufsehen einen jungen Mann vor mir sah, der mit dem Blick nach oben in die rauschenden Baumkronen am Boden lag und ein geradezu nachdenkliches Erscheinungsbild abgab. Ich sprach ihn lieber nicht an. Isaac kam ohnehin von allein auf mich zu, nachdem er sich aufgerappelt und kaum sichtbare Schmutzpartikel von seinem nackten Oberkörper gefegt hatte. Nun kam ich also doch zu der Frontansicht seines Trainingserfolges, dachte ich mir diebisch lächeln, wahrte nach außen hin aber eine sehr neutrale Miene. Reflexartig hielt ich ihm den Rucksack hin, schließlich ging ich davon aus, dass er nicht, lediglich mit Shorts bekleidet, an dem Treffpunkt der Rafting-Gruppe erscheinen würde. Er erkundigte sich gleichzeitig nach meinen vorhin im Vorfeld angekündigten, wolfbezogenen Fragen, worum ich mich nicht zweimal bitten ließ, vorneweg aber anmerkte: „Ich bin mir nicht sicher, ob die Strecke dafür reicht, aber ich frage mich, wie sich der Verwandlungsteil anfühlt. Es wirkt nicht gerade angenehm.“ Wahrscheinlich hing das Schmerzempfinden und die Geschwindigkeit mit der Übung oder eben Erfahrung des Gestaltwandlers zusammen, aber mir fiel es schwer, Verständnis für den Akt an sich zu erlangen. „Hast du in der tierischen Gestalt auch menschliche Attribute, also dass du in Farbe siehst und sowas oder beschränkt sich das eher auf verbesserte menschliche Sinne und funktioniert andersherum nicht? Stimmt es, dass andere Wölfe des Rudels deine Gedanken hören und du ihre oder ist das einfach nur ein cooles Extra, das sich irgendein Drehbuchautor eines sonnigen Tages überlegt hat?“ Der Wolf stellte ein Thema dar, das mich ernsthaft beschäftigte. Einerseits erhoffte ich mir durch mehr Informationen und die dadurch erfolgende Aufklärung ein Abnehmen meiner Scheu vor dem Raubtier, andererseits entsprach es schlichtergreifend meinem neugierigen Naturell, bestens Bescheid wissen zu wollen. Es ging mich schließlich doch über mehrere Ecken etwas an. Noch während ich meine Fragen gestellt hatte, hatte sich Isaac wieder in seine Kleidung begeben und wir waren aufgebrochen. Es tat gut, sich wieder auf die eigenen Beine verlassen zu können, außerdem fühlte ich mich nun auch ausgeruhter und gestärkt für die nächste Etappe unseres Programms.
Ich zog mir nach und nach die Klamotten und Schuhe wieder an, während die junge Frau mir nebenbei ihre Fragen unterbreitete. Zugegeben waren das mehr Fragen, als ich erwartet hatte und deshalb warf ich zwischendurch einen fast schon verblüfft wirkenden Blick in ihre Richtung, ohne schon irgendetwas von Alledem zu beantworten. Vielleicht sollte es mich nicht wundern, dass sie so neugierig auf all diese Informationen war, weil sie inzwischen einfach sehr viel Zeit auch freiwilliger mit mir verbrachte. Trotzdem tat es das aber. Vielleicht deshalb, weil unsere Spezies nicht unbedingt dazu gedacht waren den anderen bestmöglich kennenzulernen, sondern eher uns stumpf gegenseitig zu dezimieren und in Schach zu halten, damit Niemand die Überhand erlangte. Soweit zumindest meine Theorie. Ich trank erst noch einen Schluck Wasser und strich mir die nassen Haaren zurück nach hinten, bevor ich alles wegpackte und den Rucksack schulterte. Als wir schon ein paar Meter gegangen waren, holte ich dann etwas weiter aus. "Die ersten Verwandlungen sind sehr schmerzhaft und dauern oft Stunden. Hauptsächlich deshalb, weil viele sich unterbewusst dagegen wehren und es dadurch noch schlimmer machen... man muss seinen Wolf akzeptieren, bevor es besser werden kann. Es wird immer leichter mit der Zeit und man gewöhnt sich daran, der Schmerz wird trotzdem nie ganz verschwinden. Für die paar Sekunden lässt er sich für mich aber leicht ausblenden.", erklärte ich, während ich die Augen auf den Boden vor meinen Füßen gerichtet ließ, um nirgends zu stolpern. Ich erinnerte mich noch bestens an meine eigene erste Verwandlung und sie war die Hölle gewesen. Was einen nicht umbrachte, machte einen jedoch bekanntlich stärker. Es tat auch jetzt noch immer weh, wenn ich die Gestalt wechselte, aber die sehr kurze Zeitspanne ließ sich sehr leicht aushalten, wenn man dafür eine Bestie mit direkten Alpha-Genen heraufbeschwören konnte. Wenn man andere Wölfe blöd aus der Wäsche gucken lassen konnte, machte das wölfische Dasein einfach mehr Freude. Ein ganz besonders großes und kräftiges Exemplar eines Werwolfs zu sein brachte einen Heidenspaß, das ließ sich schwer leugnen. Riccardas zweite Frage war dann doch ziemlich aufwendig zu beantworten, weshalb ich erst einmal etwas tiefer durchatmete und dabei gedanklich nach dem besten Anfang für die Erklärung zu suchen. "Der Wolf trägt weit weniger menschliche Attribute, als es umgekehrt der Fall ist. Es würde aber überwiegend auch nichts bringen, wenn es anders wäre. Die Wolfsaugen zum Beispiel sind perfekt an Dämmerung und Dunkelheit angepasst, also an die Jagdzeit und an den Vollmond. Da würde mir menschliche Sicht gar nichts bringen.", ging ich erstmal auf die Sichtverhältnisse ein. "Aber ich behalte natürlich meinen menschlichen Geist, auch wenn ich die Gestalt wechsle. Wenn ich vorher ruhig war, dann nehme ich diese Ruhe mit. Wenn ich vorher sauer war, werd' ich's auch als Wolf noch sein. Ich werde durch die Verwandlung also nicht plötzlich einfach zum Tier, dafür sind die menschlichen Gedanken und Gefühle viel zu präsent... außer bei Vollmond natürlich, da existiert Verstand bei Werwölfen allgemein nur sehr bedingt.", nannte ich dem Engel den Kernpunkt, der mich als Werwolf von gewöhnliche Wölfen oder Raubtieren im Allgemeinen stark unterschied. Natürlich hatte der Wolf in mir seine eigenen Bedürfnisse, die gestillt werden wollten, aber ich legte dabei niemals gänzlich den Menschen ab. Dementsprechend dachte ich auch bei der Jagd weitreichender, viel taktischer. Andernfalls würde mir das einsame Jagen deutlich schwerer fallen, wo gewöhnliche Wölfe die Jagd doch bestenfalls im Rudel absolvierten. Was die Telepathie anging musste ich nun aber doch ein wenig grinsen. Allein der Gedanke daran war für mich einfach ziemlich bescheuert. "Jein. Wort-Für-Wort-Telepathie oder Gedankenlesen gibt es nicht, das ist Schwachsinn.", stellte ich amüsiert klar, dass wir Werwölfe nicht einfach gegenseitig in unseren Köpfen herumspukten. Darüber war ich auch ziemlich froh, mein Kopf sollte schließlich mein eigener bleiben. "Aber es existiert schon eine Art stumme Kommunikation. Bis zu einem gewissen Grad können wir spüren, was ein anderer Wolf in der Nähe spürt, denkt und vorhat. Wenn man Mitglied eines Rudels ist", was für so ziemlich jeden Werwolf galt, weil man allein einfach nicht gut dran war, "spürt man auch über weite Distanzen noch eine Verbindung. Man merkt, wenn Jemand in Gefahr ist oder stirbt. Dann will dich dein innerer Wolf automatisch dorthin ziehen. Das Rudel hat normalerweise immer oberste Priorität." Den letzten Satz murmelte ich nur noch, weil das auf mich wohl irgendwie einfach nicht zutraf. Ich war nicht gerne allein und ich war inzwischen wirklich frustriert darüber, keine anderen Wölfe um mich zu haben. Dennoch bereute ich es nicht, mich von meinem alten Rudel und damit auch von meiner Familie abgekapselt zu haben. Wenn man in einer solchen Diktatur leben musste, wie ich sie fast mein ganzes Leben lang unter der Fuchtel des Familienoberhaupts erfahren hatte, war man ganz einfach besser alleine dran. Auf jeden Fall hatten wir bei all meinem Gerede nun doch schon einige Meter des restlichen Weges geschafft und wenn Riccarda noch weitere Fragen auf Lager hatte, mussten wir uns die wohl eher für später aufheben.
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Seine Verblüffung bezüglich meines tiefgreifenden Interesses an seiner zweiten Erscheinungsform brachte mich kurzweilig zum Schmunzeln. Wieso überraschte ihn meine Neugierde dermaßen? Schließlich stellte er sich vielleicht auch hier und da eine Frage über den Lebensstil eines Engels beziehungsweise über die Machenschaften spezieller Gaben, die in meiner großen Familie doch sehr unterschiedlich ausfielen. Ich zählte zu den Exemplaren mit verheerenderen beziehungsweise grobschlächtigen Entwicklungen, während sich in meiner weiteren Verwandtschaft eher psychologisch arbeitende Gaben offenbarten. Würde Isaac fragen, würde ich ihm wahrscheinlich auch die verlangten Informationen zu den einzelnen Mitgliedern bereitwillig mitteilen – es handelte sich um ein Geben und Nehmen. Sofern der Dunkelhaarige von diesem beidseitig möglichen Informationsfluss nicht Gebrauch machen wollte, hielt ich mich mit der Herausgabe von Einzelheiten diesbezüglich auch zurück. Andersherum galt wohl Ähnliches: Isaac hätte noch nie sonderlich ausgiebig über sein wölfisches Naturell angefangen zu erzählen, läge ich ihm nicht mit diversen Fragen in den Ohren. Dieses Mal uferte es eben ein klein wenig aus. Trotzdem überging ich seine Überraschung und wartete geduldig auf die Antworten. Warum mir sein Schmerzempfinden vorrangig am Herzen lag, sollte schon langsam offensichtlich sein: der Halunke hatte sich mühsam und unter Aufgebot all seiner Anstrengungen einen Weg in meine Gefühlswelt erschlichen, wo er nun hockte und sich wahrscheinlich häuslich einrichtete. Bei der Vorstellung schauderte es mich nicht einmal mehr, wie es vor einem halben Jahr noch der Fall gewesen wäre, sondern das Gegenteil fand statt: eine wohlige Wärme breitete sich bis in meine Finger- und Zehenspitzen aus. Da war es nur natürlich, dass ich mich zu einem kleinen Anteil darum sorgte, wie er sich auf einer Notwendigkeit beruhend quälte. Dass aller Anfang schwierig war, naja, davon war ich bereits im Vorfeld ausgegangen, sodass mich der Einstieg der Erklärung kaum unerwartet traf. „Stunden?“, platzte es dann aber doch schockiert aus mir heraus. „Hängt man dann in der Prozedur fest oder wie muss ich mir das vorstellen?“ Es war nicht meine Absicht, ihm derart ungehobelt ins Wort zu fallen, aber meine Vorstellungskraft streikte bei dem Versuch, mir vorzustellen, wie ein halb menschlicher, halb wölfischer Hybrid schreiend und zuckend vor Schmerz über Stunden hinweg am Boden lag; unfähig sich weiter zu verwandeln oder die Verwandlung abzubrechen. Dass die geistige Einstellung zu dem Untermieter eine essentielle Rolle spielte, klang wiederum nur allzu logisch. Ähnlich funktionierte es doch mit den Fähigkeiten: man musste sie erst akzeptieren, um Kontrolle ausüben zu können. Isaac schien mit dem schmerzhaften Teil bereits gut abgeschlossen zu haben. Unwillkürlich löste sich damit eine zuvor unbemerkte Befangenheit von mir. „Fällt es dir an manchen Tagen schwerer als an anderen, deine Gestalt zu ändern oder bleibt das immer gleich, wenn man einmal den Dreh heraushat?“ Mein Wissensdurst fand so schnell kein Ende, hoffentlich verlor Isaac nicht die Geduld auf halbem Weg. Noch zeigte er sich aber sehr gewillt und ich lauschte ihm wieder konzentriert, während mein Blick aber auf das durchwachsene Erdreich vor meinen Füßen gehaftet blieb. Ein Sturz so knapp vor dem Ziel kam nicht mehr in Frage und würde außerdem das spielerische ‘Verhör‘ rasch beenden; durch das Lachen meines nachsichtigen Partners. Eben jener vertiefte sich aber geradewegs ins Beantworten meiner zweiten Frage und ich ließ ihn nur zu gerne gewähren. Hin und wieder huschte dann ja doch ein Blick zu ihm hinüber, da hier der Weg breit genug war, um nebeneinander gehen zu können ohne sich gegenseitig den Platz streitig zu machen. „Okay, die Sinneswahrnehmungen sind wölfisch, aber Vernunft, Persönlichkeit und sowas bleiben menschlich“, fasste ich zusammen, um mir die Richtigkeit meines Verstehens bestätigen zu lassen. Vollmond stellte die Ausnahme dar, aber das dachte beziehungsweise wusste ich schon. „Grins doch nicht so süffisant, als braver, kleiner Engel kann ich es kaum besser wissen“, ermahne ich ihn auf seinen belustigten Gesichtsausdruck hin. „Oh“, ich seufzte theatralisch auf und mimte die Enttäuschte. Also kein Gedankenlesen innerhalb des Rudels, wie man es aus Büchern oder Filmen kannte. „Wie spürt man, was jemand denkt? Mir ist schon klar, dass das über Empathie und so weiter funktioniert, deshalb merke ich ja auch, dass du diese Vorstellung der Telepathie dämlich findest, aber über Entfernung hinweg, ohne die Situation des anderen zu kennen…“, verlief der Satz ohne richtigem Ende ins Leere. Erneut stand meine Vorstellungskraft an. Dieses Notfall-Sicherheitssystem schaffte ich zu erklären, aber mit der spürbaren Kommunikation tat ich mir furchtbar schwer, weil ich es selbst nie erfahren hatte und auch nie zu der Erfahrung kommen würde. „Ist diese Prioritätenliste genetisch verankert?“ Unweigerlich fragte ich mich, wo ich in seinem Wolfdenken in dieser Aufzählung stand. Eigentlich wollte ich darauf gar keine Antwort haben, entschied ich nur Sekunden später. Besser so. Abgesehen davon, dass ich diese Frage vorerst nicht laut aussprechen wollte, schob sich eine kleine, stabil aussehende Blockhütte am Rande eines rauschenden Flusses in mein Sichtfeld. Davor standen ein paar Geländewägen herum und vereinzelt wuselten Leute in der Gegend herum, hantierten an roten Schlauchbooten herum oder trugen Paddel von einem Ort zum anderen. Die Fragestunde schien vorerst beendet, nachdem ein hochgewachsener Insulaner mit strahlend blauen Augen auf uns zukam und die Arme zur Begrüßung ausstreckte: „Schön, dass ihr zu uns gefunden habt.“
Ich nickte Riccardas erneutes Nachhaken ab, ohne darüber nachzudenken. Bei der ersten Verwandlung meines Cousins war ich damals dabei gewesen und der Anblick allein war schon wahnsinnig qualvoll gewesen. Natürlich war ich damals noch etwas weniger brutal und radikal veranlagt als jetzt, ich war schließlich erst 12 gewesen, aber ich wäre auch jetzt nicht scharf darauf noch einmal rund fünf Stunden dabei zuzusehen, wie sich Gliedmaßen verschoben und Knochen knackten. Auch wenn ich kein Freund davon war, wenn man mir ins Wort fiel, ging ich noch weiter darauf ein. Für Zank und Patzigkeit fehlte mir gerade die überschüssiges Energie. "Sozusagen... bis man den Absprung endgültig geschafft hat, geht's ständig einen Schritt vor und gleich danach denselben Schritt wieder zurück. Erst biegen sich die Knochen in die eine Richtung, dann wieder zurück in die andere. Mental oder körperlich sehr schwache Werwölfe sterben an ihrer ersten Verwandlung, aber das kommt selten und nie bei direkten Alpha-Nachkommen vor. In meiner Familie gab es bisher erst zwei solcher Fälle.", erklärte ich weiter und warf einen flüchtigen Blick zu ihr rüber. Die Familie Garcia war nicht unbedingt klein oder bestand erst seit zwei Generationen, mein Stammbaum reichte gefühlt bis in die Steinzeit zurück. Meine Mutter hatte mir mal ein fettes Buch mit meinem kompletten Stammbaum auf den Schoß gelegt, aber das hatte ich als dauerhaft geladener Teenager damals kaum angesehen. Mittlerweile wünschte ich mir ich könnte mir dieses einschläfernde Buch noch einmal mit ihr gemeinsam ansehen, einfach nur um ihre Stimme zu hören. "Ich kann dir pauschal sagen, dass mir die Verwandlung nie schwer fällt. Unter Vollmond oder starkem Gefühlseinfluss geht's nur noch etwas schneller als ohnehin schon.", hielt ich die Auskunft zu meiner eigenen Wenigkeit ziemlich allgemein. Es wäre unnötig dem Engel nun jedes mögliche Szenario aufzulisten. Es reichte, wenn sie sich merkte, dass ich die Verwandlung quasi auch binnen eines Wimpernschlags hinbekam, wenn die Situation es in meinen Augen erforderte oder ich einfach zu viel Energie des Mondes in die Gliedmaßen geschickt bekam. Das kostete am Ende mehr Kraft, aber das fiel mir meistens erst irgendwann im Nachhinein auf, wenn der Sturm abgeebbt war. "Die Vernunft solltest du bei mir vielleicht lieber streichen.", merkte ich ironisch an, dass sie diesen einen Punkt besser noch einmal überdenken sollte. Ich konnte inzwischen schon eine gewisse Wandlung in meiner Sichtweise und meinen Taten erkennen. Die Fortschritte waren sichtbar, aber ich würde bei mir nach wie vor niemals auf Vernunft setzen. Das Bauchgefühl kam grundsätzlich zuerst, was leider einer der maßgeblichen Gründe für meine Unberechenbarkeit war. Letztere war in Riccardas Anwesenheit inzwischen glücklicherweise schon geschrumpft, ich versuchte zumindest bei meiner Meinung nach wichtigen Entscheidungen erst darüber nachzudenken. "Als braver, kleiner Engel...", wiederholte ich ihre Worte mit stark überzogener Betonung. Die zierliche Blondine war sicher vieles, aber brav gliederte ich nicht unbedingt in die Liste ihrer Eigenschaften ein. Mein Kopf wollte gerne sofort zurück zu den sündhaft kurzen Kleidern, die sie gestern Abend erwähnt hatte. "Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich dir das erklären soll.", stellte ich mit einem aufgeschmissenen Schnauben fest, nachdem ich einige Sekunden geschwiegen hatte und wir uns der Hütte näherten. Wie sollte ich ihr denn erklären, wie ich verstand, was im Kopf eines anderen Wolfes vorging? "Ich glaube das gehört zu den Dingen, die man nur verstehen kann, wenn man selbst einer ist." Ich würde es Riccarda wirklich erklären, wenn ich wüsste wie ich das anstellen sollte. Es war einfach ein Zusammenspiel aus sehr vielen Aspekten, glaubte ich zu wissen. Auch aus Dingen, die für einen Engel nicht greifbar und nicht verständlich waren. Ich dachte über die letzte Frage der jungen Frau dann tatsächlich so lange nach, dass ich sie nicht mehr zu beantworten schaffte, bevor wir außenstehenden menschlichen Ohren zu nahe waren. So richtig darüber nachgedacht hatte ich noch nie und es ließ sich nicht so leicht sagen, wie viel des Rudelzwangs tatsächlich genetisch in die Wiege gelegt wurde. Normalerweise wuchs ein Wolf schon in einem Rudel auf, er kannte es also gar nicht anders und wir waren grundlegend sehr soziale Wesen. Allerdings waren wir letzten Endes auch trotzdem noch Menschen, nicht nur Wölfe. Ich hatte mich selbst über die Priorität des mir angeborenen Rudels gestellt, mich gegen diesen sozialen Bund und Zwang entschieden. Es konnte also eigentlich nicht ausschließlich genetisch verankert sein, aber es spielte mit Sicherheit auch eine Rolle, welche Position man in einem Rudel hatte. Wenn man der Leader war konnte man diese Verpflichtung nicht hinten anschieben, wenn sie nach Entscheidungen und Taten verlangte, nur weil man gerade lieber etwas Anderes täte. Ich ließ Riccarda den Vortritt hinsichtlich der Begrüßung des fremden Mannes, während ich noch meinem letzten Gedanken nachhing, bevor ich mich zu einer knappen Begrüßung mittels Händedruck und einem Nicken begeistern ließ. Mehr war bei fremden Personen bei mir selten im Bereich des Möglichen, weil ich Unbekannten grundsätzlich mit Misstrauen gegenüber stand. Matthew, wie er sich vorstellte, bat uns im Anschluss an das herzliche Willkommen darum ihm zu folgen, was wir ohne zu zögern taten. "Erinner' mich später daran, dass ich dir noch eine Antwort schulde, falls ich's vergessen sollte.", meinte ich leiser und neigte mich dabei im Gehen ein bisschen zu Riccarda rüber. Bis wir wieder unter uns waren zogen jetzt sicherlich erstmal einige Minuten ins Land, da wir uns in einer Gruppe mit anderen Touristen erst einmal einer Einweisung unterziehen mussten. Wie genau sah der Ausflug jetzt eigentlich aus? War das ein Couple- oder Gruppen-Rafting? Vor meinem inneren Auge sah ich mich schon mit schlechtem Teamgeist glänzen.
◈ pain is the feeling of weakness leaving the body ◈
Diese Verwandlung barg Abgründe in sich, die mir lediglich unterschwellig bewusst gewesen waren, aber nun derart direkt und ungefiltert aus Isaacs Mund sämtliche Vermutungen dargelegt zu bekommen, glich noch einmal einem ganz anderen Kaliber. Todesfälle bei zu schwachen Werwölfen… natürliche Selektion der Ungeeigneten. Es kam mir instinktiv grausam vor, jedoch hütete ich mir vor einem Kommentar jeglicher Art. Momentan traute ich meiner Stimme nicht so richtig über den Weg und ich wollte nicht abfällig über etwas sprechen, von dem ich im Grunde keine Ahnung besaß und auch niemals damit konfrontiert worden war. Es gehörte zu dieser kraftdominierten Spezies dazu, dass die unterlegenen Exemplare früher oder später den Kürzeren zogen; im unglücklichsten Fall mit dem Leben für ihre Unzulänglichkeit bezahlten. Ein Schaudern lief über meinen Rücken hinab, obwohl die Außentemperaturen eher das Gegenteil bewirkten. Mir war furchtbar heiß und ich freute mich bereits auf den Trip im Schlauchboot. Durfte ich diese – für mich als privat einzustufende – Information unerwidert zwischen uns verhallen lassen? Kurz huschte mein Blick hinüber zu dem gesprächig gewordenen Dunkelhaarigen, nickte als einziges Signal für meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Immerhin zögerte mein Gesprächspartner nicht, seine persönlichen Erfahrungen mit der Verwandlung mitzuteilen, was mir die Spannung ein wenig aus den Schultern nahm. „Ein Profi also“, murmelte ich leise mit einem zaghaften Lächeln kombiniert vor mich her. Aber war etwas anderes zu erwarten gewesen? Eher nicht, beantwortete ich mir die lautlose Frage gedanklich. Das Lächeln erweiterte sich zu einem einsichtigen Grinsen, nachdem Isaac eine sehr treffende Anmerkung zu meinem Kommentar brachte. „Ein Versuch war’s mir wert“, entgegnete ich ihm neutral, schließlich war ich über das kleinliche Denken bezüglich Isaac hinweg und wollte auch an das Gute in seiner Natur glauben. Da gehörte es unter anderem dazu, dass ich an seine Vernunft plädierte, von der er sich selbst nur wenig zugestand. Zum Glück durften wir mittlerweile unterschiedlicher Meinung sein ohne sofort die Krallen auszufahren oder direkt aufeinander loszugehen. Außerdem erkannte ein Außenstehender, ich, seine charakterliche Veränderung womöglich leichter und wusste deshalb aus einem Bauchgefühl heraus, dass bei Isaac längst nicht alle Hoffnung verloren war. Was auch immer er von seiner Familie über Jahre hinweg eingetrichtert bekommen hatte, es ließ sich definitiv mit Geduld und Feingefühl rückgängig machen. Zumindest hatte ich dies mehr oder weniger als mein höchstes Ziel angesetzt, wenn es darum ging, positiven Einfluss auf meinen Gefährten auszuüben. Dass mir meine eigene schnippische, spezielle Art beizeiten Probleme bereitete, darüber sah ich hinweg und deshalb zog ich auch bei seiner spöttischen Betonung meiner Selbstbeschreibung zynisch eine Augenbraue fragend nach oben. Bei dem fast schon frustrierten Schnauben glättete sich das kleine Fältchen zwischen meinen Augenbrauen schnell wieder und Verständnis trat stattdessen in meine braunen Augen. „Macht nichts, ich war einfach nur neugierig. Dann bleibt das wohl ein Geheimnis“, stellte ich ohne viel Enttäuschung fest. Alles ließ sich eben nicht immer auf Anhieb herausfinden; vielleicht fand Isaac zu einem späteren Moment in unserer gemeinsamen Zukunft eine Art, wie er mich dieser Erfahrung näherbringen konnte. Ich fühlte mich nicht genervt abgespeist, weshalb ich zügig von dem Gedanken abließ. Die Begrüßung eines Mitarbeiters des Unternehmens – zumindest trug der, wie ein Surferboy aussehende, Typ ein weinrotes T-Shirt mit einem großen Vereinslogo aufgestickt – durchschnitt die Unterhaltung, was mich doch ein bisschen ärgerte, denn gerade wäre es richtig spannend geworden. Mein Verdruss versank hinter einer Welle der Fröhlichkeit als ich den motivierten Gruß erwiderte und zudem versicherte mir Isaac, dass ich noch eine Antwort bekäme. Zufrieden nickend zeigte ich meine Einwilligung in den Kompromiss und folgte Matthew sogleich mit beschwingterem Schritt. Dieser dirigierte uns zu einer kleinen Ansammlung von Menschen, die schließlich einer nach dem anderen eine Rettungsweste und einen Helm in die Hände gedrückt bekamen; einschließlich Isaac und ich. „Sollten die Helme nicht passen, einfach in der Truhe nach einem anderen schauen“, ratterte Matthew gerade herunter, als ich meinen Blick über die anderen Teilnehmer schweifen ließ. Eine Familie und eine Gruppe junger Erwachsener. „Wir brauchen pro Boot mindestens vier Leute, liegt an euch, wie ihr das handhaben wollt“, entließ er uns vorerst und schon standen wir im Halbkreis, unschlüssige Blicke zuwerfend. Nach kurzem Hin und Her formte sich eine Gruppe aus der vierköpfigen Familie und einem Paar der Jugendlichen und der restliche Trupp zählte dann wohl zu unserem Team. Immerhin keine quengelnde Kinder an Bord. „Ausgezeichnet“, klatschte auf einmal schräg hinter mir jemand in die Hände und brachte mich dazu, aufgeschreckt herumzuwirbeln. Als ob Matthew unseren fertigen Beschluss gerochen hätte, stand er breitbeinig da und seine Augen strahlten vorfreudig. „Gibt es noch Fragen?“, hakte der junge Mann einmal nach, musterte dabei jeden Einzelnen freundlich. „Wenn nicht, dann ab ins Gewand und los geht’s.“
Es wäre sehr merkwürdig, wenn ich bis jetzt noch kein Profi wäre, oder? Immerhin trug ich so ziemlich die stärksten Gene in mir, die ein Werwolf überhaupt tragen konnte. Da das weibliche Geschlecht bei uns Wölfen beinahe gar nicht existierte, war ich genetisch schon fast das Non-Plus-Ultra. Die einzige stärkere Mutationsmöglichkeit würde ein Alphawolf bilden, der sich mit einer der sehr rar gesäten Wölfinnen paarte. Allein deswegen schon hielten sich wahrscheinlich die meisten der Wolfsfrauen ganz gezielt versteckt - um nicht Opfer irgendeines Alphas werden zu müssen, der den Hals von seiner bisherigen Macht noch nicht voll genug bekam. Mein Vater war ein sehr gutes Beispiel für einen fanatischen Rudelführer und ich würde Brief und Siegel darauf geben, dass es noch sehr viel mehr solcher Alphas gab. Ich war froh darüber, dass es den blonden Engel nicht sonderlich störte, auf eine der Fragen keine brauchbare Antwort zu kriegen. Vielleicht würde ich ja irgendwann in Zukunft noch eine gute Antwort darauf finden. Dann, wenn ich wieder öfter mit anderen Wölfen kommunizierte und vermehrt bewusst auf die Kommunikation achten konnte, um eine wirklich brauchbare Erklärung für Riccardas Frage zu finden. Wann das sein würde stand bis jetzt leider noch ziemlich fern in den Sternen geschrieben, weil bisher kein Ende dieser Durststrecke in Sicht war. Selbst wenn mein Vater einmal beseitigt war, würde ich nicht zu meiner Familie zurückkehren. Ich könnte sie nicht unvoreingenommen behandeln nach allem, was sie sich mir gegenüber geleistet hatten. Dennoch würde ich wohl versuchen einen diplomatischen Weg zu finden, bei dem ich nicht mehr als der böse, ewig sture Nachkomme dastand, der seinen Vater nur um die Ecke gebracht hatte, um seine Rache zu stillen. Davon hätte ich genauso wenig wie meine kaputte Familie, die sich gerne mal von all den schlechten Nachrichten erholen würde. Vielleicht würde ich irgendwann einem anderen Rudel begegnen, das meiner Führung würdig war. Oder irgendwo unterwegs auf dem Lebensweg ein paar einsame Wölfe aufgabeln, um sie zu vereinen. Was das anging blieb ich offen für jegliche Variationen, solange ich dabei an der Spitze stand - das verstand sich wohl von selbst. Rettungsweste und Helm. Ich hätte beinahe gelacht und konnte es aber dank Beherrschung bei einem kurzen, amüsierten Grinsen belassen. Beides war bei mir sehr überflüssig, wo mein Körper sich doch von so ziemlich allem zu erholen schaffte. Es bräuchte wohl einen sehr unglücklichen Genickbruch, damit ich bei der heutigen Bootsreise ernsthaften Schaden davontragen oder sterben konnte. Davor würden mich Weste und Helm sowieso nicht schützen, aber ich spielte mal mit, weil ich sonst wohl nicht mit aufs Schlauchboot dürfte. Ich enthielt mich der Entscheidung hinsichtlich der Teams insofern, dass ich nur eingeschritten wäre, wenn die Eltern ihre Kinder an uns hätten abtreten wollen, um ihre Ruhe zu haben. Auf kreischende Kinder konnte ich gut verzichten, also hoffte ich einfach mal, dass unsere Gruppe sich nicht dämlich anstellte. Eigentlich konnte man aber nicht zu dumm zum rudern sein, oder? Würde sich zeigen. Es schien keine Fragen mehr zu geben, also warfen sich alle in ihre Schutzausrüstung während wir zu den Schlauchbooten gingen. Als dann einer nach dem anderen am Ufer ins Boot sollte, war nicht mehr nur Matthew zum Aufpassen anwesend, sondern noch ein zweiter offensichtlich durchs Tshirt gekennzeichneter Ausbilder, der sich um die Passagiere des zweiten Schlauchboots kümmerte. Als ich drauf und dran war nach dem Rest unseres Trupps aufs Boot zu gehen, merkte Matthew beiläufig an, dass ich dabei vorsichtig sein sollte - wegen meiner Größe, wahrscheinlich damit nicht alle baden gehen mussten. Mir lagen schon die Worte auf der Zunge, dass ich mein eigenes Gewicht und auch Gleichgewicht sicherlich besser einschätzen konnte als er, aber ich verkniff sie mir mit einem knappen Nicken, während ich mich gedanklich weiter darüber echauffierte. Meine Miene blieb dennoch relativ neutral, als ich Riccarda dann schließlich eine Hand entgegenhielt, damit sie den Schritt über den dicken Rand des Schlauchboots etwas leichter hatte. Es war zugegeben schon gewöhnungsbedürftig auf Wasser zu stehen und dabei nicht auf einem richtigen Boot - also einer Yacht oder einem Kreuzfahrtschiff - zu sein, aber das Ausbalancieren fiel mir rein instinktiv trotzdem nicht schwer. Der Engel und ich nahmen nebeneinander am weitesten hinten im Schlauchboot Platz, was ich definitiv bevorzugte, weil ich dann nicht unnötig viele Augen im Rücken hatte. Das war nämlich auch eine Sache, die ich einfach nicht mochte. Außerdem hatte ich dann einen guten Blick auf den Spaß-Trupp direkt vor uns im Boot, der bester Laune zu sein schien.
◈ pain is the feeling of weakness leaving the body ◈
Sollten das Echo der vergangenen Unterhaltungen noch in Isaacs Kopf nachhallen, so bekam ich nichts davon mit, denn meine Aufmerksamkeit lastete inzwischen hauptsächlich auf dem bevorstehenden Trip in dem plötzlich nur mehr halb so sicherwirkenden Schlauchboot. Ein mulmiges Gefühl hatte sich in meiner Magengegend ausgebreitet und sandte Impulse des Unwohlseins durch meinen gesamten Körper. Intuitiv drückte ich die überreichte Schutzausrüstung gegen meinen Oberkörper, versuchte dabei mein Vertrauen in das Equipment zu legen. Isaac würde niemals von meinen zwiespältigen Gefühlen erfahren, beschloss ich recht schnell, nachdem ich seinen geradezu belustigten Blick bezüglich der Rettungsweste und dem gelben Helm in seinen Händen aufschnappte. Natürlich: für Mister Universum bedarf es keiner zusätzlichen Rettungsleine, immerhin besaß er ein wölfisches Upgrade, das ihn vor so ziemlich allen lebensbedrohlichen Verletzungen bewahrte, aber ansatzweise Normalsterbliche – zu denen ich mich in diesem Fall dazuzählte – mussten auf diesen Bonus verzichten und so erleichterten mich die obligatorischen Sicherheitsmaßnahmen ausreichend, um meinem Partner ein amüsiertes Lächeln zu zeigen. „Gelb steht dir sicherlich vorzüglich“, versicherte ich ihm keck, während ich mich dazu anschickte, in die knallig orange Rettungsweste zu schlüpfen, sodass ich beide Hände frei hatte, um den Helm zu probieren. An dem kleinen Rädchen an der Hinterseite konnte man die Größe minimal verstellen, sodass ich nicht auf die Suche nach einem geeigneteren Modell lospilgern musste. Bei einem Rundblick über die anderen Teilnehmer stellte ich fest, dass vor allem die Eltern Probleme hatten, einen geeigneten Helm für das jüngste Familienmitglied zu finden. Kinder… ob ich selbst jemals in eine vergleichbare Situation geraten würde? Unwillkürlich huschte mein Blick zu Isaac… spontan schaffte ich es nicht, ihn mir als liebenden oder gar sorgenden Vater vorzustellen. Ein Thema für die ferne Zukunft. Fertig eingekleidet und mit den besten Absichten watschelten alle miteinander hinter Matthew her, der uns auf die beiden Schlauchboote am Ufer verwies. Gemeinsam mit einem zweiten Mitarbeiter überwachte der Angestellte das weitere Vorgehen mit hier und da ausgestreuten Warnhinweisen und der Wiederholung so mancher Verhaltensregel. Am wichtigsten schien ohnehin zu sein, dass man um keinen Preis sein Ruder verlor, was schaffbar sein dürfte. Zumindest traute ich mir diese mehrfach betonte Aufgabe guten Gewissens zu. Matthew merkte bei Isaac an, dass dieser aufgrund seiner überdurchschnittlichen Größe und Masse in der Gruppe auf die Verteilung des Gewichts achten musste, was in meiner Vorstellung direkt zu einem saloppen, unangebrachten Spruch seitens des Dunkelhaarigen führen würde, aber Isaac hielt sich zurück und schickte dem Leiter unseres Ausfluges nur einen mürrischen Blick zu, den dieser aber erst gar nicht mitbekam. Ich grinste trotzdem amüsiert vor mich hin, während ich mit suchendem Blick adjustierte, wie ich am besten über den Bootsrand stieg, ohne mich direkt auf den Hosenboden zu befördern. Isaacs Hand kam mir da zugegebenermaßen gerade recht. Mit einem leisen Dank auf den Lippen griff ich nach seiner Hilfestellung und schaffte es ebenfalls erfolgreich auf das wacklige Boot. Matthew entfernte die beiden Taue, mit denen das Schlauchboot am Holzsteg befestigt worden war und schwang sich dann mit einer aus Gewohnheit geborenen Eleganz in den hintersten Teil unseres roten Transportmittels. Es brauchte eigentlich nur ein kurzes „Hergehört“, um alle Köpfe drehen zu lassen. Ich verlagerte meine Sitzposition ein wenig, um mir nicht den Hals verrenken zu müssen, während Matthew das weitere Vorgehen schilderte: „Wir werden jetzt ein paar Minuten den Fluss entlang treiben und die Kommandos üben, damit sich jeder mit dem Ruder vertraut machen kann und ein Gefühl für das Wasser bekommt. Bitte bleibt ruhig und hört darauf, was ich sage, wenn wir im Ernstfall stecken bleiben sollten. Verstanden?“ Es kamen keine Widerworte. Ich konnte die Aufregung innerhalb der Gruppe förmlich mit den Händen greifen; die Euphorie der Jugendlichen war schonungslos auf mich übergesprungen und lediglich Isaac sowie Matthew dürften dem ganzen Schauspiel keinerlei erwähnenswerte Anspannung abgewinnen. „Dann geht’s los!“, leitete unser Steuermann die Fahrt ein und delegierte auch sogleich das Abstoßen vom hölzernen Gestell am Ufer des Flusses an, sodass wir in die Mitte des Flussbettes kamen und von der Strömung erfasst wurden. „Wirf mich ja nicht absichtlich über Bord“, warnte ich Isaac lachend, in der Annahme, dass er schon keinen Mordanschlag auf mich auszuüben gedachte.
Nein, tat es nicht. Gelb stand mir nicht, nicht mal ein bisschen. Zumindest wenn man nach meiner Meinung fragte. Dementsprechend warf ich Riccarda auch einen kurzen Seitenblick mit hochgezogener Augenbraue zu, als sie jene Aussage getätigt hatte. Einen Blick, der ihr ganz eindeutig sagte, was ich von dieser Aussage hielt. Ich ließ es mir nicht nehmen auch wörtlich noch darauf zu antworten, obwohl es sicherlich überflüssig war. "Danke, aber ich denke, ich bleibe bevorzugt bei schwarz und weiß.", stellte ich ironisch fest, kurz bevor ich einen Blick auf meine eigene, angelegte Weste warf. Nicht, dass ich mich bis heute gerne damit arrangierte in unserer Heimatstadt ständig Anzüge tragen zu müssen, aber es flackerte unweigerlich vor meinem inneren Auge auf, wie die Presse mich mit einem knallgelben Anzug ablichtete. Das hatte richtiges Horrorpotenzial. Dann lieber ein klassisches, freundliches Schwarz. Ich half dem Engel aufs Boot und als nächstes fanden wir uns beide mit dem Hintern darauf wieder, als es langsam aber sicher an weitere Einweisungen seitens unseres Aufpassers ging. Dass mich das gefühlt zu Tode langweilte, brauchte ich nicht zu erwähnen, oder? Es gab für mich fast nichts langweiligeres, als Instruktionen, die ich in meinen Augen nicht nötig hatte. Ich würde schließlich so oder so heil ankommen, da brauchte sich keiner Sorgen zu machen. Allerdings sollte ich mich zu weniger Egoismus ermahnen, denn der war heute leider sehr fehl am Platz. Die Anderen sollten also ruhig gut zuhören, damit ich sie im Nachhinein nicht wegen ihrer Unfähigkeit anschnauzen musste. Erst der Kommentar des Engels zu meiner niemals ganz schlummernden Seite mit viel Potenzial für Katastrophen ließ mich wieder breit grinsen. Die Vorstellung war einfach witzig - wie die blonden Locken im Wasser untergingen, nur um dann kurz darauf tollkühn von mir wieder rausgefischt zu werden. Wahrscheinlich würde mich danach erstmal ein Tobsuchtsanfall erwarten, sobald sie wieder richtig Luft bekam, aber der wär's fast wert. Nachdem ich mich vorhin so erfolgreich ein Stück weiter in ihrer Komfortzone ausgebreitet hatte, sollte ich ihre Reaktion auf eine solche Aktion aber besser nicht herausfinden wollen. "Wieso? Hast du Angst, dass ich dich nicht wieder raushole?", stellte ich ihr mit leicht funkelnden Augen und anhaltendem Grinsen eine Gegenfrage. Ich hatte natürlich nicht wirklich vor die junge Frau über Bord gehen zu lassen. Sie hatte sich hinsichtlich unserer Aktivitäten am heutigen Tag sicherlich auch etwas nach mir gerichtet, weil sie wusste, dass ich ihr irgendwann auf die Nerven gehen würde, wenn sie mich zu irgendwas mitzuschleppen versuchte, das mir keinen Spaß machte. Dementsprechend sollte ich Riccarda besser keinem unnötigen Nervenkitzel aussetzen, denn meinem empfindlichen Gehör zufolge trat der auch ohne Nachhilfe meinerseits ein, als das Boot erstmals richtig in der Strömung lag. Gott, so viele aufgeregt pochenden Herzen. Ich hoffte, dass sich das noch etwas legen würden, wenn der erste Adrenalinkick vorbei war, sonst konnte ich ja die Natur kaum genießen. Als sich alle im Boot Sitzenden am Üben der Kommandos versuchten, verlief das teils holprig. Nicht meinerseits natürlich, aber die Teens im vorderen Bootabschnitt schienen zeitweise noch etwas durcheinander und nicht ganz bei der Sache. Matthew erklärte manches also ein zweites Mal für die langsamen Gehirne im Team, während ich mich ohnehin ganz gut auf meine Intuition verlassen konnte. Rudern war halt einfach nicht besonders schwer, ich wusste wie Wasser und Strömung funktionierte und noch war der Strom ja wirklich mild. Es gab dabei also nichts, was mich aus der Ruhe hätte bringen können - abgesehen von unfähigen Mitruderern natürlich. Allerdings schien auch der Rest nach ein paar Wiederholungen einigermaßen verstanden zu haben, wie das Ganze funktionierte und so konnte ich erstmals ein bisschen das Drumherum genießen. Das Rauschen des Flusses, das Vogelgezwitscher ringsherum, den anhaltenden Geruch des Regenwaldes... und leider auch das immer wieder einsetzende Gegacker aufgeregter Teenager. Ich würde es wohl noch ein paar Minuten aushalten müssen - mindestens so lange, bis die Strömung stärker wurde und sie dementsprechend mehr zu tun hatten, damit wir auf Kurs blieben.
◈ pain is the feeling of weakness leaving the body ◈
Sein diebisches Lächeln sagte alles. Das verschmitzte Grinsen, welches selbst seine klaren Augen zum Funkeln brachte, stand ihm wie immer ausgezeichnet, aber gerade konnte ich mich nicht von dieser ganz eigenen Faszination überrollen lassen, sondern schnaubte stattdessen leicht auf. „Ich will es nicht Angst nennen, dass du mich nicht retten würdest, sondern eher eine gesunde Skepsis bezüglich der Dauer bis zum Start deines heroischen Rettungseinsatzes“, umschrieb ich meinen Eindruck hinsichtlich der Aussicht auf seinen Sprung ins kalte Wasser, sollte mich ein unglücklicher Zufall oder sein gut platzierter Ellbogen über die dicke Schlauchbootwand befördern. Tatsächlich verließ ich mich auf unser gutes Verhältnis, dass Isaac mich aus dem Fluss angeln würde, jedoch traute ich ihm nach wie vor zu, dass er mich zappeln ließe – schlichtweg, weil er es konnte. Hoffentlich sah er den heutigen Ausflug nicht als Gelegenheit, um mich eines Besseren zu belehren oder meine Ansichten gänzlich über den Haufen zu werfen. Zwar schwamm ich ganz passabel und als wasserscheu würde ich mich auch nicht beschreiben, aber in eine reißende Strömung mit scharfen Felskanten gespickt tauchte wahrscheinlich nicht nur ich ungern ein. Diesen Adrenalinkick durften sich andere Leute gerne geben, aber mir reichte die Wildwasserfahrt in dem schaukelnden Transportmittel bereits vollkommen. Das Klopfen meines Herzens legte sich nach und nach beziehungsweise normalisierte sich zu einemrhythmischen Puls, nachdem ich eine Weile mit dem Ruder hantiert hatte und ein Gefühl für den Druck auf dem Paddel bekam. Die Kraft des Wassers überraschte mich durchaus ein wenig, bemerkte aber zu meiner Erleichterung, dass auch der Rest der Crew anfangs Schwierigkeiten mit der Koordination hatte – natürlich stellte sich lediglich Isaac nicht wie der erste Mensch an. Manchmal nervte es mich, meinen Stolz, ungemein, wie mühelos ihm selbst neue Herausforderungen von der Hand gingen und ihm geradezu nichts erwähnenswert mühte. Da brauchte man ein gesundes Selbstbewusstsein, um neben seiner ausgestrahlten Vollkommenheit keine Komplexe zu bekommen; mir half das Wissen um seine Unzulänglichkeiten enorm, um darüber hinwegsehen zu können, dass er selbst im beschissenen Outfit samt Paddel in der Hand eine gute Figur abgab. Meine Beobachtung fand ein schleichendes Ende, da mich die aufgeregten Rufe und aufziehenden Kommentare der Teenager ablenkte. Willkürlich stahl sich ein Grinsen auf meine Lippen. Es war mittlerweile länger her, dass ich mit Freunden einen Urlaub – oder gar nur Ausflug – unternommen hatte. Die Erkenntnis bescherte mir gemischte Gefühle: einerseits schien ich es kaum vermisst zu haben, andererseits schmerzte es doch, zu realisieren, wie sehr ich mich von meinem sozialen Umfeld distanziert hatte. Ein Anflug von Neid überkam mich plötzlich. Matthew gab sein Bestes, um jedem Einzelnen die Kommandos nahe zu bringen oder langsamen Lernen mit Tipps oder Tricks zur Hilfe zu eilen, sodass am Ende alle ausreichend eingeschult wirkten, um den eigentlichen Spaß beginnen zu können. Sogleich hüpfte mein Herz wieder ein paar Takte höher und Adrenalin schwappte durch meinen Körper hindurch, sobald ich spürte, wie das schwankende Boot an Fahrt aufnahm. Die Geschwindigkeit hielt sich nach wie vor in Grenzen, doch wir hängten das zweite Schlauchboot, das ein paar Minuten nach uns gestartet ist, nun doch zügiger ab. Hier und da zeigten sich die ersten Steinbrocken, die über die Wasseroberfläche ragten und natürliche Hindernisse darstellten, die es zu umwinden galt. Eine weitere Übung, die wir zur Zufriedenheit unseres Leiters absolvierten. Mir begann es mittlerweile Spaß zu machen, auch wenn der anspruchsvollere Teil sicherlich noch ausstand. „Nach der Flussbiegung kommt eine engere Passage, wo die Strömung zunimmt, ab da geht’s richtig los. Bereit machen“, rief der Einheimische über unsere Köpfe hinweg. Ich meinte sogar eine Spur von Vorfreude in seiner Stimme herauszuhören.
Riccardas Worte ließen mich gleich noch amüsierter grinsen. Dass sie es nicht als Angst bezeichnen wollte, passte ein weiteres Mal wunderbar in das Konzept, in dem wir uns beide am besten gegenseitig niemals Schwäche - oder eben direkte Angst - eingestehen wollten. Unabhängig davon, ob sie nun tatsächlich Angst verspürte oder nicht, war das irgendwie dämlich, oder? Ich wusste, wieso ich das immer tat. Dass ich mich nicht verletzlich zeigen wollte, es auch schlichtweg nicht sein wollte, rührte einfach aus meiner sehr steinigen Vergangenheit. Aber am Ende war ich es trotzdem und das in mehr als nur einer Hinsicht - ebenso wie der blonde Engel. Es war ein Selbstschutzmechanismus, den wir langfristig gesehen abzubauen lernen mussten. Allerdings war es mit Sicherheit einer der Punkte, für den für länger zum Abhaken brauchen würden, keine Lappalie. "Hängt wohl davon ab, ob du ernsthaft in Gefahr schwebst oder nicht.", stellte ich nur mehr breit lächelnd fest. Dabei wusste ich bei längerem darüber Nachdenken eigentlich gar nicht, ob das tatsächlich so war. Es hatte schon länger keine Situation mehr gegeben, in der die zierliche Blondine tatsächlich einer ernstzunehmenden Gefahr ausgesetzt war. Der Brand im Schloss lag nun schon eine Weile zurück, seitdem war in dieser Richtung nichts mehr passiert. Ich konnte also schlecht beurteilen, ob mein Beschützerinstinkt ihr gegenüber inzwischen gewachsen war. Es wäre angesichts unserer wachsenden Bindung zueinander schon möglich, dass mein innerer Wolf mir bereits verbieten würde Riccarda im Wasser zappeln zu lassen, auch wenn sie nicht in akuter Lebensgefahr wäre, weil die Strömung bis hierhin nur sanft war. Es würde wahrscheinlich erst eine entsprechende Situation brauchen, damit ich mir darüber klar werden konnte - jedoch nicht heute, jedenfalls nicht durch meine eigene Hand. Spätestens als der Fluss uns die ersten kleinen Hindernisse in den Weg legte, wischte ich meine Gedanken gänzlich bei Seite und konzentrierte mich vermehrt auf die Aktivität. Bisher war noch alles im grünen Bereich und harte Kollisionen blieben aus, aber die Tatsache, dass es für mich ab jetzt auch etwas zu tun gab, sorgte ganz von allein dafür, dass meine Sinne sich schärften. Durch meine Körpergröße fiel es mir relativ leicht einigermaßen effektiv über die Köpfe der anderen hinwegzusehen, um so früh wie möglich erblicken zu können, wie der Fluss verlief und was es dabei zu umsteuern galt. Als unser eifriger Lehrer endlich den für mich attraktiven Part des Flusses ankündigte, stahl sich ein schmales Grinsen auf meine Lippen, wobei gleichzeitig zumindest ein Teil der Passagiere vorne im Boot eher noch mehr Herzflattern bekam. Während die jungen Erwachsenen sich im übertragenen Sinne in die Hose machten, erfreute ich mich nur zusätzlich an diesem Anflug von Angst in der Luft. Ich konnte sie nicht nur riechen, sondern förmlich greifen. Hatte zuerst nicht daran gedacht, dass die pochenden Herzen mich nicht unbedingt nur stören, sondern viel mehr sogar zu meinem Amüsement beitragen konnten. Der Bootstrip begann jetzt also auch mir Spaß zu machen. Matthew hatte nicht gelogen - es war sehr deutlich spürbar, wie das Schlauchboot an Geschwindigkeit zunahm, während wir versuchten es einigermaßen mittig in der engen Passage zu halten. Die Teenager hielten fortan auch überwiegend die Klappe und versuchten bestmöglich Matthews Instruktionen zu folgen, was dennoch nicht gänzlich verhindern konnte, dass das Boot hier und da mal aneckte. Das Adrenalin stieg schließlich selbst in meinen Adern vermehrt auf, als es hinter der nächsten Kurve für einige Meter etwas steiler und teils treppenartig bergab ging. Das gestaltete das Paddeln deutlich anspruchsvoller, selbst für mich. Das Schlauchboot stellte sich so einige Male quer, aber mein begeisterter, förmlich aufblühender Gesichtsausdruck blieb wie in Stein gemeißelt. Durch die Action bot sich mir glücklicherweise gar nicht viel Zeit dafür die Anderen übermäßig zu kritisieren, weil ich selbst beschäftigt blieb. Ich konnte also später auf keinen Fall leugnen, dass Riccarda mit dem Rafting eine gute Idee gehabt hatte. Pluspunkte für sie, ganz eindeutig. Wenn wir sowas jetzt öfter gemeinsam machten - nicht eins zu eins dasselbe natürlich, aber eben ähnlich spaßige Sachen - würde ich genug Ausgleich zum langweiligen Leben als adeliger Nachkomme haben.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈