So actionreich meine Ankunft im nördlich gelegenen Rudel stattgefunden hatte, so gediegen endete unser gemeinsamer Aufenthalt bei der durchaus liebenswerten Großfamilie. Isaac brachte das ausstehende Gespräch mit seinem leiblichen Vater gut über die Bühne, obwohl der Grund seiner Zeugung wahrscheinlich noch für die eine oder andere aufgrund der arbeitenden Gedanken ruhelose Nacht sorgen würde. Wir erkundeten tatsächlich während eines abendlichen Abflugs von Abenteuerlust die Kellergewölbe des schicken Herrenhauses beziehungsweise durchforsteten die gut bestückte Bibliothek nach weiteren Antworten für unser Engel-Werwolf-Familien-Problem. In der Geschichte unserer gegensätzlichen Spezies war es wohl nie zu einer gut dokumentierten Fusionierung gekommen, weshalb wir uns überwiegend auf halb vergilbte Tagebucheinträge und Niederschriften von Heilern verlassen mussten – nichts, worauf ich im Hinblick auf meinen potenziellen Tod bauen wollte und Isaacs Laune hinsichtlich meines beinahe unausweichlichen Sterbens während einer Geburt verdüsterte sich von Bericht zu Bericht. Dennoch munterte ich mich damit auf, dass dies erst der Beginn unserer Recherche war und nur, weil Sylvan keine verlässliche Literatur besaß, hieß das nicht, dass keine zu diesem spezifischen Thema existierte. Zudem: Wunder geschahen immer wieder und manchmal eben in Form einer zerknirschten Jungwölfin, die Isaac mehr oder weniger darum bat, sie ihn seinem Koffer aus dem elterlichen Haus zu schmuggeln. Wie auch immer sie sich das ohne offizielle Papiere vorstellte, lehnte ihr Halbbruder ohnehin ab. Zugegebenermaßen geschah dies sehr zu meiner Erleichterung. Als hätten wir nicht genug eigene Probleme am Hals beziehungsweise wären mit dem Aufbau unserer gemeinsamen Zukunft ausreichend beschäftigt, um zusätzlich die Erziehung einer pubertären Teenagerin übernehmen zu wollen. Ich verstand ihren Freiheitsdrang – ehrlich und deshalb überkam mich ein dubioser Anflug von Mitgefühl, als sie nur mit Mühe den Trotz statt ihrer Enttäuschung zeigte – und hoffte, dass sie diesen Weg irgendwann allein bestritt.
Alles in Allem befand ich meinen ungeplanten Ausflug in das nördlich beheimatete Rudel sehr aufschlussreich, wenngleich gewisse Episoden eine Kürzung oder Verbesserung vertragen hätten – trotzdem ließ sich nicht abstreiten, dass Isaac und ich bezüglich unserer Beziehung einen gewaltigen Schritt in die richtige Richtung unternommen hatten. Dies führte in weiterer Folge dazu, dass ich bei meinen Eltern immer wieder kleine Andeutungen anbrachte, um sie behutsam auf die sicherlich unerwartete Überraschung vorzubereiten. Vor allem mein Vater würde aus allen Wolken fallen, wenn ich ihm erklärte, dass die Zwangsheirat weit mehr als einen Scheinfrieden zwischen den zwei Familien gebracht hatte. Unter anderem hatte ich meine Mutter darum gebeten, nun, wo der Palast wieder renoviert und fertiggestellt war, die Lobeshymnen auf Jago runterzuschrauben oder besser gänzlich einzustellen. Meine Bitte traf, wie vermutet, auf Irritation und dennoch hörte ich seinen Namen deutlich seltener aus ihrem Mund. Ob sie die Verknüpfung zwischen meiner Bitte und der Rücksichtnahme auf Isaac herstellte, fand ich bis zum Schluss nicht heraus. Oder beide meiner Elternteile wollten die zarten Andeutungen übergehen; beispielsweise der weit wärmere Umgang miteinander, unzählige gemeinsam verbrachte Stunden. Isaac würde es sicherlich vehement und voller Inbrunst abstreiten, aber ich hatte ihn sogar für ganze zwanzig Minuten dazu einspannen können, mir beim weihnachtlichen Schmücken unserer Räumlichkeiten zu helfen – und sei es nur, weil mich meine Körpergröße bei der Umsetzung meiner adventzeitlichen Vorstellungen behinderte und er im Nachhinein ausreichend für diese Aufopferungsbereitschaft entlohnt wurde. Ich für meinen Teil freute mich auf den Weihnachtsball. Eigentlich galt er sogar als Highlight der Festlichkeiten innerhalb meiner Verwandtschaft und selbst unter den Menschen galt eine Einladung als das Prestigemittel während der Weihnachtszeit. Die Klatschblätter würden sich mit Freude darüber zerreißen, dass Isaac als einziger Garcia auf der Gästeliste stand. Es gab zwar genug weitere skandalträchtige Prominente auf dem Ball, aber die Mitglieder der wirklich einflussreichen Familien gerieten dennoch weitaus öfter in den Mittelpunkt der Presseleute. Allein deswegen – ich redete mir jedenfalls tapfer ein, dass es nicht dem antrainierten Perfektionismus meiner Mutter zu Schulden kam – trug ich ein bordeauxrotes Abendkleid mit herzförmigen Ausschnitt und Beinschlitz, der fast bis zur Hüfte reichte, dessen Rotton auf die Nuance genau zu Isaacs Fliege passte. Wir wurden in hunderte Gespräche verwickelt, Hände mussten geschüttelt werden und irgendwann schmerzten meine Kiefermuskeln bereits von all dem gestellten Lächeln, sodass die alljährlichen Reden geradezu einem Erlösungsschlag gleichkamen. Obwohl ich den Inhalt der Ansprachen beinahe auswendig mitsprechen konnte, versuchte ich aufmerksam und interessiert genug zu wirken, sodass Schnappschüsse höchstens eine von all der Nächstenliebe und Wohltätigkeit gerührten Blondine einfangen konnten. Mein Vater ergriff zuletzt das Wort, bedankte sich für die zahlreiche Teilnahme, die hohen Spendenbeträge und eröffnete zu guter Letzt das meterlange Buffett im angrenzenden Speisesaal, wohin sich die meisten Gäste auch wie gelenkte Herdentiere brav begaben. Ich würde den ersten Ansturm abwarten, denn zufälligerweise rissen sich die Besucher plötzlich um das vegetarische Essen, sobald sich ein Familienmitglied in der Nähe befand, und unterhielt mich mit einer Handvoll Freundinnen dort weiter, wo wir durch das Knacken des Mikrofons vorhin unterbrochen wurden. Es ging um das Auslandsjahr einer ehemaligen Klassenkameradin, die an der fremden Universität ihren Verlobten kennen gelernt hatte, den sie hier erstmalig der Gesellschaft vorstellte. Ich genoss es, in den Anekdoten zu versinken und mich in verhältnismäßig normale Leben entführen zu lassen, als ich den stärkeren Griff an meiner Taille wahrnahm und meinen Blick auf Isaac richtete. Er sah nicht unbedingt gut unterhalten aus, aber ich hatte ihm mindestens dreimal angeboten, dass er sich eine Runde mit für ihn spannenderen Themen suchen sollte, um vielleicht auch ein wenig Spaß zu haben. Aber der sture Esel wich mir nicht von der Seite, außer es ging darum, für weitere Drinks zu sorgen… und das hatte er eben davon. Es reichte ein eindringlicher Blick, um das Angebot stumm zu wiederholen, aber stattdessen fragte er mich geradezu sprühend vor Engagement, ob ich ebenfalls etwas wollte. Mit einem zarten Lächeln, das seiner Aufmunterung dienen sollte, legte ich eine Hand auf seinen Oberarm und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Nein, danke.“ Ich hatte bereits zum Anstoßen mit sämtlichen Personen viel zu viel Sekt getrunken und auf leeren Magen vertrug sich das bekanntlich besonders gut – nicht. Ich spürte das Kribbeln ohnehin schon in meinen Beinen und sollte in der nächsten halben Stunde dafür sorgen, dass ich etwas Nahrhaftes zwischen die Zähne bekam. Mein Blick haftete nach wie vor an Isaac, als sich dieser von der Gruppe entfernte und selbstsicher genug durch die Menge schritt, sodass ihm der Weg automatisch freigemacht wurde. Nur kurz huschte meine Aufmerksamkeit am Barthresen entlang, wo sich auch meine Brüder lachend mit Jago unterhielten.
Ich nickte nur noch und warf einen kurzen Blick auf die zierlichen Finger an meinem Arm, dicht gefolgt von einem ebenso flüchtigen Blick in Riccardas Gesicht, bevor ich mich langsam von ihr löste und dabei noch meine Hand ihren Rücken streifen ließ. Wie schon zuvor musste ich mich auch dieses Mal dazu zwingen, sie nicht einfach hinter mir her zu schleifen. Ich bemühte mich ernsthaft darum, den anwesenden Gästen nicht mit meinem Blick den Hals umzudrehen. Trotzdem wirkten die angehobenen Mundwinkel mit Sicherheit genauso kalt wie meine Augen, wann immer Jemand meinen Blick suchte und ich leicht nickte. Zum pseudomäßigen Dank dafür, dass mir der Weg frei gemacht wurde, als wäre das für mich nicht längst sehr selbstverständlich. Ich überragte so gut wie jeden Mann in diesem Raum und es allein dadurch schon ziemlich unmöglich, mich nicht wahrzunehmen. Es gab dank meiner vergangenen Ausschweifungen ohnehin nur sehr wenige Menschen, die mich willentlich provozierten. Jago schien sich in dieses Muster jedoch partout nicht einfügen zu wollen. Das Gespräch wurde in meinen Ohren immer lauter, je näher ich der Bar kam. Gleichzeitig versuchte ich trotzdem noch mit einem Ohr bei Riccarda zu bleiben. Im verzweifelten Versuch, dadurch ansatzweise geerdet zu bleiben. Ich vermied es außerdem, in Jagos Richtung zu sehen, solange ich am Tresen lehnte und darauf wartete, dass mir endlich das verdammte Nervengift gegeben wurde. “Er passt sich unserem Lebensstil an, aber wirklich zufrieden ist er damit bestimmt nicht. Zumindest sieht er selten so aus. Er redet kaum mit uns.”, äußerte sich Riccardas ältester Bruder halb lachend. Ich nahm einen tiefen Atemzug und begann mit den Fingern auf die glänzend polierte Oberfläche zu trommeln. “Hat bestimmt sowieso nichts Geistreiches zu sagen.”, grinste Jago und sorgte damit dafür, dass die Brüder wieder leise lachten und sich im Umkehrschluss meine Faust auf der Bar verkrampfte. Ja ja, super lustig, auf meinem nicht vorhandenen Lebenslauf rumzureiten. Sollte er sich mit den Presseleuten und nicht mit Riccardas Verwandtschaft darüber das Maul zerreißen, damit wäre er besser beraten. “Manchmal frag’ ich mich, warum er nicht einfach geht. Seine Familie ist zwar schwierig, aber er könnte genauso gut irgendwo anders hin.” Der jüngere der beiden Brüder. “Falscher Stolz.”, vermutete Jago und ich konnte im Augenwinkel sehen, dass er schon wieder in meine Richtung guckte. “Aber ich freue mich schon darauf, die ganzen neuen Skandale zu lesen, wenn sie ihn endlich auf die Straße setzt. Dann hat er ja wieder nichts besseres mehr zu tun.” Ich bremste meine Faust nicht früh genug, um den dumpfen, nicht ganz leisen Aufprall auf dem Tresen voll abzufangen. “Wird’s heute noch?!”, maulte ich einen der beiden Barkeeper mit mühevoll klein gehaltener Stimme an, der sich sofort entschuldigte und andere Gäste überging, um mir eine gesellschaftlich anerkannte Menge Whiskey ins Glas zu füllen. Daraufhin waren Jago, Lysander und Theodore nicht mehr die einzigen, die in meine Richtung sahen. Wie sonst auch ignorierte ich das aber völlig – eine meiner ach so wenigen Königsdisziplinen. “Alkoholiker auch noch, hm?”, hakte Jago ironisch schnaubend nach. “Es kann wirklich nur an der Etikette liegen, dass sie sich immer noch mit ihm herumschlägt.”, sprach er weiter. Ich musste aufpassen, das Glas in meiner Hand nicht zum Brechen zu bringen, als ich mich mit einem übertrieben betonten Dank vom Barkeeper abwendete und mich auf den Weg zu Riccarda machen wollte. “Naja, das erste Jahr haben sie schon durch… Scheidungen sind zwar immer schlechte Presse, aber in seinem Fall wäre es jetzt sicher schon… gewissermaßen legitim.”, meldete sich der ältere Bruder wieder zu Wort. “Vielleicht solltet ihr das eurer Schwester mal sagen, Jungs. Das würde mir ungemein helfen.” Wieder leises Gelächter. Ich blieb stehen und der Whiskey im Glas schwappte unter dem Zittern in meinem angespannten Arm hin und her. Es war mir wirklich egal, was andere Menschen – oder verdammt arrogante Engel – von mir hielten. Aber Jago wollte ich schon das Maul stopfen, wenn er still war. Er brauchte nur im selben Raum wie ich zu atmen, um mich zu reizen – das Limit war längst übervoll. Ich drehte mich zu der Männergruppe um und steuerte sie zielstrebig an. Alle drei Paar Augenbrauen hoben sich beinahe gleichzeitig an, als klar wurde, was ihnen blühte. “Gentleman…”, begrüßte ich sie mit für mich ungewöhnlich ruhigem Ton und hob dabei das Glas kurz an. Lysander und Theodore nickten mir leicht zu, während Jago seiner missbilligenden Körperhaltung a la ’wer hat dich denn jetzt eingeladen?’ beibehielt. Mein Blick fokussierte sich auf sein Gesicht. “Es wäre wirklich reizend, wenn ihr nicht über mich sprechen würdet, als wäre ich nicht anwesend.”, bediente ich mich eisig lächelnd am hochtrabenden Tonfall, der normalerweise von den Engeln kam. Ich erntete seitens Jago einen fragenden Blick. “Es ist ein bisschen zu offensichtlich, wenn sich immer wieder die Köpfe um euch herum in meine Richtung drehen. Seid wenigstens diskret… Riccarda zuliebe.”, kaschierte ich mein übermenschliches Gehör mit einer Halbwahrheit und ließ den Namen meiner Ehefrau ganz bewusst fallen. Während die Brüder sich um einen relativ neutralen Gesichtsausdruck bemühten, zog Jago beide Augenbrauen hoch. Sah mich an, als würde ich ihn gerade verarschen wollen, obwohl ich bei Teufels Namen wirklich mein Bestes gab, um ihm nicht vor versammelter Mannschaft das Genick zu brechen. “Ach komm schon, Garcia. Als läge dir was an ihr… oder ihr an dir.” Mir platzte wirklich gleich die Halsschlagader. “Glaub’ was du willst.” Es war mir absolut nicht egal. “Aber rede nicht hinter ihrem Rücken über uns. Es ist respektlos.” Er lachte wieder und reizte damit jedes noch so winzige Haar in meinem Nacken, während die Brüder wissende Blicke austauschten, als mir das eisige Lächeln vollständig aus dem Gesicht fiel. “Ausgerechnet du willst mir was von Manieren erzählen? Wie ironisch.” Er kam aus seinem dummen Grinsen gar nicht mehr raus. Auch nicht, als er sein Champagnerglas zum Trinken an die Lippen hob. Ich streckte mit von Wut geleertem Kopf die Hand nach dem unteren Ende des Glases aus und sorgte mit Druck dafür, dass er sich verschluckte. Während er anschließend keuchend den Alkohol aus der Luftröhre zu husten versuchte und sich dabei krümmte, sah ich mit Genugtuung auf ihn runter. “Du solltest froh sein, wenn ich nur rede. Taten sind eher mein Ding.” Im Grunde eine sorgfältig verpackte Morddrohung. Während Theodore eine Hand auf Jagos Rücken legte, schob Lysander sich schräg in mein Sichtfeld. Sein Blick und das kaum sichtbare Kopfschütteln sollten mir wohl bedeuten, es gut sein zu lassen... und ich folgte dieser stummen Bitte ausschließlich wegen Riccarda, die dieses beschissene Fest zu genießen schien, während ich mir zum hundertsten Mal ihren beschissenen Exfreund anhören musste. Als ich mich augenrollend und immer noch völlig geladen umdrehte, um zurück zu meinem Engel zu gehen, kam mir die schlanke Blondine mit dem Blickfänger von dunkelrotem Kleid schon entgegen. Neben ein paar Blicken aus der – durchs offene Buffet im anliegenden Saal deutlich ausgedünnten – nahen Menschenmenge, die ich mit meinen eisigen Augen jedoch schnell wieder zum Wegsehen bis hin zum Weggehen in Richtung des servierten Essens animierte. Das Buffet, das ich wollte, hustete immer noch.
Die Unterhaltung führte uns irgendwann zu den nervenaufreibenden Hochzeitsvorbereitungen des frisch verlobten Paares und meine Schulfreundin erhoffte sich tatsächlich den einen oder anderen hilfreichen Ratschlag meinerseits. Als ob ich nur einen Handgriff getätigt hätte. Beinahe fühlte ich mich ertappt, als genau dieser Gedanke begleitet von einem gerade so als freundschaftlich zu bezeichnendes Lachen von einer Dunkelhaarigen in der Runde kam. Sie formulierte meine Passivität nur weit diskreter und erntete dafür ein paar zögerliche Lacher, wobei ich schlussendlich reinen Tisch machte: „Ich gestehe, dass mir die Vorbereitung abgenommen wurde. Ich musste nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort erscheinen.“ Auch dafür hatten meine Eltern höchstpersönlich gesorgt. Die gesamte Hochzeitszeremonie war von ihnen durchgeplant worden und selbst das Kleid hatte ich nicht selbst ausgesucht, da es gewissen Erwartungen entsprechen musste. Die zufällig jemand anderem gehörten, denn meine Meinung war damals überwiegend ignoriert worden. Wie gesagt: ich hatte nur meine Rolle als glückliche Braut zu spielen. Unweigerlich begann ich schon wieder mit dem Ring am Finger zu spielen, drehte ihn um das Gelenk und atmete erleichtert durch, als von einer weiteren Freundin ein preiswerter Hochzeitsplaner empfohlen wurde, dessen Visitenkarte sie natürlich rein zufällig in der kleinen Clutch stecken hatte und mit einem strahlenden Lächeln überreichte. Die Frauen kamen dadurch von einem zum anderen, weswegen ich eine kleine Pause bekam und mich möglichst unauffällig nach Isaac umsah. Entgegen meiner Erwartung erblickte ich den großgewachsenen Mann an der Bar, was insofern nicht ungewöhnlich wäre, stünden meine Brüder samt Jago nicht ebenfalls genau dort. Unbewusst schoben sich meine schmalen Augenbrauen ein Stück weit zusammen, als ob ich dadurch die Lage besser über den Raum hinweg einschätzen könnte. Die betont lockeren Haltungen schick eingepackter Oberkörper täuschte mich nicht über die Tatsache hinweg, dass sich dort drüben zwei verhärtete Fronten gegenüberstanden; mein Exfreund plus meine Brüder, die schon seit Beginn meiner Beziehung einen guten Draht zu Jago gehabt hatten und mein eher unbeliebter Mann. Bei dem Anblick bekam ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend, was definitiv nicht dem Alkohol zuzuschieben war. Obwohl alle Beteiligten alt genug wären, um die Konfrontation diskret abzuhandeln, fühlte ich mich dazu berufen, als Puffer und notfalls deeskalierend einzugreifen. „Entschuldigt mich bitte. Geht doch schon mal vor, ich komme gleich nach“, versicherte ich der kleinen Gesellschaft rund um mich, die nun beschlossen hatte, ebenfalls das Buffet zu stürmen. Gesagt, getan: ich löste mich mit einem höflichen Lächeln aus der Gruppe und schritt zielstrebig auf den hohen Absätzen quer durch den weit weniger besuchten Ballsaal. Isaac stand mit den Rücken zu mir, weshalb er mich als Letzter erblickte. Trotzdem war er mir am nächsten, kam mir sogar ein paar Schritte entgegen, doch ich war bereits zu nah am Geschehen, um den nach Luft japsenden Architekten und die steinernen Mienen meiner Brüder zu übersehen. Fragend wanderte mein Blick weiter zu dem Gestaltwandler, der jedoch sehr deutlich machte, dass er keine Sekunde länger in der Gegenwart der drei Männer verweilen wollte und ich bestenfalls auch eine Kehrtwendung hinlegte. Die Worte lagen mir bereits auf der Zunge, aber ich würgte sie mühsam ab und gab mich aufgrund des eisigen Ausdrucks in Isaacs Zügen vorerst geschlagen. Manche Personen besaßen ausreichend Menschenkenntnis, um Situationen richtig zu deuten und andere… nicht. Jago schien seine Empathie im Laufe des Abends im Alkohol ertränkt zu haben, denn kaum, dass ich dem Trio ebenfalls den Rücken zugewandt hatte, krächzte er meinen Namen, ehe er sich räusperte und noch einen Versuch wagte: „Hey Riccarda, was soll das eigentlich?“ Ich erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, was dem jungen Mann scheinbar reichte. Seine Stimme klang bereits wieder deutlich fester, obwohl ich die Trunkenheit mitschwingen hörte: „Wie lange lässt du mich noch warten? Wie lange sollen wir uns alle noch diese Scharade ansehen?“ Mit einem Mal klopfte mir das Herz bis zum Hals. Ich wollte mich wirklich nicht auf diese Diskussion einlassen, aber Jago deutete auch meine kurzfristig zu Fäusten geballte Hände nicht richtig, sondern stichelte weiter: „Wir wissen beide, was wir miteinander hatten. Wir waren perfekt, bis der da passiert ist. Erinnerst du dich nicht an unsere Zukunftspläne, Babe?“ Okay, jetzt war der Bogen definitiv überspannt! Erbost wirbelte ich herum, holte bereits Atem für eine energische Ansage, aber dummerweise war Isaac mir zuvorgekommen.
Wahrscheinlich war das alles sowieso vergebens. Er würde nie damit aufhören, oder? Es brachte sicher nichts, sich länger mit diesem Idioten zu unterhalten. Das kommunizierte ich auch Riccarda stumm, in der nur bedingt vorhandenen Hoffnung, dass die Message trotz seines benebelten Kleinhirns angekommen war. Oder dass ihm der Alkohol in der Luftröhre wenigstens ausreichend das Reden verbat, bis ich mit Riccarda irgendwo hingegangen war, wo ich ihn nicht mehr hören musste. Es kam jedoch nicht mal ansatzweise dazu. Jago bevorzugte es stattdessen, mich im Grunde schon mit seinem ersten Satz an die Decke springen zu lassen. Mein Herz fing sofort an zu hämmern und die erneut aufkochende Wut in meinem ganzen Körper zu verteilen, als ich Riccardas Namen aus seinem Mund hören musste. Egal wie geübt ich inzwischen darin war, mein Temperament zum Wohle der zarten jungen Frau zu bändigen… eine Szene wie diese würde nie spurlos an mir vorbeigehen. Denn er sprach sie nicht nur direkt an, nein. Er besaß allen Ernstes die Dreistigkeit, sie danach zu fragen, wann sie zu ihm zurückkam. Wann sie endlich einen Schlussstrich unter mich zog, um wieder mit ihm in der perfekten Vergangenheit zu baden. Als sogar Riccarda sich neben mir verspannte und ich ihr aufgeregtes kleines Herz deutlich schlagen hören konnte, brauchte es nur noch einen winzigen Funken. Den lieferte Jago mit Bravour, als er meine Frau als sein Babe titulierte. Ich sah schlagartig rot, drehte mich um und das Glas zerplatzte zwischen meinen fortan in Bourbon getränkten Fingern. Achtlos schubste ich den immer noch halb in der Schusslinie stehenden Lysander beiseite. Theodore machte freiwillig einen Schritt von Jago weg, als ich ihm gefährlich nahe kam und die blutende Hand ausstreckte, um sie an seinen Hals zu legen und seinen Kopf auf die nur eineinhalb Meter entfernte Bar zu… naja, drücken. Hätte ich ihm das Hirn mit voller Wucht auf die harte Fläche geknallt, hätte er einen tödlichen Schädelbruch. “Du wirst mir jetzt sehr gut zuhören und dabei dein dreckiges Maul halten.”, knurrte ich zu ihm runter. Es war ausschließlich mein Blut, das ihm über den verrenkten Hals lief, während er ohne jeglichen Erfolg versuchte, sich aus dem steinharten Griff zu befreien. Ein leises Röcheln machte deutlich, dass er schlecht Luft bekam. “Erstens wirst du sie nie wieder so nennen, weil ich dir sonst eigenhändig die Zunge aus dem Hals reiße.” Ich würde ihm wohl eher direkt den Hals zweiteilen, aber das würde ihm noch unrealistischer erscheinen. “Zweitens wirst du, verdammt nochmal, damit aufhören, auf sie zu warten, weil es keine Scharade ist.” Was Riccarda ihm vielleicht lieber selber hätte sagen wollen, aber sei’s drum. Ich hatte so vieles so lange immer wieder runtergeschluckt, wenn es um seine minderwertige Person ging, dass ich in diesem Moment eine ganze Predigt hätte halten können. Über Stunden, ach was, über mehrere Tage hinweg! “Und drittens…” Ich spürte jemanden an meinem Arm ziehen, aber mein Blick war auf Jagos herrlich verzweifelt irritierten Gesichtsausdruck fixiert und ich hielt einfach stur dagegen. Es fühlte sich viel zu gut an, ihm das alles in seiner machtlosen Position an den Kopf zu knallen, als dass ich seinen Hals schon loslassen wollte. Wer dermaßen gerne große Töne spuckte, durfte lieber noch etwas länger nach Sauerstoff ringen. Ich beugte mich leicht mit dem Oberkörper zu ihm runter, damit er mein Gesicht besser sehen konnte. “...hat sie längst andere Zukunftspläne. Mit mir, nicht mit dir. Deine Zustimmung ist das allerletzte, das wir brauchen, um das Familienerbe zu schaukeln." Seine Augen wurden langsam groß, als er zu merken schien, dass ich ihn hier nicht verarschen wollte, sondern dass es mein voller Ernst war. “Ist das angekommen?!”, knurrte ich nachdrücklich. Jago nickte, so gut es in seiner Lage möglich war, weshalb ich ihn gnädigerweise losließ – nicht aber, ohne ihm dabei nochmal einen unangenehmen Ruck zu verpassen. Während er sich noch aufrichtete, wischte ich mein Blut nachdrücklich an seinem Sakko ab, um ihm nochmals klar zu machen, dass er in meiner Nahrungskette lieber kleine Brötchen backen sollte, wenn er überhaupt auch nur darin atmen wollte. “Wovon zum Teufel redet er da, Riccarda?”, hörte ich Lysander hinter mir. Noch im selben Moment reichte mir der Barkeeper etwas zögerlich ein sauberes Handtuch für meine Hand. Ich nahm es an – nicht weil ich es brauchte, sondern weil ich nicht quer durch die Halle tropfen wollte – und umschloss es mit der Faust, kaum hatte ich mir die Schnitte in der Handfläche kurz angesehen. Der Schmerz wurde noch stark vom Adrenalin gebremst. Sollte nicht längst allen klar sein, wovon ich redete? Riccarda gehörte mir, verdammt nochmal. Ich war derjenige, mit dem sie Zukunftspläne schmiedete, egal ob ihnen das passte. Ich war es, der mit ihr dem Erbe ihres Onkels entgegentreten würde. Ich… oh, ja, ich war es gerade gewesen, der sogar zwei Sachen gesagt hatte, von denen er beteuert hatte, sie nicht einfach so in irgendwelche Unterhaltungen einzustreuen, sondern den richtigen Moment dafür abzuwarten. Das wurde mir erst jetzt so richtig klar, wo sich der aus purer Eifersucht entstandene Knoten in meiner Brust ein Stück weit gelöst hatte. Naja… jetzt wars wenigstens raus, oder? Meine Gefühle für sie und die Sache mit Harrys Erbe, irgendwie. Die Gesichter, in die ich zwangsläufig sah, als ich mich langsam mit erhobenem Kopf umdrehte, nahmen die Sache absolut nicht so locker, sondern verwirrt bis aufgebracht entgegen. Doch erst der Ausdruck in Riccardas Augen machte mir klar, dass die vor den Mund geschlagene Hand einer Frau weiter hinten im Raum gerade mein kleinstes Problem war.
Mit dem Verklingen der letzten Silbe dieses verhassten Kosenamens unterschrieb Jago sein Todesurteil. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, wie man so unvernünftig handeln konnte, dabei wusste ich über seine problematische Neigung zu Fehlern unter Alkoholeinfluss nur zu gut Bescheid. Manche mochten es als Herausforderung des Schicksals ansehen, ob wir tatsächlich auch in schlechten Zeiten zueinanderstanden, aber ich hielt das Ganze für mit Testosteron überladene Besitzansprüche, die ihren Gipfel unweigerlich in Handgreiflichkeiten finden werden. Immerhin besaß Theo ausreichend Weitblick, um unseren zur Seite bugsierten Bruder wissentlich am Ellbogen zurückzuhalten, als dieser sich mit vernebeltem Blick die Ärmel seines Jacketts hochschob und seinem Freund zur Hilfe eilen wollte. Jagos Stolz büßte für jedes provozierende Wort, das er an mich gerichtet hatte. Mit blutverschmierter Hand drückte Isaac meinen Ex-Freund gegen den gläsernen Tresen; er ließ es wie eine Leichtigkeit aussehen, obwohl der junge Architekt sich anfangs noch nach Kräften bemühte, dem schonungslosen Griff eines übernatürlichen Gestaltwandlers zu entkommen. Ich wusste, wie aussichtlos seine Bemühungen bleiben würden und dennoch stellte sich kein Fünkchen Mitleid ein. Um nicht zu sagen, dass er sich sein eigenes Grab geschaufelt hatte. Womöglich müsste ich meine Tatenlosigkeit irgendwann bereuen, aber für den Augenblick sprach ich Isaac das Recht zu, eine klare Botschaft zu formulieren. Ich erhoffte mir dadurch, seiner grundlosen Eifersucht ebenfalls ein Schnippchen zu schlagen und das leidvolle Thema meiner vergangenen Beziehung zu dem aufstrebenden Architekten damit abhaken zu können. Erst bei Isaacs zweiten Aufzählungspunkt hielt Jago endlich inne… und auch mir stockte der Atem. Er hatte doch nicht etwa?! Doch. Nun sah ich doch den Zeitpunkt gekommen, an dem ich einschreiten sollte, um Schlimmeres zu verhindern. Ich nannte es eine böse Vorahnung. Eilig trat ich an die Seite des energiegeladenen Dunkelhaarigen und zog an seinem Arm, um für einen wertvollen Augenblick zum Hauptaugenmerk seiner vom Zorn vernebelten Aufmerksamkeit zu werden. Der Versuch misslang. Stattdessen ignorierte mich Isaac schlichtweg – oder bemerkte es in seinem Ausbruch erst gar nicht. Beides fühlte sich sehr bescheiden an; um nicht kränkend zu sagen. Immerhin war ich der Auslöser für diese Eskalation und doch befand sich Isaac in einem wutverzerrten Tunnel, der offensichtlich auch sämtliche Zurückhaltung ausschloss. Mir graute es bereits, als der Ansatz einer dritten Aufzählung durch den inzwischen beinahe leeren Festsaal hallte. Kaum das Isaac mit seiner Standpauke endete, gefror mir das Blut in den andern, was bei dem rasenden Herzschlag eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit sein sollte. Blinzelnd versuchte ich, den aufkommenden Schwindel zu unterdrücken, als sich Lysander bereits an mich wandte und nach Klarheit verlangte. Zwar klappte mein Mund auf, aber kein Ton entrang sich meiner Kehle und so schloss ich meine Lippen unverrichteter Dinge wieder. „Riccarda?“, schaltete sich nun auch Theodore ein, der sogar einen Schritt auf mich zumachte und ich unbewusst dieselbe Distanz zurückwich. Dass Jago sich aufrichtete und versuchte, die Sauerei an seinem Hemdkragen gemeinsam mit dem hilfsbereiten Barkeeper bestmöglich zu beseitigen, bemerkte ich nur am Rande, als mein Blick nach einer Erklärung suchend über die Beteiligten wanderte. In mir passierte auf emotionaler Ebene gerade zu viel, weshalb ich fürchtete, sobald ich den Mund aufmachte, alles ungebremst aus mir herausschreien zu müssen. Ich drückte die Arme seitlich gegen meinen Körper, presste die geschminkten Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und konzentrierte mich für einen Moment, den ich mir schlichtweg nahm, nur auf meine Atmung. „Von was für einem Erbe spricht Isaac?“, versuchte es Lysander erneut und nun sackten meine Schultern endgültig herab. Der kostbare Augenblick der Ruhe war verstrichen, ich entkam dem Geständnis nicht länger. „Harry vermacht mir nach meinem Abschluss sein Unternehmen, das Isaac und ich gemeinsam weiterführen werden“, erklärte ich möglichst gefasst und in aller Kürze. Damit sollte soweit alles gesagt sein und doch sah ich den sich anbahnenden Sturm an Fragen auf mich zukommen, der lediglich aufgrund des erstickt-hysterischen Ausrufs meines vollen Namens ausblieb. Erschrocken wirbelte ich herum. Meine Mutter stand mit aufgerissenen Augen mittig im Raum. Die roten Flecken bei Aufregung hatte ich definitiv von ihr geerbt. Eine Hand lag auf ihrem Brustbein, als hätte sie physische Schmerzen, die andere verdeckte zur Hälfte ihren entsetzt geöffneten Mund. „Mom… ich…“, fing ich an, wurde aber mittels einer wüsten Handbewegung selbst über die Distanz hinweg abgewürgt. Hilfesuchend wanderte mein Blick hinüber zu meinen Brüdern, die jedoch wegsahen. Beide distanzierten sich von mir. Die Enttäuschung traf mich hart; als hätte man mir Eiswasser ohne Vorwarnung über den Kopf gegossen. Ich hörte förmlich ihre Gedanken: Verräterin. Nun sah ich zum ersten Mal Isaac direkt an und plötzlich mischte sich auch Wut hinzu. Oh, wenn Blicke töten könnten! Dabei reflektierten meine Augen viel mehr von dem Anteil meiner verletzten Gefühle, von dem begangenen Vertrauensbruch. „Riccarda, auf ein Wort“, pfiff mich meine Mutter wie ein unartiges Haustier zu sich, woraufhin sich meine Körperhaltung ganz automatisch veränderte. Ich straffte die Schultern, drückte das Rückgrat durch und jene perfekt einstudierte Maske legte sich auf meine Züge. Die Schutzmechanismen rasteten selbstständig ein, immerhin wusste ich, was mir gleich unter vier Augen blühen würde. Trotz der aufrechten Haltung fühlte ich mich klein und verletzlich, zudem hasste ich es, wie ich auf dem Weg zur Schlachtbank allein durch den Raum stöckeln musste. Möglichst würdevoll marschierte ich an meiner wartenden Mutter vorbei, die sich selbstverständlich weiterhin als perfekte Gastgeberin präsentieren musste, an die vier Männer bei der Bar wandte: „Die Gentleman entschuldigen uns für einen Moment. Theo, Schatz, kümmere dich doch bitte um… das Malheur .“ Dabei brauchte ich gar nicht hinzusehen, um zu wissen, mit welch abschätzigen Blick sie dabei Isaac ins Visier nahm, ehe sie mir aus dem Festsaal folgte. Kaum schlug die gewaltige Tür hinter ihr zu, verschwand ihre aufgesetzte Höflichkeit und stattdessen strafte sie mich mit ihrem speziellen Blick der Verachtung. Ich fühlte mich sofort wieder wie ein Kind, das nun die Konsequenzen für sein Fehlverhalten zu spüren bekam. „Du schuldest mir eine ausführliche Erklärung“, begann sie scharf. Allein der kompromisslose Unterton ließ mich erahnen, dass ich nicht ungeschoren aus dieser Sache herauskäme. Aber ein paar Minuten musste sie sich gedulden, denn ich kannte da einen gewissen Mann, dessen überdurchschnittlicher Gehörsinn keinen Halt vor einer verschlossenen Tür machte. „Nicht hier, Mom. Lass uns bitte woanders hingehen.“ Das Trophäenzimmer zwei Räumlichkeiten weiter musste genügen. Wahrscheinlich hatte meine Mutter diesen Ort explizit als Alternative ausgewählt, um mich zwischen all den Erfolgen der Familie als Enttäuschung darzustellen. Denn darauf würde es hinauslaufen. Ich hatte ihr noch nie gereicht. Und nun hatte ihr Isaac die Bestätigung auf dem Silbertablett serviert. Während der Litanei über meine Fehleranfälligkeit und Mangelhaftigkeit schraubte sich ihre Stimme immer weiter nach oben, weshalb ich nur froh war, nicht genau vor der Eingangstür zum Festsaal zu stehen. Der Inhalt ihrer Worte prallte jedoch an der gefühlstauben Schutzschicht – eine hübsch verputzte Fassade – ab. „Ich habe mehr von der erwartet. Wie konntest du deine Familie nur derart hintergehen. Du undankbares Gör bekommst den Hals nicht voll. Als würde es dir hier nicht gut gehen, musst du dir auch noch das Geld deines Onkels unter den Nagel reißen. Und dann verheimlichst du es noch. Wie lange geht das schon?“ Unnachgiebig bohrte sich ihr Blick in meinen, als ich ihr das Datum unseres Besuchs noch einmal vor Augen führte. Ich hatte mit einem Zornausbruch gerechnet – meine Mutter besaß ein sehr leicht zu entflammendes Temperament, welches sie perfekt zu verstecken wusste – und dennoch überraschte mich der stechende Schmerz an meiner Wange, der meinen Kopf zur Seite lenkte. Schwer atmend starrte ich die Frau mir gegenüber fassungslos an, während meine Hand zaghaft an die prickelnde Stelle in meinem Gesicht wanderte. Derartiges war zuvor noch nie passiert. „Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, Riccarda. Du wolltest kaltherzig deine Familie hintergehen. Ich hatte oft genug Nachsicht mit dir und deinen Unzulänglichkeiten, das wird sich ab jetzt ändern.“ Mit diesen bedeutungsschwangeren Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und ließ mich zurück… inmitten all der glanzvollen Momenten meiner Familie.
Wie wütend sie wohl war, auf einer Skala von eins bis zehn? Riccardas Blick nach zu urteilen, eine solide Elf. Meine eigene Wut rumorte noch zu tief in meinem Bauch, um ihrem Blick mit Reue entgegenzutreten. Meine Miene blieb unverändert hart, doch ich konnte das kurze Zucken meiner Augenlider nicht vermeiden, als sich zusätzlich zu den anderen starken Gefühlen ein Stich in der Brust gesellte. Der sinnbildliche Dolch sorgte dafür, dass das Pochen in meinen Adern allmählich verklang, während der blonde Engel sich vor Lysander und Theodore verantworten musste. Die Brüder waren jedoch schnell nicht mehr ihr primäres Problem, als ihre Mutter sich in das Gespräch einmischte. Diese tat ihr bestes, ihr jüngstes Kind zu isolieren und eine kalte Gänsehaut huschte mir durch den Nacken, weil Riccarda sofort wieder in das Verhaltensmuster schlüpfte, das ihr von Kindesbein an eingehämmert worden war. Ich verstand, wieso das passierte, aber ich hasste es trotzdem – konnte nicht anders, als ihre Familie ein weiteres Mal dafür zu verteufeln, sie in irgendwelche Muster und Systeme quetschen zu wollen, in die sie für mich so offensichtlich einfach nicht reinpasste. In die sie nie passen würde, zumindest nicht vollständig. Mein Instinkt ließ mich einen Schritt vorwärts machen, weil ich zur Verfolgung der beiden Frauen ansetzen wollte – obwohl mir das indirekt verboten worden war – doch die beiden Brüder stellten sich mir sofort unmissverständlich in den Weg. Mich an Jago auszulassen war eine Sache, mich in diese Mutter-Tochter-Angelegenheit einmischen zu wollen, eine offensichtlich ganz andere. “Du hast schon genug angerichtet und solltest dringend eure Räumlichkeiten aufsuchen.”, schob Theodore einen wörtlichen Riegel hinterher. Er warf einen kurzen Blick auf das Handtuch, das ich nach wie vor verkrampft mit der verletzten Hand festhielt. “Oh, passt das Malheur etwa nicht so gut ins Bild?” Mein Tonfall klang furchtbar aufgesetzt und die Wortwahl war bewusst spezifisch. “Ich bin keine 10 mehr, versuch’ doch mich zu zwingen.”, blaffte ich hinterher. Zeigte mich – wie gewöhnlich– vollkommen unwillig, mich in diese Maskenparade einzureihen. ’Ja, bitte schieß’ dir weiter ins eigene Knie, du bescheuerter, aufgeblasener…’, murmelte Jago hinter mir in sich hinein, unwissend, dass ich auch das hören konnte. Lysander deutete meinen herum schnellenden, Funken sprühenden Blick jedoch goldrichtig und löste sich aus seiner abwehrenden Haltung, um an Riccardas Ex-Freund heranzutreten. “Du gehst jetzt besser auch. Das weiße Hemd kriegst du unmöglich sauber. Ich bring’ dich hinten raus.”, begann er, sich darum zu kümmern, den am Kragen blutbesudelten Idioten ebenfalls den Feierlichkeiten zu verweisen. Jago grummelte, zeigte sich jedoch einsichtig und verabschiedete sich mit einer flüchtigen Handgeste im Vorbeigehen von Theodore. Sie gingen wohl zu einem der hinteren Ausgänge, weil an der Front des Schlosses wie üblich bei solchen Festen die Presse wartete. “Du benimmst dich tatsächlich, als wärst du ein Kind. Deshalb hast du auf solchen Veranstaltungen auch nichts zu suchen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Mal etwas schiefgeht. Sei so gut und unterstütze wenigstens die Schadensbegrenzung.”, stellte Theodore seufzend fest und bedachte mich mit einem abschätzenden Blick aus schief gelegtem Kopf. “Es wäre nichts schief gegangen, wenn ihr mich verdammt nochmal respektieren und dieses Arschloch nicht ständig wieder einladen würdet.”, schoss ich zurück, ohne wirklich über den Inhalt oder meine brachiale Wortwahl nachzudenken. “Mal angenommen, dir liegt tatsächlich etwas an meiner Schwester…", setzte Theodore langsam an, machte jedoch eine kurze Pause, weil ihm endlich bewusst zu dämmern schien, dass ich diesen Aufstand nicht grundlos angezettelt hatte. “...wie hätten wir Rücksicht auf eine echte Beziehung nehmen sollen, von der wir gar nichts wussten? Abgesehen davon ist Jacob außerdem ein Freund der Familie. Dein Temperament steht gewiss nicht über uns allen, nur weil dir das gut in den Kram passen würde. Du musst lernen, dich zu beherrschen.” Obwohl in seinen Adern Alkohol floss, hatte Theodore jetzt wieder nicht mehr viel von dem ausgelassenen Kerl, der vorhin noch mit seinem Bruder und seinem Freund gelacht hatte. Ich hätte beinahe über diese Farce gelacht, wären nicht im selben Moment zu viele andere, viel kompliziertere Gefühle in mir am toben. So senkte ich nur den Kopf und machte einen tiefen Atemzug, bei dem ich vorsichtig das Handtuch von den Schnittverletzungen nahm. Es blutete schon nicht mehr, aber ich sollte wirklich das Bad aufsuchen, um in besserem Licht möglicherweise in der Haut verbliebene kleine Splitter zu entfernen. Riccarda war ohnehin außer Reichweite – inzwischen sogar für meine Ohren – und ihr zu folgen kam offensichtlich nicht in Frage. Mein Blick legte sich zurück in Theodores. “Einigen wir uns doch auf einen Deal, Brüderchen...” Ich machte einen Schritt auf ihn zu und blickte ihn aus schmalen Augen an, was ihn dem Schein nach völlig ungerührt ließ. Ich sah trotzdem gerne auf ihn runter. “Wenn du und der Rest dieser falschgesichtigen Familie endlich damit anfängt, deine Schwester als Erwachsene mit freiem Willen und eigener Entscheidungskraft zu respektieren, dann lerne ich im Gegenzug, mir eine dieser schicken, unfehlbaren Masken aufzusetzen und diese geheuchelten Feste zu genießen.” Ich funkelte ihn aus schmalen Schlitzen an, bevor ich ihm das blutige Handtuch an die Brust drückte und mich zur Bar umdrehte, um mir den nächsten Bourbon geben zu lassen. “Das funktioniert nicht einfach so.” Theodore seufzte resigniert hinter mir, während der Barkeeper mir verunsichert ein neues Glas zuschob. “Habt ihr’s überhaupt mal versucht?” Ich drehte mich mit dem Alkohol in der Hand zu ihm um. Er zögerte. “Riccarda war schon immer…” Mit rollenden Augen fiel ich ihm ins Wort: “Ich halte nichts von Ausreden, spar's dir. Es wird einen guten Grund haben, warum Harry deine Schwester ausgesucht hat. Denk' mal drüber nach, du ach so perfekter Sohn.” Damit ließ ich ihn im Regen stehen und entfernte mich mit einem Blick auf die große Tür, durch die mein Engel verschwunden war, widerwillig in eine andere Richtung. Der Wolf zog mich mit seinem Beschützerinstinkt zu Riccardas Präsenz, doch das pelzige Biest hatte heute noch keine guten Entscheidungen getroffen… außerdem schmerzte es mich ein bisschen, dass der zierliche blonde Engel mich gezielt aus dem Gespräch ausgeschlossen hatte. Wohlwissend, dass ich andernfalls lauschen würde. In unserem Badezimmer angekommen nahm ich erst einen Schluck aus dem Glas, bevor ich mich drei fiesen kleinen Splittern annahm, die sich tief ins Fleisch gedrückt hatten. Mir fiel auf, dass es einfacher war, meine Verletzungen Riccarda vor die Nase zu halten und dann einfach die Augen zuzumachen und zu fluchen, bis sie damit fertig war. Es war nicht so, als präsentierte ich ihr wöchentlich irgendwelche Wunden, aber es war schon häufiger vorgekommen und es wäre mir auch jetzt recht gewesen, wo ich das brennende Desinfektionsmittel abschließend ein zweites Mal durch die Schnitte jagte. Wie so oft weigerte ich mich dennoch dagegen, die Verletzung abzudecken und war deshalb im Anschluss entsprechend vorsichtig, als ich aus dem Sakko schlüpfte. Mir die Fliege hastig vom Hals raffte und das am Ärmel verfärbte Hemd auszog, um stattdessen in ein schwarzes zu wechseln. Ich knüpfte es aber gar nicht ganz zu, sondern rieb mir mit der unverletzten Hand übers Gesicht. In den folgenden Minuten analysierte ich, plötzlich wieder sehr nüchtern durch den langsam verklingenden Schmerz in der Handfläche, von vorne bis hinten, wie schlimm ich meine Beziehung zu Riccarda heute Abend eigenmächtig sabotiert hatte. Ihrem wütenden Blick nach zu urteilen fiel mein großkotziges Geständnis nicht unter einen Bagatelldelikt und ich fing irgendwann an, mit dem Bein zu wippen, weil die Nervosität mir nun anstelle der Fliege förmlich den Hals zuschnürte. Oder das schlechte Gewissen würde mich erdrosseln, weil ich mein Versprechen gebrochen hatte, obwohl ich es bis heute so lange eisern gehalten hatte. Und wenn es das Gewissen nicht tat, dann vielleicht diese undefinierbare Art von innerem Schmerz, die mich heimsuchte und mir förmlich den Brustkorb zerdrückte. Riccarda kam nicht, war nach einer halben Stunde immer noch nicht da. Ich wollte glauben, dass sie nur das Fest noch ausklingen ließ, um den Schein zu wahren. Oder dass sie mich in diesem Moment nur noch nicht wieder ertragen konnte, dass sie allein sein wollte. Der Teil meines Herzens, der in diesem Leben schon zu oft fallen gelassen oder hintergangen worden war, fürchtete jedoch etwas ganz anderes. Als ich meinen eigenen Puls schließlich wieder in den Ohren hören konnte, gab ich nach und ließ die Paranoia nach mir greifen, stand auf und raufte mir vor dem Spiegel am Kleiderschrank die Haare zurecht. Schnappte mir danach das im Bad stehen gelassene Glas, bevor ich das Zimmer verließ und meinem inneren Kompass zu dem kleinen blonden Engel folgte. Währenddessen machte ich das Glas mit wenigen großen Schlucken leer, ließ es beiläufig auf einer prunkvollen Vitrine in einem der langen Flure stehen und steckte auch das Hemd ordentlich in die Hose, nur für den Fall, noch jemand anderem als dem Hauspersonal über den Weg zu laufen. Die oberen zwei Knöpfe des Hemds blieben trotzdem offen, mir pochte die Halsschlagader auch so schon mit ausreichend Nachdruck. Selbst für mich fühlte es sich in diesem Augenblick unverhältnismäßig an, wie unruhig ich war.
Mir fehlten die Worte. Mir fehlte ebenfalls sämtliches Gefühl für meinen Körper, anderenfalls stünde ich nicht wie gefroren mit der Hand seitlich am Gesicht mitten in einem mir so verhassten Raum. Nur langsam verarbeitete ich, was eben vorgefallen war. Zuvor hatte meine Mutter noch nie derart brachial durchgegriffen… dermaßen die Kontrolle verloren. Lediglich das Pulsieren an meiner Wange führte mir vor Augen, dass sie tatsächlich handgreiflich geworden war. Es sah ihr absolut nicht ähnlich. Schikanierende Beleidigungen, Angriffe gegen mein Selbstwertgefühl, all das war ich gewohnt und hatte meine Schutzmechanismen im Laufe der Zeit darauf ausgelegt und angepasst. Meine Mutter strafte nicht physisch, sondern psychisch. Sie entzog mir ihre Aufmerksamkeit, sprach kein Wort mehr mit mir und behandelte mich wie Luft – zumindest bis zu dem Moment, an dem mein Verhalten ihrer Ansicht nach passte. Oh, und wie ich mich als Kind bemüht hatte, ihren hohen Erwartungen zu entsprechen. Elterliche Zuneigung musste man sich in diesem Haushalt hart erarbeiten. Aufmerksamkeit sollte verdient sein. Gewalt wäre nicht zermürbend genug und doch brach in dem Moment, als ich wahrhaftig realisierte, was meine Mutter gerade getan hatte, irgendetwas in mir. Es ließ sich nicht benennen, aber ich fühlte es überdeutlich in seine Einzelteile zerspringen und die danach eintretende Leere in meiner Brust. Aus dem Schock heraus wallte in mir der Wunsch auf, einfach zu weinen. Meinen Frust, meine Enttäuschung und all die verletzten Gefühle in einer Flut aus Tränen aus mir hinauszuspülen. Aber bis auf eine bebende Unterlippe regte sich da nichts. Äußerlich zumindest, denn im Inneren überschlugen sich die Gedanken – viel mehr erschlugen sich all die Emotionen gegenseitig, fanden kein Ventil. Deshalb verharrte ich in diesem Zimmer voller Konkurrenzgedanken, besah mir die unterschiedlich großen Pokale, die unzähligen Schleifen, die Urkunden und Fotos. Überall strahlten mir falsche Lächeln und kühle Augen entgegen. Lysander, Theodore und ich. Meine Eltern. Cousinen und Cousins. Wir alle wollten irgendwie einen Platz in diesem weitläufigen Raum ergattern, aber der Schein des Glücklichseins bewahrte niemanden vor der Realität. Ich war nicht glücklich. Ich war unzufrieden. Traurig. Wütend. Enttäuscht. Entsetzt. Verwirrt. Bloßgestellt. Einsam. Ein niedergeschlagenes Seufzen entrang sich mir. Ich wusste mit irritierender Gewissheit, dass ich Isaac in unseren Räumlichkeiten vorfinden würde, und womöglich würde es mich unweigerlich zu ihm ziehen, hätte er nicht als Auslöser für diese Katastrophe gewirkt. Wir müssten darüber reden, was geschehen ist und doch fehlte mir dafür die nötige Energie. Trotz all der aufgestauten Gefühle fühlte ich mich schrecklich erschöpft. Dieser Umstand führte zu meinem Verharren. Ich lief ganz bewusst vor der Konfrontation weg – im übertragenen Sinne, da ich viel mehr sehr entschieden in diesem Raum blieb und mich vor der Realität versteckte. Aber die Realität fand mich in Form von Isaac. Er hatte sich umgezogen. Ein nebensächliches Detail, das mir dennoch sofort ins Auge stach. Schwarz stand ihm auch schlichtweg besser als Weiß. Er sah beinahe lässig aus, wie er da mit den obersten Knöpfen seines Hemds geöffnet stand und mich musterte. Nur seine harten Gesichtszügen verrieten etwas von der Anspannung, unter der er stand. Ich selbst klammerte mich ebenfalls mit aller Kraft an die schützende Maske der Neutralität. Dabei schrie der Kummer und die Frustration laut, sodass es beinahe in meinem Ohren rauschte. Nur kurz überkam mich der bestürzte Gedanke, dass die Chance ungünstig hochstand, zumindest Teile von Mutters Handabdruck auf meiner blassen Haut zu erkennen. Andererseits färbte die Wut meine Wangen ohnehin rot, was bestenfalls kaschierend wirkte. Wie zuvor, befürchtete ich, dass ich beim Öffnen meines Mundes einfach losschrie, weshalb ich an meiner kühlen Fassade festhielt und nach besten Ermessen jegliche verräterische Emotion aus meiner Stimme verbannte, ehe ich Luft holte: „Was willst du, Isaac?“ Hast du für heute nicht bereist genug gesagt? Ich bin nicht bereit, in Ruhe mit dir zu sprechen. Ich will dich eigentlich gerade nicht in meiner Nähe wissen. War es das wert? Fühlst du dich jetzt in deiner Position mehr bestätigt? All die Fragen schwangen unausgesprochen hinter den knappen vier Worten mit. In meinen Augen lag jedoch eine ganz andere Frage: Warum? Warum hast du dein Versprechen gesprochen?!
Einerseits war ich froh, als ich den Engel mutterseelenallein vorfand. Ich war kurz vor der Flügeltür des Raumes stehen geblieben, um mir dessen auch wirklich sicher zu sein, bevor ich hinein ging. Schließlich wollte ich mir nicht noch ein weiteres Bein stellen, indem ich eine Unterhaltung störte, aus der ich vorher gezielt verbannt worden war. Außerdem machte ich beim Aufschieben der Tür einen tiefen Atemzug, im verzweifelten Versuch mein eindeutig zu schnell zirkulierendes Blut zu beruhigen. Die Wut war weg, die Eifersucht war dank Jagos Verschwinden ebenfalls überflüssig geworden. Es konnte also schlicht nur einen Grund dafür geben, weshalb ich so durch den Wind war… Angst. Die war berechtigt, so wie Riccarda mich ansah, als ich mich ihr näherte und die Tür hinter mir leise zufiel. Ich versuchte trotzdem, mir dieses halsbrecherische Gefühl nicht anmerken zu lassen. Was ironisch war, weil ich die Engel immer für ihre Masken verteufelte. Doch Riccarda tat mehr oder weniger schon wieder genau dasselbe. Was genauso bescheuert war, weil wir beide wussten, dass ich Emotionen nicht nur aus ihrem Gesicht oder ihrem Tonfall lesen konnte. Zumal ihr die Anschuldigung sowieso in die dunklen, schimmernden Augen geschrieben stand, als ich unweit von ihr zum Stehen kam und sie ihr Wort an mich richtete. Ich würdigte all die Errungenschaften ihrer Verwandtschaft um uns herum keines einzigen Blickes, meine Aufmerksamkeit galt nur Riccarda. Ihr und meinem spürbar tonnenschwer über unseren Köpfen hängenden Fehler. Um nicht sofort auf ihre Frage antworten zu müssen, musterte ich die zierliche junge Frau - von unten nach oben, um sie gleichzeitig nicht direkt ansehen zu müssen. Ich schluckte tonlos, wobei sich meine Kehle wie Schleifpapier anfühlte. Am liebsten wäre ich doch wieder umgedreht, jetzt wo ich wusste, dass Riccarda - ziemlich offensichtlich - einfach nur allein hatte sein wollen. Ich würde mich allzu gerne vor dem Gespräch drücken. „Zumindest kurz nachsehen, wie es dir geht… ist schließlich meine Schuld. Du wolltest nicht, dass ich zuhöre, also hab‘ ichs nicht… und ins Blaue zu raten liegt mir nicht.“, murmelte ich etwas undeutlich und schob währenddessen atypisch die Hände in die Hosentaschen. Es war ein tief eingehämmerter Schutzmechanismus von mir, die Hände immer frei haben zu wollen - stets bereit zur Abwehr. Doch ich fürchtete, Riccarda sonst anzufassen und sie sah nicht so aus, als würde sie mir das in diesem Moment allzu gerne durchgehen lassen. Ohne den Engel zu Gesicht zu bekommen, hatte ich keine Chance darauf gehabt einzuschätzen, wie es ihr ging. Sie jetzt aufzusuchen und mir ein eigenes Bild zu machen, war also meine einzige Möglichkeit. „Wenn ich aber wieder gehen soll, musst du’s nur sagen.“, hängte ich träge an. Sparte mir in diesem Moment jedwede Entschuldigungen, weil sie ziemlich sicher auf taube Ohren stoßen würden und ich mich jetzt wirklich nicht mit ihr streiten wollte. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Das schlechte Gewissen bohrte sich durch mein Inneres und sorgte für Druck auf meinem eigentlich total unempfindlichen Magen, während mein Blick nur zögerlich weiter an der zierlichen jungen Frau aufwärts wanderte. Mir fiel einmal mehr auf, dass Rot mir an ihr am besten gefiel. Sie trug ohnehin nur Kleider, die ihrer schlanken Figur schmeichelten, aber diese Farbe passte herrlich zu ihren braunen Augen. Eigentlich sträubte sich absolut alles in mir dagegen, Riccarda hier und jetzt wieder alleine zu lassen - dennoch würde ich mich dem fügen, sollte es tatsächlich ihr Wunsch sein. Mein Blick schweifte schließlich von dem roten Stoff zurück in Riccardas schönes Gesicht. Es dauerte allerdings nur etwa zwei weitere Sekunden, bis meine Augen sich schlagartig weiteten. Ich hatte bis jetzt Sicherheitsabstand gehalten, doch das wollte ich nicht mehr, als mir die rote Spur an ihrer Wange auffiel. Ohne darüber nachzudenken machte ich den letzten Schritt auf sie zu, zog die rechte Hand wieder aus der Hosentasche und griff gezielt, aber vorsichtig nach ihrem schmalen Kinn, um ihren Kopf minimal zur Seite zu drehen. Mir den noch in Umrissen erkennbaren Handabdruck genauer anzusehen. Ich kannte diesen Anblick. Zu gut. Ich hatte irgendwann damit aufgehört mitzuzählen, wie oft mein Vater handgreiflich geworden war. „Sie hat dich geschlagen?!“, fragte ich fassungslos und ließ im selben Moment die Hand sinken. Der fast schon kleinlaute Tonfall hatte sich in Luft aufgelöst und wich blanker Empörung… gepaart mit erneut aufkeimender Wut. Mein Puls stieg blitzschnell zurück auf 180. Ich gab mir weiß der Teufel für vieles die Schuld - für Riccardas jetzt noch angeknacksteres Familienverhältnis, für das Ausplaudern unseres abgemachten Geheimnisses, ja sogar für die wahrscheinlich völlig unverhältnismäßige Eifersucht auf ihren bekloppten Ex-Freund - nicht aber für den Handabdruck auf ihrer Wange, der selbst auf ihrem generell hitzigen Gesicht noch hervorstach. Ich war grundsätzlich ein sehr nachtragender Mensch und obwohl ich ganz genau wusste, dass es Riccarda gegen den Strich gehen würde, hatte ich dazu definitiv noch etwas zu sagen. Vieles ließ ich ihren Eltern durchgehen, von unterschwellig abfälligen Bemerkungen bis hin zu in meinen Augen völlig unnötigem Tadel. Tagtäglich fügte ich mich hier, obwohl das meiner ganzen Natur widersprach und das alles nur wegen Riccarda. Doch das würde in diesem Fall sicher nicht passieren. Ich konnte ihrer Mutter vielleicht nicht die Hand abbeißen, aber es allemal für die nächste körperliche Ausschweifung ihrerseits androhen. Niemand, und das schloss Riccardas gesamte, zuweilen gefühlt komplett seelenlose Familie mit ein, durfte meinem Engel auch nur ein Haar krümmen. Erst recht nicht aus dem nichtigen Grund heraus, dass sie sich ein eigenes Leben aufbauen wollte und dabei vielleicht nicht den perfektesten Schwiegersohn ausgesucht hatte. Es war ihr Leben. Ihre Entscheidungen.
Hier standen wir nun, versteckten uns wohlwissend hinter verschlossener Mimik, während zwischen uns eine einst überwundene Kluft erneut aufriss. Die Sache mit dem Vertrauen war eine verflixt heikle Angelegenheit; viel zu zerbrechlich. Und ich fühlte mich in zweierlei Hinsicht erschüttert: Isaacs Verrat lastete schwer auf unserer Beziehung, aber meine Mutter hatte eine Grenze derart endgültig überschritten, dass ich mich seltsam losgelöst und… verlassen fühlte. Meine mentalen Kapazitäten reichten nicht aus, um beide Probleme in Angriff zu nehmen, gleichzeitig weigerte ich mich aber, überhaupt eine Sache ansprechen zu wollen. Gerne hätte ich mehr Zeit bekommen, um meine chaotischen Gedanken zu sortieren und meinen Standpunkt zu festigen. Alles in mir stand Kopf. Zu gern wollte ich mich in Isaacs Arme werfen, die Anschuldigungen und enttäuschten Gesichter meiner Familie in dem Wissen seiner Unterstützung verarbeiten, aber der Widerwille, mich ihm nach diesem jüngsten Vertrauensbruch direkt wieder offenzulegen, gewann den internen Wettstreit. Außerdem müsste ich ihm dann auch die Standpauke inklusive des überraschenden Übergriffs schildern, damit er das volle Spektrum meines emotionalen Ungleichgewichts verstand. Noch schien Isaac nichts zu ahnen, anderenfalls würde er sich kaum nach meinem Wohlergehen erkundigen. Mir fiel eine kleine Last von den Schultern, zu wissen, dass er sich tatsächlich aus dem Gespräch rausgehalten hatte und sich seines Fehlverhaltens bewusst war. Es kam immerhin keine Entschuldigung, die ich in meiner derzeitigen Verfassung ohnehin nicht akzeptiert hätte. Isaac kannte mich mittlerweile gut genug, was im Umkehrschluss auch auf mich zutraf. Während er sich damit begnügte, das rote, bodenlange Abendkleid zu begutachten, hielt ich mich mit meiner Musterung weit weniger zurück. Der selbstbewusste Dunkelhaarige wirkte mit den in den Hosentaschen vergrabenen Händen beinahe unbeholfen. Wir wussten scheinbar gerade beide nicht, was wir mit dem jeweils anderen anfangen sollten. Ich sah mich ehrlich versucht, Isaac tatsächlich wegzuschicken. Ich wünschte mir, Ruhe und Abstand zu der gesamten Situation – noch lieber wäre mir ein Reset-Button, aber der existierte in der Realität leider nicht. Isaac zu bitten, zu gehen, schien mir daher eine logische und vor allem vernünftige Entscheidung. Mir stand nicht der Sinn nach einer weiteren Auseinandersetzung, weshalb ich mich so verbissen an eine stoisch-ruhige Mimik klammerte und doch hatte ich ihm ursprünglich versichert, an diesem elenden Mechanismus zu arbeiten. „Ich will gerade nicht darüber reden. Ich will eigentlich nicht einmal jemanden sehen. Vielleicht wäre es also wirklich besser, wenn du wieder gehst.“ Er hatte genug Zeit, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass ich noch in einem Stück und/oder nicht über alle Berge verschwunden war. Mehr Zugeständnisse gab es vorerst auf verbaler Ebene meinerseits nicht. Trotzdem löste ich ein paar starre Brocken aus meinen Gesichtszügen, zeigte meine Überforderung und die destruktive Wirkung der Kaskade an Katastrophen. Schließlich sah er mir sogar ins Gesicht. Wir sahen uns für einen Atemzug lediglich an, ehe sich seine Augen geradezu schockiert weiteten. Nein, ich ging nicht davon aus, dass diese Regung die Überraschung über meine neu überdachte Bewältigungsstrategie ihm gegenüber widerspiegelt. Dafür haftete sein Blick zu starr auf meiner Wange. Nur schwer unterdrückte ich den Impuls, die Hand an die gerötete Stelle zu legen, reagierte aber dennoch verteidigend, als ich den Kopf leicht wegdrehte, um die Überbleibsel der unsanften Berührung zu verbergen. Ein nett gemeinter Versuch, aber sinnlos in Anbetracht der sichtbar aufwallenden Wut meines Gegenübers. Verkniffen presste ich die Lippen aufeinander, als er meinen Kopf zurück in seine Ausgangshaltung lenkte. Wie gesagt: ich fühlte mich nicht bereit, beide Thematiken angemessen zu behandeln. Entweder Isaac oder meine Mutter. Die Welt auszuschließen und mich in einem Schneckenhaus zu verkriechen, verpuffte in dem Moment als eine meiner Optionen, als ich den zornigen Blick meines Gefährten auffing. Ich hielt es nicht für ratsam, Isaac mit dieser neuen Erkenntnis wegzuschicken. Niedergeschlagenheit drückte meine Schultern gen Boden. Das klatschende Geräusch ihrer Hand auf meiner Wange hallte immer noch in meinem Kopf nach, aber es von einem dritten quasi Unbeteiligten laut ausgesprochen zu hören, machte es unwiderruflicher. Realer. Isaac wartete hoffentlich nicht auf meine Bestätigung, wenn doch, könnte es noch ein Weilchen dauern. In meinem Verstand setzte sich der Hergang erst nach und nach zusammen. „Sie hat mit ihrer üblichen Standpauke begonnen“, erklärte ich zögerlich, wusste dabei nicht, wohin mit meinen Armen und verschränkte sie deshalb einfachheitshalber vor meiner Brust. „Wahrscheinlich ist ihr mittendrin aufgefallen, dass mich ihre Worte nicht mehr treffen und…“, an der Stelle brach meine Stimme weg. Ich tippte darauf, dass meine Mutter die Kontrolle über sich verloren hatte, als sie realisierte, keinen Einfluss mehr auf mich zu besitzen. Vielleicht eine panische Kurzschlussreaktion? Um Isaacs stechendem Blick zu entgehen, lehnte ich meinen Kopf gegen seine breite Brust und atmete seinen vertrauten, inzwischen beruhigend wirkenden Duft tief ein. Gerade rechtzeitig, um die einzelnen, stummen Tränen zu verbergen, die heiß über meine Haut liefen. Verärgert über mich selbst, wischte ich mir fahrig über die Wangen und vorsichtiger unter den Augen herum, bemüht, die verräterisch dunklen Spuren meines Augen-Makeups zu eliminieren. Ich gestand mir diesen klitzekleinen Moment der Schwäche ein, ehe ich mich wieder aufrappelte und Abstand zwischen Isaac und mich brachte. „Ich bin so wütend.“ Immer noch nestelte ich an meinem Gesicht herum, weil meine Augen immer noch überzulaufen drohten und mich diese Tatsache nur noch mehr reizte. „Ich kann nicht fassen, dass du mich aus deiner unnötigen Eifersucht derart ans Messer geliefert hast.“ Gut, vielleicht fand ich nun doch die Energie zum Streiten. „Ich… ich verstehe nicht… ich meine, das hat sie noch nie zuvor getan.“ Irgendwie stellte sich mein Verstand absichtlich dumm, sobald ich versuchte, der Tatsache ins Auge zu sehen. Mir wurde bewusst, dass der Damm ungehindert meiner Beherrschung erneut gebrochen war und salzige Tropfen einen Wettlauf über mein Gesicht bis hinunter zu meinem Hals veranstalteten. „Und ich hab keine Ahnung, warum ich heule. Ich bin enttäuscht und traurig… und frustriert. Aber vorrangig bin ich so unglaublich wütend.“ Ich gab es auf, Herrin der Situation in meinem Gesicht zu werden, und funkelte stattdessen Isaac aus glasigen, geröteten Augen an. „Warum steigst du auf Jagos Provokationen ein? Du tust ihm doch einen Gefallen, wenn du so bereitwillig auf seine Köder anspringst. Er macht das absichtlich, um einen Keil zwischen uns zu treiben.“ Mit Erfolg, aber das bräuchte ich an der Stelle wohl nicht extra zu erwähnen.
Das konnte ich verstehen – beides. Schließlich war ich ein Paradebeispiel dafür, wie man seine Probleme verbissen nur mit sich selbst ausmachte. Ich hätte es Riccarda also gut nachsehen können, dass sie vorerst auf meine Gegenwart verzichten wollte, wäre da nicht diese Spur von Schmerz direkt in ihrem Gesicht. Nicht nur wortwörtlich, sondern auch im übertragenen Sinn. Sie ließ die Maske nicht sofort ganz fallen, doch sie kam allmählich ins Wanken. Wie oft ich ihr wohl noch sagen müssen würde, dass sie sich diese krampfhafte Bemühung des Haltung Wahrens nicht zu machen brauchte? Vielleicht war es meine sichtbare eigene Wut, die den Engel dazu animierte, häppchenweise mit der Sprache herausrücken, statt mich ein weiteres Mal zum Gehen aufzufordern. Das alles entwickelte sich zu einem üblen Deja Vu für mich. Die Beweggründe meines Stiefvaters mochten im tiefsten Kern andere gewesen sein, aber es war erst dann wirklich hässlich zwischen uns geworden, als ihm mit meinen steigenden Kräften komplett die Kontrolle entglitten war. Ich mahlte mit dem Kiefer und ballte beide Hände für einen Moment lang zu Fäusten, als Riccardas Stimme dünner wurde und schließlich ganz im Dienst versagte. Eisern klammerte ich mich an meine menschliche Gestalt, weil ich schlecht als Werwolf durch den Ballsaal springen konnte, und bleckte innerlich trotzdem längst die scharfen Zähne. Andererseits wollte ich Riccarda einfach nur in den Arm nehmen, als sie sich wider Erwarten an mich lehnte und damit kurze Zeit einen Hauch Nähe zuließ – doch damit hielt ich mich zurück, weil sie schon nicht gewollt hatte, dass ich mir das Zeichen ihrer Strafe ansah. Also senkte ich nur den Kopf, um mit dem Kinn kaum merklich an ihrem zu lehnen und meine Nase kurzzeitig mit ihrem Geruch zu betäuben. Ich wollte für sie da sein, erst recht als mir der salzige Geruch ihrer Tränen in die Nase stieg. Ich fühlte zu viel auf einmal, war schon an diesem Punkt völlig mit der Situation überfordert. Wollte auch lieber nichts zu ihrer Mutter sagen, weil ich ganz genau wusste, dass ich mit meiner blanken Ehrlichkeit nur eine weitere Grenze überschreiten würde. Als Riccarda von mir wegtrat und ich mich mit ihrem Anblick konfrontiert sah, wurde es nur schlimmer. Die Anspannung in meinen Schultern verstärkte sich schon bevor sie zu sprechen anfing und von da an ging es in meinem Schädel mit rasenden Gedanken weiter bergab. Sie richtete das Messer, dass ich ihr vorhin aus einer hirnrissigen Laune heraus schwungvoll in den Rücken geworfen hatte, treffsicher auf meine Brust. Ich spürte, wie das verdammte Eis, auf dem wir beide schon die ganze Zeit leichtsinnig Tango tanzten, endgültig zusammenbrach. Nur wünschte ich wirklich, dieses symbolische Eiswasser hätte etwas an meinen kochenden Nerven oder der schmerzenden Brust geändert. Oder wenigstens an all den Tränen, für die ich mir selbst die volle Schuld zuschrieb. Ich musste mich von der zierlichen Blondine wegdrehen, um woanders hinzusehen, weil ich sonst etwas unsagbar Dummes tun würde. Mit einem bebenden, tiefen Atemzug hob ich die Hände und raufte mir mit geschlossenen Augen die Haare. Ich hatte Riccarda noch nie so wütend gesehen und ich hasste mich aus tiefster Seele dafür, ausgerechnet dafür der Grund zu sein. “Weil er mich verdammt nochmal wahnsinnig macht.”, knurrte ich leise, als ich die Hände sinken ließ und mich dem Engel allmählich wieder zuwandte. Eigentlich wollte ich einen ruhigen Ton anschlagen, aber das Chaos in meinem Inneren machte das verflucht unmöglich. Ich würde nicht vor diesem Gespräch weglaufen, wusste aber gleichzeitig mit vernichtender Gewissheit, dass ich es ganz und gar nicht heil über die Bühne bringen konnte. Dafür tobte in diesem Augenblick viel zu viel in mir. “Ich wollte diese Bombe nicht platzen lassen. Wirklich nicht, weder heute noch wann anders… aber ich ertrag’ es einfach nicht, wenn er sich das Recht herausnimmt, über uns zu reden. Über dich. Ich hab Rot gesehen.” Ich widerstand noch immer erfolgreich dem Drang, eine dieser wertlosen Vitrinen zu zerschlagen, nur um das Gefühl meines blutenden Herzens mit körperlichem Schmerz zu ersetzen. Bei meiner Pechsträhne heute würde ich damit irgendeinen Alarm auslösen – ich traute es dieser überaus eitlen Familie zu, diese wertlosen Pokale schützen zu wollen und ein schrilles Warnsignal würde mich endgültig in den Wolfspelz schubsen. “Sei wütend auf mich, du hast allen Grund dazu. Es ist mir tausendmal lieber, du lässt das alles raus, als die nächste Fassade ertragen zu müssen und es gleichzeitig besser zu wissen.”, schnaubte ich. Was ironisch war, angesichts der Tatsache, dass mir ihr Anblick so sehr zu schaffen machte. Ich würde das hier trotzdem jederzeit ihrer steinernen Maske vorziehen. “Und eigentlich wissen wir beide, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis mir der Kragen platzt… ich hab’ seine Anwesenheit und seine Respektlosigkeit mir gegenüber monatelang runtergeschluckt und ich hab die Schnauze verdammt nochmal voll davon. Wenn er dieses Spiel also trotz des heutigen Vorfalls noch weiterspielen möchte, soll er doch dran verrecken.” Je länger ich darüber sprach, desto wilder funkelten auch meine Augen dem Engel entgegen. Nur eine Metapher? Wohl kaum. Wenn nach dem Desaster vorhin immer noch keiner kapiert hatte – Jacob eingeschlossen – dass meine Beziehung zu Riccarda mir verdammt ernst war, dann sah ich mich dazu gezwungen, weitere Konsequenzen folgen zu lassen. Was hatte es mir denn bis heute gebracht, in diesem Haus ständig den Kopf einzuziehen und brav den Mund zu halten, statt meinen Gedanken Luft zu machen? Es hatte mich überhaupt erst an diesen verheerenden Punkt gebracht. Ich hätte Jago den Kopf längst abreißen sollen, schon als er Riccardas das erste Mal in meinem Beisein angefasst hatte. “Lass’ Jago meine alleinige Sorge sein, während du dich darum kümmerst, dass deine Familie dich endlich mal ernst nimmt. Das war das erste und vor allem das letzte Mal, dass ich es Jemandem durchgehen lasse, dich zu schlagen. Sowas werde ich und kann ich nicht dulden, nicht in meiner Welt.”, wetterte ich weiter und untermauerte meine Worte mit einer energischen Handgeste. Ich fiel vollkommen in mein altes Verhaltensmuster zurück – ließ mich von der Verunsicherung und der Verletzlichkeit gänzlich in die verheerende Wut schubsen und wehrte mich nicht dagegen, als sie mich verschlang. Es fiel mir nicht mal auf, dass ich hier gerade sämtliche schlechte Seiten meiner Persönlichkeit auf einem Silbertablett präsentierte, während Schmerz und Wut mein rasendes Herz in ihrem eisernen Griff hielten. Meinen schwankenden Hang zu übler Gewalt bis hin zu Mord. Meine Unfähigkeit zweite Chancen geben zu wollen. Den immer wieder aus der Kiste springenden, auf ewig rebellierenden Teenager. Dann auch noch mein ungesund hohes Maß an Eifersucht und Beschützerinstinkt, gepaart mit Besitzanspruch und schlecht kontrolliertem Temperament. Doch es war herrlich einfach, das alles wieder zuzulassen, wenn die Alternative dazu war, ausschließlich in Schuld zu baden und mir einzugestehen, dass ich noch immer schrecklich verunsichert davon war, dass Jago rein logisch betrachtet so unendlich viel besser in Riccardas Leben passte als ich... und dass er ihre erste Liebe war. Er würde immer einen Platz in ihrem Herzen haben, den ich gar nicht erreichen konnte und er würde nie einen schwer zu kontrollierenden Wolf in seinem Nacken sitzen haben. Seine Welt war wie ihre. Meine war es nicht.
Es handelte sich um eine schlechte Idee, dieses erbarmungslose Gespräch im Angesicht aufgewühlter Gefühle zu führen, aber wann gab es schon den optimalen Moment für eine unangenehme Aussprache? Wir würden sehen, ob sich Isaac bereit für einen normalen Umgang zeigte oder seine gewohnte Masche abziehen wollte – immerhin verlor ich in meiner Frustration den klaren Blick, diese Rolle war also besetzt. Womöglich bemühte sich der junge Mann um eine gewisse Ruhe, ich sah ihm im Grunde dabei zu, wie er sich abwandte und die Haare raufte. Ob es etwas nützte? Abwarten. Das geknurrte Murmeln klang wenig vielversprechend, zudem sprach er keine Neuigkeit aus. Ich verstand seine Eifersucht beziehungsweise die Ablehnung bis zu einem gewissen Grad, aber irgendwo gab es Grenzen in meiner Nachsicht und die war an dem heutigen Abend definitiv mit seinen kundgetanen Besitzansprüchen gesprengt worden. Ich stellte kein Revier dar, dass man markierte und anschließend zähnefletschend verteidigte. „Aber du hast die Bombe platzen lassen“, griff ich Isaacs Wortlaut auf. „Jeder nimmt sich doch das Recht heraus, über unsere Beziehung zu urteilen. Über mich. Über dich. Das Thema hatten wir bei Silvan bereits. Ich kann ihm schwer den Mund oder den Umgang mit meinen Brüdern verbieten“, hielt ich dagegen an. Ich rang zwar um Fassung, aber Isaacs Bestätigung zur Berechtigung meiner Wut zu hören, tat überaus gut. Ich wollte nämlich gar nicht von dem lodernden Zorn in meiner Brust ablassen. Gerne hätte ich ihm all die negativen Gefühle um die Ohren geschmissen, aber dabei handelte es sich gewissermaßen um Neuland für mich, weswegen meine Vorgehensweise konfus und impulsiv vonstattenging. „Nein, wussten wir nicht. Ich war davon überzeugt, dass du über seine Provokationen stehen könntest, egal, wie sehr er dich reizt. Dass du besser bist. Dass du weißt, dass wir ein Team sind.“ Als ob Isaac nicht in irgendeiner dunklen Gehirnwindung nachvollziehen konnte, wieso Jago ihn derartig hasste; die Zwangsehe hatte unsere solide Beziehung absolut unvorbereitet und abrupt beendet. Von einem Tag auf den anderen musste Jacob seine Freundin in die Hände eines anderen abgeben, dass ich hierbei wie eine Trophäe herumgereicht wurde, klammerte ich an der Stelle entschieden aus. „Hier verreckt niemand, verstanden“, blaffte ich Isaac an. „Und ich lass meinen verdammten Ex sicher nicht deine alleinige Sorge sein. Du hast ja bewiesen, wie hervorragend du dich unter Kontrolle hast.“ Merkte Isaac eigentlich, wie furchtbar arrogant und abschätzend er in meinen Ohren klang? Er machte mich fuchsteufelswild. Als ob es in seinem Recht lag, hier die Aufgaben zu verteilen – wir hatten schon eine klare Abmachung, an die wohlgemerkt er sich nicht gehalten hatte! „Ach, darum darf ich mich kümmern… oder funkst du dann auch deinem Ermessen nach dazwischen und fährst die ganze Sache gegen die Wand?“ Endlich versiegten die Tränen. Zumindest spürte ich keine der salzigen Nachzügler mehr über meine Wangen rollen. Vielleicht waren sie im Anbetracht der Hitze in mir einfach auf meiner Haut verdampft. Dafür spürte ich sehr deutlich, wie unser hart erarbeitete und dennoch nur brüchige Harmonie einen Knacks abbekam. Einen tiefen Knacks. Egal, ob ich seinen Zorn hinsichtlich der Handgreiflichkeiten mir gegenüber teilte. Egal, dass er sich diesbezüglich für mich stark machte und mich beschützen wollte. Es änderte nichts daran, wie offensichtlich Isaac sich zum wiederholten Male für einen wütenden Ausbruch entschied und lediglich auf seine Art und Weise des Problemumgangs zurückgriff. Er wurde übergriffig. „Es existiert aber nicht nur deine Welt“, warf ich ihm aufgebracht gegen den Kopf. „Wenn du es schon so differenzieren willst, von mir aus. In meiner Welt gibt es einen sitzengelassenen Ex-Freund. In meiner Welt gibt es ebenso toxische Familienverhältnisse. In meiner Welt wird gerne der Schein bewahrt. Du hast dich wissentlich auf all das eingelassen, damit wir die Chance auf eine gemeinsame Welt bekommen. Und ich habe dir geglaubt. Ich habe dir jedes verdammte Mal geglaubt, dass es dir ernst genug ist, um durchzuhalten.“ Mein Frust fand seinen Gipfel. „Wie soll es jemals zu unserer Welt werden, wenn du schlussendlich trotzdem nur nach deinen eigenen Spielregeln spielst und dann mit Wutausbrüchen versuchst, deine Territorialität zu rechtfertigen und wahren Gefühle zu unterdrücken?“ Ich erinnerte mich zu genau an die Unterhaltung in Silvans Anwesen und an seine Einsicht. In dieser Situation hätte er es beweisen können, denn Taten sprachen mehr als Worte. Stattdessen rutschte Isaac in seine altbewährten Gewohnheiten und riss in seiner wutinduzierten Kurzsichtigkeit alles mit in den Abgrund.
“Ja, das hab’ ich… und ich hätte dieses Versprechen nicht brechen dürfen.” Das war möglicherweise das erste und letzte Stückchen Einsicht, das Riccarda am heutigen Abend noch aus mir herausbekommen würde. Es fühlte sich, je länger sie sprach und je mehr Trigger sie gezielt drückte, immer mehr so an, als wäre dieser Streit notwendig. Ich brauchte Gegenwind und Grenzen. Vielleicht nicht in diesem verheerenden Ausmaß, aber scheinbar doch mehr, als sie mir in letzter Zeit gegeben hatte. “Dass ich besser bin… dass ich nicht lache.”, murrte ich trotzig und rollte mit den Augen. “Wie würde es dir denn gefallen, wenn dir Zuhause permanent eine Frau unter die Augen treten würde, die vorher in meinem Bett geschlafen hat? Die dann auch noch die Dreistigkeit besitzt, mich danach zu fragen, wann ich sie zurücknehme? Das tut verdammt nochmal weh.”, sprudelte die Gedanken mal wieder einfach aus mir heraus. Es mochte schon wahr sein, dass sie nicht viel dagegen tun konnte, dass Jago durch diese Mauern wandelte – ihre Brüder ließen sich offensichtlich nicht viel von ihr sagen, aber da hatten wir schon wieder das nächste Problem. Eines, das sie zu lösen bis dato für ihren Teil völlig unfähig war. “Und von dem Team sind wir offensichtlich noch weit entfernt. Ausgerechnet an dieser Stelle setzt du jetzt eine Grenze? Na großartig.” Ich lachte leise und schrecklich bitter auf, schüttelte den Kopf und blickte einen Moment lang von Wolke 7 fallend hoch zur Decke. Also ihre Familie in die Schranken zu weisen schaffte sie bis heute nicht, aber mir schob sie einen Riegel vor, wenn es um das aus dem Weg räumen eines für unsere Beziehung sehr belastenden Problems ging. Damit gab sie mir bloß die schmerzhafte Bestätigung dafür, dass dieses Ekelpaket ihr immer noch etwas bedeutete. “Ich müsste nicht dazwischenfunken, wenn du endlich mal deinen eigenen Mut finden gehen würdest. Du kannst sowieso nicht vermeiden, dass wir ihnen zukünftig immer wieder auf die Füße treten werden. Wir werden niemals ihren exorbitant noblen Ansprüchen gerecht werden und dafür hast du dich entschieden, als du dich auf mich eingelassen hast.” Das war ein Fakt, der sich nie ändern würde. Wenn Riccarda und ich uns irgendwann erfolgreich zusammen etwas aufgebaut hätten und wir als Familienmitglieder wieder einigermaßen vorzeigbar sein würden – ja, dann passte ich vielleicht besser, aber trotzdem alles andere als perfekt in dieses Bild. Außerdem würden bis zu diesem Punkt noch Jahre vergehen. Jahre, in denen ich all die Anfeindungen über mich ergehen lassen müsste, ohne aktiv dagegen vorzugehen… Und plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher damit, dass ich das konnte. Dafür sorgte Riccarda, als sie mir an den Kopf warf, dass ich es nicht ernst genug mit uns meinen würde. Sie radierte meine Wut damit nicht aus, wischte sie jedoch für den nächsten Augenblick restlos aus meinen Zügen. Zurück blieben absackende Schultern und ein geschockter Gesichtsausdruck, während der Schmerz in meinem Inneren die Überhand gewann. Sich ausbreitete wie eine verdammte Krankheit, gegen die es kein Heilmittel gab. Ich konnte förmlich spüren, wie ich nach dem freien Fall auf den Boden krachte und in Einzelteile zerschellte. Fünf Sekunden lang sah ich sie aufgeschmissen an, bevor sämtliche Entspannung erneut aus meinen Gliedern verschwand. Ich baute mich vor ihr auf, machte mich unnötig groß und starrte sie mit dunklen, Funken sprühenden Augen in Grund und Boden, als wäre sie Beute, die es in die Enge zu treiben galt – die nächste Sicherung, die durchbrannte. “Willst du mich jetzt komplett verarschen?!” Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich Riccarda das letzte Mal angeschrien hatte. Jetzt war es aber wieder so weit. Nach diesen Worten setzte ich mich in Bewegung und ging auf sie zu. Sie hatte keine andere Wahl, als zurückzuweichen, wenn sie nicht mit meinem Körper kollidieren wollte. Denn ich machte keine Anstalten, wieder stehen zu bleiben, als ich weitersprach und dabei mehrfach harsch gestikulierte. “Ich strenge mich jeden einzelnen Tag an. Ziehe den Kopf ein. Sage Ja und Amen, statt das zu sagen, was ich eigentlich denke. Lasse mich von A nach B schubsen, als wäre ich ein nichtsnutziger Straßenköter. Tauche auf diesen geheuchelten Festen auf, weil es sich nicht schickt, dich da alleine hingehen zu lassen… und weil ich ganz genau weiß, dass er dich sonst wieder anfasst und dann sein abartiger Geruch an dir klebt.” Man bekam mich vielleicht dazu, den Wolf versteckt zu halten, aber anwesend war er trotzdem immer. Die empfindliche Nase konnte ein echter Fluch sein. “Ich lasse mir das gefallen und tue hier mein Bestes, nur um dann nach einem Ausrutscher sofort von dir gesagt zu bekommen, dass ich es nicht ernst mit uns meine? Ich bin weiß der Teufel nicht perfekt, aber ich gebe mir verdammt nochmal Mühe und alles, was ich dafür möchte, ist angemessener Respekt. Wie soll ich auf Dauer nach unseren Regeln spielen, wenn sie unverhältnismäßig oft mir zur Last fallen?” Den Respekt bekam ich nicht. Von Riccarda schon, das schon, aber das würde auf Dauer nicht reichen. Mir wurden hier alle paar Meter Granaten in den Weg gelegt, um die ich bestenfalls meilenweit herumschleichen musste, um keine Detonation auszulösen. Was machte Riccarda in der Zwischenzeit? Sie lebte das Leben weiter, das sie schon vorher gehabt hatte und ich… existierte auch darin, aber bis heute nur als unsittliches Geheimnis. Ich war toleriert, aber mehr dann eben auch nicht und ich glaubte nicht daran, dass sich jetzt schlagartig etwas daran ändern würde. Ich machte mich dank meiner undurchdachten Offenbarung lieber schonmal auf die nächste Schlacht gefasst. “Ich bin gefühlt schon mehrere Tode gestorben, weil ich diese ganzen Gefühle überhaupt erst zugelassen habe. Es ist immer noch schwer für mich, damit klarzukommen. Also ja, vielleicht fühle ich absolut unverhältnismäßig und das in jeder Hinsicht. Vielleicht ist es total bescheuert, dass ich das bisschen, was ich noch an eigenem Leben habe, auch noch für dich hinschmeißen würde. Dass ich töten würde, nur aus Angst heraus, du könntest ihn doch noch lieben. Dass ich lieber sterben würde, als dich sterben zu sehen. Ich kann sicher lernen, das alles besser einzuordnen und sinnvoller damit umzugehen, aber nicht heute und ganz sicher auch noch nicht morgen.”, was dann wohl zwangsläufig das Opfer war, das Riccarda noch ein Weilchen erbringen musste. Ich hatte irgendwann aufgehört zu schreien und war tatsächlich wieder stehen geblieben, während ich eingestanden hatte, sehr wohl auch selbst zu merken, dass ich meine Gefühle schlecht unter Kontrolle hatte. Es brachte mir aber auch ständig nur Schwierigkeiten ein, meinem Herzen freien Lauf zu lassen und es war nie eine ausreichende Pause in Sicht. “Und wenn du tatsächlich darauf hoffst, du könntest mir den Alpha-Wolf auch noch austreiben, muss ich dich enttäuschen. Das wird nie passieren. Die Eifersucht ist sicher nicht angeboren, die Territorialität aber schon.” Das inkludierte zwangsläufig, Jago zu tolerieren. Das ging für eine Weile, aber nicht für immer. Das war, als würde ein Löwe vor einer Maus kuschen. Wäre er ein Wolf, hätten wir die Fronten längst anderweitig geklärt. Mich der Engelsfamilie temporär komplett unterzuordnen, war ebenfalls möglich, aber auf lange Sicht würde das genauso wenig funktionieren. Ich war sehr wohl fähig, mich in eine bestehende Hierarchie einzuordnen, was am Beispiel des verwandten Rudels im Norden gut zu sehen war. Doch dafür musste man mir genug Raum für einen eigenen Platz geben und das war im Engelsschloss bis heute nicht der Fall. Riccarda musste lernen, für sich und auch für uns beide einzustehen. Ihnen die Stirn zu bieten, statt den Mund zu halten und artig mit dem Kopf zu nicken. Wenn sie wollte, dass Jago mit seinem Atem weiterhin meine Luft verpesten durfte, dann musste sie dafür sorgen, dass er die neuen Grenzen als Verflossener respektierte. Ich hatte sie schließlich ausgesucht, weil sie eben nicht war wie die anderen Engel und wenn ihre Familie jetzt ohnehin wusste, was Sache war, hatte Riccarda auch kaum noch eine andere Wahl, als klare Stellungen zu beziehen. Wenn sie sich trotzdem weiterhin davor drückte, sah ich großes Potenzial für unseren nächsten Streit.
Meine Vorahnung erfüllte sich: dieser Streit mochte vielleicht aus einem Fehltritt geboren worden sein, jedoch kamen ganz andere Schattenseiten aus den geheimen Tiefen unserer Seelen empor, je intensiver wir uns Grausamkeiten vorwarfen. Da der Großteil unserer Beziehung aus Streitgesprächen und explosiven Auseinandersetzungen bestanden hatte, wussten wir leider zu genau, welche Schalter wir jeweils bedienen mussten, um die wunden Stellen zu erwischen. Nur dass Eifersucht nicht zu meinem Repertoire an Lastern zählte und mich sein geschildertes Szenario deshalb höchstens oberflächlich pikste. Außerdem war ich zuhause und dennoch bräuchte ich nur in den Festsaal hinübergehen und würde auf ausreichend Verflossene des Dunkelhaarigen treffen. Mir fielen die sehnsüchtigen Blicke auf, die sie ihm schenkten; ebenso wie die finsteren, die ich abbekam. Der einzige, aber elementare Unterschied lag darin, dass Isaac nie etwas Ernstes von diesen Damen wollte und sich nicht bekehren ließ. Jago und ich hatten eine sehr ernste, sehr offizielle Beziehung miteinander. Das Argument seiner ehemaligen Liebschaften wies zu viele Schwachpunkte auf, um hier angeführt zu werden. Die Tatsache reichte aber nicht aus, um mich dieses indirekte Eingeständnis kommentarlos hinzunehmen. „Es tut weh, weil du mir nicht glaubst, dass ich mich für dich entschieden habe. Hör auf, meine Wahl anzuzweifeln!“ Oder wollte er Zweifel sähen, damit ich Bedenken fand, wo eigentlich keine existierten? „Ich ziehe bei Mord durchaus eine Grenze, allerdings“, bestätigte ich ihm mit Nachdruck. Zwar hatte ich Jago aus meinem sozialen Umfeld bestmöglich verbannt und wenn er mit seiner Präsenz im Schloss glänzte, mied ich seine Aufmerksamkeit. Das hieß trotzdem nicht, dass ich es für gut befand, wenn Isaac kurzen Prozess mit ihm machte. „Es ist ja auch überaus mutig, jedem an die Gurgel zu springen, weil dir die Person, aus welchem Grund auch immer, nicht in den Kram passt.“ Ich überspielte damit den Schlag unter die Gürtellinie. Sämtliche verletzte Gefühle mussten auf einen späteren Moment geschoben werden, um mich ausreichend damit zu beschäftigen. „Ich habe noch nie diesen unrealistischen Ansprüchen gerecht werden können, keine Sorge“, giftete ich unfreiwillig energisch zurück. Oh, Isaac wusste genau, welche Wunden er da aufriss. Und ich bemerkte ebenfalls, als ich übers Ziel hinausgeschossen war. Die unterschiedlichen Emotionen – auf einer Skala von Trauer, Schock und Wut – huschten in rasanter Abfolge über seine angespannten Gesichtszüge und ich erkannte sogar das Muskelspiel unter dem Hemdstoff. Meine Schultern und Oberarme spannten sich nach einer kurzen Ruhephase sogar noch mehr an. Ich verstand die Anzeichen. Sein mörderischer Blick reichte, um die neue Rollenverteilung binnen Sekunden zu verdauen und ihn mit anderen Augen zu sehen. Seine wölfische Seite gewann die Überhand. Jene Seite, die meinem Leben in pelziger Form bereits einmal gefährlich nahegetreten war. Immerhin knurrte nicht an, sondern schrie mich inbrünstig an. Das Sprichwort “Rückzug ist manchmal die beste Verteidigung“ nahm ich mir in diesem Fall besonders zu Herzen, wich mit jedem von Isaacs Schritten ebenfalls zurück. Zumindest soweit es die Physik des Raums samt Dekor und Mobiliar zuließ. Sein Zorn rollte wie eine gewaltige Welle über mich hinweg, aber mir stand nicht der Sinn danach, klein beizugeben und mich von seinem zugegebenermaßen bedrohlichen Auftritt überdurchschnittlich einschüchtern zu lassen. „Gut. Dann ziehen wir doch zu dir. Die letzte Zusammenführung mit deiner hier ansässigen Familie hat doch so gut funktioniert. Schauen wir, wer von uns beiden zuerst unter dem Alpha draufgeht. Denn darauf liefe es hinaus. Hier ist es weiß Gott nicht angenehm oder gar einfach zu leben, das ist kein Geheimnis, aber meine Verwandtschaft bringt dich immerhin nicht dafür um, weil du keiner von ihnen bist.“ Ich bin mehr zuschnappenden Wolfsgebissen in diversen Rudeln begegnet als er öffentlichen Anfeindungen innerhalb der Engelsschar. Unsere Entscheidung, im Engelspalast zu wohnen, kam nicht von ungefähr. Im Grunde schrien wir uns nur mehr an. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, wohin uns dieser Streit führen würde, aber ich fürchtete, dass wir in diesem Zustand der aufgewühlten Emotionen und erhitzten Gemüter auf keinen gemeinsamen Nenner kämen. Es wäre vernünftig, einen Schlussstrich zu ziehen. Wäre. Konjunktiv. Aber derzeit fühlte ich mich der Vernunft sehr fern. Unvernünftig fern. Ein gequälter Laut presste sich über meine zusammengekniffenen Lippen. Ich hörte dieses Eingeständnis hinsichtlich seines Kontrollverlusts nicht zum ersten Mal. Wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal. Das Thema verfolgte uns bereist eine Weile und ließe sich auch – wie Isaac so nachdrücklich erwähnte – demnächst nicht aus der Welt schaffen. Trotzdem platzte mir der Kragen, als Isaac erneut von Jago begann. „Ich liebe ihn aber nicht mehr. Versteh das doch endlich, du sturer Bock. Ich liebe dich, verdammt!“ Meine Stimme nahm einen der Verzweiflung verdächtig nahen klang an. Am liebsten würde ich diesen großen Mann kräftig schütteln, damit diese Aussage endlich an den richtigen Platz fiel und dort Wurzeln schlug. Und weil ich ihn liebte, tat es ausgesprochen weh, dass er mir nicht glaubte. Dass ihm meine Bestätigung nicht reichte. Die Ratlosigkeit verschwand mit seiner Unterstellung. Nun sah ich ihn mordlustig an. „Wieso sollte ich dir den Alpha-Wolf austreiben? Ich will von dir einfach nicht als Eigentum betrachtet werden, das du mit Knurren und Morddrohungen verteidigst“, fuhr ich ihn ungehalten an. Territorialität beschrieb per Definition die wahrgenommenen Besitzansprüche von räumlichen Begebenheiten. Ich war kein Revier und auch kein markanter Baumstamm, der zum Abstecken passend erscheint. Ich war ein Mensch – ein Engel – mit zutiefst gekränkten Gefühlen in einer immer weiter eskalierenden Situation.
Das mache ich erst, wenn du damit aufhörst, mir Gründe dafür zu geben. Das hatten wir auch schon gehabt. Mein schlecht gezügeltes Temperament war nicht die einzige Angelegenheit, die in diesem Streit ein Deja Vu feierte. Ich hasste es, wie verunsichert ich war. Dass das, was Riccarda mir gab, offensichtlich nicht ausreichend dafür war, diese tief verankerte Angst auszulöschen. Es sollte mir reichen. Es sollte genug sein. War es aber nicht. “Wirst du denn jetzt aufhören, in Bezug auf unsere Beziehung zwei Gesichter zu haben?” Es klang wie eine absolut rhetorische Frage, auf die ich mir nicht mal eine klare Antwort erhoffte. Nur weil die Katze jetzt aus dem Sack war, versprach ich mir davon noch lange kein vollständiges Auftauen ihrer Fassade. Zumindest nicht sofort. Sie konnte nicht einfach so aus ihrer Haut, ich nicht aus meiner. Eine tolle Ausgangslage. Ihre Grenze konnte sie auch behalten, mein Moralkodex war in dieser Hinsicht weit lockerer gestrickt. Was daran liegen dürfte, dass ich es früher durchaus für unfassbar stark gehalten hatte, umher zu wandeln und Leben zu nehmen, wann immer mir der Sinn danach stand – aus welchen ausgedachten Gründen heraus auch immer. Das war heute aber nicht mehr so. Ich hatte zwischenzeitlich gemerkt, dass es mir selbst gut tat, wenn ich nicht ständig in Blut badete, doch meine Grenzen zu überschreiten war auch heute noch eine potenziell tödliche Angelegenheit. Wenn sie Jago diese Grenze nicht stecken würde, musste ich es selbst tun. “Das meinte ich damit nicht.”, funkelte ich die zierliche Blondine an, weil ich mir eigentlich sicher damit war, dass sie das wusste. Fürs Morden war nur ich zuständig – sie konnte ihre Kämpfe weiter verbal ausfechten, nur musste sie die dafür überhaupt erstmal antreten. “Wenn du es ihnen doch sowieso nicht recht machen kannst, warum zur Hölle scherst du dich dann immer noch darum, es trotzdem zu versuchen?” Jetzt klang ich nur noch frustriert, weil ich es aus meiner Position heraus einfach nicht nachvollziehen konnte. Mich konnte Riccarda offensichtlich auch anfauchen, wenn ich einen Schritt zu weit ging. Sie sollte sich diese Fähigkeit lieber an anderer Stelle zunutze machen. Es kam uns beiden zugute, dass der zierliche Engel zumindest physisch meine nach außen getragene Grenze respektierte und wich. So hatte ein Teil meiner Wut die Möglichkeit, zu entfliehen. Mir rauschte das Blut in den Ohren und ein Tinnitus kündigte sich an. Als sich die Diskussion plötzlich um meine eigene verkorkste Familie drehte, konnte ich nicht anders, als zu schnauben. “Wir gehen nicht deshalb nicht dorthin zurück, weil ich George nicht gewachsen bin, sondern weil ich keine Lust darauf habe, mich nochmal an meine kaputte Familie zu ketten. Dann kann ich genauso gut einfach hier bleiben, das kommt fast aufs selbe raus.”, stellte ich knurrend klar. Mein Ziehvater schwächelte, das wusste ich aus erster Hand. Wenn ich mich gut darauf vorbereiten würde, könnte ich ihn vom Thron schubsen und damit auch Riccarda absichern. Vernon war der einzige noch übrige Anwärter und ihn konnte ich problemlos zu Kleinholz häckseln, Chad war schon abgehakt. Von den anderen würde es keiner mehr wagen, meine Gefährtin anzurühren – ich hätte nur nichts davon. Dann hinge ich wieder in dieser Abwärtsspirale aus zerrütteten Familienverhältnissen fest. Wir beide. Hier im Engelsschloss war es anders und im Grunde doch dasselbe, mit freundlicherer Tapete davor. Für mich nur die zivilisiertere Ausgeburt der Hölle. “Stattdessen einfach schon jetzt beiden Seiten den Rücken zu kehren, kommt für dich aber offensichtlich auch nicht in Frage.” Sonst wären wir schon weg, richtig? Mit dieser Feststellung schloss ich mit mahlendem Kiefer die Augen, schrumpfte allmählich zurück auf Normalgröße. Ließ einmal verkrampft die Schultern kreisen, was nicht besonders viel brachte, und ballte auch die Finger einmal zur Faust, nur um sie danach wieder zu lockern. Eigentlich war das Letzte, was ich wollte, Riccarda Angst zu machen. Sie sollte sich bei mir sicher fühlen können und doch brachte ich es immer wieder zustande, das in Eigenregie zu sabotieren. Wie so vieles andere auch, offensichtlich. Ob sie nur deswegen noch so verbissen hier im Schloss bleiben wollte, weil sie mir nicht genug vertraute? Wir konnten wegen ihres Studiums die Stadt ohnehin nicht verlassen, aber das mussten wir auch nicht, um Jago und ihrer herzlosen Familie zu entgehen. Das uns angedachte Haus gehörte offiziell ihr, worauf warteten wir noch? Von mir aus strich ich die unfertigen Wände selbst, wenn es das unfassbar zähe Prozedere beschleunigte. Ich glaubte Riccarda, dass sie mich liebte. Ich glaubte ihr nur nicht, dass Jago sie nicht mehr beirren konnte. Die Verzweiflung, mich überzeugen zu wollen, stand ihr quer übers Gesicht geschrieben, aber ich konnte beim besten Willen nicht sofort darauf antworten. Sie kippte mein Gemüt erfolgreich zwischen Wut und Schmerz hin und her und in diesem Moment wollte ich nur noch, dass alles davon aufhörte. Wie sagte man so schön? Liebe allein reicht nicht. Genauso wenig, wie es reichte, mir einfach nur zu sagen, ich solle sie nicht wie Eigentum behandeln. Meine Augenlider zuckten beim Klang ihrer Stimme, aber ich rührte mich noch nicht. “Dann verhalte dich nicht wie eine Schachfigur. Hör auf, dich von anderen beeinflussen und herumschieben zu lassen.” Damit öffnete ich die Augen wieder. Das größte Feuer darin war erloschen, aber ich konnte den unruhigen Schimmer darin förmlich spüren. Meine Stimme klang noch sehr grob, war jedoch bei normaler Lautstärke angekommen. Dieses Wechselbad der Gefühle saugte mich sekündlich mehr aus. Was, wenn ich mich in Riccarda getäuscht hatte? Hatte ich lediglich die berühmt berüchtigte rosa Brille auf der Nase gehabt? “Hast du’s überhaupt vor? Dich jemals klar auf meine Seite zu stellen? Denn das wirst du tun müssen.” Früher oder später würde es Augenblicke geben, in denen sie sich in manchen Belangen für oder gegen ihre Familie entscheiden musste – wegen mir, weil ich in diese Scheinheiligenwelt niemals vollständig reinpassen würde. Wenn ich mir die Folge dessen, was auf dem Ball passiert war, jetzt so ansah, war ich mir nicht mehr sicher damit, ob sie das überhaupt konnte. “Ich glaube dir, dass du mich liebst. Das kann ich gut daran sehen, wie sehr ich dich verletzt habe…”, und allein die Erwähnung dessen war genug, um mir postwendend selbst den nächsten Dolch durchs Herz zu bohren. Als würde es nicht ausreichen, dass der Schmerz, den sie empfand, unweigerlich zu mir rüberschwappte. Ich schluckte den Druck hinter der Kehle runter. “… aber ich brauche mehr als nur Liebe von dir, damit ich zur Ruhe kommen kann. Um mich zurückzuziehen… und dir guten Gewissens mehr Freiraum zu lassen.” Ach, kontrollsüchtig auch noch..? Vielleicht ein winziges, verheerendes kleines Bisschen.
Der Abend zehrte an meinen Kräften und dieser Streit schien auch die letzten Energiereserven gierig aufzusaugen. Missmutig kniff ich mir mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel und atmete anschließend einmal tief durch, um meine Fassung endlich zurückzugewinnen. Leichter gesagt als getan. In mir brodelte es weiterhin gefährlich heiß und doch schaltete sich zwischendurch wieder genug Vernunft dazu, um einzusehen, dass dieser Streit auf keinen fruchtbaren Boden mehr stattfand. Wir wurden gehässig und destruktiv. Wollte ich, dass diese Beziehung funktioniere? Auf jeden Fall. Daher zwang ich mich zur Ruhe, presste meine aufgekratzten Emotionen in eine kleine metaphorische Truhe zum Abkühlen. Später würde ich den ganzen Knoten an Gefühlen wieder ans Tageslicht kramen und mir einzeln vornehmen. Alleine. Bestenfalls ohne der Frage, was zwischen Isaac und mir nach dieser Katastrophe noch übriggeblieben war. Ich bemühte mich wirklich, meine Anspannung aus dem Muskeln zu vertreiben und den anklagenden Unterton aus meiner Stimmlage zu verbannen, aber meine Miene blieb ein offenes Buch. Das wünschte er sich doch. Ich sollte meine Gedanken nicht hinter kühlen Objektivität verbergen, also bekam er auch den bösen Blick zu spüren. Seine Frage provozierte es ja geradezu und testete mein instabiles Konstrukt der Ruhe. Als käme er mit diesem Geschrei und den Anschuldigungen besser zurecht, weil diese Form der Kommunikation am stärksten verinnerlicht hatte. Ich nicht – mir ging es stark an die Substanz. Ebenso wie sich jede weitere Entgegnung seitens Isaac wie ein mehr oder weniger stark ausgeführter Hieb anfühlte. Gewisse Seitenschläge drangen stärker zu mir durch als andere. Beispielsweise diese zurecht hinterfragte Angewohnheit, es meinen Eltern trotz unzähliger Fehlschläge immer noch rechtmachen zu müssen. Es gab keine logisch-rationale Erklärung dafür. Es ähnelte mehr einem unnachgiebigen Zwang, der wie ein hartnäckiger Ohrwurm in meinen Gehirnwindungen feststeckte. Ich durfte nicht verlangen, dass Isaac dieses Bedürfnis nach elterlicher Wertschätzung nachvollziehen konnte. Trotzdem erschwerte es seine einsichtslose Haltung enorm und ich weigerte mich, ihm in diesem Punkt noch mehr Angriffsfläche zu bieten. Ich machte die Schotten diesbezüglich dicht, dafür ging mir das Thema zu nah. Zusätzlich schrammte es stark an der Tatsache vorbei, dass ich die Handgreiflichkeit zuerst vollständig verarbeiten musste, um mir anschließend wieder ein Bild von meinen Wünschen bezüglich meines Familienlebens zu machen. Was ich jedoch wusste: meine Harmoniebedürftigkeit – allgemein als Engelseigenschaft bekannt, aber wohl nur rezessiv vererbt – wollte die noch so toxischen Verhältnisse zu gewissen Familienmitgliedern nicht aufgeben. Trotz des Bewusstseins, dass man mir schneller den Rücken zukehren würde. „Ich will meine Familie aufgrund von auf Tradition basierenden Uneinigkeiten nicht fallen lassen.“ Meine Mutter ausgeklammert, denn noch herrschte da zu viel Schmerz in mir, um einen rationalen Beschluss zu fassen. „Wenn ich ausziehen und allen den Rücken kehre, dann laufe ich im Grunde einfach nur vor einer unangenehmeren Option weg.“ Dann machte ich mich absolut abhängig von Isaacs Präsenz in meinem Leben, weil ich sonst niemandem mit einer ähnlichen Bürde hatte. Es fiel mir unglaublich schwer, diese letzte Rückversicherung aufzugeben. Vor allem in dem Licht, dass Isaac seine wölfische Übermacht nach wie vor gegen mich verwendete, mir absichtlich Angst einjagte und seine Raubtierseite zu seinem Vorteil ausspielte. Vielleicht nicht mit Vorsatz, aber unterm Strich tat er es und das reichte aus. Wie oft konnte man ohne bleibende Schäden innerhalb kürzester Zeit am Boden der Tatsachen aufschlagen? Die endgültige Ernüchterung kam gleichzeitig mit der Erkenntnis über mich, dass ich Isaac ebenso wenig reichte. Nicht genug verhöhnte mich meine eigene Kopfstimme gehässig und am liebsten würde mich mir die Hände über die Ohren halten, aber das half erfahrungsgemäß nichts. Ich wählte einen anderen Weg: Augen zu und durch. „Was unterscheidet dich denn von den anderen. Versuchst du gerade nicht, mich zu beeinflussen? Bestimmt auch mit den besten Absichten und ganz uneigennützig“, entgegnete ich hart. Vielleicht sollte er sich nicht wie ein kaltherziges Arschloch verhalten. Ich verbat es mir, derart auffällig zu werden, obwohl alles in mir danach verlangte, die mühsam zusammengekratzte Ruhe über Bord zu werfen und im nächsten Wutanfall abzutauchen. Zumindest wäre diese zornverhangene Taubheit angenehmer als der saubere Genickbruch, mit dem Isaac diese Auseinandersetzung für mich beendet hatte. Ich sah ihm die Zweifel an, wie er all seine Entscheidungen mit einem Mal erneut überdachte und womöglich zu einer neuen Ansicht gelangte. „Hast du jemals vor, etwas aufzubauen, ohne das Fundament immer wieder davor zu beschädigen oder zu zerstören?“, stellte ich ihm die Gegenfrage. Wie vermutet besaß der Dunkelhaarige ausreichend Empathie, um zu verstehen, welche Schmerzen diese Unterhaltung hervorrief und trotzdem hörte er nicht auf zu reden. Diese verfluchte Stimme verhöhnte mich ebenfalls noch immer mit denselben wiederkehrenden zwei, leise geraunten Wörtchen. Im Grunde verwendete Isaac lediglich eine hübschere Verpackung, aber der Konsens blieb gleich: nicht genug. „Vielleicht sollten wir an der Stelle hinterfragen, was wir wollen und im Gegenzug dafür zu geben bereit sind.“ Ich bastelte mir einen armseligen Fluchtweg, bevor auch der klägliche Rest meiner Seele zerbrach. Ohne auf Isaacs Erwiderung zu warten, floh ich aus dem plötzlich viel zu eng wirkenden Raum. Ja, welch rücksichtslose Doppelmoral, dass ich vorhin noch darüber schwadroniert hatte, vor Problemen nicht wegzulaufen und nun aber Reißaus nahm, als hinge mein Leben davon ab. Ich versuchte sogar dem finsteren Stimmchen in meinem Kopf zu entkommen. Weit kam ich nicht, gerade mal bis zu der majestätisch geschwungenen Treppe in den ersten Stock hinauf. Zirka bei der Hälfte der Marmorstufen fing mich Theodore ab und hielt mich am Oberarm fest, sodass ich mich gezwungenermaßen zu ihm umwenden musste. „Was ist passiert? Wir haben dich überall gesucht, nachdem du nicht mehr im Festsaal aufgetaucht bist“, erkundigte sich mein Bruder, wobei ich die leichte Spur der Anklage überdeutlich heraushörte. „Ich habe keine Lust mehr und will allein sein“, fertigte ich ihn kurzbündig ab und zog an meinem Arm, jedoch ohne Erfolg. „Riccarda.“ Ich funkelte ihn wie ein bockendes Kind an, immerhin behandelte er mich auch wie eines. Allein, wie er meinen Namen aussprach. Nun schien er mich aber auch erst richtig anzusehen, denn seine Augen wurden plötzlich groß und eine atypische Härte manifestierte sich in seinen Zügen. „Was hat er getan?“ Argwohn hielt sich mit Bestürzung die Waage. Anscheinend sah man mir diverse Gefühlsausbrüche der letzten verstrichenen halben Stunde an. Der Griff um meinen Oberarm wurde unangenehm fest, weshalb ich nun meine Hand zur Hilfe nahm, um mich von seinem Halt zu befreien. Ich verlor schon wieder die Kontrolle über meine Gefühle – neuer Gegner, neue Runde. „Warum muss immer Isaac an allem schuld sein?“, fuhr ich meinen Bruder an, der überrascht einen Schritt zurückfuhr. „Mutter hat mir eine verpasst, nachdem ihre sonstige Moralpredigt scheinbar keinen Eindruck mehr auf mich gemacht hat. Bitte schön, da hast du den Bösewicht in der Geschichte und jetzt lasst mich verdammt noch mal alle in Ruhe!“ Zum Ende hin nahm meine Stimme einen kratzig schrillen Ton an, der gut und gerne an Hysterie erinnerte. Ich fühlte mich wie ein bei der Jagd in die Enge getriebenes Wildtier. Immerhin verdutzte der Anfall meinen Bruder ausreichend, um keinen Gegenwind zu erhalten, sondern einfach verschwinden zu können.
Im Gegensatz zu mir müsste Riccarda sich ja nicht komplett von ihrer Familie abkapseln, nur weil wir hier auszogen. Sie dazu zu überreden, stand mir auch gar nicht zu. Ich war dennoch der Ansicht, dass mehr Freiraum uns dabei helfen würde, enger zusammenzuwachsen. Wenn unsere Beziehung erstmal gefestigt war, lag mir ihre dabei nicht gerade hilfreiche Verwandtschaft sicher nicht mehr ganz so quer im Magen - aber vielleicht stimmte das auch nicht und ich redete es mir bloß ein. Ich seufzte mit einem schweren Atemzug, weil ich allmählich überhaupt nicht mehr wusste, was ich denken sollte. Dass der zierliche Engel mir dann auch noch den Spiegel vor die eigene Schnauze hielt, machte das Chaos in meinem Kopf perfekt. Sie schaffte es tatsächlich, mir damit die Sprache zu verschlagen. Manipulierte ich sie? Das war eigentlich nicht mein Ziel… und scheinbar doch irgendwie meine Absicht. Vielleicht waren meine Ansprüche an Riccarda genauso überzogen wie die ihrer Eltern. Es wurde nicht einfacher, meine eigenen Missetaten vollständig zu begreifen, als sie postwendend ein nächstes großes Laster von mir anprangerte. Denn ich konnte nicht leugnen, dass eine meiner der Gesellschaft am präsentesten Eigenschaften war, ständig alles in Schutt und Asche zu legen. Ich würde auch lügen, würde ich behaupten, dieses Gefühl nicht zu genießen - ich zerstörte gerne, was es verdiente, zerstört zu werden, aber das galt gewiss nicht für meine Beziehung zu Riccarda oder den hübschen Engel selbst. Weiter kam ich mit dem Denken nicht und so blieb es meinerseits still, bis die zierliche Blondine das Gespräch für beendet erklärte und sich an mir vorbei mogelte. Ich versuchte nicht, sie aufzuhalten. Dafür war mir gerade selbst viel zu wenig danach, das Gespräch fortzuführen. Ich mochte es nicht, wenn man mir die Sprache verschlug. Deshalb öffnete ich den Mund auch nochmal, als ich Riccarda beim Verlassen des Raumes hinterher sah. Raus kam dabei jedoch kein einziges Wort. Also stand ich da und starrte kurze Zeit später nur noch die Tür an, durch deren Flügel die blonden Locken verschwunden waren. Mit jeder Sekunde, die sie länger weg war, fühlte es sich immer mehr so an, als hätte sie mein Herz mitgenommen. Ich fühlte mich unfassbar leer. Taub. Meine Ohren rauschten, ich hörte nichts mehr außer die dumpfen Hintergrundgeräusche der Festlichkeiten. Wusste nicht, was ich fühlen sollte. Oder was ich tun sollte. Obwohl mein Inneres mich trotz allem in Riccardas Richtung zog, konnte ich jetzt nicht bei ihr sein. Ich trug den Autoschlüssel standardmäßig mit mir herum, seit im Norden zur Sprache gekommen war, dass Riccarda sich doch einfach mal meinen Wagen schnappen konnte – man könnte es Paranoia nennen. So musste ich immerhin nicht noch den unangenehmen Gang in unsere Räumlichkeiten machen, denn ich wollte ihr heute nicht mehr über den Weg laufen. Im Gegensatz zu früher kam ich nicht auf die Idee, sie vertreiben zu wollen, sondern räumte freiwillig das Feld. Es war ihr Zuhause, nicht meins. Also machte ich durch einen der hinteren Ausgänge die Biege, ging nur im Hemd durch die kalte Winterluft zu den Garagen und schwitzte trotzdem, weil mein Inneres auf hundert Grad kochte. Bevor ich losfuhr, zog ich die Sonnenbrille aus dem Handschuhfach. Ich hatte keine andere Wahl, als die Straße vor dem Haus zu nutzen und Paparazzi zu kreuzen. Heute war das erste Mal, dass ich den exotischen Wagen verfluchte, aber immerhin verdeckte die Brille den kaputten Ausdruck in meinen Augen. Ich fuhr bis spät in die Nacht ziellos umher. Überlegte mehrfach, irgendwo anzuhalten und dem Wolf noch Auslauf zu geben, wusste aber gleichzeitig, dass das nicht helfen würde. Ich bekam den Kopf einfach nicht leer, wollte mich auch in keinem Hotel der Stadt blicken lassen, weil ich dann erst recht irgendwelche Gerüchte heraufbeschwören würde. Zu meiner Familie zu gehen kam nicht in Frage und im Wald zu schlafen würde meine Energiereserven bei diesen Temperaturen unangenehm schnell schrumpfen. An einer roten Ampel spielte ich abwesend an dem Schlüssel herum, der aus meiner Hosentasche hing, bis ich bewusst realisierte, welcher Schlüssel das war – ein bis heute noch kaum genutzter. Doch genau zu dieser Tür zog es mich am Ende. Es hatte angefangen zu schneien und ich konnte die kalten Flocken auf der nackten Haut am Hals spüren, als ich das Brachland vor dem Haus mit den für diese matschige Angelegenheit zu teuren Schuhen überquerte. Um die Mauern herum war noch nichts hergerichtet und ich war froh, als ich auf dem Treppenabsatz ankam. Ich ging hinein und wurde von einer Mixtur aus Reinigungsmitteln, frischen Lacken und Wandfarbe empfangen, weshalb ich das Gesicht verzog. Es war natürlich auch nicht beheizt. Meine Füße wurden in den Socken also ziemlich schnell kalt, als ich die Heizung im Keller einschaltete und mir erst daraufhin ein aktuelles Bild vom Rest des Hauses verschaffte, weil ich lange nicht mehr hier gewesen war. Zuletzt, als der Rohbau fertig war. Das Erdgeschoss war jetzt sogar schon ziemlich weit: Das Wohnzimmer war fertig – die neuen Möbel glänzten noch mit vor Staub schützenden Überzügen –, die Küche war wohl vor ein paar Tagen auch fertig angeschlossen worden und der Essbereich dazwischen wirkte zwar noch sehr kahl, hatte aber zumindest schon den Tisch bekommen, der für zwei Personen eindeutig zu groß war. Das kleine Badezimmer im Erdgeschoss war genauso vollendet wie das im ersten Stock, doch bis auf letzteres und den Flur war noch keine einzige Wand oben gestrichen. Die Farbeimer standen aber schon herum. Tu’s nicht. Ich widerstand dem Drang, noch mehr Chaos zu stiften und als ich wieder unten ankam, stellte ich fest, dass der Boden schon warm wurde. Schlafen konnte ich auf dem sogar für mich ausreichend großen Sofa nicht, auch nicht als es warm im Inneren des Hauses wurde. Mein Kopf erschlug mich und mein Körper kam nicht zur Ruhe. Dabei war ich physisch topfit, während meine Seele in Fetzen hing. Ich war verletzt, traurig, vor allem aber fühlte ich mich unfassbar schuldig und gleichzeitig missverstanden. Irgendwann stahlen sich Sonnenstrahlen durch die Vorhänge, die ich nie zugezogen hatte und mein Magen knurrte, doch mir war nicht danach, etwas zu essen. Dank der Weihnachtstage wurde ich wenigstens nicht von Handwerkern aus den Federn geschmissen, sondern konnte auf mein Handy starrend weiter im Elend versinken. Ich wollte Riccarda so viel sagen und doch wusste ich nicht, was genau. Irgendetwas zog mich – nach einem Zwischenstopp am Wasserhahn in der Küche – zurück nach oben in die leeren Räume. Die waren wie ich, oder? Viel Potenzial, das nicht ausgeschöpft war, aber auch viel Leere. Mit einem Seufzen zog ich das Handy wieder aus der Hosentasche, um Riccarda danach zu fragen, ob sie mit ein paar Sachen von mir vorbeikommen konnte, weil ich es für keine gute Idee hielt, einen Fuß ins Schloss zu setzen und sie selbst zu holen. Ich könnte in meinem labilen Zustand nicht dafür garantieren, nicht die nächste Tragödie auszulösen, falls mir die falsche Person über den Weg lief. Außerdem wollte ich mich persönlich bei ihr entschuldigen – das war ich ihr schuldig. Dann öffnete ich einen der Farbeimer und griff nach einem kleinen Pinsel, der wohl eher für die Ecken gedacht war. Die Wand würde sowieso nochmal gestrichen werden und ich hatte hier weder Zettel, noch Stift. Die Mauer wurde also zum Notizblock meiner persönlichen Unzulänglichkeiten… und sie füllte sich schneller, als mir lieb war. Dementsprechend frustriert saß ich vor der mich erschlagenden Wand, als Riccarda zwischen Mittagessen und dem Nachmittagstisch unten die Haustür aufmachte. Ich musste tief durchatmen und fühlte mich nicht bereit für eine weitere Konfrontation, rief aber dennoch zu ihr nach unten, dass ich hier oben war und empfing sie mit dem Pinsel in der Hand auf dem Boden sitzend. Inklusive ein paar Farbflecken auf den Klamotten, die mir völlig egal waren. “Ich nenne sie Wall Of Shame, willst du was hinzufügen?”, fragte ich sarkastisch seufzend, was nur der zum Scheitern verurteilte Versuch war, mir selbst die schmerzhafte Situation angenehmer zu machen. Egoist. Trust Issues. Zu impulsiv. Verschlossen. Manipulativ. Zerstörerisch. Unzuverlässig. Kontrollsüchtig. Kurzsichtig. Zu aggressiv. Intolerant. Die dunklen Schatten unter meinen Augen trugen nicht unbedingt dazu bei, dass ich positiv gestimmt aussah. Auch meine Entschuldigung an Riccarda war aufrichtig, aber es behielt einen faden Beigeschmack, dass ich schon wieder etwas verbockt hatte, das ich längst besser wissen sollte. Ich ruderte auch damit zurück, sie dazu drängen zu wollen, mehr Abstand zu ihrer Familie aufzubauen - sagte aber auch, dass ich die Weihnachtsfeiertage über definitiv noch nicht ins Schloss zurückkehren würde und meine Ruhe brauchte, um alles zu verarbeiten und vor allem mein Gemüt wieder in den Griff zu kriegen. Denn trotz der Müdigkeit war ich unheimlich angespannt und stand unter Strom, musste ununterbrochen aufpassen, mir nicht alles zu Herzen oder zu persönlich zu nehmen, was Riccarda in dieser Stunde zu mir sagte. Die Probleme selbst waren auch nicht aus der Welt, als sie - mit meiner Versicherung, die Wand vor dem Ende der Feiertage noch vollständig anzupinseln, um auch mal was Sinnvolles beizutragen, im Gepäck - das Haus wieder verließ. Ich hatte ihr gesagt, wo sie ihr Weihnachtsgeschenk fand. Es war nichts Spektakuläres, aber ich hatte das Sturmglas in Form eines vollständig gläsernen Globus irgendwie passend für sie gefunden. Selbst falls das Ding im Inneren unserer Räumlichkeiten nicht richtig funktionierte, war es dann immer noch nett anzusehen. Außerdem fände ich es schön, wenn wir irgendwann noch mehr von der Welt zusammen sehen würden. Riccarda zuliebe aber vielleicht lieber ohne Sturm. Ich verbrachte den Rest der Feiertage noch in unserem Haus, bevor ich mit mulmigem Gefühl ins Schloss zurückkehrte. Es kostete mich wahnsinnig viel Überwindung und ging sehr holprig vonstatten, aber ich entschuldigte mich sogar bei Riccardas Verwandten dafür, Weihnachten mit dieser unangenehmen Botschaft - und der super Mitteilung in den Klatschblättern - verflucht zu haben. Besonders Riccardas Mutter gegenüber fiel es mir besonders schwer, einigermaßen neutral zu bleiben und der eine oder andere giftige Blick meinerseits war unvermeidbar. Sie durfte ruhig merken, dass sie etwas falsch gemacht hatte, auch wenn ich sie nicht direkt darauf ansprach, um den nächsten Streit zu vermeiden. Es juckte mir trotzdem in den Fingern und auch die Lage zwischen Riccarda und mir entspannte sich nur träge, weil uns durch den Streit unweigerlich das letzte bisschen an Liebesblindheit genommen worden war. Wir hatten noch viel Arbeit vor uns und sogar Sylvan meldete sich kurz vor Silvester bei mir, weil er die Presse offenbar mitverfolgt hatte. Es kam mir sogar gelegen, denn ich hatte ein paar Fragen, die ich ihm einfach so wohl nicht gestellt hätte. Aus Scham. Wenn er ohnehin schon indirekt Bescheid wusste, konnte ich ihn leichter danach fragen, wie zur Hölle er beinahe immer so erschreckend ruhig bleiben konnte. Wenig überraschend lautete das Heilmittel dafür ’ganz viel Training, besonders bei einem so leicht reizbaren Wolf wie dir’. Ich hätte das Telefon beinahe schwungvoll aus dem nächstbesten Fenster geworfen. In der Silvesternacht fühlte es sich zwischen Riccarda und mir mal kurz wieder so an, wie es vor dem Streit gewesen war, weil uns das Feuerwerk wohl beiderseits an eines unserer früheren, sehr schönen Dates erinnerte. Unsere Probleme waren in diesen Stunden weit genug weg und ich versuchte, mich zu entspannen. Es half dabei, mich daran zu erinnern, wofür genau ich kämpfte. Jago tauchte glücklicherweise nur kurz um Mitternacht herum auf und hielt sich mit Riccardas Brüdern von mir – von uns – fern. Diesmal machte es das Feuerwerk mir unmöglich, sie zu belauschen… was zu unser aller Bestem war, denn seine bloße Anwesenheit war mir schon sauer genug aufgestoßen. Es war gut, dass er sich schnell wieder verzog und woanders weiter feierte, mit Theodore im Schlepptau.
Vielleicht war meine offensichtliche Verspannung in dieser Nacht der endgültige Auslöser für das, was heute – weitere vier Wochen später – passierte. Der Alltag hatte das Engelshaus wieder fest im Griff und ich schlug mich angestrengt durch einen Abteilungswechsel zu Bildungszwecken, was wieder neue Hürden mit sich brachte. Die Anspannung zwischen Riccarda und mir löste sich allmählich, was bis zum heutigen Tag noch mehrere unangenehme Gespräche gebraucht hatte. Es gab auch auf ihrer Seite Baustellen, aber meine waren zweifelsohne größer und mir das nur einzugestehen, reichte nicht. Ich hatte damit angefangen, in mir nach der Ursache für die so tief verankerte Wut zu buddeln, weil ich sie wohl nur so weitgehend loswerden konnte. Leichter gesagt als getan, aber ich gab mir Mühe damit. Weil wir zusammen wohnten, ging meine Bemühung an dem zierlichen blonden Engel nicht vorbei. Wenn ich merkte, dass ich sauer wurde, weil mir die ausgesprochene Wahrheit von ihren Lippen nicht gefiel, dann ging ich, bis ich mich wieder beruhigt hatte und ansatzweise klar denkend kommunizieren konnte – es fiel mir schwer, diesen Konfrontationen vorübergehend aus dem Weg zu gehen, aber ich wollte nicht zum zehnten Mal denselben hirnrissigen Fehler machen. Es half uns beiden schlussendlich dabei, wieder etwas Nähe zuzulassen. Es war nicht wie vor dem Streit, aber ein flüchtiger Kuss hier und eine kurze Kuscheleinheit dort unterstützten mich ungemein dabei, diesmal bei der Stange zu bleiben und nicht einfach alles wegzuwerfen, weil es einfacher war. Ich hasste es, mir das einzugestehen, aber ich brauchte diese kleinen Bestätigungen – aus Unsicherheit. Beim Mittagessen am heutigen Samstag vor etwa einer halben Stunde blieb mir beinahe was im Hals stecken. Ich musste kräftig schlucken und Wasser nachtrinken, um einen Hustanfall zu vermeiden, nachdem Theodore seiner Schwester eine Information zu entlocken versuchte, die für mich aus dem Nichts kam. “Wie es scheint, hat Jago tatsächlich die Zusage für das große Projekt in Vancouver bekommen. Es kam doch etwas überraschend, als er das heute erzählt hat.” Es blieb kurz still, während er den nächsten Bissen aß und runterschluckte. “Du weißt nicht zufällig etwas darüber, Riccarda?”, bohrte er explizit mit verengten Augen nach, bekam aber keine klare Antwort. Ich also auch nicht, was den Rest des Essens zu einer kleinen Tortur machte. Vancouver war weit weg. Weit genug, sogar in meinen Augen, und ich als Wolf dachte bekanntlich in unverhältnismäßigen räumlichen Größen. Wenn es ein großes Projekt war, dann würde er lange damit beschäftigt sein und ich müsste in dieser Zeit nicht seine Anwesenheit ertragen, möglicherweise nicht mal mehr seinen Namen hören. Für mich war das tausend Mal besser als Weihnachten, solange ich noch so empfindlich auf ihn reagierte… was ich aktuell nicht zu leugnen brauchte, weil mein Gesichtsausdruck wohl so offensichtlich war, dass Theodore mich mit hochgezogener Augenbraue ansah. “Schau mich nicht so an, ich hab’ damit nichts zu tun.” Es war nicht mal gelogen. Ich hatte sowieso noch immer das Gefühl, dass Riccardas Familie uns noch nicht zu einhundert Prozent abkaufen wollte, dass ich auf der Weihnachtsfeier keinen blöden Scherz gemacht hatte. Man konnte es ihnen nüchtern betrachtet aber auch nicht verübeln, weil wir uns seitdem sogar ohne den äußeren Druck noch schwer damit taten, als Paar wieder zu funktionieren. Da war es quasi unmöglich, nach außen glücklich verliebt zu wirken… die Sache mit Harrys Erbe hingegen ließ sich seitdem nicht mehr vergraben und hing immer im Raum. Trotzdem wollte ich natürlich wissen, was Sache war, weil meine Neugier mich sonst umbrachte. Glücklicherweise hatten Riccarda und ich ohnehin geplant, nach dem Essen Zeit zu zweit zu verbringen. Es lag noch immer Schnee und wir wollten etwas aus der Stadt raus fahren, um ein paar Abfahrten mit dem Schlitten hinzulegen. Wir hatten im Urlaub oft Spaß an Action gehabt und wir mussten beide dringend aus unserem Trott raus, der seit unserem Streit zumindest für mich gefühlt noch erstickender war als sonst. Nachdem ich früher oft und sehr lange alleine draußen umher gestreift war, kannte ich die Gegend rund um die Stadt glücklicherweise bestens und wusste, wo uns Niemand stören würde. Das unwegsame Gelände, das wir dabei gegen Ende zurücklegen müssen würden, war für meinen Sportwagen jedoch völlig ungeeignet und deshalb saß ich hinter dem Steuer eines SUVs von Riccardas Familie, als wir die Stadt gerade hinter uns ließen. “Sollten wir darüber reden oder ist es besser für uns, wenn ich mein Glück einfach hinnehme und mich stillschweigend freue?”, kam ich nicht umhin, das Thema schließlich indirekt anzuschneiden und dabei einen Blick zu meiner Beifahrererin zu werfen. Ich war mir sicher, dass Riccarda wusste, wovon ich redete. Warum Theodore jedoch glaubte, seine Schwester hätte etwas mit der Zusage für Jagos zukünftiges Projekt zu tun, konnte ich mir nicht selbst zusammenreimen – dafür war ich eindeutig viel zu wenig in alles verstrickt, was mit Jago oder dem Einfluss der Engelsfamilie im Einzelnen zu tun hatte.
Ein kleines vorweihnachtliches Wunder geschah als meine Bitte oder besser mein hysterisches Forderung um Ruhe beherzigt wurde. Niemand klopfte diesen Abend mehr an die Tür und verlangte nach meiner Anwesenheit, damit die Gäste nicht zu reden begannen. Zwar schriebe mir ein paar der oberflächlichen Freunde, wo ich steckte oder ob es eine geheime zweite Party gab, zu der nur Auserwählte eingeladen worden waren. Angesichts der fünf grinsenden Emojis danach hoffentlich ein Witz, aber warum mit dem Verletzen von Gefühlen aufhören, wenn ich einen derartig guten Lauf verzeichnete? Ich drehte mein Handy einfach ab, legte es zurück in die kleine Tasche und diese blieb auf der Kommode direkt neben der verzierten Eingangstür zurück, während ich mich aus dem plötzlich viel zu engen Kleid schälte und in gemütlichere Kleidung wechselte. Ich brauchte Abstand zu allem, was mich an diesen katastrophalen Abend band. Auch zu meinen Gedanken, die im Vergleich leider nicht ganz so einfach abzuschalten und wegzuschieben waren. Normalerweise würde ich behaupten, mich in Sachen Selbstreflexion ganz gut anzustellen, aber vorerst fehlte mir die Energie, um über den zerstörerischen Streit mit Isaac nachzudenken. Ich wollte vorerst nicht herausfinden, in welchen Punkten ich die Beziehung schlimmstenfalls dauerhaft beschädigt hatte. Mein schlechtes Gewissen schlug mir jedenfalls stark aufs Gemüt und die Sehnsucht nach einem harmonischen Umfeld tat ihr Übriges, um mich äußerst unbehaglich in der eigenen Haut zu fühlen. Ich fühlte mich nicht nur allein, derzeit ließ sich mein Zustand mit keinem anderen Begriff besser beschreiben – ich hatte mich bewusst abgekoppelt und litt trotzdem darunter, welch Ironie an sich – sondern auch meinen jahrelang herangezüchteten Minderwertigkeitskomplexen ausgeliefert. Diese toxischen Selbstzweifel hatten ausreichend Zeit bekommen, um tiefe Furchen in meine Substanz zu schlagen, weshalb meine Gegenwehr manchmal auf taube Ohren traf. Ich musste aus dem Teufelskreis ausbrechen, aber für den Moment fehlten mir die passenden Werkzeuge und vor allem ausreichend Energie dazu. Also bemühte ich mich um Ablenkung bei der abendlichen Waschroutine, beim Versuch ein paar Kapitel in meinem Buch zu schaffen, aber nachdem ich eine Seite dreimal lesen musste und dennoch den Inhalt nicht erfasst hatte, schlug ich den Wälzer wieder zu und arbeitete mich stattdessen durch die Auswahl diverser Streaming-Dienste. Wenig überraschend explodierten die Weihnachtsfilme, allesamt Komödien oder irgendwelche Romanzen. Mir war weder nach lachen noch nach der Veranschaulichung meiner in Scherben liegenden Beziehung. Wahrscheinlich fühlte ich mich im Anschluss nur noch elender. Es lief also darauf hinaus, dass ich ins Bett kletterte, mich unter wärmenden Decken verkroch und kein Auge zu tat. Die Erschöpfung führte mich irgendwann nach Mitternacht in einen unruhigen Schlaf und hielt mich nicht ausreichend lang gefangen, um den Anflug von Kopfschmerzen und brennender Augen beim Erwachen zu verhindern. Unbewusst tastete ich auf die kalte, unbenutzte Bettseite und holte damit all die unschönen Erinnerungen schlagartig wieder aus ihrem schlummernden Schweigen. Erschreckend, wie falsch es sich anfühlte, den Tag nicht neben Isaac zu starten. Dieses Gefühl, das etwas Essentielles fehlte, ging weit über eine normale Gewohnheit hinaus und animierte mich dazu, all die unterschiedlichen Ereignisse des Vorabends erneut zu durchleben. Ich kämpfte mich verbissen durch die drei ausschlaggebenden Gespräche: zwischen Isaac und Jago, zwischen meine Mutter und mir und anschließend zwischen Isaac und mir. Ich fühlte mich im Nachhinein teils schuldig für die nach wie vor bestehende Unsicherheit seitens Isaac und gestand mir meinen Mangel an Initiative ein. Einsicht bildete immerhin ein gutes Fundament für jeden weiteren Schritt, wobei ich mir noch unschlüssig war, worin der Bestand. Ich besaß keinen Plan und derzeit fehlte mir die emotionale Handlungsfähigkeit, um der Ratlosigkeit zu entfliehen. Dafür setzte sich an anderer Stelle ein Puzzle von allein zusammen. Zumindest was meine Mutter betraf. Einmal hatte sie eine unverzeihliche Schwelle überschritten, weshalb ich nicht einschätzen konnte, inwiefern sich ihre Bereitschaft zur Gewalt weiterentwickeln würde. Es stand außer Frage, dass wir in gar nicht so ferner Zukunft erneut aneinandergeraten werden. Womit hatte ich also zu rechnen? Um eine Wiederholung definitiv aus der Wahl an Möglichkeiten zu streichen, musste ich die Sache selbst in die Hand nehmen… und aufhören, ständig auf das Beste in meinen Mitmenschen zu hoffen, zweite Chancen ungerechtfertigt zu verteilen. Manche verdienten einen weiteren Anlauf, manche nicht. Klang in meiner Vorstellung ziemlich einfach, aber die Umsetzung stellte mich immer wieder vor Probleme. Zudem wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Als es verhältnismäßig zurückhaltend an meiner Tür klopfte, vegetierte ich noch immer im Bett herum, aber entschied mich, die Isolation zu beenden. Man mochte mir eine gewisse Eitelkeit unterstellen, doch dafür konnte mir mein mitgenommenes Aussehen mit den zerknautschten in alle Richtung zeigenden Locken kaum egaler sein. Misstrauisch zog ich die Tür einen Spalt auf und wurde sogleich ein Stück nach hinten geschoben, als ausgerechnet Lysander sich ungeduldig in den Raum schob – dicht gefolgt von Theodore, der mich mit einer Mischung aus Bedauern und Frustration bedachte. Es ließ sich nicht einschätzen, welche der Emotionen sich konkret an mich richtete, daher half ich der ungewöhnlichen Situation ein wenig nach: „Was wollt ihr hier?“ Wenig einladend stand ich mit vor der Brust verschränkten Armen im Wohnbereich, während meine Brüder sich im restlichen Raum verteilen. Mein ältester Bruder verriet mir, dass Theo ihm von der Auseinandersetzung mit unsere Mutter berichtet hatte. Er verlangte nach keiner Rechtfertigung meinerseits, sondern wollte die Eskalation scheinbar aus erster Hand beschrieben bekommen. Wir redeten lang darüber, umschifften dabei wohlwissend den Auslöser des Unglücks und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich meinen Brüdern wieder etwas verbundener. Sie ergriffen beide Partei für mich, suchten die Schuld nicht bei mir. Meine Erleichterung ließ sich trotz des verbesserungswürdigen Verhältnisses zu meinen Geschwistern und der noch unausgesprochenen Erb-Geschichte kaum mit Worten beschreiben. Zwar änderte dieses Zugeständnis nichts an dem ewig anhaltenden Konkurrenzdenken zwischen uns, aber die Gewissheit, dass wir nach wie vor eine kleine Einheit darstellten, beruhigte mein überlastetes Nervenkostüm fürs Erste. Dass sich Isaac ebenfalls noch mit der Bitte, ihm ein paar seiner Sachen in das am Rande der Stadt liegende Häuschen zu bringen, verbuchte ich als zusätzliche positive Entwicklung dieses Vormittags, weshalb ich mich nach einem zurückgezogenen Mittagsessen in meinen Räumlichkeiten zusammenpackte und zu dem Anwesen fuhr. Das flaue Gefühl im Magen zwang mich, ein paar Minuten in dem beheizten Auto sitzen zu bleiben und das Haus anzustarren, als würde es einer sagenumwobenen, lokalen Gruselgeschichte entspringen. Dabei wartete nur mein Freund auf mich. Nichts Tragisches oder vor dem ich mich fürchten sollte. Trotzdem suggerierte mir meine Nervosität etwas anderes: wartete die nächste Erschütterung unserer Beziehung hinter dem noch fassadenlosen Mauerwerk? Wenn ich hier wie ein Feigling sitzen bliebe, fand ich es definitiv nie heraus, weshalb ich mir einen metaphorischen Schups gab, die Reisetasche auf dem Beifahrersitz schnappte und ausstieg. Mein Blick fiel nur kurz auf Isaacs Luxusschlitten, der mit einer feinen Schneeschicht bedeckt wurde, die über Nacht gefallen war, bevor ich durch den Schnee-Erde-Matsch hinüber zum Haus stapfte. Glücklicherweise hatte ich mich für meine gefütterten Gummistiefel entschieden, die meine Zehen trocken und warm hielten, bis ich die Eingangstür erreichte und den Schlüssel mit einem Klicken im Schloss drehte. Im Inneren empfing mich eine behagliche Wärme, während ich die Stiefel von meinen Füßen striff und in dicken Kuschelsocken ein paar Schritte durch das Wohnzimmer machte, wo ich auch die Reisetasche mit Isaacs Sachen und seinem verpackten Weihnachtsgeschenk auf der anhand der zerknautschten Decke offensichtlich benutzten Couch abstellte. Isaac hatte mir bereits beim Betreten des Hauses seinen Aufenthaltsort verraten, sodass ich letztendlich die Stufen in den ersten Stock erklomm, wo ich ihn schlussendlich in einer völlig unerwarteten Situation auffand. Zartlila schimmernden Augenringe erzählten von einer schlaflosen Nacht, die Haare standen ihm etwas zu Berge – nicht unattraktiv – und trotzdem überraschte mich am meisten der Pinsel in seiner Hand; und die stechend weißen Farbkleckse auf seinem zerknitterten, schwarzen Hemd. Ein sehr ungewöhnlicher Anblick, aber nicht ablenkend genug, um die mit weiter Wandfarbe geschriebene Auflistung zu ignorieren. Stumm ließ ich die geballte Negativität auf mich wirken, vergrub die Hände in den Taschen meiner offenstehenden Winterjacke, die ich vorhin nicht ausgezogen hatte. Mir fehlten im ersten Moment die Worte, daher schüttelte ich nur stumm den Kopf. Hoffentlich erwartete Isaac nicht ernsthaft eine Ergänzung meinerseits. Ich setzte mich im Schneidersitz neben ihn, wir starrten gemeinsam die Wand an und irgendwann ließen sich die ausstehenden Entschuldigungen aussprechen. Wir unterhielten uns eine Stunde über Schiefgelaufenes, versuchten Missverständnisse aufzuarbeiten und Gefühltes ohne gegenseitige Anschuldigungen zu erklären. Ein vorsichtiger Tanz über eine sehr frische, sehr dünne Eisschicht. Wir verabschiedeten uns mit der Einigung, noch ein paar Tage getrennt zu verbringen und so gut mir der Abstand tat, freute ich mich bereits darauf, als Isaac endlich wieder im Palast aufschlug. Obwohl seine Rückkehr mit gewissen Stolpersteinen in Verbindung stand, verbesserte sich unser Verhältnis langsam. Meine Eltern begegneten ihm mit milder Ignoranz, während meine Brüder sich an etwas Offenheit versuchten, nachdem sich Isaac offiziell für die unbedachte Kundmachung entschuldigt hatte. Wir rauften uns so weit zusammen, dass Silvester sogar als schöne gemeinsame Erfahrung verbucht werden dufte – trotz Jagos Anwesenheit.
Wochen verstrichen und eine vorsichtige Annäherung entwickelte sich auf der Basis von weiteren klärenden Gesprächen. Isaac arbeitete sichtbar an seinem Verhalten, was mich wiederum motivierte, ebenfalls Resultate zu zeigen – oder zumindest meine Bemühungen offensichtlicher nach außen zu tragen. Großteils. Isaac nahm sich zum Abreagieren seinen Freiraum und ich begrüßte diese neue Bewältigungsstrategie, da die anschließenden Diskussionen weitaus glimpflicher als alle davor abliefen. Meinerseits achtete ich dafür vermehrt auf meinen Umgang mit dem Gestaltwandler in Angesicht meiner Verwandtschaft beziehungsweise deren Verhalten ihm gegenüber. Mehrmals erinnerte ich gewisse auf die Tradition verbissene Mitglieder des Clans auf ein friedvolles Miteinander, das Toleranz und Akzeptanz voraussetzte. Bei einem sehr uneinsichtigen Großvater einer meiner Cousinen war mir sogar in einem unüberlegten Moment herausgerutscht, dass er sich gefälligst eine neue Bleibe suchen sollte, wenn ihm die Anwesenheit eines Werwolfs in den heiligen Hallen seiner Heimat derart sauer aufstieß. Es sollte gesagt sein, dass ich an dem Tag keine Sympathiepunkte sammelte. Aber klare Statements halfen, die Abneigung und Herablassung wenigstens hinter unseren Rücken auszuleben – meistens. Ein paar Zärtlichkeiten nebenbei trugen ebenfalls sehr dazu bei, die Bruchstücke wieder zu kitten. Wer bereits einmal eine zerbrochene Vase zu reparieren versucht hatte, wusste, dass man die einzelnen Scherben mit viel Aufwand lange zusammendrücken und halten musste, ehe man sich der nächsten Bruchstelle widmen durfte. Mit anderen Worten: wir brauchten Zeit, um die offenen Wunden zu versorgen und sie zu Narben verblassen zu lassen. Und eigentlich stellten wir uns gar nicht so schlecht damit an. Wir hatten für Samstagnachmittag ein bisschen Zeit zu zweit eingeplant, davor stand jedoch noch das Mittagessen mit meinen Geschwistern an. Meine Eltern ließen sich bei der Mahlzeit nicht blicken und Lysander entschuldigte sich zwei Stunden davor aufgrund eines Notfalls, den er aber nicht weiter ausführte. Also saßen nur Theo, Isaac und ich an dem großen Tisch in dem hellen, mit Stillleben dekorierten Esszimmer. Wir verbrachten die Nahrungsaufnahme überwiegend schweigend, als mein Bruder die Stille mit einer Neuigkeit unterbrach, die mich ohne großartiger Gefühlsregung aufsehenließ. „Ich habe keine Kontakt mehr zu Jago“, erklärte ich wahrheitsgetreu und ging damit auch nicht näher auf die lautlose Unterstellung ein. Mein Bruder brauchte nicht zu erfahren, dass ich das namhafte Unternehmen, das das Projekt ausgeschrieben hatte, höchstpersönlich angeschrieben und beinahe mit der kriminellen Energie eines Erpressers auf Jagos Einreichung aufmerksam gemacht hatte. Vielleicht nutze ich es doch hier und da aus, einen sehr einflussreichen Nachnamen zu tragen – wenn ich die Bürde der gesellschaftlichen Elite schon (er-)trug, dann verlangte ich ebenso die Vorteile davon. Theodore würde an keine relevanten Hinweise gelangen, da nur ich von dieser kleinen Abmachung hinter verschlossenen Türen wusste. Vorerst durfte die Angelegenheit darauf beruhen. Mein schlechtes Gewissen darüber, Isaac ebenso im Dunklen tappen zu lassen, hielt sich in Grenzen. Früher oder später erfuhr er es ohnehin. Es passierte früher. Nämlich in dem SUV meiner Familie auf dem Weg in die nahen Berge, um mit den Schlitten ein paar Pisten hinunterzusausen. „Jago ist ein maßgebliches Problem für dich und sabotiert in weiterer Folge unsere Beziehung. Ich habe mich darum gekümmert, ihm einen Neustart zu ermöglichen.“ Das selbstzufriedene Lächeln schlich sich unbemerkt auf meine Lippen, das berechnende Funkeln in meinen Augen geschah dahingegen absichtlich. „Auf meine Art“, fügte ich schlussendlich doch noch hinzu. In all der Zeit, die ich mit Nachdenken und Reflektieren verbracht hatte, war mir zudem aufgefallen, dass Jago in einer maximal ungemütlichen Situation festhing: er durfte dabei zusehen, wie seine ausgespannte Freundin glücklich und zufrieden mit einem anderen Mann weiterlebte und kam selber aufgrund dem noch ausbaufähigen Karrierestart nicht aus der Gegend raus, um ebenfalls sein Glück woanders zu suchen. Ich hatte lediglich das Nötige veranlasst, um ihm diesen Neuanfang zu ermöglichen… und die Beziehung dadurch von der einflussreichsten, externen Belastung befreit. „Hätten wir da nicht abbiegen müssen?“, wechselte ich ganz abrupt das Thema und deutete auf die Abbiegemöglichkeit, die in der Sekunde ungenutzt an uns vorbeizog. Das Schildchen mit dem Lift und einem Schlitten würde zumindest vermuten lassen, dass wir ab jetzt einen Umweg nahmen.
Ich sprach es nach wie vor nicht gerne laut aus, aber ja: Jago war ein Problem und es ließ sich heute noch nicht vorhersagen, wie lange er eines für mich bleiben würde. Wie lange ich dafür brauchte, um an mir zu arbeiten und mich selbst ausreichend zu verstehen, damit ich dieser ätzenden Eifersucht einen hoffentlich endgültigen Riegel vorschieben konnte. Bis dahin musste auch das Vertrauen zwischen Riccarda und mir fundamental neu aufgebaut werden. Dieses Mal auf eine Weise, die auch wirklich Bestand haben konnte. Tieferes Vertrauen, das nicht durch einen tuschelnden Ex-Freund oder familiäre Einflüsse zu erschüttern war. Das kleine Engelchen machte mit der unerwarteten Offenbarung des heutigen Tages einen nicht ganz irrelevanten Schritt in die richtige Richtung. Für einen Moment zog ich die Augenbrauen überrascht nach oben, während ich gleichzeitig nur einen kurzen Blick auf Riccardas Gesicht werfen konnte – doch sie sah zurecht zufrieden mit dem Resultat ihres Strippenziehens aus. In diesem Fall konnte ich sogar den indirekten Seitenhieb leicht übergehen, denn der Fakt, dass ich Jagos Präsenz nicht mehr ertragen müssen würde, wog tausend Mal schwerer. Die endgültige Bestätigung seitens Riccarda sorgte dafür, dass von jetzt auf gleich spürbar Gewicht von meinen erschöpften Schultern rutschte. “Das hab’ ich wirklich nicht kommen sehen.”, stellte ich kopfschüttelnd fest, behielt dabei wieder die Straße im Blick. Ich konnte jedoch unmöglich verhindern, dass ein Lächeln an meinen Mundwinkeln zupfte. Die Erleichterung war deutlich spürbar. “Aber es war vermutlich besser, dass du mir das nicht vorher gesagt hast.”, sah ich ein und tippte dabei mit dem Daumen auf dem Lenkrad herum. Ich hätte ja doch nur wieder einen Weg gefunden, Riccardas Vorhaben auf die eine oder andere Art zu sabotieren. Nicht mit direktem Einfluss, aber mit unpassenden Kommentaren oder Ähnlichem. Es war kein Geheimnis, dass ich nicht gerne Entscheidungskraft abgab, doch das würde ich genauso lernen müssen – wenn Riccarda mir mit Beispielen wie diesem zeigte, dass ich nicht immer alles in die eigene Hand nehmen musste oder sollte, war das sicher hilfreich dabei. “Wann startet dieses Projekt?”, fragte ich, den Blick weiter auf die Straße geheftet. Die Information war mir deswegen wichtig, weil ich mit einem Datum im Kopf dieses Thema vielleicht schneller und unkomplizierter zu den Akten legen konnte. Natürlich wollte ich auch grundsätzlich, dass dieser Idiot am besten schon vorgestern nicht mehr in unserer Heimat wohnte, aber er würde sich von mir sicherlich nicht verabschieden – was auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Info zu haben wäre also schon gut. Als Riccarda irritiert dem Schild hinterher sah, wurde das ehrliche Lächeln auf meinen Lippen zu einem schmalen Grinsen. Müsste sie es nicht schon besser wissen? “Dachtest du, wir gehen mir den Touris und den schreienden Kindern Schlittenfahren? Das ist unnötig anstrengend für meine Ohren.”, säuselte ich. Ja, die neue Erkenntnis über Jagos hoffentlich baldige Abreise war sofort ein wahrer Segen für meine Laune. Wenig überraschend. “Ich kenn’ die Gegend in- und auswendig. Bis vor ein paar Jahren war ich oft tagelang hier draußen unterwegs. Während meiner… jugendlichen Rebellion, um es sehr galant auszudrücken.” Was das anging konnte ich mich inzwischen selbst aufs Korn nehmen. Meine turbulente Vergangenheit war in der ganzen Stadt kein Geheimnis, mich ausgerechnet daran selbst aufzuhängen wäre bescheuert. Es änderte sich ohnehin nichts mehr daran. Ich zögerte, weiterzusprechen und bremste in der Zwischenzeit den Wagen aufgrund einer herannahenden Kreuzung. Die schmale Straße, auf die ich zur rechten Seite einbog, schlängelte sich zwischen einigen Bäumen den flachen Hang hinauf. Sie war zwar frei geräumt, aber es lag trotzdem eine ungute Schicht aus matschigem Schnee darauf, weshalb ich das Tempo insgesamt drosselte. Wer abseits der regulären Wege pendelte, musste mit sowas im Winter wohl immer rechnen. “Ich glaube, dass das ein Mitgrund dafür ist, warum ich mir in bestimmten Situationen schwerer damit tue, den Wolf in mir mundtot zu machen, als andere Werwölfe. Früher war ich oft tagelang im Pelz unterwegs, ohne mich zurückzuverwandeln. Sylvan ist der Meinung, dass das dazu geführt hat, dass ich überhaupt erst zu so einem überdimensionalen Exemplar geworden bin, aber auch, dass der Wolf zwangsläufig deswegen so dominant ist… was nicht heißt, dass ich das nicht in den Griff kriegen kann.” Den letzten Satz fügte ich nur an, um sicherzugehen, dass alles zuvor nicht wie eine stumpfe Rechtfertigung klang, denn das sollte es gar nicht sein. Es war mir nur ein Anliegen, Riccarda diese rückwirkenden Erkenntnisse mitzuteilen und so auch unterschwellig mit einfließen zu lassen, dass ich den Kontakt mit meinem leiblichen Vater aufrechterhielt. Nicht unbedingt konstant und logischerweise nur übers Telefon, aber wir hörten immer mal wieder etwas voneinander oder so hatte ich zum ersten Mal ein einigermaßen taugliches Vorbild in Sachen Alpha-Werwolf. Ich musste und wollte lernen, meine zwei Seiten strikter voneinander zu trennen. Das war nicht der Ursprung meiner Wut, aber auch damit würde es helfen. Es wäre einfacher, mich in hitzigen Situationen nur noch um meine Gefühle kümmern zu müssen und nicht auch noch darum, den Wolf auf Biegen und Brechen in seinen Ketten zu halten. Beides gleichzeitig schaffte ich bis dato offensichtlich nicht, ohne mich der Situation zu entziehen und das war nicht, wie ich es auf Dauer handhaben wollte. Das war Symptombekämpfung und keine Lösung.
Meine Freude nahm insgeheim diebische Ausmaßen an, weswegen sich das zufriedene Lächeln vorerst nicht verabschiedete. Isaacs positive Überraschung trug einen Großteil dazu bei, mich in meinem Handeln nachträglich bestätigt zu fühlen. Jagos Einfluss auf unser Miteinander hatte einen tiefen Krater geschlagen und um diese Kluft mit neuem Vertrauen aufzufüllen bräuchte es aktive Beteiligung an der Problembekämpfung. Außerdem tat ich es nicht nur um meine Beziehung zu retten oder Isaac eine Last von den Schultern zu nehmen… ich tat es auch für meinen Ex-Freund, an dem mir auf rein platonischer Ebene immer noch etwas lag. Das ließe sich vorerst nicht vermeiden und bis der Gestaltwandler Jagos Rolle in meinem Leben ohne Eifersuchtsdrama hinnahm, verlangte es eben nach Abstand und keinerlei gestreuten Unsicherheiten. Hoffentlich klärte sich damit auch die Frage, ob ich den jungen Architekten weiterhin als Konstante in meinem Leben wollte. Die Antwort lautete wider jeglichen Erwartens nein, nachdem ich mich lange mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte, bevor ich die nötigen Hebel für Jagos Zukunft in Bewegung setzte. „Ich wusste nicht, ob es sicher klappen würde und wollte deshalb keine falsche Hoffnung schüren“, erklärte ich mein Schweigen, wobei sich Isaac mit Sicherheit mindestens einen weiteren Grund selbst zusammenreimen konnte. Sein Zwang zur Eigeninitiative besaß durchaus angenehme Seiten, konnte nur leider ebenso übers Ziel hinausschießen; immer diese zwei Seiten einer Medaille. „In zirka zwei Wochen. Aber er wird Anfang nächster Woche bereits für drei Tage nach Vancouver fliegen, um sich dort ein paar Wohnungen anzusehen, den Vertrag zu unterzeichnen und das restliche Team kennenzulernen.“ Wahrscheinlich hatte er es deshalb Theodore deshalb erzählt, um seine kurzfristige Reise nach Kanada zu erklären und dabei musste er wohl oder übel mit der gesamten Story auspacken. Da wir seit der Trennung nie über Zukunftspläne gesprochen hatten, verdankte ich meine Information Theo selbst, der weiterhin engen Kontakt zu Jago pflegte und mir deshalb einmal von diesem ausgeschriebenen Wettbewerb für Architektur-Absolventen erzählt hatte. Ohne diesem Einschreiben wäre mein Plan ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen. Ich hätte weder Jago noch das Planungsbüro ohne passender Grundlage zu einer Zusammenarbeit zwingen können. Manchmal spielte mir das Schicksal doch noch in die Hände, was wiederum sehr ermutigend auf meine Gesamteinstellung wirkte. Das Thema erlag kurzfristig meinem Irrglauben, uns verfahren zu haben. Isaacs Grinsen belehrte mich eines Besseren, weshalb ich die Erwähnung meiner teils immer noch durchscheinenden Naivität überging und stattdessen das in letzter Zeit so selten gewordene Anheben der Mundwinkel genoss. Da fiel es mir leicht zuzugeben, dass ich schlichtweg vom Naheliegendsten ausgegangen war und erwiderte leichthin: „Ich dachte, ich werde mich auf einer gesicherten Piste aufhalten, bei der ich nicht Gefahr laufe, gegen den nächstbesten Baumstamm zu brettern“. Schön, wenn er die Gegend wie seine rechte Westentasche kannte, ich verirrte mich mit meinem Glück samt Schlitten irgendwo in der verschneiten Winterlandschaft der Appalachen. Wenigstens durfte ich mich darauf verlassen, dass Isaacs feine Wolfsnase meine Witterung aufnehmen und mich aufspüren würde, sollte ich der Unwahrscheinlichkeit zum Trotz verloren gehen. Außerdem gefiel mir die Aussicht abseits Publikums. Das Debakel auf dem Weihnachtsball meiner Eltern hatte ohnehin für schreiende Schlagzeilen in diversen Klatschblättern gesorgt. In den meisten Zeitschriften ging es um unsere kriselnde Beziehung – aus der Traum schrieb eine Journalistin so aussagelos über das Foto eines in der Nacht davonfahrenden Sportwagens, der zweifellos auf Isaac Garcia zurückzuführen war – und nur selten wurde die innerfamiliäre Erbstreitigkeit aufgegriffen. Scheinbar schienen diese Informationen beinahe vollständig von meiner Mutter abgefangen worden zu sein und da es nur in einem Magazin angesprochen wurde, galt der Hype mehr der angeblichen Trennung kurz vor Weihnachten des angesagtesten jungen Ehepaars der Stadt. Eine selbstzerstörerische Art in mir drängte mich dazu, jeden einzelnen Artikel zu lesen und ein Klatschblatt hatte sogar den kreativen Einfall, die Scheidungsanwälte der Stadt in einer dünnen Spalte am Rande der Seite anzuführen. Sehr hilfreich, besten Dank. Isaacs sogenannte rebellische Jugendphase hatte früher ebenfalls sehr viel Platz in den lokalen Medien gefunden, ebenso sein regelmäßiges Verschwinden für mehrere Tage. Kaum jemand hatte herausgefunden, wohin es den umtriebigen Kerl während seiner Abwesenheit zog. Hier bekam ich die Antwort, obwohl ich mir inzwischen eine der Wahrheit sehr nahen Vermutung zusammengebastelt hatte. Einen aufgewühlten Wolf zog es in die Natur und hier wuchs Wald flächendeckend über viele Hektar Land. Anhand der Regelmäßigkeit seines Abtauchens ging ich davon aus, dass Isaac tatsächlich jeden Winkel erkundet hatte und damit die besten Plätze für etwaige Aktivitäten kannte. Dass diese Wanderungen im Wolfspelz auch einen grundlegenden Nachteil mit sich gebracht hatten, eröffnete mir der Dunkelhaarige nur zögerlich. „Damit ich es richtig verstehe… du hast einen relevanten Teil deiner emotionalen Entwicklung als Wolf durchlebt?“ Als Person ohne wechselnder Gestalt schwer nachvollziehbar, weshalb ich dankbar für den Schritt war, den die beiden Männer aufeinander zugegangen waren. Isaac brauchte Hilfe, die ihm sonst niemand geben konnte. Ich lernte selbst noch sehr regelmäßig Neues über Werwölfe und sein Ziehvater kam als Option gar nicht erst in Frage. Es freute mich zu hören, dass er seinen Stolz in gewisser Hinsicht überwunden und sich Sylvan anvertraut hatte. Dabei kam eine gänzlich unerwartete Frage in mir auf: „Du hast mir vor einer gefühlten Ewigkeit gesagt, dass der Wolf durch mein Engel-sein getriggert wird. Trifft das eigentlich noch immer zu?“ Zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit hatte er mich einen stinkenden Flattermann genannt und öfter in meine Richtung geknurrt als gut für das Aufbauen von Vertrauen war. Mein Naturell hatte ihm definitiv aufs Wolfs-Gemüt geschlagen, weil das bei natürlichen Feinden wohl so im Genom programmiert sein sollte, aber mich würde interessieren, ob er sich an diese abstoßenden Elemente schlichtweg gewöhnt hatte oder nach wie vor dagegen ankämpfen musste. Bei Engel fand die eingetrichterte Ablehnung gegenüber den Werwölfen im Kopf statt, hatte einen psychischen Ursprung – unser pelziges Pendant erlebte die Gegensätzlichkeit auch physisch. Zwar konnte ich nichts an meiner Spezies ändern, aber das Wissen darüber würde eventuell auch auf weite Sicht helfen, den Ursprung gewisser Reaktionen besser einschätzen zu können.
Ich nickte leicht vor mich hin, als Riccarda sagte, aufgrund der mäßig abschätzbaren Erfolgschancen lieber geschwiegen zu haben. „Verstehe ich.“ Es hätte nur den nächsten Fall in die Enttäuschung für mich bereit gehalten und wir wussten wohl leider beide, dass das aktuell bestenfalls vermieden werden sollte. Ich mochte nicht mehr so wankelmütig sein, wie ich es direkt nach unserem heftigen Streit war, aber man musste den wiederhergestellten Frieden nicht provozieren, wenn es vermeidbar war. Gegen die Antwort zu Jagos Abreisezeitpunkt sträubte sie sich nicht und so hatte ich diesbezüglich schnell Gewissheit… und ein unweigerlich kurzzeitig noch breiter werdendes Grinsen, das ich jedoch schnell wieder zu schmälern versuchte. Es war so greifbar, dass ich erstmal nur schwer glauben konnte, dass er in wenigen Tagen erstmals rüberflog und schon sehr bald danach ganz weg sein würde. Seit ich überwiegend in Vollzeit arbeitete verging die Zeit eindeutig schneller als früher in meinen Faulenzerjahren. Ich brauchte quasi nur ein paar Mal zu blinzeln und dann war ich ihn los. „Klingt noch ein bisschen zu gut, um wahr zu sein… ist aber Musik in meinen Ohren.“, umschrieb ich, dass ich noch ein paar Minuten brauchen würde, um die Information vollständig sacken zu lassen. Mich darüber zu freuen, war aber glücklicherweise jetzt schon möglich und konnte uns das Schlittenfahren nur versüßen. Was wiederum bedeutete, dass ich mir die Frage danach, woher Riccarda das alles so genau wusste, in diesem Moment lieber sparen sollte. Denn das hatte Potenzial meine aufwärts strebende Laune schlagartig auszubremsen und ich hatte mich und meine Eifersucht in diesem Moment ausreichend unter Kontrolle, um das Nachhaken sein zu lassen. Er würde weg sein. Die Details musste ich nicht wissen, um mich wie ein Schneekönig zu freuen. Apropos - die matschige Schneedecke auf der Straße wurde etwas dicker, als wir weiter nach oben fuhren. Also noch ein bisschen langsamer. „Keine Sorge, auf der Rückseite des Hangs stehen weniger Bäume als auf dieser Seite und es ist etwas weniger steil. Die nicht platt gefahrene Schneedecke bremst uns bestimmt auch ein bisschen.“, versicherte ich meinem blonden Engelchen grinsend und kam nicht umhin, meine Hand nach ihrem Oberschenkel auszustrecken und sie zu tätscheln. Ich ließ die Hand dort auch noch liegen, weil ich sie zum Autofahren nicht akut benötigte. Als Riccarda meine Offenbarung nochmal in ihren Worten wiederholte, sah ich einen Moment lang nachdenklich durch die Frontscheibe, bis ich langsam nickte. „So könnte man es auch formulieren, ja.“, bestätigte ich etwas langgezogen. In ihren Worten klang es irgendwie nochmal eine ganze Stufe verheerender. „Nüchtern betrachtet war es meine Bewältigung für fast alles… anders hab ich den ganzen Mist, der Zuhause los war, nicht ausgehalten. Es ist also leider nur logisch, dass ich deswegen jetzt immer sofort mit den Krallen scharre, wenn ich mich auf irgendeiner Ebene provoziert fühle.“, murmelte ich und seufzte leise. Trotz der ernsten Thematik weigerte ich mich dagegen, mir die gute Laune verderben zu lassen. Die Retourkutsche meines damaligen Verhaltens und die Unfähigkeit meines Ziehvaters, es zu unterbinden, musste ich jetzt eben einfach ausbaden und ausbügeln. Es führte kein Weg daran vorbei, aber in diesem Augenblick war ich entspannt und konnte mich dementsprechend getrost wann anders darum kümmern. Außerdem war ich heute mit dem richtigen Fuß aufgestanden, in Vorfreude auf das, was gleich bevorstand. Die unerwartete Frage, die daraufhin noch von meiner Beifahrerin kam, ließ sie mich zuerst etwas irritiert ansehen. Dann musste ich leise auflachen und sah dabei schon wieder geradeaus, kurz bevor ich ihr antwortete: „Würdest du mich noch in irgendeiner Art und Weise nur aufgrund deiner Genetik reizen, säßen wir jetzt nicht hier, Engelchen.“, lächelte ich wissend und streichelte mit dem Daumen über den Stoff an ihrem Schenkel. “Ich merke immer noch unterschwellig, ob sich ein Engel in meiner Nähe aufhält… und wenn ich es darauf anlege, kann ich euch nach wie vor auch auf Distanz sehr leicht wahrnehmen. Aber die bloße Anwesenheit deiner Art lässt mich mittlerweile völlig kalt. Es reizt mich nicht mehr.“, holte ich noch etwas weiter aus, als eine kleine, eingeschneite Hütte in Sicht kam, vor der sich an der Straße eine Einbuchtung zum Parken befand. Es stand ein einziges anderes Auto da, das ich spontan dem Besitzer des kleinen Hauses zuschrieb, aus dessen kleinem Schornstein Rauch aufstieg. „Deshalb bin ich inzwischen auch überzeugt davon, dass sich das im Grunde jeder Wolf abtrainieren kann, mit steter, mild verlaufender Konfrontation. Dieses… innere Vibrieren ist zwar noch da, wenn mir einer deiner Verwandten mächtig auf die Nerven geht, aber bei dir spüre ich gar nichts davon - als wäre es nie da gewesen.“ Ich zuckte leicht mit den Schultern. Mein Instinkt schien das klar filtern zu können. Was sehr ironisch war in Anbetracht der Tatsache, dass Riccarda mich von allen Engeln im Schloss ihrer Familie wahrscheinlich am leichtesten töten könnte. Ich nahm die zweite Hand zurück ans Lenkrad, steuerte den Wagen achtsam von der Straße auf den als breiter Seitenstreifen getarnten Parkplatz und hielt an. Daraufhin warf ich noch einen kurzen Seitenblick an Riccarda vorbei aus dem Beifahrerfenster, um sicherzugehen, dass auch genug Platz zur Planke war, dass sie einigermaßen bequem aussteigen konnte. So praktisch ein Fahrzeug wie dieses auf solchen Strecken auch sein mochte, war der beanspruchte Platz in Parksituationen dafür umso unpraktischer. Die hübsche junge Frau glänzte glücklicherweise ohnehin mit schlanker Figur.