Die Unsicherheit nagte weiterhin an mir. Ich konnte nicht einschätzen, ob ich Isaac neben meiner inzwischen offensichtlich gewordenen Verzweiflung oder besser gesagt Hilflosigkeit noch zusätzlich weitere Einblicke in das Chaos in meinem Inneren geben sollte oder ob es klüger wäre, all die Informationen sacken zu lassen und möglichst ruhig abzuwarten. Dieses Nichts-tun fiel mir unglaublich schwer, gerade wegen des Drucks auf meiner Brust, unbedingt etwas gegen dieses Problem zwischen uns unternehmen zu müssen. Angespannt verknotete ich meine Finger zu einem kleinen Ball auf meinen Oberschenkeln, aber immerhin schwieg ich und räumte dem Gestaltwandler Zeit zum Denken ein. Mir gefiel der zusammengesunkene, das Gesicht in den Händen verborgene Zustand seitens Isaac überhaupt nicht, passte es nur schwer in mein bereits bestehendes Bild des unumstößlichen, selbstbewussten Mannes. Aber jede Person besaß in irgendeiner Form einen weichen Kern und in diesem Augenblick drängten sich sehr viele für ihn atypische Emotionen an die Oberfläche. Wenn man diese Art der eigenen Gefühle nicht gewohnt war, dann konnte solch ein Sturm schnell zur Überforderung führen – Isaac wirkte auf mich nach wie vor ziemlich überfordert. Wenn er seine Fassung wieder erlangt hätte, würde er wahrscheinlich nicht zum Boden hinunter sprechen. Oder? Ich musste mich jedenfalls etwas anstrengen, um die gemurmelten Worte richtig zu verstehen. Mein Ohr nahm die Aussage wahr, aber mein Hirn bekam bei der Verarbeitung Probleme: dass meine nicht-wölfische Art keine Rolle spielte, widersprach meiner Annahme grundlegend. Ich versuchte es als eine positive Nachricht zu verbuchen, bekam jedoch schnell einen Dämpfer verpasst, als ein klassisches – zwar nicht ausgesprochenes – Aber nach der ausbleibenden Absicht zu Vorwürfen kam. Beinahe ärgerlich, dass ich automatisch vom Schlimmsten ausging, denn die Realität stellte sich als fast harmlos heraus. Trotzdem stolperte mein kleines Herz für einen Takt, kam aus dem Rhythmus. Da Isaac aber weiterhin stur an die gegenüberliegende Wand starrte, fühlte ich mich mehr wie eine Zuhörerin dieses Eingeständnisses und weniger als sein Gegenüber, dem er diese Schwäche zugab. Es machte keinen Unterschied für mich. Und es brauchte auch nicht meine ausgesprochene Bestätigung. Trotzdem wollte ich ihm einen kleinen Zuspruch geben, immerhin machte er entwicklungstechnisch einen enormen Schritt nach vorne, wenn er dieses Ungleichgewicht laut aussprechen konnte. Zaghaft löste ich meine verschlungenen Finger auseinander und schob eine Hand unter seinem Oberarm durch und legte sie auf seinem Unterarm ab. Ich signalisierte meinen Beistand, dass mich diese Erkenntnis nicht abschreckte. Eigentlich ermutigte mich jeder weitere Satz aus seinem Mund. Mein Verhalten ihm gegenüber schien glücklicherweise nicht das ausschlaggebende Problem zu sein. Die Erleichterung sprengte regelrecht den klammerartigen Griff um meine Eingeweide und verscheuchte die giftigen Tentakeln der Unsicherheit. Minderwertigkeitskomplexe standen nicht auf meiner Liste an akuten charakterlichen Schwächen, aber nicht genug zu sein… das Gefühl war mir schmerzlich vertraut und mein Bewältigungsmechanismus ließ noch viel Spielraum für Verbesserungen frei. Den Mund aufmachen half anscheinend wahre Wunder. Mit der Bestätigung dieser einfachen Tatsache hätte sich dieser gesamte Tumult abkürzen lassen, ohne am Rande einer richtigen Krise zu schrammen. Darauf, dass Ehrlichkeit zwischen uns mittlerweile ausdrücklich erwünscht war, musste ich mich ebenfalls erst neu einstellen. Aber es gefiel mir. Nicht der überfordernde, verheerende Teil, sondern die Aussprache danach. Isaac übernahm hierbei den deutlich schwierigeren Part, da im Laufe seines Lebens die Kommunikation leider ziemlich auf der Strecke blieb und er die neuen, friedfertigeren Verhaltensmuster nach wie vor erst verinnerlichen musste. Natürlich fiel mir diese Unterhaltung aufgrund meines ‘Vorteils‘ nicht viel einfacher, es fühlte sich noch immer sehr bescheiden an und meine Mitte schien sich äußerst gut vor den überwiegend negativen Gefühlen in mir zu verstecken. Davon lauerten derzeit viele in mir. Deshalb rutschte mir die folgende Aussage auch etwas zu energisch heraus: „Hör auf, dich als schlecht oder durch und durch böse darzustellen. Ich sehe da längst etwas anderes, wenn ich dich ansehe.“ Gegen Ende schaffte ich es immerhin, meiner Stimme einen weit sanfteren Ton zu verpassen. Aber diese elende Stereotype funktionierte inzwischen wie ein rotes Tuch für mich, weil ich selbst zu lange daran festgehalten und mich manipulieren lassen hatte. Aber auch das schien nicht der entscheidende Knackpunkt des Problems zu sein, denn Isaac schlug für mich eher unerwartete eine andere Richtung ein: das Geheimnis unserer Beziehung innerhalb des Engelpalasts beziehungsweise vor meiner gesamten Familie. Langsam fiel der Groschen bei mir und ein verlegenes Oh echote durch meinen Kopf. Das kurze Hoch der Erleichterung fiel wie ein instabiles Kartenhaus beim ersten Anzeichen von Wind – Scham, ein schlechtes Gewissen – in sich zusammen. Die Fortsetzung seiner zögerlichen Beschreibung besiegelte meine Vermutung. Trotzdem fiel mir unweigerlich auf, wie oft Isaac von Unsicherheit sprach, aber mir vor wenigen Minuten erst seine felsenfeste Entscheidung vor den Kopf geknallt hatte und dadurch Druck auf mich aufgebaut, in Zugzwang gebracht hatte. Also was galt? Oder befanden wir uns in derselben Ausgangslage – etwas wollen und trotzdem hemmten uns unsere Gefühle. Es schien mir logisch, weshalb ich mich von dieser Überlegung ab- und dem unangenehmeren Teil zuwandte. Meine ach so perfekte Fassade entsprang der langjährigen Inakzeptanz meiner Eltern gegenüber individuellen Persönlichkeitsausbrüchen. Wie erklärte ich meine durchaus fragwürdige Maske einer Person, die seit der ersten Sekunde für sich eingestanden war und nie den Pfad des Nachgebens gewählt hatte? In der Hinsicht zeigten wir wieder die Unterschiede des unnachgiebigen Wolfs und harmoniebedürftigen Engels. Ein Seufzen verließ meine Kehle, denn, ja, mir leuchtete diese Verwirrung aufgrund meines unterschiedlichen Verhaltens ein und bei mir würde es ebenfalls Zweifel säen. Eine Rechtfertigung meinerseits reichte da leider nicht, es brauchte eine Lösung oder zumindest einen Kompromiss. „Ich versuche in der Zukunft mehr darauf zu achten, diese harten Persönlichkeitswechsel abzumildern. Es schadet sicher nicht, meine Eltern langsam darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Plan der Familienvereinigung bestens funktioniert hat. Ich befürchte nur, dass du mich hin und wieder daran erinnern musst… diese Scharade hat sehr früh begonnen und steckt mir deshalb tief in den Knochen.“ Die Angewohnheit des Versteckens würde ich sicherlich nicht binnen weniger Wochen ablegen können. Oder ich sagte es ihm wirklich öfter in unmissverständlicher Absicht. Ich fühlte mich dumm, wie verdutzt ich dabei aus der Wäsche schauen musste und an der Innenseite meiner Wange herumkaute, ehe ich meine Zustimmung durch ein Nicken zeigte. Diese Kombination aus Isaacs Bitte und meinem eigenen Vorsatz fühlte sich erfolgsversprechend an. Zudem schien es mir ein kleiner Preis zu sein, wenn dafür eine gemeinsame Zukunft aus uns wartete. Mein Herz fühlte sich zwar noch immer ein bisschen schwer an und in meinem Kopf manifestierten sich die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen, trotzdem zupfte ein hoffnungsvolles Lächeln meine Mundwinkel leicht nach oben, als ich seinen Blick suchte. „Ich bin unglaublich stolz auf dich, dass du so offen mit mir gesprochen hast. Du verdienst alles, was du möchtest… und wenn das in dem Fall ich bin, dann darf ich mich darüber glücklich schätzen.“ Ich nahm das leichte Zucken in seinem Gesicht wahr, aber hey, das dünne Eis unter uns, auf das wir uns mit jedem ausgesprochenen Wort weiter raus begaben, knackste auch ohrenbetäubend laut. „Und dann erinnere ich dich auch zusätzlich daran, dass es in einer Beziehung nicht ums Verdienen geht“, fügte ich leise hinzu, bevor ich mich zu ihm lehnte und Isaac einen kurzen, zarten Kuss entlockte.
Ich blickte für einen kurzen Moment auf die zierlichen Finger auf meinem Arm runter, als ich sie spürte. Das kleine bisschen Körperkontakt, sei es auch noch so wenig, half mir ungemein. Nicht nur dabei, weiterzusprechen, sondern auch damit, die Angst vor Zurückweisung in meinem Inneren nicht noch größer werden zu lassen. Dabei war es im Grunde so dämlich – schließlich wusste ich am allerbesten, wie mühsam ich mir das Vertrauen und die Zuneigung des Engels erarbeitet hatte. Andererseits war meine Vergangenheit in Sachen Selbstwertgefühl eine reine Tragödie, sobald es um mehr als nur mein Aussehen ging. Gut möglich, dass ich diesbezüglich genau deshalb so ein großes Ego entwickelt hatte. Ich hätte mich wohl mehr um meine Seele, als um mein Aussehen kümmern solle, dann würde Riccarda jetzt nicht die volle Breitseite dieser entwickelten Komplexe abkriegen. Überraschenderweise wusste der Engel jedoch ganz gut damit umzugehen. Sie klang mehr als überzeugt, in mir nichts Böses zu sehen. Obwohl ich ihr damals nach dem Leben getrachtet hatte. Ob ihr so richtig bewusst war, dass sie hier mit einem Mann saß, der schon etliche Menschenleben meist nur aus Launen heraus ausgelöscht hatte und noch weitere Morde begehen würde? In Zukunft vielleicht aus anderen Beweggründen, aber es stand nie die Frage im Raum, ob es wieder passieren würde, sondern nur wann. Wahrscheinlich lag in meinem Blick noch immer etwas Ungläubigkeit, als ich sie nach diesen Worten ansah. “Was siehst du dann?”, stellte ich ihr murmelnd eine Frage, die vielleicht nicht so leicht für sie zu beantworten war, und musterte ihre Gesichtszüge. Ich wollte es aber wissen… und vielleicht wäre es auch einfach schön zu hören, dass ich tatsächlich was richtig machen konnte. Entgegen aller Erwartungen meiner eigenen Ziehfamilie, die mir oft genug gesagt hatte, wie nichtsnutzig ich war. Wie ich das Seufzen deuten sollte, das Riccarda nach meiner Erklärung hinsichtlich ihres perfekten Schauspiels ausstieß, wusste ich zuerst nicht recht. Deshalb war ich froh darüber, dass sie zeitnah Licht ins Dunkel brachte. Ich hörte dem Engel aufmerksam zu und war verblüfft darüber, wie leicht wir plötzlich einen gemeinsamen Nenner finden konnten, nur weil wir miteinander redeten. Es war nicht mal eine Bitte darum nötig, Riccarda machte mir in dieser Sache ganz von selbst ein Zugeständnis und mir purzelte der nächste Brocken vom Herzen, der bis eben noch darauf rumgedrückt hatte. Neben Erleichterung mischte sich auch leise Freude ein. Ich wollte mich schlichtweg nicht mit ihr verstecken müssen und war froh, dass das in Zukunft – nach langsamem Herantasten an ihre Familie – nicht mehr nötig sein würde. Das minimierte nicht nur meine Unsicherheit, sondern nahm auch einen weiteren Stressfaktor aus meinem Leben. “Kann ich gut nachvollziehen. Ich merk’s jeden Tag, wenn ich durchs Schloss gehe, auch bei deinen Verwandten… und das mit dem Erinnern krieg’ ich hin, jetzt wo ich weiß, dass das in Ordnung geht.”, zeigte ich mich verständnisvoll gegenüber ihrem förmlich eingebrannten Verhaltensmuster. Sie war ja bei Weitem nicht der einzige Engel, der mit einer felsenfest sitzenden Maske durch die Gänge wandelte oder am Esstisch saß. Das war so ein Engelsding, das ich niemals voll verstehen und dem ich mich auch nicht anpassen würde. Ich würde nie von meinem Engel erwarten, diese tief verankerte Gewohnheit von jetzt auf gleich abzulegen und mir reichte diese ausgesprochene Aussicht auf Besserung für den Moment vollkommen aus. Die Nervosität quoll nochmal mit flatterndem Herzen in mir auf, als Riccarda gerade heraus sagte, dass sie stolz auf mich war. Noch so eine Sache, die ich absolut nicht gewohnt war. Wann hatte mir das zuletzt mal Jemand gesagt? Gefühlt hatte ich mein ganzes Leben lang alles falsch gemacht oder zumindest nicht zur Zufriedenheit anderer erledigt. So viel neues Terrain in nur ein paar Minuten war überfordernd – gefühlt rutschte ich nur mehr mit den Füßen über das Eis unter mir im krampfhaften Versuch, nicht auf diese Nase zu fallen. Es fühlte sich gut an, zusammen eine Lösung finden zu können und war gleichzeitig zu viel auf einmal, um es sofort verdauen zu können. Riccarda ging es wohl ähnlich und trotzdem besiegelte sie all ihre Worte letzten Endes damit, auch physisch noch einen Schritt auf mich zuzugehen. Meine Lider senkten sich von selbst bei der Erwiderung des Kusses und ich streckte die Hand nach ihren Fingern an meinem Arm aus, streichelte sanft über ihre Haut. Als der Kuss vorüber war und mein Blick wieder in ihrem lag, wagte auch ich ein kurzes, noch etwas vorsichtiges Lächeln. Das war viel Wind um nichts gewesen, oder? Ich richtete mich ein wenig auf, aber nur gerade genug, um ohne Verrenken des Nackens meinen Kopf an ihre Schulter lehnen zu können. Im Sitzen war der Größenunterschied zwischen uns beiden nicht so hinderlich, als wenn wir uns gegenüber standen. “Das wiederum wirst du mir auch mehr als einmal sagen müssen, schätze ich.”, waren die ersten paar Worte, die ich mit gedämpfter Stimme nahe ihres Ohres aussprach. Ich hatte mir ihr Vertrauen mühsam zurückverdient und musste mir erst abgewöhnen, das auch auf die offensichtlich noch instabile Beziehung zu beziehen, die wir jetzt zueinander hatten. Oder ganz generell auf Riccarda, weil ich noch immer manchmal das Gefühl hatte, dass sie ein bisschen mehr war und mir mehr gab, als mir zustand. “Tut mir leid, dass ich’s immer noch nicht hinkriege, solche Gespräche wie ein normaler Mensch zu starten.”, nuschelte ich und hob den Kopf nochmal an, um einen kleinen Kuss als zusätzliche Entschuldigung an die Wange des Engels zu hauchen. Ganz genau wusste ich, dass ich auch daran noch zu arbeiten hatte. Ich konnte nicht immer erst laut und wütend werden, um so auf Nummer Sicher zu gehen, dass auch wirklich kein Angriff des Engels auf verbaler Ebene kommen würde, bevor ich mich dann dazu durchringen konnte, mich zu öffnen und einen vernünftigen Schritt auf sie zuzugehen. Eigentlich war Riccarda der allerletzte Mensch auf diesem Planeten, dem ich mein Temperament auf diese Art antun wollte. Es lag noch ein langer Weg vor mir, vor uns beiden. Dabei war jedoch nicht außer Acht zu lassen, wie weit wir es bis hierhin schon geschafft hatten. Die Grundsteine waren längst gelegt, wir mussten nur noch stabil darauf aufbauen, statt uns gegenseitig die Steine wieder von der Mauer zu kicken, vor der wir gemeinsam saßen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Nun hing es überwiegend von Isaac ab, ob er meine metaphorisch hingehaltene Hand auch annahm oder sich lieber weiterhin in der selbst-erschaffenen Finsternis wegduckte. Die Sekunden tröpfelten gemächlich dahin, während sich eine neuartige Spannung in meinem Inneren ausdehnte: Isaac öffnete sich so weit, wie noch nie zuvor in meiner Anwesenheit, und ich wartete irgendwie nur auf den Augenblick, an dem es zu viel wurde und er zurück in seine Deckung floh. Kleine Schritte führten ebenso zum Ziel. Der Dunkelhaarige entschloss sich jedoch weiterhin für Hechtsprünge, nun, wo die Karten bereits am Tisch lagen, sollte die Runde wohl auch zu Ende geführt werden. Auf seine ungewöhnliche Frage hin, nahm ich mir einen Moment, um seinen Blick ruhig zu erwidern, seine Gesichtszüge anschließend zu mustern und zurück zu seinen schönen Augen zukehren. Unter alltäglicheren Umständen würde ich ihm wahrscheinlich eine Antwort verweigern und amüsiert unterstellen, dass sein Ego nicht unnötig gepusht werden müsse, er seine Qualitäten ohnehin ausreichend kenne. Aber mit all dieser Unsicherheit wirkte die Frage lediglich wie ein subtil verpackter Hilferuf, dem nicht nachzukommen ich nicht übers Herz brachte. Trotzdem erwies sich die Formulierung einer guten Antwort als schwer; schwerer als gedacht, weil ich ihm keine lose Aneinanderreihung seiner positiven Eigenschaften präsentieren wollte. „Ich sehe eine Stärke in dir, die nichts mit deinen Alpha-Wolf-Genen zu tun hat. Du kannst dein Verhalten reflektieren und deine Fehler eingestehen. Nicht immer direkt und offen, aber du arbeitest daran. Trotz der katastrophalen Erziehungsmethode bist du behütend und fürsorglich. Damit meine ich nicht den beispielhaften Zug, vor den du dich werfen willst, sondern all die aufmerksamen Kleinigkeiten zwischendurch.“ Manchmal verbarg sich Isaacs menschliche Seite zu gern hinter dem dominanten Wolf, dem niemand etwas anhaben konnte, weil er in der Hack-Ordnung nun mal am obersten Ende stand. „Ja, du bist auch der große, schwarze Wolf aus den Gruselgeschichten für kleine Engel, aber das ist nur eine Seite an dir. Es ist bestimmt einfacher, eigene und gesellschaftliche moralische Prinzipien fallen zu lassen und das Dogma des bösen Albtraums zu verkörpern, aber ich denke, dass du gerne mehr bist, nur manchmal nicht genau weißt, wie. Und das macht den Unterschied für mich aus.“ Das Streben nach einem besseren Selbst ist mitunter eine der nobelsten Tugenden, die Isaac während unseres gemeinsamen Werdegangs mehrfach bewiesen hatte und nach wie vor zeigte. Wir alle steckten doch irgendwie in Gewohnheiten fest. Eine meiner schlechtesten schien ein grundlegender Bestandteil in Isaacs Fundament der Unsicherheit zu sein. Ich wäre ohne essenziellen Grund nie in allzu naher Zukunft auf die Idee gekommen, meine eisern antrainierte Fassade primär vor meinen Eltern fallen zu lassen, dazu vergönnte ich ihnen den Einblick in mein Leben abseits des silbernen Präsentiertellers zu wenig. Aber Isaac erschien mir als Grund genug, dieses abweisende Verhalten Stück für Stück abzutragen – irgendwie würde ich schon mit der Rolle der personifizierten Enttäuschung umzugehen lernen, obwohl mir allein bei der Vorstellung bereits schlecht wurde. Ein Problem für einen späteren Augenblick. Eines nach dem anderen. „Du hättest es mir auch schon früher sagen können…“, erwiderte ich auf seine Bemerkung eher lasch, weil uns die Thematik der mangelhaften Kommunikation eigentlich sehr penetrant durch die gesamte Beziehung hindurch verfolgte. Dinge, die für mich als selbstverständlich galten, schienen für Isaac völliges Neuland darzustellen und trotz all der Annäherung hatten wir diesbezüglich noch immer nicht alle Grenzen ausgelotet beziehungsweise Licht ins Dunkle gebracht. Noch so ein Punkt auf der langen Liste an anzugehender Erledigungen, die keinen Aufschub duldeten. Immerhin schienen wir für den Moment Einigkeit gefunden zu haben, was mich zu einem tiefen Durchatmen brachte. Das Gewicht von Isaacs Kopf auf meiner Schulter fühlte sich angenehm erdend an und sein Atem strich mit einer tröstlichen Wärme über meine Haut. Wenn es mit den benötigten Erinnerungen auf beiden Seiten so weiter ging, müsste ich uns Post-it beschaffen und mit den bunten Klebezettel die Wände neu tapezieren. Der Gedanke geisterte als kleine Witzelei durch meinen Kopf, blieb aber darin eingeschlossen. Stattdessen nickte ich nur sanft. Das Erinnern würde hoffentlich mit der Zunahme an offenen Gesprächen weniger notwendig werden. Vielleicht schadete ein regelmäßiges Update, wo wir uns derzeit emotional befanden, nicht, sofern es tatsächlich ohne spannungsaufgeladenen Einstieg funktionierte. Isaacs Bedürfnis danach, zuerst zuzuschnappen und dann erst zu reden, kam nicht von irgendwo, war aber gleichzeitig ein ernstzunehmendes Hindernis, sollte er dieses Schutzmechanismus nicht los werden… ebenso wie ich meine irrationale Kritikunfähigkeit endlich von der damit in meinem Kopf implizierten Unterstellung, unzureichend zu sein, abkoppeln musste. „Es wäre ein Anfang, mich nicht wegen einer Sache anzuschreien, so gerechtfertigt es auch sein mag, und dann aber auf eine andere hinauszuwollen“, schlug ich mit einem zaghaften Lächeln vor. Ich wusste nicht, ob wir dieses Thema vorerst abgehakt hatten oder ob da noch eine nahe Fortsetzung versteckt lauerte, aber für den Moment zog ich eine friedfertige Option der weiter anhaltenden Auseinandersetzung vor. Wie lang dauerte unsere Schonzeit bis zum angekündigten Abendessen diesmal? Isaacs Verwandtschaft besaß die unangenehme Angewohnheit zu Kopfschmerzen meinerseits zu führen. Unbewusst rieb ich mir auf der Seite, die nicht von Isaac in Beschlag genommen wurde, die Schläfe. Momentan bereute ich den voreiligen Beschluss, auf jeden Fall zu der Mahlzeit im familiären Kreis zu erscheinen, egal wie entscheidend unser Auftritt für die Festigung der demonstrierten Stellungen war. Ich erkannte den Sinn dahinter und würde mich nicht drücken, aber für ein paar Sekunden genehmigte ich mir mein Wehklagen.
Wie schon erwartet, ging dem Engel nicht einfach so eine lockere Antwort über die Lippen. Das war okay, ich tat mir hier auch schwer und die unterschwellige Nervosität schwappte noch immer durch mein Inneres. Ich schätzte schon allein ihren Versuch, mir eine Antwort darauf zu geben und sie enttäuschte mich damit auch keineswegs. Jetzt wo Riccarda es so unmissverständlich aussprach, fragte ich mich nur einmal mehr, woher diese Fürsorglichkeit überhaupt kam. Meine Mutter hatte dabei mutmaßlich eine wichtige Rolle. So grob der Umgang im Wolfsschloss sonst auch gewesen sein mochte, hatte sie sich davon nie beirren lassen. Bei keinem ihrer drei Söhne, aber mit mir war sie besonders nachsichtig gewesen, aus welchem Grund auch immer. Die Erinnerung an sie und all die guten Worte, die der hübsche Engel für mein schwieriges Selbst übrig hatte, ließen mich lächeln. “Weißt du, wann mir das erste Mal wirklich aufgefallen ist, dass ich das überhaupt kann? Als du verkatert im Bett gelegen hast und dachtest, ich würde dir die Decke wegziehen, statt sie aufzuschütteln.”, lächelte ich, unterschwellig vielleicht ein bisschen süffisant. Es war allzu süß gewesen – bei mir war nach der Nacht im Strandclub während unseres Urlaubs wie immer keine Spur von einem Kater gewesen, aber Riccarda hatte am Morgen grummelig mit ihrer verfangenen Decke gekämpft, als ich aufgestanden war. Die Erinnerung an ihren verwunderten Gesichtsausdruck über meine Hilfe mit dem sturen Stoff würde immer zuckersüß bleiben. “Ich schätze, das hab ich irgendwie von meiner Mom.”, hängte ich ein bisschen leiser noch die für mich einzige Erklärung dieses Phänomens an, brach dabei aber etwas nachdenklicher den Blickkontakt zum Engel ab. Mir fiel kein anderer plausibler Grund dafür ein, dass ich trotz meinem starken Hang zu Gewalt irgendwie auch ein paar ziemlich weiche Adern in mir trug – eine davon war der ständige Gedanke um das Wohlergehen des einzigen Menschen, der mir viel bedeutete. Auch war Riccarda ein Grund dafür, warum ich mehr sein wollte. Nicht der einzige, aber sie spielte eine tragende Rolle dabei. Sie hatte mir im Laufe unserer zuerst unfreiwilligen Ehe vieles aufgezeigt, das ich andernfalls sicherlich noch jahrelang weiter in mir vergraben hätte. “Es klingt dumm, aber… bevor ich mich dazu durchgerungen habe, dir eine Chance zu geben und dich kennenzulernen, ist mir nicht mal aufgefallen, wie leer ich mich eigentlich fühle.”, gestand ich leise. Dabei war es so offensichtlich. Viel Alkohol, ständig irgendwelche Partys, wechselnde, eher flüchtige Freundschaften, nirgends eine wirklich feste Bindung, immer weiter gehende Abkopplung von der Familie – man konnte sich nur leer fühlen, wenn man sich selbst so viel verbaute und verweigerte, niemals nach dem Mehr suchte. “Ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du nach allem war passiert ist überhaupt noch versucht hast, hinter den großkotzigen Idioten zu sehen, den ich so überaus perfekt verkörpert habe.”, zum Ende hin lockerte ich meine Aussage mit trockenem Humor auf, aber ich meinte es trotzdem genau so, wie ich es gesagt hatte. Das war wohl die einzige Maske gewesen, die ich jemals makellos beherrscht hatte. Jetzt brauchte ich sie nicht mehr und wollte sie auch nie wieder aufsetzen. Es überraschte mich selbst, wie sehr ich gerade im Flow war und mehr und mehr darüber erzählte, was ich sonst fast immer vehement in meinem Kopf und in meinem Herzen einsperrte. Doch das alles schien dazu beizutragen, den Knoten in der Brust, der über die letzten Monate heimlich still und leise immer größer geworden war, allmählich gänzlich aufzulösen. Das half nicht nur mir selbst, sondern auch dem blonden Engel. Denn ja – offensichtlich hätte ich ihr früher sagen können, dass es mir nicht mehr in den Kram passte, wenn wir uns dauerhaft vor den anderen Engeln versteckten. Hatte ich aber nicht, weil..? “Ich weiß, ich weiß… aber ich war mir nicht sicher damit, ob dir das trotzdem noch zu früh ist… was offensichtlich vollkommen unbegründet und streng genommen auch kein guter Grund war.”, seufzte ich leise an ihr Ohr und machte einen Moment die Augen zu. Auch wenn wir das Reden jetzt, wo der Stein erstmal ins Rollen gekommen war, schon relativ gut hinbekamen, tat ich mir unfassbar schwer damit, solche Dinge aus dem Nichts heraus anzusprechen. Leider war ich mir auch sicher damit, dass das noch eine Weile so bleiben würde und ich mich noch mehr als einmal bewusst gegen diesen Schutzmechanismus entscheiden müsste. Denn ich wusste ganz genau, dass es nicht in Ordnung war, erst pechschwarzen Gewitterhimmel über Riccarda heraufzubeschwören, bevor ich zur seicht dahin nieselnden Regenwolke wurde. Das war ungesund, für beide von uns. Ich lenkte deshalb mit einem gut erkennbaren Nicken auch in diese Sache ein. “Du bist eigentlich grundsätzlich die allerletzte Person, die ich anschreien möchte. Es…”, setzte ich an, warf den Satz dann aber doch noch einmal in meinem Hirn um. “Ich tu mir nur immer noch schwer damit, mit all diesen… starken Gefühlen richtig umzugehen. Aber das krieg ich auch noch hin, versprochen.” Ich suchte den Blick in Riccardas dunkle Augen, um das Versprechen damit zu besiegeln. Ich tätigte solche nicht leichtfertig, weil es zu viele Menschen gab, die ihren gesprochenen Eid brachen. Wenn ich sowas sagte, war es mir jedoch ernst und wichtig. Riccarda sollte nicht unter meiner Wut leiden müssen, die meist ohnehin nur Tarnung für etwas ganz anderes war. “Vielleicht sollten wir trotzdem versuchen, solche Dinge, die uns eben beide in großem Ausmaß betreffen, zusammen zu entscheiden… oder überhaupt erstmal vorher darüber zu reden. Das ist weder meine, noch deine Stärke, aber so eine Situation wie vorhin möchte ich ungerne nochmal erleben.” Ich hob den ihr zugewandten Arm an, um die Hand an ihren schlanken Hals zu legen und mit dem Daumen ihre Kieferkontur entlang zu streichen. Meiner eigenen Schuld in dieser Sache war ich mir bewusst – ich hätte dem Engel klar und deutlich sagen können, in welchem Desaster das enden konnte und dass ich das nicht wollte. Stattdessen hatte ich ihre Entscheidung mit der lauen Bemerkung, dass sie das nicht tun musste, einfach hingenommen und damit das ganze Übel akzeptiert. Quasi schon wieder lieber geschwiegen, als den Mund richtig aufzumachen. Ein dicker roter Faden, der tödlich für uns beide hätte enden können. Ich wollte unsere gemeinsame Zukunft nicht mehr riskieren, ich wollte sie schützen. "Kopfschmerzen?", hakte ich murmelnd nach, ohne den Blick von Riccardas Gesicht abzuwenden. Mir war die unauffällige Geste nicht entgangen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Isaac schien mit meiner Ausführung glücklich zu sein, was mich wiederum mit einer stummen Zufriedenheit erfüllte. Diese Zugeständnisse waren mir sogar recht leicht über die Lippen geflossen, nachdem ich endlich einen Anfang gefunden hatte, und die Aussage ließe sich problemlos weiter ausbauen, aber alles zu seiner gegebenen Zeit. Gerade genoss ich den friedlichen Moment, hörte Isaacs laut gedachter Überlegung dennoch aufmerksam zu. Nein, ich wusste nicht, wann er zu dieser grundlegenden Erkenntnis über sich selbst gekommen war, und mir schien es nicht, dass Isaac eine Antwort meinerseits auf die rhetorische Frage erwartete. „Ein hinterhältiger Deckendiebstahl kam mir damals weitaus realistischer vor“, setzte ich unbekümmert zu meiner Verteidigung an – wer hätte den mit diesem absurd unerträglichen Kater ahnen können, dass ausgerechnet Isaac wohlwollend Decken ausschüttelte? Der zuvor noch mitschwingende Humor verschwand aus meiner Stimme, als ich seinen Unterarm leicht streichelte und ihm mehr oder weniger zustimmte: „Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass du das von deiner Mutter hast.“ Sein gedachter Vater glich in vielerlei Hinsicht einem tobenden Monster, von dem ich keine guten Eigenschaften erwarten würde, und Sylvans wahres Wesen blieb mir vorerst noch verborgen, weshalb die Chancen sehr gut lagen, dass Isaacs weiche Seiten dem weiblichen Input zu verdanken waren. Glücklicherweise. Wer wusste schon, welchen immensen Schaden sein Ziehvater verbrochen hätte, wäre die schützende, ausgleichende Hand seiner Mutter nicht wie eine Decke über Isaac gelegen. „Es klingt nicht unbedingt dumm, wenn einem die eigenen Gewohnheiten normal vorkommen und man erst einen kleinen Stoß von außen braucht, um diese eventuell zu hinterfragen.“ Manchmal fuhr man sich so in einer Ansicht fest, dass man allein keinen Ausweg mehr fand und in Isaacs Fall hatte nur jemand gefehlt, der ihm einen Spiegel vor Augen hielt, aber sich nicht wegduckte, sobald ein einschüchterndes Knurren von ihm kam. Den Rest hatte der junge Mann selbstständig ins Rollen gebracht. Da brauchte es keinen Dank. „Jeder hat eine zweite Chance verdient… und wenn ich noch dazu an den großkotzigen Kerl gebunden bin, dann bekommt er sogar noch eine dritte oder vierte zugesprochen“, stieg ich in seinen Humor ein, wenngleich ich eine weniger trockene Version verwendete. „Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, aber du hättest mich schlichtweg fragen können, wann ich denke, meine Eltern in unsere nicht-gefakte Beziehung einzuweihen. Da hättest du sogar all das Gefühlschaos ausklammern können, wenn dir danach gewesen wäre, obwohl es natürlich produktiver für uns war, dass diese Bombe endlich mal explodiert ist.“ Zwar hätte ich gut und gerne auf das bedrohliche Raubtierverhalten und die angesprochene Selbstmordtendenz verzichten können, aber irgendwie hatte alles seinen Sinn, auch wenn man ihn zuerst vielleicht nicht klar erkannte. „… aber du hast sonst niemanden, den du wirklich anschreien kannst, wenn es dir zu viel wird.“ Die Schlussfolgerung hing greifbar im Raum. „Beziehungen sind ein anhaltender Lernprozess. Da du bisher die Beziehungsschule erfolgreich geschwänzt hast und nur zu den spaßigen Sporteinheiten erschienen bist, erwarte ich nicht, dass du mit dem ganzen Zusatz, der über die körperliche Ebene hinausgeht, problemlos umgehen kannst. Ich wusste, worauf ich mich einlasse, und drehe dir daraus jetzt keinen Strick. Außerdem muss ich auch noch an genug eigenen Baustellen arbeiten.“ Trotzdem würde mir sein Versprechen helfen, den Silberstreif am Horizont nicht aus den Augen zu verlieren, sollte die nächste Gewitterfront auf uns zusteuern; und irgendwann käme die bestimmt angerollt. Jedoch stellte ich die Unumstößlichkeit seiner Versprechen längst nicht mehr in Frage, dazu hatte Isaac mir nie einen Grund geliefert, und das wiederum verlieh mir die Hoffnung, dass die nächste Auseinandersetzung wieder ein Stückweit erträglicher verlaufen würde. Konfrontationen ließen sich nie vollständig vermeiden, aber gewisse Probleme konnten präventiv vermieden werden, weshalb ich seiner Vermutung nur zustimmen konnte: „Ich weiß. Wir reden immer wieder von einem Wir, aber in spontanen Stresssituationen ist die Tendenz zum Einzelkämpfer trotzdem stärker.“ Dabei sprach ich vor allem für mich persönlich, denn die Eskalation nach dem Kaffeekränzchen war die höllische Ausgeburt einer besonders kopflosen Stresssituation gewesen. Ich hatte mich unter Druck gesetzt gefühlt, keine Zeit für rationale Überlegungen eingeräumt, mich beweisen wollen und nach Isaacs neutralen Äußerung zu der Idee dem Schicksal seinem Lauf überlassen – eine offensichtlich verheerende Kombination. Zu gern wollte ich mich in seine Berührung lehnen, die Zärtlichkeit annehmen, aber gleichzeitig hatte beim Ausüben des einseitigen Drucks auf meine Schläfe der Schmerz in meinem Schädel minimal nachgelassen und ich fürchtete, dass bei einer falschen Kopfbewegung das volle Ausmaß gleich wieder zurückkehren könnte. „Ein wenig.“ Und da wir bereits bei der Ehrlichkeit und dem offenen Dialog waren, fasste ich den Grund meiner Beschwerde möglichst prägnant zusammen: „Ich bin in weniger als 24 Stunden mehrfach besorgt um dich gewesen, wurde von Neuigkeiten erschlagen, die mir in Zukunft sicherlich noch Bauchschmerzen bereiten werden, war zum ersten Mal in meinem Leben mit so vielen Wölfen gleichzeitig konfrontiert, habe meine Fähigkeit nach langer Zeit mal wieder verwendet und damit einmal mehr meinen Beinahe-Tod provoziert inklusive dein Leben gefährdet. Und der Tag ist noch nicht einmal zu Ende.“ Dabei konnte es doch kaum noch schlimmer werden, richtig? In der Hoffnung, es nicht schon in Gedanken verschrien zu haben, hielt ich einfach die Klappe und ließ mich stattdessen plump nach hinten auf die federnde Matratze fallen. Mein Unterarm landete der Länge nach über meinen Augen, verharrte dort jedoch nicht lang, als mir eine beunruhigende Erkenntnis durch den Kopf schoss. Argwöhnisch sah ich unter meinem Arm hervor Isaac an: „Das heißt aber nicht, dass ich es bereue, hergekommen zu sein und wehe dir, du rufst mich das nächste Mal nicht an, solltest du meine Hilfe brauchen. Es ist nur gerade ein bisschen viel auf einmal“, versuchte ich die Bedeutung meiner Aufzählung abzuwiegeln. Bei all der ausgesprochenen Unsicherheit wollte ich keinesfalls riskieren, dass Isaac aufgrund meines momentan geklagten Leids jemals in Erwägung zog, mich nicht ins Boot zu holen, weil ich bei strapazierenden Angelegenheiten zu Kopfschmerzen neigte.
Ich musste schmunzeln. “Nachvollziehbar.”, stellte ich fest und zog dabei die Augenbrauen leicht nach oben. Die Deckensituation war schon wieder ungefähr fünf Monate her und in der Zwischenzeit hatte sich nochmal viel verändert. Die Zeit verging manchmal viel schneller, als es einem lieb war – wenn sie jedoch mit positiver Entwicklung unserer Beziehung zueinander und auch meiner eigenen Person einherging, konnte sie mir kaum schnell genug vorüber sein. Ich sehnte den Moment, in dem wir fast ausnahmslos gut miteinander harmonierten und nicht mehr ständig über irgendetwas stolperten, sehr herbei. Zu meiner Mutter sagte ich nichts weiter mehr, sondern sog stattdessen lieber das Streicheln an meinem Arm auf. Es mochte eine Kleinigkeit sein, aber diese unscheinbare Zuneigung machte mir schwierige Situationen und auch teils schmerzliche Erinnerungen leichter erträglich. Sie lenkten ein bisschen ab. Es mochte sein, dass ich damals vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen hatte und trotzdem würde es wohl noch lange Zeit dauern, bis ich mich von meinem jüngeren Selbst friedlich verabschieden konnte. Die Zeit war so dunkel, wie sie auch lehrreich für mich gewesen war. “Hast wahrscheinlich Recht.”, war meine einzige, viel Nichts aussagende Antwort darauf. Mein Stoß zurück in die Realität war mit einer Zwangshochzeit in jedem Fall sehr harsch ausgefallen. Dass ich aufgrund des Bundes ein paar mehr Chancen zugesprochen bekam, war für mich natürlich ausschließlich gut, weil ich nicht glaubte, nie wieder Fehler zu machen. Dafür war ich zu impulsiv. “Ich hoffe dennoch inständig, dass ich nicht mehr allzu viele davon brauche.”, erwiderte ich mit etwas zerknautschtem Gesichtsausdruck. Es war kein gutes Gefühl, Jemanden oft um Verzeihung bitten zu müssen und ständig einen falschen Schritt zu machen, egal aus welchen Gründen. Ich war zu alt, um nicht aus meinen Fehlern zu lernen. Eigentlich. “Hab ich offensichtlich nicht getan.”, stellte ich nüchtern fest, als der Engel meine Unfähigkeit, den Mund aufzumachen, mit einer weiteren Möglichkeit untermauerte. Natürlich hätte ich fragen können. Hatte ich aber nicht. Ein weiteres Pieken machte sich in meiner Brust bemerkbar, das wahrscheinlich nötig war, um an meinem verschlossenen Verhalten langfristig etwas zu ändern. Unangenehm war es trotzdem. Denn auch dass ich ziemlich alleine durch die Welt ging, weil ich Niemandem außer dem Engel mehr genug Vertrauen schenkte, um es anders zu machen, war eine Erkenntnis, die mir nicht selten durchs Bewusstsein wanderte. Ich atmete ein bisschen tiefer durch. “Mag schon sein… aber das ändert ja nichts daran, dass das grade eben kein gesundes Verhalten war.” Natürlich kam es auch unter gewöhnlichen Menschen vor, dass aus einer Diskussion ein Streit entstand und es mal laut wurde, aber das war trotzdem etwas anderes. Ich hatte eher einem Junkie auf Entzug geglichen, der von Null auf Hundert explodierte, statt es überhaupt erstmal mit einer friedlichen Herangehensweise zu versuchen. Diese Art von verbaler Brechstange musste ich besser früher als später durch einen weniger Zerstörung anrichtenden, zielführenden Schlüssel ersetzen. Ich musste den Engel schließlich nicht anschreien, um ihr mein Leid nahe zu bringen – das ging auch wesentlich ruhiger. Wenn ich unbedingt schreien musste, konnte ich das auch irgendwo allein im Wald tun, da störte es Niemanden. Der Engel schweifte noch weiter aus und nahm der Angelegenheit ein bisschen den ernsthaften Aspekt mit der Sport-Unterricht Metapher. Meine Mundwinkel zuckten. “Irgendwie muss ich die geschwänzten Stunden wohl ausgleichen.”, antwortete ich vermeintlich ernst, aber mein ganzer Gesichtsausdruck zeigte überdeutlich, wie sehr mein Männerhirn sich gerade an dem Sex-Part aufhängte und dass mich ihre Formulierung einfach amüsierte. Damit ließ sich mein schlechter Notendurchschnitt zuweilen sicher ein bisschen hochziehen. Eine entspannte Frau war eine glückliche Frau, oder? Unsere beidseitige Tendenz dazu, alleine in den Kampf zu ziehen, hatte sicher auch bei Riccarda triftige, über viele Jahre hinweg in Stein gemeißelte Gründe. Ich verstand das, weil auch mir diese Veränderung nicht leicht fiel – mir griff dabei lediglich der noch stärkere Beschützerinstinkt gelegentlich unter die Arme. “Sicherlich auch eine Macht der Gewohnheit… vielleicht müssen wir uns öfter bewusst machen, dass man zusammen eigentlich stärker ist.”, folgte ich meinen Gedanken mit leicht genuschelten Worten. Riccarda und ich, wir mussten uns gegenseitig nichts beweisen. Wir wussten beide, was im jeweils anderen schlummerte und es wäre wesentlich effektiver, sich in akuten Fällen mit einem riesen Maul voll scharfer Zähne und den sehr schmerzhaften Berührungen durch ach so unscheinbare Finger zusammen zu tun. Wenn wir uns nicht gerade bereitwillig in die Mitte eines ganzen Rudels stellten, könnte uns kaum Jemand etwas anhaben… vorausgesetzt wir bekamen das mit dem Teamwork erfolgreich hin. Der pochende Schädel des Engels sorgte bei ihrer Erklärung für einen weiteren Funken schlechten Gewissens, obwohl ich ihr mit der Reise hierher nie etwas Schlechtes gewollt hatte. Mein Blick folgte ihr, als sie sich aufs Bett fallen ließ und meine Hand fließend von ihrer Haut rutschte. Im ersten Moment wusste ich gar nicht, was ich dazu sagen sollte und so schwieg ich noch, als die schlanke Blondine unter ihrem Arm hindurch lugte. Ihre Bedenken zukünftiger Verschwiegenheit meinerseits sorgte dann dafür, dass ich es Riccarda gleich tat und mich mit einem leisen Seufzen auf die Matratze fallen ließ. “Klingt nach einem Scheißtag. Aber ich kann dich beruhigen…”, setzte ich an und verschränkte dabei die Arme hinterm Kopf, um anschließend an die Decke über uns zu sehen. “...ich bereue es trotzdem nicht, dich angerufen zu haben.” Der Tag war auch für mich sehr strapaziös verlaufen, aber rückblickend nahm ich aus meinem Hilferuf trotzdem viel Gutes mit. Mitunter die Erkenntnis, dass ich den Engel schon nach wenigen Tagen schon sehr vermisst hatte. “Außerdem war der Tag nicht nur schlecht. Die beinahe-Schneeballschlacht und die Sporteinheit waren eigentlich sogar sehr wohltuend… für meine Seele, natürlich.”
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Die Dinge hatten sich mittlerweile so weit zum Positiven verändert, dass es mir keinen Aufschwung mehr bereitete, Isaac auf seine Schwächen hinzuweisen, sondern ich mich stattdessen mit dezentem Unwohlsein herumschlug. Lediglich das Wissen, dass diese Form des Aufmerksam-Machens dabei helfen würde, es in Zukunft besser zu machen, motivierte mich zu der kritisierenden Aussage. Irgendwann wären solche Anmerkungen hoffentlich nicht mehr nötig, weil wir endlich einen gemeinsamen Nenner hinsichtlich der offenen Kommunikation gefunden hätten – bis dahin mussten wir beide nur trotz unangenehmer Nebeneffekte oft genug den Mund aufbekommen. Oberflächlich gesehen schafften wir es inzwischen sogar ziemlich vorbildlich, einen normalen Dialog zu führen, uns über den Alltag gegenseitig zu informieren und dergleichen, aber richtige Aussprachen brauchten leider immer noch einen ausdrücklichen Auslöser. Wenigstens funktionierte das Reden, sofern der Knopf einmal aufgesprungen war. „Das streite ich auch gar nicht ab. Ich will nur sagen, dass ich diesen Ausbruch irgendwie verstehen kann. Nachdem ich den Kontext dazu bekommen habe.“ Mit ein bisschen Verständnis oder Nachsicht für die andere Perspektive fanden sich Lösungen tendenziell leichter beziehungsweise ließen sich Kompromisse eher schließen, wie wir gerade selbst bewiesen. Die Situation zwischen uns fühlte sich längst nicht mehr so negativ geladen an; anderenfalls würde Isaac wohl nicht auf meinen Versuch eines auflockernden Scherzes einsteigen. Dafür bekam er ein schiefes Lächeln meinerseits geschenkt. Hauptsache er schaute nicht mehr ganz so gequält aus der Wäsche! Isaacs Punkt könnte ich so unterschreiben, wie er es eben gesagt hatte: wir vergasen manchmal zu schnell, wie effektiv wir als Einheit agieren könnten. Warum bekam ich das nicht in meinen Kopf hinein? Gewohnheit hin oder her. Ich verstand diese Blockade in mir noch immer nicht so richtig, weshalb mir das Beseitigen bis dato noch immer nicht gelungen war – diese Erkenntnis schien mir ein weiteres Post-it wert zu sein, das ich auf die imaginäre Pinwand heftete. „Ich war schon immer schlecht im Teamplay…“, gestand ich leise in den leeren Raum zwischen uns hinein, wobei ich damit gewiss kein Geheimnis ausplauderte. Alles war immer ein Wettkampf zwischen uns Geschwistern gewesen und gemeinsam hatten wir ein Ziel nie erreicht. Kurzfristige Allianzen, um Vorteile zu gewinnen, ja, aber auf der Zielgeraden stand sich doch jeder selbst am nächsten. Dabei mochte ich meine Brüder eigentlich ziemlich gern. Wahrscheinlich steckte nach wie vor zu viel von diesem Konkurrenzdenken in meinem Unterbewusstsein. Kein Wunder, dass ich bei all diesen zerstreuten Gedanken, unter Kopfschmerzen litt. Das Chaos schien momentan geradezu perfekt zu sein, obwohl wir gemeinsam für ein bisschen Ordnung sorgen konnten. Bei der Erwähnung des vermeintlich beschissenen Tages, schloss ich kurz resigniert die Augen. Es klang wirklich ziemlich mies… und Isaacs Versicherung half mir zumindest soweit kein schlechtes Gewissen aufgrund meiner erbarmungslosen Aussage zu bekommen. „Du hast recht“, murmelte ich, bevor ich mich etwas ungeschickt auf ihn draufrollte und meinen Kopf auf seine sich regelmäßig bewegende Brust ablegte. „Es ist schön, dich wieder in meiner Nähe zu haben“, ließ ich Isaac wissen und lauschte dabei seinem gleichmäßigen Herzschlag. „Natürlich für die Seele, was auch sonst?“, grinste ich in mich hinein. Die Frage blieb rhetorischer Natur und verlangte keine explizite Antwort seitens Isaacs. „Wobei ich anmerken möchte, dass wir bezüglich dieser Beinahe-Schneeballschlacht noch nicht quitt sind und meine Seele da noch Nachholbedarf erkennt“, kündigte ich groß an, erweckte aber einen gegenteiligen Eindruck: angeschmiegt an Isaacs warmen Oberkörper und mit halb geschlossenen Lidern sprühte nicht unbedingt die Abenteuerlust aus jeder meiner Poren.
Es war zumindest in diesem Zusammenhang noch immer ein bisschen schwer verständlich für mich, wie Riccarda immer wieder aufs Neue so viel Verständnis für mich und mein verkorkstes Verhalten aufbringen konnte. Sicher, dass ich stellenweise nicht ganz richtig in der Birne war, das hatte sie schon vorher gewusst – dennoch stimmte mich so viel Nachsicht beinahe ungläubig und dementsprechend sah ich sie für einen Moment auch an. “Sonst magst du nicht allzu viel von einem Engel haben, aber deine Geduld mit mir ist wirklich engelsgleich.”, stellte ich mit leicht angehobener Augenbraue fest. Dass die Engelsspezies, wie sie tatsächlich existierte, nicht gänzlich mit der hoch gepriesenen, perfektionierten Figur aus Glaubenssätzen übereinstimmte, war mir schon länger bewusst. Die zierliche Blondine, die hier neben mir auf dem Bett lag, widersprach diesem altertümlichen Bild aber noch deutlich mehr als viele ihrer Verwandten… was wiederum vielleicht auch nur an deren Masken lag, die sich gar nicht so leicht durchschauen ließen. Als Riccarda gestand, bisher mit Kooperationen nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein, dachte ich eingehender darüber nach, wie es bei mir selbst damit stand. Allein die Tatsache, dass der Wolf normalerweise im Rudel lebte und auch jagte, machte mich eigentlich schon zu einem guten Teamplayer. Allerdings wanderte ich nun schon eine ganze Weile ohne wölfische Gemeinschaft umher. “Ich kann das eigentlich schon… aber mit den Trust Issues kam irgendwann zwangsläufig der Alleingang auf allen Ebenen.”, folgte ich meinen Gedanken mit gemurmelten Worten. Das eine war mit dem anderen eng verwoben und nur nach meiner eigenen Nase zu gehen, war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Es würde nicht die erste Gewohnheit sein, die ich mir zu brechen vornahm. Andererseits war es vielleicht auch deswegen ein bisschen schwer für mich, der zierlichen Blondine vollständig zu vertrauen und mich auch auf richtiges Teamwork einzulassen, weil ich nicht einhundertprozentig über ihre Fähigkeit Bescheid wusste. “Wie… präzise war das vorhin eigentlich wirklich dosiert? Ich frage mich jetzt zwangsläufig, ob ich entweder eine niedrigere Schmerztoleranz als Sylvan habe, oder ob du mir immer die volle Breitseite verpasst hast.”, fragte ich Riccarda gerade heraus, weil ich glaubte, dass es dafür keinen passenderen Tag als heute mehr geben würde. Jetzt, wo das alles noch frisch war und wir beide die Situation noch genau vor Augen hatten. “Wir reden oft über mein Dasein als Wolf, aber eigentlich nie über dich.”, stellte ich weiterhin fest, noch bevor ich eine Antwort von dem Engel bekommen hatte. Im Zusammenhang würde sich ihr schon erschließen, dass ich damit speziell ihre den Engelsgenen zugehörige Fähigkeit meinte. Als Riccarda meine Nähe suchte, musste ich ganz automatisch schmunzeln. Es löste ein wohlig warmes Gefühl in mir aus, das den Knoten in meiner Brust zielstrebig weiter dezimierte. Außerdem sah sie automatisch immer ein bisschen süß aus, sobald sie den eleganten Adel ablegte. Meine Mundwinkel hoben sich noch weiter an und ich legte einen Arm um ihre schlanke Taille, kaum hatte sie sich angekuschelt. Wir hatten uns vermisst, diese Worte waren heute schon einmal gefallen. Das zu hören würde so schnell aber gewiss nicht an Wirkung verlieren. Hoffentlich niemals. „Find‘ ich auch.“, stimmte ich Riccarda zu und streichelte wie zur Bestätigung ein bisschen über ihre Seite. Ein absolut alles aussagendes Grinsen wurde präsent auf meinen Lippen, als die zierliche Blondine noch eine Revenge forderte – falls man es denn überhaupt so nennen konnte, wo doch im Grunde nur zwei Schneebälle geflogen waren und es gar nicht erst zu einem richtigen Battle gekommen war. „Oh, ja, die Schlacht… die, die eigentlich nie richtig angefangen hat, weil der Schnee dich in die Knie gezwungen hat… bist du dir sicher? Ich meine, Kissen gibt‘s hier auch.“, zog ich die eher erschöpft wirkende Prinzessin auf, die gerade bevorzugt meine Brust als Kopfkissen nutzte und begann an einer ihrer blonden Strähnen herumzuspielen. Ob man sich bei einer rasanten Kissenschlacht weniger wahrscheinlich den Knöchel brach, als im verschneiten Garten, sei mal dahingestellt. Ich wollte nur ein bisschen den wieder eingekehrten Frieden genießen und spielerisch auflockern.
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Als atypisch für einen Engel bezeichnet zu werden, warf mich durchaus ein wenig aus der Bahn, jedoch blieb ich ruhig liegen und wiederholte die Worte in meinem Kopf ein zweites Mal. Sie klangen nicht wie eine Beleidigung, aber fühlten sich auch nur bedingt nach einem Kompliment an. „Was ist eigentlich deine eigene Definition eines Engels?“ Stinkender Flattermann, wie er es mir teils so charmant an den Kopf geworfen hatte, traf inzwischen allen Anschein nach nicht länger zu. Demnach interessierte mich seine Meinung, nach welchen Merkmalen er meine Spezies überhaupt charakterisierte. Isaac nannte die Geduld im selben Satz, was tatsächlich eine sehr stark ausgeprägte Eigenschaft innerhalb meiner Sippe darstellte – es brauchte normalerweise sehr viel, um einen Engel zum Explodieren zu bringen. Wölfe besaßen da eine weit kürzere Zündschnur und boten weniger Spielraum zum Ausloten der Grenzen an. Mir kam es so vor, als würden die Charakterzüge der einen übernatürlichen Spezies die genau gegenteiligen Eigenschaften der anderen widerspiegeln; hell und dunkel, Licht und Schatten. Engel versammelten sich zwar als Clan in größeren Gemeinschaften, aber dennoch drehte jeder sein eigenes Ding und nahm nur unter gewissen Umständen Unterstützung in Anspruch, während das Leben im Rudel fast schon als Dreh und Angelpunkt des wölfischen Daseins galt. Probleme mit dem Vertrauen besaßen wir wohl beide, wobei Isaacs Baustelle diesbezüglich eine sehr weitgreifende Dimension annahm, während sich mein Misstrauen überwiegend im kleinskalierten – hypothetischen – Raum bewegte und sehr präzise Themen umfasste. Meine Fähigkeit rangierte dabei sehr weit oben auf besagter Liste an heiklen Angelegenheiten. Ob es der Geheimniskrämerei meiner Eltern oder die lang andauernde Abscheu meiner ungewollten Andersartigkeit zugrunde lag, wusste ich nicht so recht. Während mein Kopf die durchaus vorsichtig gestellte Frage noch verarbeitete, versteifte sich mein Rücken und intuitiv spannten sich sämtliche Muskeln im Nacken- und Schulterbereich an. „Wenn wir über deine Wolf-Seite sprechen, klammern wir aber ebenfalls immer deine Fähigkeit aus“, merkte ich leise an, um zumindest auf seinen Vorstoß zu reagieren, ehe ich meine Position minimal änderte, den Kopf anhob und auf meinen übereinander gefalteten Händen auf Isaacs Brust am Kinn abstützte. Bei diesem Gespräch bevorzugte ich die Möglichkeit des Blickkontakts, obwohl ich noch keinen nützlichen Anfang als Einstieg gefunden hatte. Deshalb fing ich mit dem ernüchternden Teil direkt als Erstes an: „Die volle Breitseite hätte deinen Tod bedeutet. Bei einem natürlichen Blitzschlag ist die Elektrizität nach maximal einer tausendstel Sekunde wieder aus dem Körper draußen, weshalb man normalerweise überlebt. Zwar mit Folgen, aber die Überlebenschance ist wirklich groß. Wenn ich hingegen mit derselben Kraft eines Blitzes zuschlagen würde, würde es bereits zu lange dauern, bis ich den Energiefluss wieder unterbrochen hätte. Meine Eltern haben mich im Rahmen einer Blitzforschungs-Einrichtung dahingehend testen lassen.“ Nachdem diese hässliche Wahrheit meine Lippen verlassen hatte, entspannte sich mein Körper ein wenig. Mein inneres Monster stülpte sich nicht mit Pelz bekleidet hervor, sondern lebte still und heimlich unter der menschlichen Oberfläche und ihm plus der Geschichte dahinter nun endlich ein klein bisschen Raum in meinem Dasein zuzusprechen, fühlte sich irritierend befreiend an. „Sylvan hat genau das gespürt, was ich ihn spüren lassen wollte. Ich habe ausreichend Erfahrungen gemacht, um einschätzen zu können, wie stark der elektrische Impuls ausfallen muss, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. In diesem Fall also keine bleibenden Gewebeschäden, aber trotzdem genug Nachdruck, um mich hinsichtlich meiner Fähigkeit in Ruhe zu lassen.“ Obwohl die Situation vollständig aus dem Ruder gelaufen war, hatte ich meinen Einfluss auf Sylvan durchgehend unter Kontrolle gehalten und seine Bitte berücksichtigt. Bei dem Zwischenfall mit Isaac war ich zwischen seinen Reißzähnen gefangen, blutete stark und fürchtete akut um mein Leben; die beiden Szenarien ließen sich schlichtweg nicht vergleichen. „In deinem speziellen Fall damals wollte ich eigentlich nur aus deinem Maul raus, nachdem du mich bereits ernsthaft verletzt hast. Ich wusste nicht, wie weit du gehen würdest, also musste ich dich schneller außer Gefecht setzen als du mich. Ich war bei dir skrupelloser als dieses Mal“, räumte ich zuletzt noch zaghaft ein. Die zugefügten Verletzungen beziehungsweise Schmerzen von damals und heute ließen sich nicht bagatellisieren; egal welche Beweggründe ich nannte. „Beantwortet das deine Frage?“, erkundigte ich mich hoffnungsvoll. Immerhin rieben seine Finger nach wie vor mit leichtem Druck über meine Seite, also dürfte der minimale Einblick nicht allzu weltenzerschlagend gewesen sein. Zudem schaffte es Isaac ohne Weiteres, mich wegen der missglückten Schneeballschlacht aufzuziehen, was auch auf meinen Zügen zu einem Anflug von Belustigung führte. „Einmal hat mich der Schnee unvorbereitet erwischt, das passiert mir kein zweites Mal“, versicherte ich dem Dunkelhaarigen unter mir, bevor mein Blick zu den zu weit entfernten Kissen am oberen Bettende wanderte. Nicht gerade subtil, aber da ich das Objekt meiner Interesse ohnehin nicht erreichte, durfte Isaac ruhig meinen Gedankengang erraten. „Außerdem wäre eine Kissenschlacht nicht dasselbe…“
Sobald Riccardas Frage vollständig an meine Ohren übermittelt war, runzelte ich die Stirn. Ich hatte mir bisher keine konkreten Gedanken darüber gemacht, was einen Engel für mich ausmachte, was sie alle gemeinsam hatten. Außerdem klang es ein bisschen nach einer Fangfrage, was jedoch nicht automatisch bedeutete, dass ich ein Blatt vor den Mund nahm. Wie immer würde ich bei der Antwort meiner Ehrlichkeit treu sein. „Ich weiß nicht… nüchtern betrachtet kenne ich bis auf dich ja keinen Engel so richtig persönlich und kann mir daher nur bedingt vorurteilsfrei ein Bild machen.“ Ja, ich unterhielt mich natürlich immer mal wieder mit der Verwandtschaft meiner Angetrauten, doch die Masken fielen dabei viel zu selten wirklich weit genug, als dass ich felsenfest behaupten würde, Jemanden im Engelspalast richtig zu kennen. Ich war eben nach wie vor der Außenseiter, der Werwolf. „Aber mit den biblischen Engeln habt ihr, zumindest im heutigen Zeitalter, offensichtlich wenig gemeinsam. Bis auf euer übernatürlich perfektes Äußeres und die Fähigkeiten unterscheidet ihr euch kaum vom Menschen… was wahrscheinlich daran liegt, dass es euch leichter fällt, euch in deren Gesellschaft völlig unbemerkt einzugliedern. Es ist natürlich nicht zu übersehen, dass ihr eine gute Lebensweise zu pflegen und euch dadurch abzuheben, ein gutes Beispiel zu sein versucht. Da sind sicherlich auch einige sinnvolle Ansätze dabei. Das ändert nur nichts daran, dass eure Gemeinschaft untereinander ziemlich hinkt und allein das schon ein Strich in dieser Rechnung ist… in den Augen eines Wolfes zumindest.“, holte ich möglicherweise weiter aus, als es dem kleinen Engel an meiner Brust lieb war. Würde ich nicht liegen, hätte ich ratlos mit den Schultern gezuckt. Vielleicht hofften die Engel im Palast insgeheim noch immer, dass ich mich bald verdünnisieren würde. Ob sie sich mir mehr öffnen würden, wenn ihnen dämmerte, dass das nicht passieren würde? Zumindest nicht aus Trennungsgründen, sondern eher, weil wir irgendwann ausziehen würden, um dieser Fuchtel endgültig zu entgehen. Ich war schon irgendwie gespannt auf die Reaktionen und freute mich auf das eine oder andere entsetzte Gesicht. Mir war bis jetzt gar nicht bewusst, dass wir auch nicht darüber redeten, wie ich mein Unwesen in den Köpfen von Menschen – und manchen Engeln, manchen Wölfen – treiben konnte. Dabei hatte das keinen spezifischen Grund meinerseits, es gehörte genauso zu mir wie der ganze andere wölfische Kram. “Ist mir nicht aufgefallen, aber du hast Recht.”, stellte ich leicht verzögert fest. Mein Blick rutschte dennoch automatisch in Riccardas, als sie zu einer ausführlichen Erklärung ansetzte. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht aber nicht unbedingt, dass sie mir völlig unverblümt sagte, mich allzu leicht umbringen zu können. Es war gar nicht so, als hätte ich vorher noch keinen Respekt vor ihrer zerstörerischen Fähigkeit gehabt, die höllischen Schmerzen hatten ihn mir zwangsläufig eingeprügelt… jetzt war er trotzdem größer. Ich hatte diese Worte noch gar nicht richtig verarbeitet – was mein nachdenklich bis zerstreuter Gesichtsausdruck untermauerte – als der blonde Engel noch auf Sylvan einging. Dennoch versuchte ich ihr weiter zu folgen, aber als Riccarda fertig war und mir eine Gegenfrage stellte, sah ich sie noch einen kurzen Moment lang schweigend an, während ich das Gesagte verarbeitete. Erst als das unterbewusst fortgesetzte Streicheln sich wandelte und ich die Hand am unteren Rücken unter ihr Oberteil schob, um das Gefühl zu kriegen, sie auch physisch noch näher bei mir zu haben, setzte ich zur Antwort an: “Ja… eigentlich sogar detaillierter, als ich mir erhofft hatte.”, stellte ich allem voran murmelnd fest. Im Gegensatz zu ihr hatte ich damals in meinem völlig blinden Wahnsinn ganz genau gewusst, wie weit ich gehen wollte. “Es wirkt noch ein bisschen surreal, bemessen an der Tatsache, dass ich bisher kaum etwas davon gesehen habe… und dich ehrlicherweise wohl auch etwas unterschätzt habe, weil ich es bis jetzt nicht besser wusste.” Woher auch? Trotzdem wusste ich, dass Riccarda mich nicht anlog. Es fiel ihr offensichtlich nicht leicht, das alles auszusprechen, aber ihre sich wieder lockernden Muskeln sprachen lediglich für vorangegangene Unbehaglichkeit in diesem Thema, nicht für eine Lüge. “Klingt so, als hättest du deswegen Einiges durchmachen müssen.”, fügte ich etwas leiser an. Ich selbst hatte keine schöne Kindheit besessen. Obgleich Riccardas besser gewesen sein mochte, stellte ich es mir unschön vor, wie auf dem Präsentierteller in ein Institut für Blitzforschung geschleift zu werden. Neben der Tatsache, dass sie ihre Kräfte ständig verbergen sollte, weil sie nicht gut waren. “Ich bin jedenfalls sehr froh darüber, dass du mich damals nur gebremst und nicht ausgelöscht hast.”, beendete ich meine Antwort mit einem schiefen Grinsen, um auch hier nicht in zu düstere Gefilde abzudriften. Es machte mich merkwürdig stolz, dass in dem unscheinbaren kleinen Engel ein solch tödlicher Tornado schlummerte. Dass sie etwas Besonderes war und zu mir gehörte. Wenn wir jetzt noch die Sache mit dem gut eingespielten Teamwork hinbekamen, wären wir kaum noch zu bremsen – sich uns in den Weg zu stellen, absolut töricht. Außer vielleicht, wenn wir einem ganzen Rudel angestachelter Werwölfe gegenüberstanden. Sie konnte ihre Hände nicht an zwanzig Pelze gleichzeitig legen und ich hatte noch immer bloß ein Maul. Der Schnee um das Haus meiner Familie herum würde Riccarda also kein zweites Mal das Genick brechen. Diese leichtfertige These allein führte dazu, dass ich leise in mich hinein lachte, während sich das Bild von vorhin nochmal in meinen Gedanken abspielte. „Nun, wenn du das sagst… “, ließ ich ihre Aussage zuerst so stehen. Mir entging jedoch der Blick des Engels zu dem Kissenberg am Kopfende nicht, was das Grinsen auf meinen Lippen weiter beflügelte. „…diesmal gibt es dann aber keinen Vorsprung und ich werde gnadenlos sein.” Ich hob beide Augenbrauen leicht an.
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Isaacs Erfahrungswerte im Umgang mit Engeln erwies sich tatsächlich als sehr eindimensional, wenn ich die einzige Referenz darstellte – der Kontakt zu meiner Verwandtschaft ließ sich mit einem Hindernis-Parkour aus unausgesprochenen Regeln und dutzenden Stolperfallen vergleichen, weswegen sich allein der Smalltalk, zu dem Isaac ohnehin nicht neigte, bereits häufig als schwierig und umständlich erwies. Die jüngeren Engel im Kindesalter fanden die Anwesenheit eines Werwolfes im Palast hingegen ziemlich abenteuerlich, aber mit genug Einsatz der Erwachsenen würden auch ihre unschuldigen Gedanken bald vergiftet sein. Mit Vorurteilen hatte man also immer in irgendeiner Form ständig zu kämpfen, weshalb mich dieser Einwand nicht groß schockierte. Seine kritisierende Ansicht bezüglich der Engel im Allgemeinen traf mich wenig, immerhin zeigte Isaac keine neuen Abgründe meiner Familie auf. Er nannte relevante Punkte, weshalb ich sogar leicht grinste. „Wir sind den Menschen sogar ziemlich gleich, wenn wir unsere Fähigkeiten nicht hätten und das vergisst so manch ein Engel auf seinem Ego-Trip gerne“, kommentierte ich seine Ansicht. Dass gewisse Rudeldynamiken alles andere als gesund und konstruktiv ausfielen, ersparte ich mir zu erwähnen, denn meine Absicht hinter der Frage war keine losbrechende Grundsatzdiskussion, sondern reine Neugierde; ausnahmsweise sogar ohne Hintergedanke und aus einer spontanen Eingebung heraus. Man bekam selten eine ehrliche Antwort von einem Menschen, der im besten Fall einfach nur nicht anecken wollte und im schlimmsten Fall versuchte, mit schmeichelnden Worten Sympathiepunkte zu sammeln. Mein Vertrauen in Isaac reichte tief genug, um an dem Wahrheitsgehalt seiner Aussagen nicht zu zweifeln, deshalb fiel es mir leicht, seine Einschätzung meines Familienclans als seine objektive Meinung anzunehmen. Zudem fiel es mir leicht, ihm zu glauben, dass er tatsächlich nicht an die Erwähnung seiner Fähigkeit gedacht hatte, wenn wir auf das Thema Werwolf gekommen waren – meistens widmeten wir uns in diesen Gesprächen dann einem präsenteren Detail und weniger der Möglichkeit zur Gedankenmanipulation. Ich entschied aus einem ohnehin angeschlagenen Bauchgefühl heraus, dass wir dieses Fass heute nicht zusätzlich öffnen mussten. Dieser Ort, das Anwesen oder die Entfernung zu unserem Zuhause entlockte uns ohnehin nach und nach sämtliche unausgesprochenen Geheimnisse. Eine weitere Enthüllung samt deren ganzer Tragweite bräuchte ich heute nicht zusätzlich. In meinem Kopf stapelten sich bereits die Pakete an neuen Informationen, die ich fertig verarbeiten musste und da dieser Turm erst kürzlich heftig wankend für Überforderung gesorgt hatte, verschob ich Isaacs Potenzial auf einen späteren Zeitpunkt. Außerdem wollte ich nicht den Eindruck erwecken, mich um eine Erklärung zu drücken. Dass ich unabsichtlich übers Ziel hinausgeschossen war… naja, einfach nur zu sagen, dass ich mit dem vollen Ausmaß meiner Fähigkeit problemlos zur Serienkillerin des Jahrhunderts mutieren könnte, kam mir dann doch mangelhaft vor. Abgesehen davon, gefiel mir dieses gezeichnete Bild überhaupt nicht. Der Drang zur Rechtfertigung hatte den Einblick ausschweifender gestaltet als ich ursprünglich vorgehabt hatte: ein kleiner Teil in mir wäre nach wie vor lieber die gute Fee, die es regnen lassen konnte oder die Sprache der Tiere verstand. Nichts, weswegen man von der eigenen Familie gemieden werden würde. Ein aussichtsloser Wunsch und daher eigentlich nicht der Rede wert, zudem mir die Einzigartigkeit oder der daraus resultierende Respekt durchaus imponierte. Trotzdem verunsicherte mich Isaacs zerstreuter Gesichtsausdruck ausreichend, um bereits wieder Schadensbegrenzung zu leisten. Nur seine warmen Finger direkt auf meinen Rücken stoppten den Versuch und ließen mich aufhorchen. „Möchtest du sonst noch etwas wissen?“, bot ich ihm eine weitere Frage an. Momentan befand ich mich anscheinend in einer mutigen Redelaune, bestärkt durch seinen unterstützenden Berührungen. Da es unserer Beziehung noch in genug Bereichen an Transparenz fehlte und wir im Grunde mitten im Thema waren, würde ich es gerne hinter mich bringen und nicht stückchenweise die Courage zusammenkratzen, um den Mund aufzubekommen. „Es ist ja auch nicht so, dass man es sehen kann. Entweder spürt man es selbst oder man sieht die Auswirkungen an anderen.“ Daher auch das Angebot, weiter nachzuhaken, nachdem sich seine Mimik wieder normalisiert hatte und wieder ein positiverer, wenngleich schwer zu interpretierender Ausdruck in seinen Augen lag. Kein Mitleid, weil ich aufgrund der Rarität meiner Fähigkeit als Versuchskaninchen gedient hatte, womit ich inzwischen gut abgeschlossen hatte. Erleichterung sah ebenfalls ein bisschen anders aus, noch dazu, übertünchte der scherzende Tonfall potenzielle mitschwingende Emotionen, was mich jedoch auch zu einem schmalen Lächeln verleitete. „Ich hab sogar kleine Ehrenabzeichen für meinen Edelmut davongetragen“, erwiderte ich süffisant und griff nach seiner Hand, schob diese ein Stück weiter auf die Seite. Irgendwo rechts der Wirbelsäule befanden sich zwei feine Erhebungen, die im richtigen Lichteinfall silbrig-weiß glänzten. Ähnliche Narben dekorierten auch meine Vorderseite auf fast derselben Höhe. Engel profitierten von einer verbesserten Selbstregeneration des Körpers, aber waren dem übernatürlichen Heilungsprozesses eines Werwolfes weit unterlegen, daher trug ich auch Andenken aus der Auseinandersetzung hervor, während Isaacs Gesicht in unbestreitbarer Makellosigkeit erstrahlte. Ich nahm ihm diese Körpermodifikation längst nicht mehr übel, anderenfalls würde ich in diesem Moment nicht derart unbekümmert darüber sprechen. Ebenso locker sah ich die bevorstehende Niederlage bei der Schneeballschlacht, die ich wahrscheinlich so oder so niemals erfolgreich für mich entscheiden könnte. „Kein Vorsprung und ein gnadenloser Kontrahent… eigentlich könntest du mich auch gleich einfach nehmen und in den Schnee schupsen. Es käme auf dasselbe hinaus“, fasste ich amüsiert zusammen. „Aber immerhin hätte ich dann gegen dich verloren und nicht gegen den Schnee. Das ist ein wichtiger Unterschied fürs Ego“, lachte ich leise. Mein Stolz nagte lediglich an dem Umstand, von der Witterung ganz ohne Isaacs Zutun besiegt worden zu sein. Irgendeinen Trostpreis würde ich also schon finden, um diese zweite vorhersehbare Schmach zu kompensieren und keine zweite Revenge verlangen zu müssen. Unweigerlich huschten Bilder des gemeinsamen Bads vor meinem inneren Auge vorbei und ein verspieltes Funkeln trat in meinen Blick.
“Merkt man.”, platzte es trocken mit hochgezogener rechter Augenbraue aus mir raus. Es war schlichtweg nicht so, als würden die Engel ihren Hochmut gut zu verstecken versuchen. Viele trugen ihn fröhlich nach außen mit ihrer übereleganten Gestik und dem genauso perfekt einstudierten, unterschwellig abfälligen Lächeln. Spätestens wenn letzteres aufkam, wand ich mich ohnehin aus diesen ‘Ich bin das Zentrum der Welt’-Gesprächen. Die bereiteten mir nichts als Kopfschmerzen, obwohl ich früher fast genauso durch die Welt stolziert war. Hochmut kam bekanntlich vor dem Fall und vielleicht sollte ich dem einen oder anderen Engel dabei helfen, sich mit dem Arsch zurück auf den Boden der Tatsachen zu setzen. Vielleicht reichte es sogar, ihnen ein Bein zu stellen, wenn sie hochnäsig davon stolzieren wollten. Ich hob mir diese Idee für einen Tag mit schlechter Laune auf. Ich rieb die Lippen nachdenklich aneinander, als Riccarda mir weiteres Nachhaken anbot. Das wollte ich gerne nutzen, andererseits vielleicht aber auch lieber nicht zu tief bohren – nicht, dass ich doch noch irgendeinen wunden Punkt erwischte. Nur wusste ich absolut nicht, wo die potenziell vergraben lagen, also blieb mir nichts als ins Blaue nachzufragen. “Du hast gesagt, dass du deine eigene Energie dafür nutzt… funktioniert das auch mit Energie von außen? Nehmen wir die Blitze als Extrembeispiel, wenn wir schon dabei sind.”, hakte ich nun doch bezüglich meines Gedankens von vorhin nach. Es interessierte mich einfach, was dann passiert – ob überhaupt etwas Nennenswertes passierte, wenn eine derartig heftige Energie auf ihren Körper traf. Riccarda führte meine Hand zu der vernarbten Haut an ihrem Rücken, die auf meinen wölfischen Kiefer zurückzuführen war. Es ließ mich ein wenig tiefer durchatmen, was schlussendlich einem leisen Seufzen glich, während ich die verjährte Bissspur mit geschlossenen Augen ganz genau nachfühlte. Um mich selbst daran zu erinnern, warum es so wichtig war, dass ich die Kontrolle nicht verlor. Ganz allgemein nicht, aber vor allem niemals in der Gegenwart meines Engels. Egal wie unwahrscheinlich es war, dass ich sie erneut biss, da ich mich offensichtlich selbst beim tollwütig machenden Vollmond noch davon abhalten konnte… ein Restrisiko blieb für immer, auch ohne Vollmond. „Verbrenn‘ mir zukünftig bitte vorher die Schnauze, sollte es jemals wieder dazu kommen.“ Ich öffnete die Augen wieder, als ich die blonde Schönheit um diese Präventivmaßnahme bat. Damit sie in meinen Augen sehen konnte, dass ich das absolut ernst meinte. Ich wollte diese Schmerzen nicht wieder durchleben müssen, aber das war dennoch besser als Riccarda weitere Narben zuzufügen. Mein Fleisch regenerierte sich von einer ihrer Attacken in mildem Ausmaß vollständig, ihres nicht. Wenn ich zubiss, dann niemals halbherzig. Die in naher Zukunft scheinbar noch anstehende Schneeballschlacht war ein sehr viel unverfänglicheres Thema. Sie dabei zu besiegen, würde nämlich nicht zu Schuldgefühlen oder Selbstvorwürfen führen. Der Gedanke daran, das Engelchen einfach über die Schulter zu werfen und sie zum nächstgelegenen Schneehaufen zu tragen, der tief genug war ihren Fall ohne blaue Flecken zu bremsen, erheiterte mich ungemein. Das schelmische Grinsen auf meinen Lippen machte daraus absolut kein Geheimnis. „Ein netter Gedanke.“, tat ich mit kurzem Blick an die Zimmerdecke so, als würde ich tatsächlich darüber nachdenken, von vornherein kurzen Prozess bei der Schlacht zu machen. Ob ihr Ego einen Unterschied dabei machte, ob es sofort oder erst nach ein paar Minuten von meinem eigenen Ego frech angegrinst wurde? Das Funkeln in Riccardas Augen war da keine Hilfe. Vielleicht bettelte sie ja um einen weiteren Waffenstillstand, wenn ich sie fertig machte… oder sie nutzte mein dahingehend aktuell sicher noch recht leichtgläubiges Hirn aus und verwandelte den Moment in ein arglistiges Täuschungsmanöver. „Gegen mich zu verlieren ist selten ein Grund für Scham.“, bestätigte ich leichthin mit einem wissenden Grinsen und einem leichten Tätscheln am Rücken des blonden Engels. Mein älterer Bruder hatte ab einem gewissen Zeitpunkt nie wieder eine spielerische Auseinandersetzung gewonnen. Auch dank Chad und dem ständigen Gerangel in Kindertagen war ich auf körperlicher Ebene derart schlagfertig geworden und hatte überdurchschnittlich gute Reflexe entwickelt. Er hatte, im Gegensatz zu mir, schon als Kind nicht immer mit fairen Mitteln gekämpft. „Ziehen wir uns dieses Mal aber wenigstens angemessen dafür an, ja? Nicht, als hätte ich was gegen die Folgen einer Schneeballschlacht in Hausschuhen, aber auf Charlottes Weisheiten dazu kann ich diesmal gut verzichten, glaube ich.”
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Meines Erachtens kämen wir beim Gespräch über meine hochnäsige Verwandtschaft auf keine weiteren erfreulichen Themen, da die jeweiligen Familien eher holpriges Pflaster darstellten und genug Raum für negative Äußerungen anboten. Da mir eine Auseinandersetzung mit Isaac pro Tag völlig reichte, beschloss ich diesen Teil unserer Unterhaltung mit einem zustimmenden Nicken zu beenden. Besser würde es nicht mehr werden und sie waren trotz all ihrer Fehler meine Familie, die ich mich bis zu einem gewissen Grad zu verteidigen gezwungen fühlte. Zudem wüsste ich ohnehin nichts auf Isaacs knappe Bemerkung hinzuzufügen – ja, manche der Engel ließen ihren Status innerhalb unserer Gemeinschaft raushängen, was sie wiederum einflussreichen Menschen sehr nahebrachten. Womit wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt waren. Ich wollte mich nicht aussichtslos im Kreis drehen, zudem steckte da ein Anflug von nervöser Energie in mir, nachdem ich Isaac mehr oder weniger einen Freifahrtschein für seine Neugier im Hinblick auf meine Fähigkeit geschenkt hatte. Abwartend beobachtete ich Isaacs Gesichtszüge, versuchte im Vorfeld zu erraten, in welche Richtung er sich weiter vortasten würde. Mir war klar, wie aussichtslos dieses Unterfangen war, aber dadurch fühlte ich mich anschließend irgendwie – auf eine verdrehte, nicht nachvollziehbare Weise – vorbereiteter. Es gab keine ausschließlich leichte Erklärung, dennoch atmete ich einmal leise auf, nachdem der Gestaltwandler mit einer verhältnismäßig oberflächlichen Frage rausrückte. „Nein, also ich kann keine externe Elektrizität steuern. Wenn ein Blitz einschlägt, könnte ich nicht kontrollieren, wo oder mit welcher Intensität. Meine Fähigkeit beschränkt sich auf die Elektrizität innerhalb eines Körpers, daher wird sie auch von meinen eigenen Kraftreserven gespeist. Sollte mich selbst ein Blitz treffen, tut das zwar kurzfristig höllisch weh und direkter Kontakt ist danach ebenfalls für einen gewissen Zeitraum nicht ratsam, aber da mein Körper im Grunde dafür ausgelegt ist, auch starke Elektrizität leiten zu können, passiert sonst nicht viel.“ Es wäre ja nicht so, als hätten meine Eltern das nicht ebenfalls gründlich untersuchen lassen; meine irrationale Angst vor Gewittern war nicht grundlos im Kindesalter aufgekommen. Ich gab Isaac Zeit, um sich den weiteren Informationsschnipsel durch den Kopf gehen zu lassen, zusätzlich schien er sich ein paar Augenblicke zu nehmen, um das glatte Narbengewebe gänzlich zu erfassen und seine damit verbundenen Erinnerungen oder Verknüpfungen abzuarbeiten. Ich verband mit den hell-schimmernden Stellen auf meinem Rumpf eine stille Mahnung an das tödliche Potenzial meines Gefährten, auch wenn er es mittlerweile nicht mehr gegen mich richtete, so schlummerte es dennoch pausenlos in ihm. Isaac schienen ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen, trotzdem musterte ich ihn aufgrund seiner bedenklichen Bitte streng. Gerne würde ich ihm an den Kopf werfen, dass sowas kein zweites Mal passieren würde, aber naja… sogar ich wusste dank der immer kehrenden Vorfälle, dass mit der wölfischen Impulsivität nicht zu spaßen war und ein Restrisiko stets bestehen blieb. Egal wie unwohl ich mich bei dem Gedanken, Isaac verletzen zu müssen, fühlte. „Wenn mir keine andere Wahl bleibt, werde ich mich wehren“, räumte ich eher schwammig ein. Um ihm ohne Bedenken im Notfall einen Stromstoß auf die Schnauze zu verpassen, bräuchte ich definitiv mehr Hintergrundwissen zu seiner ärztlichen Selbstversorgung – beispielsweise: Heilte sein Körper lediglich sehr schnell und geradezu perfektionistisch oder schaffte er die Regeneration von nicht länger vorhandenen Elementen auch? Da wir bereits herausgefunden hatten, dass durch mich zugefügte Verletzung bedeutend mehr Zeit zur Genesung in Anspruch nahmen und mit permanenten Schmerzen verbunden waren, wollte ich das Ausmaß von normalerweise beim Menschen irreparablen Schäden bei einem Werwolf nicht austesten. Da stellte ich bedeutend lieber mein eigenes Glück bei einer aussichtslosen Schneeballschlacht auf den Prüfstand. Dass er meinen Vorschlag als netten Gedanken bezeichnete, erwiderte ich mit einem wenig zurückhaltenden Augenrollen. „Als wärst du nicht schon längst selbst auf die Idee gekommen“, unterstellte ich ihm amüsiert. Da brauchte der werte Herr gar nicht so nachdenklich zur Decke starren. Dass er gewinnen würde, stand also bereits fest und nur zu gerne würde ich ihn eines Besseren belehren, nur fehlte mir dafür im Moment die Kreativität und Initiative. „Ich dachte schon, ich müsse mich danach beschämt in eine dunkle Ecke stellen“, erwiderte ich sarkastisch auf seinen Ausbruch überproportionalen Selbstbewusstseins. Immerhin wusste ich ja schon im Vorfeld, worauf ich mich einließ. Aber dieses Mal tatsächlich mit den Bedingungen angepasster Kleidung. „Du könntest wenigstens so tun, als wäre die Sorge um meine Gesundheit ebenfalls ein Grund, weshalb wir nicht in Hausschuhen im Winter draußen unterwegs sind“, zog ich den Dunkelhaarigen grinsend auf. Er brauchte sich diesbezüglich wahrscheinlich keine Sorgen machen, aber Engel erkälteten sich ebenso wie der Durchschnittsmensch und eine ausgewachsene Grippe fesselte auch mich für Tage ans Bett.
“Aber könntest du… Elektrizität, die auf deinen Körper trifft, gezielt weiterleiten? Wenn vielleicht auch nicht unbedingt einen Blitz, dessen Einschlag nur sehr bedingt vorhersehbar und absolut maßlos ist… weniger starke Elektrizität?”, hakte ich noch spezifischer nach, weil Riccarda mir diese Frage nicht so richtig beantwortete oder zumindest war mir ihre Wortwahl zu undefiniert, um ganz klare Schlüsse zu ziehen. Ich wollte sicher sein, dass ich nicht mehr in ihre Worte hinein interpretierte, als sie bedeuteten. Dass sonst nicht viel passierte war schön, weil ich andernfalls nie wieder freiwillig mit dem Engel bei Gewitter im Regen stehen würde. Einmal hatten wir das gemacht, wenn auch nur mit sehr großer Überwindung seitens Riccarda, aber auf eine Wiederholung war ich jetzt nicht mehr sonderlich scharf. „Jedenfalls werde ich dich jetzt nie wieder nötigen, mit mir unter Gewitterwolken zu tanzen… begrenzen wir uns lieber auf harmlosen Regen.“ Zukünftig würde ich diesbezüglich sehr viel einsichtiger sein, schließlich wusste ich jetzt besser um den Grund für ihre Angst davor. Davor war sie mir unerklärlich gewesen. Regen hingegen würde ich weiterhin mögen. In Strömen stundenlang vor einem Zelt zu liegen war natürlich bescheiden, aber unter einem Vordach zu sitzen, den Geruch aufzusaugen und das Prasseln der vielen Tropfen zu genießen, war herrlich. Meine Finger wanderten noch immer über das feine Narbengewebe, inzwischen glich es jedoch mehr wieder einem Streicheln ihrer weichen Haut. Für ihre so oder so auslegbare Antwort auf meine Bitte nach schmerzhafter Gegenmaßnahme kassierte Riccarda eine hochgezogene Augenbraue, weil mich das nicht zufriedenstellte. Ich konnte der Blondine ansehen, wie sehr es ihr widerstrebte, mir im Ernstfall wehtun zu müssen… und es war ein weiterer guter Grund dafür, sie zu lieben. Genauso wie es einer war, frühzeitig ins Gras zu beißen. „Es ist mir lieber, wenn du mich temporär verletzt, als wenn du noch mehr Narben verbüßt, für die ich mir auf ewig die Schuld geben muss.”, stellte ich mit ruhiger Stimme fest. Natürlich war ich nicht scharf auf ein verbranntes Gesicht, auch die unsagbaren Kopfschmerzen damals waren die Hölle gewesen. Vielleicht beschränkte sie sich also bestenfalls auf ein anderes Körperteil, aber wie gesagt – mir war alles lieber, als noch mehr dieser Narben auf ihrem sonst so makellosen Körper. Optisch störten sie mich kein bisschen, aber der Grund dafür zu sein war mehr als unangenehm. Sie brauchte hier gar nicht so mit den Augen zu rollen, was war das denn für eine aus der Luft gegriffene Unterstellung? “Bin ich tatsächlich nicht. Ich kämpfe zwar hart, aber für gewöhnlich sehr fair. Außerdem wäre es keine Schlacht, wenn ich dich gar nicht erst kämpfen lasse.”, musste ich Riccarda in ihrer Annahme korrigieren, was das nächste Schmunzeln auf meine Lippen lockte. Ich musterte ihr Gesicht – ohne richtigen Grund, einfach nur weil ich sie gerne ansah. Weil selbst das Augenrollen seinen Reiz hatte und weil wir das Gespräch über mein großes Ego nicht weiter zu vertiefen brauchten. Wir wussten beide sehr gut, dass es da war, auch wenn ich es inzwischen seltener als früher zur Schau stellte. “Selbst euer Immunsystem ist erschreckend menschlich.”, stellte ich mit trockenem Sarkasmus fest. Das hatte sich mein Engelchen allerdings genauso wenig ausgesucht, wie ihre zerstörerische Fähigkeit, deshalb wollte ich durchaus etwas Mitgefühl zeigen: „Außerdem würd‘ ich mich schon um dich kümmern, sollte es wegen einer spontanen Idee so weit kommen, die definitiv auch auf meinen Mist gewachsen ist… wie in guten, so in schlechten Tagen. Damals hab ichs vielleicht nicht so gemeint, aber hier sind wir nun.“, grinste ich und neigte mich ihren Lippen für einen flüchtigen Kuss entgegen. Ich wäre vielleicht nicht sonderlich begeistert davon, das überdurchschnittlich gutaussehende Pflegepersonal zu verkörpern, aber es gab Schlimmeres.
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Eine simple Frage, die ich dennoch nicht auf Anhieb beantwortete, weil ich nun doch minimal ausholen musste und zuvor noch den Rahmen abstecken musste, welche Details tatsächlich zur Erklärung beitrugen oder nur überflüssigen Input darstellten. „Elektrizität von außen, egal ob ein Blitz oder… sagen wir ein Elektrozaun, wird oberflächlich an der Haut weitergeleitet, deshalb ist die Überlebenschance im Falle des Blitzschlags auch gegeben. Wenn du an den unter Strom stehenden Weidezaun greifen würdest, nachdem du mir die Hand gibst, würde es mir auch einen Schlag verpassen und du hättest Elektrizität weitergeleitet. Dieses oberflächliche Weiterleiten kann im Grunde jeder, die Verträglichkeit ist dabei individuell unterschiedlich. Meine Elektrizität ist hingegen intern und setzt direkt an den Nervensignalen an, das ist ein grundlegender Unterschied.“ Ich vergewisserte mich mit einem kurzen Blick bei Isaac, ob er meinen Worten folgen konnte und fügte schlussendlich seine erwünschte Information hinzu: „Um also auf deine Frage zurückzukommen… ich kann keine externe Energie, egal in welchem Ausmaß, aktiv lenken und bin auf meine eigenen Kraftreserven beschränkt.“ Trotz zahlreicher Untersuchungen hatte niemand der Forscher und Mediziner beantworten können, weswegen mein Fähigkeit sich nicht mit äußeren Energiequellen koppeln ließ, aber die logischste Vermutung lag darin, dass sich die oberflächlich laufende Elektrizität von meinem Körper nicht absorbieren ließ und deshalb schlichtweg abgeleitet wurde. Ohnehin schien es ein Rätsel zu bleiben, wie genau die Übertragung meiner Elektrizität von mir auf eine andere Person funktionierte. Die Ideen für weitere Untersuchungen wurden selbst meinen Eltern irgendwann zu bunt und als bereits traumatisiertes Kind hatte ich keine Einwände, die nähere Durchleuchtung meiner Fähigkeit zu beenden. „Ich weiß ohnehin nicht, was man an Gewittern so toll finden kann“, nuschelte ich mit leicht zusammengezogenen Brauen. Außer laut und gefährlich war so ein Spiel aus Blitzen und Donner nichts. Jedenfalls fehlte mir jegliche Begeisterung für das Naturschauspiel. „Regen ist mir bedeutend lieber“, stimmte ich Isaac abschließend noch zu und nickte, sofern das in meiner Position gut möglich war. Die Erinnerung an meine Panikattacke vor dem jungen Mann zählte nicht unbedingt zu meinen liebsten, weswegen ich gar keinen weiteren Gedanken darauf verwendete, sondern seine Berührungen am Rücken in meinen Fokus legte. Warm, fest und trotzdem behutsam strichen seine Finger über meine Haut und sorgten für einen wohligen Schauer. Nur sein minder-begeisterter Gesichtsausdruck hinsichtlich meiner fehlenden Bestätigung störte den friedlichen Zustand und ich wusste instinktiv, dass dieses Thema noch nicht restlos vom Tisch war. Brummend atmete ich aus, denn gegen seine Bitte ließ sich kein haltbares Gegenargument finden; abgesehen von meinem Unwillen, Isaac Schaden zuzufügen. „Es sind zwar deine Zähne gewesen, deren Abdrücke man jetzt noch sieht, aber ich weiß nur zu genau, wie groß mein Anteil an dieser Eskalation war, deshalb trägst du ganz bestimmt nicht allein die Schuld daran.“ Meine Stimme nahm einen sanften Klang an. Ich nahm ihm die Narben wirklich nicht böse und meine jedes Wort so, wie ich es auch sagte. Sollte es zukünftige Zwischenfälle geben, bei denen Isaac mich verletzen würde, so gäbe es dafür sicherlich einen ausschlaggebenden Grund. Ich kannte das Risiko, mit einem Werwolf zusammen zu sein, aber das hielt mich nicht auf, trotzdem vom Besten in Bezug auf meine Unverletztheit auszugehen. Ich ging von keinem hinterhältigen Komplott aus, bei dem Isaac mir Gefühle vorspielte – dazu waren gewisse Anzeichen, unter anderem auch der kürzeste Ausbruch, zu echt. Ebenso kaufte ich ihm seinen Willen zum Fairplay ab, wobei ich mich willkürlich fragte, wo die Chancengleichheit bei so gravierenden körperlichen Unterschieden lag. Oder inwiefern man von einer Schlacht sprechen konnte, wenn der Sieger bereits im Vorfeld feststand. Trotzdem lächelte ich nur beschwichtigend, da es mir persönlich um den Spaß ging. Schneeballschlachten mit meinen Brüdern lagen bereits sehr weit in der Vergangenheit und die Nostalgie kickte beim Anblick der weißen Landschaft direkt vor der Nase. Die potenziellen Konsequenzen in Form von ach so menschlichen Erkrankungserscheinungen nahm ich dazu gerne in Kauf. Da ich mich aber in einem gesundheitlich ausgezeichnetem Zustand befand, hielt ich eine akute Verkühlung vorerst für ausgeschlossen, sofern ich keine längere Einwirkzeit im eiskalten Nass verbrachte – wobei die Aussicht auf Isaac als Pfleger durchaus ein verlockendes Szenario darstellte. Mein schelmisches Grinsen unterstrich den Gedankengang, obwohl der Ausdruck nicht gänzlich zu seiner Aussage passte, derer ich mich just in dem Augenblick wieder bewusst wurde. „Wir wären schneller, wenn ich aufzähle, was nicht erschreckend menschlich an mir ist“, erwiderte ich ebenso trocken, behielt die angehobenen Mundwinkel jedoch bei. Nur dass mein Grinsen ziemlich schnell zu einer erfreuten Version wechselte. „Hier sind wir nun“, wiederholte ich leise, bevor sich unsere Lippen für einen kurzen Kuss berührten. Ich hatte mein Gelübde damals bei der Hochzeit das erste Mal gesehen, geschweige denn gelesen, wobei es sich ohnehin um ein sehr nüchternes Standartwerk gehandelt hatte. Nichts Persönliches, was damals wahrscheinlich beabsichtigt war. Kaum auszudenken, was für kreative Unannehmlichkeiten wir uns gegenseitig an den Kopf geworfen hätten. Das Klopfen an der Tür riss mich aus unserer Blase der Zweisamkeit und mein Blick huschte automatisch zum einzigen Eingang des Zimmers. „Ich will euch nicht stören, ihr Lieben, aber das Abendessen wird heute um eine Stunde nach hinten verlegt.“ Kurze Stille, danach erklang Charlottes Stimme ein weiteres Mal. „Sylvan fühlt sich nicht gänzlich salonfähig.“ Hörte ich da eventuell einen gewissen Tonfall in ihrer Stimme mitschwingen? Mein Blick schwenkte unweigerlich zu Isaac unter mir. Ich wusste gerade nicht ganz, ob ich mich darüber zumindest ein wenig amüsieren durfte oder eher meinem schlechten Gewissen nachgeben sollte. Jedenfalls bezweifelte ich, dass sechzig Minuten irgendetwas an dem Schmerzlevel ändern würde, aber diese Information fand der Alpha auch ohne mein Zutun früh genug heraus.
Wie schon zuvor folgte ich der Erklärung des blonden Engels sehr aufmerksam und nickte leicht vor mich hin. “Hmm, verstehe.”, war mein erstes, sehr kurzes und offensichtlich noch nachdenkliches Fazit dazu. Im Grunde änderte sich für mich dadurch ja aber überhaupt nichts – Riccarda war trotzdem fähig dazu, mir das Leben mit einer einzigen Berührung aus dem Körper zu pusten. Rein in der Theorie könnte ich sie sogar dazu treiben, das bei jeder x-beliebigen Person in meinem Willen zu tun, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte. Ein verstörender Gedanke, den ich sofort mit einem minimalen Kopfschütteln verwarf. “Ist wahrscheinlich besser so… und tut deiner Fähigkeit sowieso keinen Abbruch.”, stellte ich abschließend fest. Jedenfalls wusste ich jetzt genau um ihre Fähigkeit und das war das Ziel meiner Fragerei gewesen. “Ich finde es sieht einfach cool aus. Der Donner ist unangenehm, aber die hellen Blitze haben was an sich.”, erklärte ich Riccarda neutral, was ich an Gewittern fand. Der Krach war für mich auch nicht toll, aber man gewöhnte sich irgendwann dran. So oder so würden wir wohl eher bei Regen auf unserer zukünftigen Veranda sitzen und uns dazu Kaffee oder Tee genehmigen… ohne wölfische Engelskinder, die durch Wasserpfützen rollten, vermutlich. Die Angelegenheit rund um die kleinen Narben am Körper des Engels war nicht so schwarzweiß, wie ich sie gerne hätte. Denn ja, natürlich hatte ich die Streits von damals nicht alleine provoziert. Riccarda hatte ihren Teil dazu beigetragen und trug eine Mitschuld am Ausgang der Dinge. “Ich weiß, dass ich nicht alleine der Auslöser dafür war… trotzdem ist es nicht okay für mich, dass du als einzige einen bleibenden Schaden aus solchen Situationen ziehst.”, untermauerte ich ihr meinen Standpunkt und legte dabei auch meine zweite Hand an ihren Rücken, um sie richtig zu umarmen. Denn das war es, worum es mir hier primär ging: Nicht um den Auslöser oder die Schuldfrage dessen, sondern um die bleibenden Folgen auf nur einer Seite – bei Riccarda. “Solange du mit deiner Energie keinen Teil meines Körpers in Nichts auflöst, passiert mir überhaupt nichts. Alles, was noch in Ansätzen vorhanden ist, kann mein Körper heilen oder neu bilden. Deswegen gibt es bei fitten Werwölfen auch keine bleibenden Nervenschäden oder sowas… erst wenn ich sowieso schon steinalt bin, solltest du vielleicht besser die Finger von meinem Pelz lassen, dann lassen nämlich auch die Heilkräfte nach.”, endete ich mit einem Bild vor Augen, das automatisch einen humorvollen Unterton in meine Stimme schleuste. Alte Werwölfe verwandelten sich immer seltener. Es wurde anstrengender und schmerzhafter, wenn der ganze Körper langsam aber sicher doch mal damit anfing, Alterserscheinungen zu zeigen. Wir wurden meist älter als gewöhnliche Menschen, aber der Alterungsprozess machte selbst vor uns nicht Halt. “Ein Salamander bin ich allerdings nicht, also lass’ bitte alle Gliedmaßen dran.”, musste ich – weiterhin mit Humor wegen des ohnehin unwahrscheinlichen Szenarios – doch noch ein bisschen spezifizieren. Das mit dem neu bilden hörte bei komplett fehlenden Armen oder Beinen auf. Knochen, Muskeln, Sehnen, Nerven und Blutbahnen mussten noch im Ansatz vorhanden sein, damit mein Körper die Sache geregelt bekam. Was komplett weg war, konnte also nicht wieder aufgebaut werden. Riccardas Menschlichkeit hingegen war absolut kein Problem für mich. Immerhin hatte ich es ihrer Empathie, von der sie definitiv mehr besaß als ich, zu verdanken, jetzt hier mit ihr liegen zu dürfen. Ich ließ die Angelegenheit erstmal so stehen und war gerade dabei, etwas zu diesem kurzen, aber sehr offensichtlichen Grinsen sagen zu wollen, als die Frau des Alphas unser Gespräch unterbrach… mit einer Nachricht, die mich für meinen Teil nun zu einem breiten Grinsen verführte. Ich gönnte es ihm, weil ich bekanntlich eine überaus nachtragende Persönlichkeit hatte. Er war hochnäsig gewesen im Glauben, das leicht wegstecken zu können und ich würde ihm, bei egal welcher ersten Gelegenheit, sofort das ’Ich habs dir ja gesagt.’ unter die Alpha-Nase reiben. “Warte mal, Charlotte…”, hielt ich meine Stiefmutter durch die Tür hinweg dazu an, nicht gleich wieder zu gehen, bevor ich mich mit einem flüchtigen Blick zu dem Engel aus unserer Kuscheleinheit löste und völlig ungehetzt zur Zimmertür ging. Ich zog sie auf und sah in Charlys aufgeschmissenes Gesicht. “Worüber beklagt er sich genau?”, hakte ich nach. Aus Neugier, weil ich noch keinen anderen Werwolf nach seinen Beschwerden nach Kontakt mit Riccardas grillenden Fingern hatte fragen können. Sie seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. “Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit… einen gefühlt abfallenden Arm...”, erwiderte Charlotte etwas trocken. Das Grinsen auf meinen Lippen wurde zu einem süffisanten Lächeln. “Es wird eher eine Woche als eine Stunde dauern, bis das ansatzweise weg ist.”, ließ ich sie wissen, was sie wahrscheinlich längst selbst befürchtet hatte – einen Ehemann, der ihr wie ein hilfloser Welpe die ganze Zeit jaulend in den Ohren lag und das über etliche Tage hinweg. “Na das sind ja rosige Aussichten.”, jammerte sie und hob eine Hand, um sich die Schläfen zu massieren. “Er sollte liegen bleiben, Bewegung macht’s in den ersten Tagen sowieso nur schlimmer. Bring’ ihm das Essen lieber ins Zimmer, da ist er weniger Reizen ausgesetzt.”, riet ich ihr nicht ganz uneigennützig, aber sehr wahrheitsgemäß. Charlotte ließ die Hand wieder sinken und sah mir direkt ins schadenfrohe Gesicht. “Dein Mitgefühl ist wirklich maßlos, Isaac.”, ermahnte sie mich mit hochgezogener Augenbraue zu mehr Anstand, aber da war sie ein paar Jahre zu spät dran. “Ich hab ihn sogar gewarnt... er wollte es nur nicht hören, Charlotte.”, brachte ich ein und zuckte allzu unbekümmert mit den breiten, vollkommen schmerzfreien Schultern. Drei Kreuze würde ich machen, wenn Sylvan später zum Abendessen gar nicht aufkreuzen würde. Ob er sich diese Blöße tatsächlich geben würde, konnte ich noch nicht abschätzen und es hing stark davon ab, wie schlecht seine Verfassung nun tatsächlich war. Sicher war bis jetzt also nur, dass ich dann der ranghöchste Wolf am Tisch sein und es ausnahmslos genießen und in mehr oder weniger humanem Ausmaß ausnutzen würde.
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Das vermittelte Verständnis sorgte in weiterer Folge für ein inneres entspanntes Aufatmen, schließlich traf ich mit der Enthüllung meiner destruktiven Fähigkeit selten auf Begeisterung oder Lobeshymnen. Misstrauen in Kombination zu einer spontan aufkommenden Distanziertheit galten da mehr als Norm, obwohl es nur wenig Eingeweihte in meinem speziellen Fall gab. Die einschlägig unangenehmen Reaktionen hatten mir damals gereicht und sorgten noch heute für eine unterschwellige Unsicherheit bezüglich dieser atypischen Gabenverteilung, was die offene Aussprache betraf. Dass Isaac das Thema mit neutralem Interesse behandelte, half mir, meiner Scheu entgegenzuwirken und mich offener darauf einzulassen. Dennoch störte es mich nicht, als wir einen Schlussstrich unter meine Zerstörungsgewalt zogen und der Dunkelhaarige meine rhetorische Frage zu dem Gefallen an Gewittern beantwortete. Ob das zuckende Spektakel bestehend aus grellen Licht hübsch anzusehen war, überließ ich jeder Person selbst zu entscheiden, aber ich fand daran keinen Gefallen und rang mir deshalb nur ein semi-überzeugtes Lächeln ab. Wie gesagt: Ich bevorzugte Regen, worauf wir uns sicherlich einigen konnten, wenn es um das Beobachten von Naturschauspielen ging; für Sonnenuntergänge hatten wir uns ebenfalls schon gemeinsam begeistern können, erinnerte ich mich kurzerhand mit einem warmen Gefühl in der Bauchgegend zurück. Vielleicht trugen die starken Arme, die meine Taille inzwischen umschlagen, ebenfalls zu der angenehmen Wärme bei, wobei das angeschnittene Thema eher für eine zarte Unruhe in meinem Inneren sorgte. Ich verzog meine Miene nur ganz leicht, wohlwissend, dass es Isaac trotzdem auffallen würde und stieß leise die Luft aus. Mich beschlich die dunkle Ahnung, keine Chance aufgrund mangelhafter Argumente gegen seine Bitte zu haben, was auch durch den resignierten Ausdruck in meinen Augen widergespiegelt wurde. Ja, ich trug die langfristigen Narben davon und mein Heilprozess war ebenfalls langwierig und schmerzhaft – lediglich auf einer anderen Skala bemessen. „Deine Gliedmaßen sind vor mir sicher“, durfte ich ihn schmunzelnd beruhigen, wobei ich diese Aussage nicht für seine Nervenbahnen tätigen wollte. Das Potenzial zum irreparablen Ausbrennen schlummerte gewissermaßen in meiner Fähigkeit, was anscheinend selbst einen jungen Alpha-Werwolf in der Blüte seines Lebens vor Grenzen stellen würde. Aber soweit ließe ich es gar nicht erst kommen, wodurch ich zum Ausgangspunkt zurückgelangte: „Mir gefällt es trotzdem nicht, dir eventuell wehtun zu müssen“, nuschelte ich leise vor mir hin, froh darüber, dass Issac von einem Klopfen an unserer Tür ausreichend von dem Umstand abgelenkt wurde, mir das Versprechen nicht abgenommen zu haben. In diesem Fall spielte mir seine offensichtliche Schadenfreude sehr vorteilhaft in die eigenen Karten. Skeptisch, aber mit einem dezenten Grinsen auf den Lippen beobachtete ich, wie er selbstgefällig zur Tür schlenderte und Charlotte in eine etwas hinkende Unterhaltung verwickelte. Himmel, Isaacs Genugtuung sprach aus jeder Faser seines Körpers und animierte mich dazu, ebenfalls meinen Platz im Bett aufzugeben und im Türrahmen zu erscheinen. Meine Miene hingegen zeigte überwiegend Schuldgefühle. Zerknirscht kaute ich am Rand meiner Unterlippe und haderte mit meinem Gewissen. Sollte ich mich zu einem späteren Zeitpunkt bei Sylvan entschuldigen? Erwartete man das in weiterer Folge von mir? Andererseits hatte das Rudeloberhaupt regelrecht danach verlangt, die Erfahrung samt erwartungsgemäß eingetretener Konsequenzen machen zu dürfen. Wie viel Teilschuld musste ich mir also hierfür selbst aufbürden? Mein Karma war definitiv im Keller. Erst recht, als ich kleinlaut hinzufügte: „Wahrscheinlich wird der Schmerz in der Nacht seinen Höhepunkt finden… er ruht sich dann zwar eigentlich aus, aber sein Körper ist am aktivsten. Die Nervenzellen regenerieren und das ist ähm auch schmerzhaft.“ Charlotte sollte wissen, worauf sie sich die kommenden Nächte einstellen musste. Immerhin wurden die Nervenzellen nicht auf natürlichen Wege angegriffen, sondern durch eine übernatürliche, sehr Werwolf-schädliche Kraft, weshalb Sylvans Nerven nicht einfach stillschweigend und unbemerkt heilen, sondern kräftig Trubel dabei machen würden. „Großartig“, entwich es ihr trocken, während sie sich seitlich übers Gesicht strich. „Ich kann ihn schlecht eine Woche wegsperren“, murrte Charlotte eher zu sich selbst, ertappte sich aber sehr schnell dabei, den Gedanken unabsichtlich laut ausgesprochen zu haben. Ihr Blick huschte von Isaac zu mir und wieder zurück. „Ich hoffe, dass die Fronten damit vorerst geklärt sind“, dabei bedachte sie vor allem den unehelichen Sohn ihres Mannes neben mir, ehe sie mich mit einem sanfteren Ausdruck musterte, „damit wir die restliche Zeit eures Aufenthalts damit verbringen können, uns besser kennen zu lernen.“ Und damit war die fröhliche Seite der Hausherrin auch schon zurück an ihren angemessenen Platz geschnellt. Ich nahm ihr das breite Lächeln zwar nicht gänzlich ab, aber ihr abrupter Themenwechsel ließ keinen Raum für weitere Interpretationen. „Isaac hat mir mitgeteilt, dass du dich vegetarisch ernährst. Du glaubst mir gar nicht, wie unsere Köchin zu strahlen begonnen hat, also gehe ich einmal vom Besten aus. Lass es mich aber sofort wissen, sollte es dir an irgendetwas mangeln“, prasselte es schon wieder gewohnt euphorisch über ihre Lippen. „Das wäre nicht nötig gewesen, ich hätte bei den Beilagen sicher…“, begann ich, wurde aber wüst von einem pikierten Blick abgewürgt. „Du ernährst dich hier sicherlich nicht nur von Brot, Ofenkartoffeln und Salat!“ Charlotte reagierte geradezu entsetzt, weswegen ich hastig zurückruderte und beschwichtigend lächelte. „Entschuldige. Danke für deine Nachsicht.“ Trotzdem fand ich es unnötig in einem Haushalt voller überzeugter Fleischesser für die einzige Vegetarierin extra zu kochen. Milde gestimmt, fügte Charlotte zwinkernd hinzu: „Zusätzlich schadet es nicht, wenn hier mal wieder darauf aufmerksam gemacht wird, dass es kulinarische Alternativen zu Steak, Braten und Co gibt.“ „Okay“, erwiderte ich etwas unsicher, was nun die angemessene Reaktion auf das verschwörerische Getue wäre. „Sehr schön, dann pünktlich in einer Stunde, ihr Lieben“, trällerte die Hausherrin, bevor sie sich abwandte und wie ein Wirbelwind weiterzog. Der lockere Seitenhieb bezog sich sicherlich auf unsere unangebrachte Verspätung zu Kaffee und Kuchen, was ich ohnehin nicht zu wiederholen gedachte. Erst als ich mir absolut sicher war, dass sich Charlotte nicht mehr in Hörweite befand, richtete ich mich an Isaac und sah ihn mit einer Mischung aus Amüsement und Vorwurf an: „Du genießt es richtig, dass Sylvan sich derzeit quält.“ Eine nicht unbedingt diplomatische Feststellung. Eine kurze Pause verging. „Macht es mich zu einem schlechten Menschen, weil ich hoffe, dass er beim Abendessen nicht dabei ist?“, fügte ich zögerlich hinzu und sah nun weitaus weniger amüsiert drein. Mein Beweggrund stand für Isaac hoffentlich nicht in Frage: Sylvans Schmerzen würden am Tisch sowas von offensichtlich sein und die Erkenntnis über die Tragweite meines kleinen Scharmützels könnte sehr abträglich für eine friedvolle Stimmung beim Abendessen wirken – sprich: nicht gut für mich… und stressig für Isaac.
ISAAC Es schmeckte weder Riccarda noch mir, dass ich das Biest im Keller nicht bis aufs letzte Prozent kontrollieren konnte. In unserem spezifischen Fall war das eine potenzielle Katastrophe und das einzige, worum ich Sylvan beneidete – er konnte seine wölfische Seite besser kontrollieren als ich, was in entscheidenden Momenten ein echter Gewinn fürs Liebesleben war. Auf so eine Beherrschung konnten mein Engelchen und ich noch nicht bauen. Mir selbst fehlte dazu noch ein Hauch Disziplin und unserer Beziehung noch ein etwas größerer Hauch richtig tiefen Vertrauens... aber daran arbeiteten wir jetzt, wie an so vielem. So unangebracht meine Schadenfreude auch sein mochte, war die Angelegenheit rund um Sylvans geschädigten Arm ein sehr viel entspannteres Thema als meine eigenen Defizite. Während Riccarda, die inzwischen neben mir ihren Platz an der Tür eingenommen hatte, sich eher unwohl mit dem Zustand meines Vaters zu fühlen schien, badete ich weiter in Genugtuung. Hach ja, die Nächte… mein Grinsen wurde nicht unbedingt schmaler. Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, dass ich kaum geschlafen hatte, unmittelbar nachdem Riccarda mir die Wolfsnase gegrillt hatte. Aus purer körperlicher Erschöpfung war ich früher oder später immer eingenickt, aber von Erholung war nach diesen Nächten nie zu sprechen gewesen. Es würde Sylvan noch schwächer machen, als er es zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin schon war. Charlotte würde ihn gar nicht einsperren müssen – mein Vater würde sich, sobald die Reize der Außenwelt zu stark auf seine geschärften Sinne drückten, von ganz allein wieder dort verschanzen, wo es am ruhigsten war. Der Schmerz war so oder so die Hölle, aber trotzdem besser erträglich, wenn einem nicht zusätzlich irgendwelches Kindergeschrei in den Ohren lag. Ich enthielt mich weiterhin, nickte nur kaum sichtbar, als Charlotte auf die vorhin kurzzeitig verhärteten Fronten zu sprechen kam. Im Grunde hatte ich nicht vor, den Posten meines leiblichen Vaters tatsächlich anzufechten – schließlich wollte ich ihn nicht töten müssen oder Riccarda als Engel und Witwe in diesem Haus voller Wölfe zurücklassen. Sie wäre dem Tod geweiht. Dennoch wusste ich, wie leicht ich zu provozieren war. Es kam mir also gelegen, dass Charly sich lieber mit Riccardas Vegetarismus aufhielt und darauf pochte, dass es meinem Engel an nichts mangelte. Wenn sie – vermutlich ihrer Erfahrung nach – davon ausging, dass es auch mich etwas besänftigte, dass sie meine Partnerin gerne mit Gefälligkeiten überschütten wollte, dann lag sie goldrichtig. Allerdings müsste die Frau des Alphas wissen, wie wenig ein Wolf dazu zu bringen war, auf sein Fleisch zu verzichten. Das war wie einem Hochleistungssportler seinen erhöhten Bedarf an Elektrolyten und Co. zu verwehren – er ging ein. “Wir werden da sein.”, war mein einziges, noch immer leicht süffisant klingendes Schlusswort zur Unterhaltung, ehe Charlotte sich davonmachte. Mein Blick schwankte zu Riccarda und nein, ich verbarg meine Gefühle und Gedanken nach wie vor nicht gerade subtil. “Bitte keine falschen Unterstellungen…”, setzte ich zu einer Antwort an und zog noch dabei die Zimmertür langsam wieder zu. “...ich freue mich nicht darüber, dass er Schmerzen hat. Ich befürworte es nur, dass seine Strippenzieherei Konsequenzen hatte und er mit seiner leichtsinnigen Annahme auf die Schnauze geflogen ist.”, so wie ich, lange vor ihm. Mich hatte jedoch keiner gewarnt und ich war jung und dumm gewesen, kein erfahrener Alpha – signifikante Unterschiede. Die Tür fiel ins Schloss und das Engelchen hatte eine Frage an mich, die ich ohne Zögern beantwortete: “Nicht in meinen Augen, nein.”, versuchte ich, ihre Bedenken zu mildern. Dicht gefolgt von einem Zusatz: “Mir geht’s genauso.” Ich zuckte mit den Schultern. “Wenn er nicht nebenbei mit seiner unerlässlichen Fragerei nervt, können wir das gute Essen vielleicht wirklich genießen… dann bleiben nur noch Charlottes überschwängliche Versuche, uns besser kennen zu lernen.”, zitierte ich die Hausherrin etwas überzogen, gemäß meiner schon wieder einen leichten Aufschwung erlebenden Laune. Ich sag’s nochmal: Was. Für. Ein. Tag. “Wenn es ihm ansatzweise so schlecht geht wie mir damals, setzt er sich höchstens für fünf Minuten an den Tisch, bevor es ihm zu viel wird und er wieder geht… falls er überhaupt aufkreuzt. Ich hoffe einfach auf das Beste…”, zeigte ich mich optimistisch und drehte mich dem blonden Engel vollständig zu, um ihr hübsches Gesicht in meine Hände zu nehmen und ihr in die dunklen Augen zu sehen. “...das Beste für uns.”, schmunzelte ich an ihre Lippen, bevor ich sie sanft küsste. Es war gut, wenn wir die anderen Wölfe unverfälscht durch die Abwesenheit des Alphas nochmal mitsamt ihrer Reaktionen unter die Lupe nehmen konnten… sofern Charlotte uns nicht an seiner Stelle ein Ohr abkaute. Meine Finger rutschten nach und nach wieder von ihrem schmalen Kiefer. “Deswegen würde ich sogar so weit gehen, mir zu wünschen, dass er nach seiner Frau rufen lässt, damit sie ihm die Schmerzen irgendwie erträglicher macht… das wäre ja nur gut für ihn, ich hatte diese Möglichkeit nicht.”, tat ich so, als wäre das ein völlig uneigennütziger Wunsch zum Wohl meines Vaters, obwohl das offensichtlich höchstens die halbe Wahrheit war. Ein Rudel verhielt sich immer anders, wenn dessen Oberhaupt nicht anwesend war. Es veränderte die ganze Dynamik und ich liebäugelte trotzdem noch immer damit, den Platzhirsch mimen zu können. So als kleinen, aber schwer verdienten Ausgleich für das – in meinem Fall zum Glück nur im übertragenen Sinne – nervenschädigende Szenario der Demonstration von Riccardas Fähigkeiten. Ihrer Macht, um etwas genauer zu sein, denn die hatte mein Engelchen zweifelsohne.
Nun, da die Berücksichtigung meiner vegetarischen Ernährung abgehakt und unsere Pünktlichkeit zugesichert worden waren, überließ uns Charlotte wieder der ungestörten Zweisamkeit. Anderenfalls wäre ich niemals so direkt mit meinen Gedanken herausgerückt – diese Vorgehensweise ähnelte primär Isaac, der natürlich auf die Unterstellung reagierte und mich neugierig eine Augenbraue heben ließ. Das Zeichen dafür, dass er sich bitte genauer erklären sollte. Währenddessen trat ich zurück in unser Zimmer, wandte den Blick jedoch nicht von dem jungen Mann ab – am mangelnden Vertrauen lag es längst nicht mehr. Meine Aufmerksamkeit war der leichteren Interpretation seiner Aussage verschuldet, wenn ich Isaacs Mimik dazu beobachten konnte. Ob beabsichtigt oder nicht, der werte Herr trug seine Meinung gerne relativ offensichtlich zur Schau, sofern man nach den richtigen Anzeichen suchte beziehungsweise die Hinweise kannte. Ich glaubte ihm. Prinzipiell. Ich nahm Isaac lediglich nicht vollständig ab, dass es da nicht einen noch so kleinen Funken Genugtuung in seinem Bewusstsein gab, der Sylvan die Schmerzen vergönnte; eine Retourkutsche sozusagen. Wie auch immer, denn der darauffolgende Teil beanspruchte meine volle Aufmerksamkeit. Hellhörig geworden, spitzte ich die Ohren, konnte meinem Gegenüber nur nicht vollständig folgen. „Was für Strippen wollte Sylvan ziehen, indem er sich von mir elektrisieren lässt?“ Das ergab doch keinen Sinn oder hatte ich einen essenziellen Teil der Beweggründe des Alphas schlichtweg verpasst? Die leichtsinnige Annahme beinhaltete wohl, die zugefügten Schmerzen problemlos einstecken zu können, wobei ich da hoffentlich sämtliche Illusionen diesbezüglich erfolgreich eliminiert hatte und sich keine weiteren Versuchskaninchen meldeten. Abgesehen davon, würde ich ohnehin auf eine zweite Kostprobe einer beinahe eskalierenden Rudeldynamik zu gerne verzichten. Daher auch die leise Hoffnung, Sylvan nicht beim Abendessen am Tisch sitzen zu haben. Ein schrecklicher Gedanke, selbstsüchtig und undankbar, immerhin hatte er mich in seinem Haus mit offenen Armen empfangen, und trotzdem wäre mir wohler mit der Gewissheit, ihm für den heutigen Tag nicht mehr begegnen zu müssen. Isaacs Verneinung beruhigte mich nur bis zu einem gewissen Grad, denn gegen die eingetrichterte Stimme der guten Erziehung kam er leider nicht vollständig an. Immerhin stand ich mit meinem skandalösen Wunsch nicht allein da, das machte es tatsächlich ein bisschen erträglicher und ein schmales Lächeln schlicht sich in meine Züge. „Sie sind doch nur neugierig auf dich… uns. Wir verkörpern schließlich etwas, von dessen Unmöglichkeit sie ein ganzes Leben lang überzeugt waren.“ Aus irgendeinem Grund – man möge es Harmoniebedürftigkeit nennen – sah ich mich dazu verpflichtet, Sylvans Fragerei und Charlottes Kennenlernen in Schutz zu nehmen oder eher zu rechtfertigen. „Wie hoch schätzt du die Wahrscheinlichkeit ein, dass wir Glück haben und er es gar nicht erst versucht, am Abendessen teilzunehmen?“ Isaac würde den Alpha sowohl in persönlicher als auch in wölfischer Hinsicht besser einschätzen können als ich. Er hoffte einfach auf das Beste… na gut. Was blieb mir dann anderes übrig, als dasselbe zu tun? Da seine großen Hände mein Gesicht umschlossen, geschah es ganz automatisch, dass mein Kopf ein bisschen zurückkippte. Ebenso willkürlich huschte ein schnelles Lächeln über meine Lippen, ehe ich den zarten Druck erwiderte und mich leise darüber freute, wie natürlich sich derartige Berührungen inzwischen anfühlten. Nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten, bedachte ich Isaac mit einem nachdenklichen Blick. „Ich wüsste wirklich nicht, was Charlotte tun sollte, um ihn von dem Schmerz abzulenken oder seine Beschwerden erträglicher zu machen…“, warf ich unschlüssig ein und runzelte die Stirn. „Hätte dein Ego denn eine Frau in deine Nähe gelassen, während dein Gesicht offensichtlich verletzt war?“, hakte ich mit einem neckenden Unterton ein. Zudem sah ich es als menschliche Reaktion oder Überlebenswillen an, einem schmollenden Werwolf lieber aus dem Weg gehen zu wollen, falls seine Frau sich dazu entschied, einen gewissen Abstand zu wahren. „Und wenn Sylvan UND Charlotte fehlen, was dann?“ Dieses Mal schaffte ich es überhaupt nicht mehr, die Sorge aus meiner Stimme fernzuhalten. Wobei es dieses Mal nicht um mein Gewissen ging, sondern darum, heil aus der Sache wieder rauszukommen. Meine Gedanken wanderten dahingegen vor allem zu einer jungen Werwölfin.
ISAAC Riccardas Frage war nur meinen eigenen Vermutungen nach von mir zu beantworten. Ein paar Dinge, die er mit dieser Demonstration erreichen wollte, hatte Sylvan direkt im Anschluss an das Desaster erwähnt. Das waren jedoch alles Kleinigkeiten gewesen, die er mir schon vorher hätte erklären können. Schließlich war ich im Gegensatz zu meiner Partnerin nicht erst seit heute hier, sondern setzte mich schon eine Weile mit diesem Rudel auseinander. “Er hat vorher nie ein Wort darüber verloren, dass er das vorhat und ich bezweifle, dass ihm diese Idee heute absolut spontan kam. Dafür ist er zu beherrscht… zu kalkulativ. Ihm war sicher klar, dass ich dich nicht gebeten hätte, herzukommen, wenn er es schon früher angesprochen hätte.”, brummte ich. Mein Vater war nicht wie ich oder sein Bruder. Er handelte, soweit ich das beurteilen konnte, nur selten aus dem Affekt heraus. “Und er ist immer noch der Alpha, sogar Salacias Vater… er wusste, dass sie zu nah ist, um das, was passiert, zu ignorieren. Den Angriff hat er kommen sehen und ihn in Kauf genommen.” Ich ging schon davon aus, dass Sylvan dabei meine eindeutige körperliche Überlegenheit eingerechnet und sich der Sache sicher gewesen war – dass er eigentlich weder Riccarda noch mich einem großen Risiko hatte aussetzen wollen. Trotzdem hatte er sich insofern verrechnet, dass die unscheinbaren Finger des Engels einen Schmerz jenseits seiner Vorstellungskraft auslösten und ihn weiter in die Knie zwangen, als für ihn – und den Rest des Rudels – gut war. Riccarda verkörperte mal wieder ihre allzu nachsichtige Seite im Bezug auf meinen Vater und dessen Ehefrau. Ich hingegen empfand es schlichtweg als unfair, aus einem vielleicht zu persönlichen Grund. Deshalb schüttelte ich leicht den Kopf und sah einen Moment lang nach unten weg, ehe ich nochmal darauf einging: “Ich bin auch neugierig und bekomme nur penibel dosierte Antworten.” Es war nur ein kurzer Blick, den ich daraufhin in Riccardas Gesicht warf, doch auch bei diesem scherte ich mich nicht darum, welche Emotionen sie womöglich lesen konnte. Es machte mich nicht ausschließlich wütend, dass mein Vater mit den Informationen rund um die Umstände seiner offensichtlich vorhandenen Affäre so verschlossen umging, sondern auch ein bisschen traurig. Es war leichter verdaulich, weiter darüber zu philosophieren, ob der Alpha sich in einer Stunde an den Tisch setzen würde, oder nicht. “Hmmm… bemessen an der Tatsache, dass du sein Handgelenk verletzt hast, das er zum Essen sicherlich gut gebrauchen könnte… und daran, dass er wahrscheinlich darauf besteht, das Training für die undisziplinierten Wölfe morgen früh durchzuziehen… ziemlich gut.” Es würde ihn zusätzlich bloßstellen, wenn er mit Messer und Gabel nicht richtig umgehen konnte, weil man dazu nun mal beide Hände brauchte. “So wie ich damals erliegt er wahrscheinlich der naiven Hoffnung, dass es ihm morgen früh ganz sicher schon besser geht, wenn er sich ausreichend schont.”, und das war weit gefehlt. Ob Charly dem Alpha eine nennenswerte Hilfe sein konnte, war auch für mich nur bedingt vorhersehbar – deshalb wog ich den Kopf nachdenklich hin und her. “Die Dinge, die du sonst machst, wenn ich einen verdammt beschissenen Tag hatte..?”, stellte ich eine völlig rhetorische Gegenfrage. Ein Streicheln, ein offenes Ohr oder ein Kuss dämmten den Schmerz selbst natürlich nicht ein. Das war eher was für die Seele, nicht für den Körper, aber das eine litt oft zwangsläufig mit dem anderen. Sylvan sollte Charlotte also ruhig das Ohr abjaulen, wenn’s half… für mich hatte das damals nicht zu Debatte gestanden. Deswegen lachte ich bei dieser Frage auch leise, bevor ich antwortete: “Zur Hölle, nein. In den ersten Tagen hatte ich Angst, ich würde für immer so aussehen.” Ich grinste den blonden Engel schief an. Kein anderer Wolf aus meiner Familie hatte zuvor mit dieser Art von Engelskraft Bekanntschaft gemacht. Erst, als nach einer zu langen Weile endlich eindeutig erkennbar war, dass mein Körper die Verletzung wahrscheinlich vollständig heilen würde, hatten alle hörbar aufgeatmet. Riccardas Sorge um ein ausartendes Abendessen war im nächsten Moment nicht zu übersehen. Das entsprang allerdings einzig der Tatsache, dass sie viel zu wenig Erfahrung mit Werwölfen in Form eines ganzen Rudels hatte. Ich konnte sie also hoffentlich beruhigen. “Dann… gar nichts?”, stellte ich eine weitere leere Gegenfrage und zog die Augenbrauen leicht nach oben, weshalb sich auch auf meiner Stirn eine leichte Falte bildete. “Du hast, vor sehr vielen Augen, dem Alpha ein vorübergehend völlig untaugliches Vorderbein verpasst… und er hat mir den Freifahrtschein gegeben, Köpfe rollen zu lassen, sollte Jemand in Betracht ziehen, dir auch nur eine einzige Strähne zu knicken. Die Jungs, die heute Nachmittag noch in der Schule waren, haben davon zwar nichts mitbekommen, aber die werden das Memo bis dahin todsicher schon gekriegt haben. Wenn meine Schwester auftaucht”, wovon ich aktuell schon ausging, ihres Stolzes wegen, “dann wird sie die Konsequenzen ihres vorherigen Attentats auf dich auch nochmal wunderbar zur Schau stellen.” Ich hatte ihr Vorderbein, ihren Nacken, und auch ihre Schnauze markiert. “Kurz gesagt: Wenn Alpha plus Anhang fernbleibt und von den jungen Wölfen heute keiner mehr austickt, dann könnte das Essen für uns richtig unterhaltsam werden… ganz locker, so als ranghöchstes Paar am Tisch.” Das Funkeln in meinen Augen sprühte pure Vorfreude, zeigte jedoch auch den bis zu einem gewissen Grad angeborenen Machthunger. Fast jeder Alpha strebte früher oder später nach mehr – manche gingen dabei drauf, andere hatten Erfolg. Natürliche Auslese. Ich würde hier heute niemandem sein Rudel wegschnappen, aber so ein kleiner Vorgeschmack auf meine Vielleicht-Zukunft..? Den nahm ich allzu gerne. “Die haben hier auch wirklich guten Wein für beinahe jeden Geschmack, musst du wissen.”