Isaac bemühte sich zwar, die aufkeimende Freude im Zaum zu halten, aber da ich seine Reaktionen ohne Ablenkung durchs Autofahren beobachten konnte, entging mir weder das Aufblitzende Grinsen noch das Funkeln seiner hellen Augen. Dass er seine offensichtliche Euphorie dennoch zu dämpfen versuchte, rechnete ich ihm durchaus als kleinen Pluspunkt an. Allein um unserer instabilen Beziehung Willen würde ich niemals offen zugeben, dass es mich eine kleine Überwindung gekostet hatte, meine Verbindung zu Jago auf diese extreme Art zu kappen – die Alternative seines Todes wäre zwar noch heftiger, aber diese große Distanz zu einem Menschen, der mir einmal sehr viel bedeutet hatte, hatte sich im ersten Moment nach der erfolgreichen Abwicklung wie ein tiefgreifender Verlust angefühlt. Verstandesmäßig wusste ich, dass dieser Schritt nötig gewesen war, um allen Beteiligten das Weitermachen zu ermöglichen und dennoch fühlte es sich im Herzen gleichzeitig wie eine Aufopferung an. Isaac würde es womöglich aufgrund seiner launischen Unsicherheit in den falschen Hals bekommen, obwohl ich inzwischen mit Überzeugung bestätigen könnte, dass ich meine Handlung nicht bereute. Er knabberte ohnehin an der angeblichen Perfektion meiner damaligen Beziehung, die von meinen Verwandten maßlos übertrieben dargestellt worden war. Jago gehörte von nun an einem abgeschlossenen Kapitel an. Irgendwie fühlte es sich sogar gut an, zu wissen, dass ich ihm sozusagen als stille Entschuldigung für das gebrochene Herz einen triumphalen Karrierestart ermöglicht hatte; abseits der Entwürfe für den Wiederaufbau des Engelpalasts. Im Vordergrund sollte aber Isaacs Entlastung stehen, weshalb ich ihm auf seine Bemerkung ein halbes Lächeln schenkte. Zu gut, um wahr zu sein. Vor ein paar Wochen hätte mich dieser indirekte Zweifel in gewisser Weise verletzt, aber gerade wusste ich es besser. Ich wollte die zur Abwechslung mal -mehr oder weniger - ungetrübte nicht mit dunklen Gedanken verpesten, nachdem sich auch Isaac regelrecht beschwingt zeigte. Zumindest deutete seine Berührung auf meinem Oberschenkel ganz darauf hin, dass Nähe vorerst wieder zwischen uns in Ordnung war. Wir achteten momentan vermehrt auf persönliche Grenzen, wobei natürlich auch die körperliche Toleranzschwelle eine entscheidenden Rolle einnahm. Ich genoss das Gefühl seiner schweren Hand, deren Wärme leicht durch die Vielzahl an Schichten meiner Kleidung sickerte, auf meinem Bein. „Ich lass‘ mich einfach überraschen“, kommentiere ich die Beschreibung unseres Aufenthaltsort für diesen wettertechnisch perfekten Samstagnachmittag. Die lockere Stimmung wurde nur von meiner Neuformulierung gedämpft, der Isaac schlussendlich zögerlich zustimmte. Seine weitere Ausführung besserte die Situation zwar nicht, bot mir aber einen tieferen Einblick in die Komplexität des Problems, mit dem sich der junge Mann auseinandersetzen musste, wenn diese Beziehung auf Dauer funktionieren sollte. Wir würden noch oft genug aufgrund Meinungsverschiedenheiten oder Missverständnissen aneinandergeraten, manchmal aus schwerwiegenderen Gründen als andere Male und ebendarum schien es mir so ausgesprochen wichtig, an unserer Kommunikation zu arbeiten. Ein Haufen Arbeit, von dem wir uns auch mal ein paar Stunden freinehmen durften, um die Unbeschwertheit unserer Zweisamkeit wieder aufleben zu lassen. Klang doch nach einem guten Plan, nicht wahr? Dass meine durchaus ernst gemeinte Erkundigung auf Amüsement stieß, traf mich zugegebenermaßen unerwartet, weshalb ich Isaac einen teils irritierten, teils staunenden Blick zuwarf. „Ich dachte nur, weil dein Wolf und du so stark verbunden seid“, brummelte ich eine leise Rechtfertigung, erklärte meine Neugier damit dann auch als befriedigt. Isaac tat mir dennoch den Gefallen und führte seine Anmerkung weiter aus. Ihn reizte meine artspezifische Genetik nicht mehr, was doch darauf hoffen ließe, dass er auch weitere Trigger mit ausreichend Geduld entschärfen konnte. Wie immer eine Frage der Zeit und ob wir uns diese auch tatsächlich nahmen. Eine Beziehung bedeutete Arbeit, erst recht nach dem unsanften Verlust der sogenannten rosaroten Brille. Gerade dann benötigte es schöne gemeinsame Erfahrungen, die wir hier wohl zu sammeln versuchten. Mitten in einer mir unbekannten Gegend, wo weit und breit lediglich ein eingeschneites Häuschen stand und wir mit dem einzelnen Auto zurückzuführenden Ausbleiben jeglichen Menschenkontakts rechnen durfte. Wie hoch war die Chance, sich ausgerechnet hier zufällig über den Weg zu laufen? Unbewusst hatte ich mich ein wenig aus dem durch die Sitzheizung herrlich warmen Plätzchen gelehnt, um einen interessierten Blick aus der seitlichen Scheibe zu werfen, während Isaac ohne viel Umtun den SUV in der Parkbucht abstellte. „Schön zu hören, dass ich von deinem Wolfsradar nicht mehr als Abschusskandidatin betrachtet werde“, scherzte ich sanft und schenkte ihm ein flüchtiges Grinsen, ehe ich mich anschickte, aus dem hohen Geländewagen zu klettern und im Anflug kindlicher Freunde direkt in den Schnee zu springen – dieses Mal entsprach meiner Kleidung auch den dafür erforderlichen Kriterien. Der mangelnde Platz machte es mehr zu einem motivierten Hopser, aber der Wille allein zählte in dem Moment, bevor ich ebenfalls zum Kofferraum stapfte und einen der hölzernen Schlitten herauszerrte. Da Isaac einen genauen Platz vor Augen zu haben schien, folgte ich ihm an dem Häuschen vorbei, entlang dessen kleinen eingezäunten Gartens und weiter in den tatsächlich mit der Zeit weniger dicht stehenden Wald. Unsere Schlittenkufen zogen feine Linien in den beinahe unberührten Schnee. Lediglich ein paar Trittsiegel verrieten die Anwesenheit von Waldbewohnern. Ein sehr idyllischer Ort, keine Frage. Wir kämpften uns ein paar Minuten durch das pulvrige Weiß, bevor Isaac mit der Hand auf ein abschüssiges Gefälle wies, das in einiger Entfernung auf einer Lichtung auslief.
Nicht nur was die Wahl der Örtlichkeit unseres Ausflugs, sondern auch was meine Antwort auf ihre Frage zu meinem speziellen Radar für ihresgleichen anging, konnte ich für Überraschung sorgen. Dabei hatte Riccarda schon Recht damit, dass mich von meiner pelzigen Seite vollständig abzutrennen schwierig für mich war, offensichtlich. Zu unser beider Glück bedeutete das aber nicht, dass ich keinerlei Kontrolle über das Biest hatte oder dass es nicht lernfähig war. Der Wolf war ich und ich war der Wolf – es war nicht so, als wären wir zwei komplett eigenständige Individuen. „Ich versteh‘ schon, woher die Frage kommt… aber diese Symbiose ist zum Glück keine völlige Einbahnstraße.“, erwiderte ich. Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: „Ich muss nur noch dafür sorgen, dass ich mehr Einfluss habe als er.“ Was leider nicht so einfach war, wie es sich in diesem Moment dahersagte. Vollständig kontrollieren konnte man den Wolf ohnehin nicht: Spätestens bei Vollmond sprang er ungefragt aus dem Käfig. Kein Werwolf kam dagegen an. Doch ich brauchte eine gesündere Verbindung zu meinem pelzigen Zwilling, jetzt dringender denn je. Ich wollte Riccarda nicht mangels Selbstkontrolle verlieren. Weil sie gleichzeitig jedoch die allerletzte Person war, die ich dazu zwingen wollte, mir bei entsprechend nervenaufreibendem Training zu helfen, wägte ich aktuell schweren Herzens ab, mich das erste Mal seit langem wieder bei meinem Cousin zu melden. Er war nicht ideal dafür, weil er eine eher ruhige Persönlichkeit besaß und mir körperlich völlig unterlegen war – aber er wäre besser als Niemand, richtig? Ich konnte nur sehr begrenzt mit mir selbst trainieren und genauso wenig einmal wöchentlich für ein paar Stunden in den Norden fliegen. Mir saß meine angeknackste Beziehung beißend im Nacken, ich musste jetzt handeln. So oder so war es gut, dass die zierliche Blondine mir nie mehr nur aufgrund ihrer DNA gegen den Strich gehen würde. Ich sah ihr einen Moment lang schwach grinsend nach, als sie dabei war, vom Beifahrersitz zu rutschen. Es war schön, Riccarda inzwischen wieder mit angehobenen Mundwinkeln zu sehen. Ich überanalysierte jede noch so kleine Regung ihrer Mimik auf alltäglicher Basis und allein deshalb schon waren die Tage unmittelbar nach unserem Streit die reinste Tortur gewesen. Ich hatte ihre gute Laune unheimlich vermisst und stieg deshalb mit einem Anflug von Leichtigkeit aus dem Wagen, trotz meiner Körpergröße und den Winterklamotten. Mein schlicht schwarzer, zweiteiliger Skianzug kam hauptsächlich wegen der Nässe zum Einsatz. Die versetzte selbst mich ins Frieren, wenn sie großflächig unter die Klamotten kroch und das ließ sich heute vielleicht nicht vermeiden. Um unnötiges Schwitzen zu umgehen, war ich unter dem Anzug jedoch entsprechend dünn mit Thermoklamotten gekleidet. Ich ließ die Fahrertür locker hinter mir in den Rahmen fallen und traf meinen Engel am Kofferraum wieder. Sobald die Schlitten draußen waren, zog ich den Kofferraum zu und schloss den Wagen ab, ehe wir uns auf den Weg machten. Den Umständen entsprechend ging ich gezielt voraus, wobei es Riccarda sicher auch zugute kam, dass ich ihr den Schnee schon ein wenig platt trat. Ich ebnete ihr gerne den Weg und hatte es mit meiner zwangsläufig notwendigen Fitness und den längeren Beinen ohnehin etwas leichter als sie. Wir redeten kaum auf dem Weg zur von mir auserkorenen Stelle, aber im Gegensatz zu früher empfand ich das nicht mehr als unangenehm. Ich genoss es sogar, neben Riccardas spürbarer Anwesenheit gleichzeitig auch die Natur in mich aufsaugen zu können – mal wieder tief durchzuatmen und vom Geräusch unserer Schritte im Schnee, bis hin zu leisem Vogelzwitschern und dem unscheinbaren Wiegen der Baumwipfel alles ganz bewusst wahrzunehmen. Natürlich streifte ich weiterhin regelmäßig im Wolfspelz durch die Wälder rund um die Stadt, aber das war nicht dasselbe. Ich nahm es anders wahr, wenn ich auf nur zwei Beinen unterwegs und außerdem nicht allein war. Es stand keine Jagd an, ich stromerte nicht irgendwelchen Gerüchen hinterher, musste nicht aufpassen, keinem Menschen über den Weg zu laufen… es war herrlich unbeschwert und deshalb trug ich fast ununterbrochen ein schwaches Lächeln auf den Lippen, wann immer ich einen kurzen Blick zu Riccarda warf, um sicherzugehen, dass mein Schritttempo angenehm für sie war. Doch die kurze Wanderung kam bald zu ihrem Ende und ich deutete meiner Begleitung mit einer schlichten Handgeste, wo wir meiner Meinung nach runterfahren sollten. Der einzige Haken am Schlittenfahren abseits des Tourismus war, dass es hier keinen Lift gab – sich den Berg wieder nach oben ziehen zu lassen, war hier also nicht möglich. “Wenn wir nur bis zur Lichtung fahren, ist der Weg zurück nicht so weit…” Was nicht als Seitenhieb für Riccarda gedacht war, weil sie durchaus körperlich fit, nur ganz nüchtern betrachtet nicht so unermüdlich wie ich war. “...außerdem zieht sich ungefähr zwanzig Meter weiter unten ein Bach schräg durch den Hang.”, fügte ich noch einen Sidefact an. Zwar war das breite Rinnsal oberflächlich sicher noch zugefroren, aber es würde uns einen schmerzhaften Stopp bescheren, wenn wir da rein bretterten. Die Lichtung bremste uns durch ihr mangelndes Gefälle ohnehin, wir sollten eine Weiterfahrt auf dem dahinter wieder steiler werdenden Hang lieber nicht provozieren. Zumindest Riccarda mit ihren gewöhnlich schnell heilenden Knochen nicht. Ich brachte den Schlitten ohne Eile in Position, erfreute mich stumm an dem Gefühl, meine gefühlt nonexistente Kindheit gleich ein bisschen nachzuholen. “Wird daraus ein Wettrennen, oder gehen wir…”, die Sache entspannt an? Riccarda war schon losgefahren, bevor ich den Satz überhaupt erst beendet hatte.
Der Spaziergang durch die verschneite Landschaft verlief weitestgehend schweigsam. Eine angenehme Ruhe färbte die Atmosphäre zwischen den unterschiedlich dicht stehenden Baumstämmen, an denen sich Isaac einen möglichst effizienten Weg vorbeisuchte. Ich begnügte mich lediglich damit, seiner Spur durch den hohen Schnee zu folgen und meine Umgebung mit tiefen Atemzügen und neugierigen Blicken in mich aufzunehmen. Offensichtlich verirrten sich hier kaum Menschen her, was ich durchaus begrüßte – ein medial bekanntes Gesicht zu haben beziehungsweise mit einem verheiratet zu sein, egal ob zum Schein oder ernsthaft, bedeutete in weiterer Folge auch, unerwartete Schnappschüsse von sich selbst während beliebiger Freizeitaktivitäten zu finden. Ein Übel, mit dem ich mich abgefunden hatte, aber umso befreiender fühlte es sich direkt an, zu wissen, dass hier keine nervös klickenden Kameras warten würden und dieser Moment nur uns gemeinsam gehörte; eine Gelegenheit zur Zweisamkeit und womöglich sogar dazu, eine in Vergessenheit geratene Sorglosigkeit wieder aufleben zu lassen. Um ehrlich zu sein konnte ich meine letzte Schlittenfahrt gar nicht mehr datieren. Eine Schande, die nun behoben wurde. Aufregung kitzelte meine Nervenenden und eine kindliche Hibbeligkeit beschleunigte meine Schritte, sobald ich erkannte, dass wir unser Ziel erreicht haben mussten. Wir standen auf einer nach wie vor bewaldeten Erhöhung und hatten einen guten Ausblick auf die Strecke hinunter, die in einer flach auslaufenden Lichtung endete. Da ich hoffnungslos schlecht darin war, Entfernungen realitätsgetreu einzuschätzen, ließ ich es direkt bleiben und nickte nur leicht auf Isaacs Kommentar hin. Wo keine Menschen Erholung und Abwechslung zum Arbeitsalltag suchten, herrschte kaum Tourismus und das bedeutete wiederum, dass es niemanden kümmerte, ob man hier mit seinem Schlitten bis zur Hüfte im Schnee versank oder das Ausbleiben von Liften einen dazu zwang, sich jede weitere Fahrt hinab körperlich zu erarbeiten. Die Aussicht auf kräftezerrendes Stapfen durch den unpräparierten Schnee beeinflusste keinesfalls meine gute Laune; ebenso wenig erreichte mich die abzuwägende Gefahr eines zusätzlichen Hindernisses in Form des besagten Baches. In dem Moment hielt mich weder eine berechtigte Warnung noch die Vernunft. Eigentlich nahm ich bereits Anlauf, um mich mit Schwung auf den Schlitten zu befördern und sauste an bereits an Isaac vorbei, als dieser gerade erst Platz auf der Sitzfläche nahm. Ich hörte nur mehr das Wort Wettrennen, welches ich mit einem ausgelassenen Lachen beantwortete. Eine ausführlichere Antwort gäbe es nicht auf seine Frage, weil ich mich einerseits nicht festlegen wollte und andererseits rodelte ich bereits schneller als erwartet den beinahe baumfreien Hang hinab, sodass meine zwei geflochtenen Zöpfe nur so durch die Luft peitschten. Die gestrickte Mütze mit dem Kunstfell-Bommel sorgte dafür, dass meine Ohren nicht aufgrund der eisigen Zugluft abfroren, während ich nach einer Weile den flacheren Bereich erreichte und nach einigen Metern die Füße vom Schlitten nahm, um endgültig zu bremsen. Ein breites Lächeln zierte meine Gesichtszüge, als ich mich halb umwandte, um zu schauen, wo Isaac blieb, der mir ohnehin dicht auf den Fersen war und kurz darauf neben mir landete. „Das war großartig“, begrüßte ich ihn begeistert und so folgte eine Abfahrt der nächsten. Gnadenlose Wettrennen wurden zu gemütlicheren Fahrten, bis ich auf die glorreiche Idee einer Rampe kam. Der Dunkelhaarige brauchte gar nichts zu sagen, denn seine Mimik drückte genug Skepsis für uns beide aus, aber ich ließ mich nicht von dem Vorhaben abbringen – ja, mein Körper heilte längst nicht so schnell wie Isaacs, aber das hielt mich definitiv nicht davon ab, mein inneres Kind in vollen Zügen auszuleben. Nicht heute. Also wuselte ich mit leuchtenden Augen durch den Schnee, um den optimalen Platz für besagte Schanze zu eruieren und begann nach erfolgreicher Suche, einen riesigen Schneehaufen zu akkumulieren; sozusagen die Rohmasse für meine erstklassige Rampe. Isaac wählte zunächst die Rolle des amüsierten Beobachters, ehe er sich an dem Bauspaß beteiligte und mir die perfekte Gelegenheit bot, einen gar nicht so unschuldigen Schneeball nach ihm zu werfen, sobald er nah genug war, um ihn auf jeden Fall zu treffen.