So gerne ich Isaacs Worten Glauben schenken wollte und Hoffnung in diesen neuen Zweig seiner Verwandtschaft in Sachen Verhaltensauffälligkeit und zwischenmenschlichen Umgang legte, erinnerte mich mein Misstrauen mit hartnäckigem Nachdruck an all die schlechten Erfahrungen, die ich bereits in einem vergleichbar kurzen Zeitraum mit Werwölfen gesammelt hatte. Ich ließ Isaacs Annäherung bereitwillig geschehen, versuchte seine ausgestrahlte Ruhe irgendwie zu verinnerlichen und mir etwas von seiner zuversichtlichen Überzeugung abzuschauen. Tatsächlich beruhigte mich seine schiere Selbstüberzeugung bis zu einem gewissen Grad, um mein schnell klopfendes Herz wieder weitestgehend unter Kontrolle zu bekommen. Zugegebenermaßen reihte sich eine Begegnung mit Isaacs werwölfischer Seite tatsächlich ziemlich weit unten in der Liste an Aktivitäten ein und sollte eines der auf neuer Ebene dazugewonnenen Familienmitglieder bereits in den Genuss des großen, bösen Wolfes gekommen sein, so überlegten sie sich eine Provokation bestenfalls zweimal, ehe es zur Eskalation kam. Die Erwähnung der statistisch obligaten Quoten-Idioten entlockte mir ein vages Grinsen, denn die gab es in jeder Familie und die Abgeschiedenheit im Norden stellte offensichtlich kein Ausnahmekriterium dar. Isaacs Gelassenheit sprach für diese Gemeinschaft; verglichen zu seiner Anspannung vor dem Treffen mit Chad. Nun hatten wir Rollen getauscht, aber Isaacs Bemühungen trafen auf fruchtbaren Boden und ich stimmte ihm leicht nickend zu. Meine rhetorischen Fähigkeiten in Kombination zu dieser Lass-dir-nichts-gefallen-Einstellung gegenüber Isaac hatten mich schließlich in diese Ehe befördert. Mit einem möglichst entschlossenen Lächeln, das meine Bereitschaft suggerieren sollte, konnte es in Richtung Familientreffen losgehen. Dankbar über den physischen Beistand in Form unserer verschränkter Finger, ging ich neben Isaac her bis zu den weit geöffneten Flügeltüren. Aus dem Zimmer dahinter schallte bereits ein buntes Gemisch aus diversen Stimmlagen, was mein Herz als Aufforderung zu einem schnelleren Takt auffasste. Mein Blick huschte kurz hinauf zu Isaac, der meinen hüpfenden Puls binnen Sekunden bemerkt zu haben schien und Maßnahmen gegen meine flatternden Nerven einleitete. Gegen meinen verräterischen Herzschlag und dem übernatürlichen Supergehör konnte ich vorerst nichts aktiv unternehmen, deshalb straffte ich meine Schultern, baute mich zu meiner – im Vergleich weniger beeindruckenden – Körpergröße auf und hob das Kinn leicht. Ich kannte derartige Vorstellungsrunden, zwar nicht in Form meines natürlichen Feindbildes, aber im Rahmen eines Geschäftsessen, zu dem ich ebenfalls verdonnert wurde, um Unternehmenspartner meiner Eltern sowie das Prozedere selbst kennenzulernen. Im Grunde also nur ein kleiner, feiner Unterschied – nichts, womit ich nicht fertig wurde. Die abrupt eintretende Stille, sobald wir gemeinsam einen Schritt über die Türschwelle traten, war zu erwarten gewesen und dennoch spürte ich mit einem Schlag sämtliche Aufmerksamkeit auf mir lasten. Möglichst neutral wagte ich einen Blick in die Runde, scheute nicht vor den neugierigen Musterungen zurück, obwohl sie die physischen Anzeichen meiner Aufregung bestimmt mit Leichtigkeit wahrnahmen. Mehr Zugeständnisse wollte und würde ich ihnen nicht machen, weshalb ich unbeirrt der gemischten Mimik am Tisch Isaac ans andere Ende des Tisches folgte, wo wir bereits erwartet wurden. In einer geschmeidigen Bewegung erhob sich Sylvan – wer als der Alpha selbst sollte sonst am Kopfende residieren? – und richtete eine verhältnismäßig forsche Begrüßung an uns… oder auch Isaac, denn dieser übernahm die Beantwortung mit ebenso direkten, potenziell unangenehmen Worten. Ich sah prüfend zwischen den beiden Männern einmal hin und her, wartete die Reaktion ab und wurde von einem dunklen, aber wohlklingenden Lachen überrascht, das den strengen ersten Eindruck dramatisch abschwächte. Damit war Isaac wohl abgehandelt und ich war an der Reihe. Sylvan begrüßte mich mit ausgestreckter Hand und ebenso herzlich wie seine Frau, vielleicht etwas weniger überrumpelnd, aber ebenfalls… sehr offen. „Riccarda. Danke für die Einladung“, bediente ich mich meiner guten Erziehung, obwohl ich mich hinsichtlich der Freude über ein Kennenlernen vorerst noch zurückhielt. „Ja, ich bin über die neuen Familienverhältnisse im Bilde“, bestätigte ich seine Vermutung knapp und bestenfalls nicht unfreundlich, verkniff mir aber die Erwähnung, dass ich anderenfalls nicht mit meiner Anwesenheit glänzen würde. Vorerst zufriedengestellt, entließ uns der Alpha auf die letzten beiden freien Plätze, wobei Isaac mich diskret auf den neben Aiden, den Namen sollte ich richtig im Gedächtnis haben, dirigierte. Bereitwillig fügte ich mich seiner Wahl und widmete mich erneut dem ansonst schweigsamen Rudel am Tisch. Die angekündigten Jungwölfe waren dank ihrer abschätzig verzogenen Gesichter und skeptischen Blicke schnell auszumachen, sonst entdeckte ich relativ wenig visuellen Gegenwind in der Runde. Das vorhin so angeregte Gespräch war erstorben und die eiserne Stille dehnte sich mit jeder verstrichenen Sekunde weiter aus, bis eine helle Kinderstimme maulend das Schweigen brach: „Sie ist endlich da, bekomme ich jetzt was von dem Kuchen?“ Theo wollte entweder nicht leise reden oder verstand das Konzept des Flüsterns noch nicht ganz, jedenfalls wartete er auch auf keine Antwort seiner Eltern, sondern lehnte sich mit dem Oberkörper auf die Tischplatte und angelte nach dem Kuchenteller, den er prompt an sich zog, als er sich wieder zurück auf seinen Sessel sinken ließ. Aiden brummte etwas mir nicht Verständliches vor sich hin und damit schien fürs erste die unangenehme Atmosphäre gebrochen zu sein, denn zaghaft begann hier und da wieder leise Gespräche. Dennoch blieb das bohrende Gefühl, beobachtet zu werden, und ich fand die Quelle auch sehr schnell. Ein Mädchen mit finsterem Blick und grimmigen Zug um die Mundpartie. Sie bemühte sich nicht einmal um einen neutralen Ausdruck, als ich sie über den Tisch hinweg betrachtete, sondern kniff nur die Augen ein wenig mehr zusammen und schnaubte plötzlich. „Das ist doch lächerlich.“ Eventuell bildete ich mir das unterschwellige Knurren in ihrer Stimme nur ein, denn ihr Sessel schabte mit ordentlich Nachdruck über den Holzboden, als sie sich mit auf der Tischplatte abgestützten Händen erhob und mit wehenden Haaren aus dem Zimmer rauschte. „Salacia, richtig?“, tippte ich mal wild drauf los, neigte mich dabei leicht zu Isaac. Trotz meiner gedämpften Stimme wusste ich, dass es jeder Werwolf am Tisch dennoch gehört hatte.
Einen kleinen Pluspunkt hatte das Verhalten, das Riccarda schon seit jeher von ihrer Familie eingetrichtert worden war, zumindest in diesem Moment aber doch: Ich sah es nur im Augenwinkel, erinnerte mich aber noch bestens daran, wie auch bis vor einiger Zeit ständig ein angehobenes Kinn und unbeirrten Gang von ihr zu sehen bekommen hatte. Nicht als änderte das etwas an den übermenschlichen Ohren rings um sie herum, aber Werwölfe kommunizierten – vor allem in tierischer Gestalt – sehr viel über Körperhaltung, Gestik und Mimik. Der zierliche Engel tat also gut daran, sich zumindest optisch nicht einschüchtern zu lassen. Kaum war die erste offizielle Begrüßung seitens des Alphas abgehakt, konzentrierte ich mich instinktiv auf die anderen Wölfe. Sylvan war bis jetzt die Ruhe selbst und Aiden zur anderen Seite ebenso, also scannte ich den Raum vom Stuhl aus nach anderen potenziellen Problemfällen. Deshalb störte mich das wahrscheinlich unangenehme Schweigen auch nicht, ich war anderweitig beschäftigt. Theo unterbrach als erster akustisch meine Observation und angelte sich deshalb kurz meine Aufmerksamkeit. Ich beäugte den kleinen Vielfraß mit leicht hochgezogenen Augenbrauen, bevor ich den Fokus zurück auf meine eigentliche Aufgabe lenkte. Ich spürte Sylvans Blick von der Seite, ignorierte aber auch das erstmal. Hier und da konnte ich nämlich durchaus Unruhe in den wölfischen Reihen spüren, aber eigentlich war die einzige akute Bedrohung meine herzallerliebste Halbschwester. Mein Blick lag deshalb schon auf ihr, als auch der Engel neben mir sich in diesen Blickwechsel einmischte. Für einen kurzen Augenblick fürchtete ich, Salacia würde es tatsächlich wagen, ihre Fähigkeit zur Hypnose an meiner Partnerin austesten zu wollen, doch stattdessen legte sie anderweitig einen für sie typisch dramatischen Auftritt hin. Ich musste es mir wirklich angestrengt verkneifen, ihr ’Nicht so lächerlich wie dein Abgang!’ hinterher zu rufen. Allerdings war mir ihr Hinausstürmen sehr viel lieber als eine Verwandlung. Sie erwischte dabei beinahe die Bedienstete mit dem frischen Kaffeeservice im Türrahmen, die den Wagen reflexartig losließ und einen Schritt zur Seite machte. Als Riccarda ihr Wort an mich richtete, sah ich zu ihr rüber. “Ja. Hab ich zu viel versprochen?”, erwiderte ich mit trockenem Sarkasmus, dicht gefolgt von einem Kopfschütteln. Ich hatte meine jüngere Schwester bisher nicht mit netten Worten umschrieben und sie machte dem alle Ehre. “Charly, würdest du..?”, hörte ich Sylvan neben mir. Charlotte stöhnte genervt, machte ihre Tasse jedoch ohne Umschweife in einem Zug leer, so als würde sie einen Schuss Bourbon enthalten, und erhob sich – deutlich eleganter als ihre Tochter – vom Stuhl. Sylvan streichelte beiläufig ihren Arm, als sie sich abwendete, um dem jungen Werwolf aus dem Raum zu folgen. “Du bist die Beste!”, rief er ihr nach, während der Servierwagen hinter Riccarda und mir Halt machte. Ich ließ mir Kaffee einschenken, weil ich für die Alternativen in Form von Tee nicht wirklich was übrig hatte. “Ich weiß.”, hallte es noch von Charlotte zurück, mitsamt einem wissenden Lächeln über ihre Schulter hinweg, bevor das kleine Drama rund um Salacia erstmal abgehakt war. Sylvan lehnte sich neben mir mit den Ellenbogen auf dem Tisch etwas nach vorne, um besser an mir vorbei zu Riccarda sehen zu können. Selbstverständlich behielt ich ihn dabei gut im Blick, obwohl ich ihn nicht direkt ansah, sondern vermeintlich erneut den Rest der Anwesenden beobachtete. “Es tut mir leid, dass sie sich so schwer damit tut… auch wenn damit zu rechnen war. Die Pubertät macht ihr das alles hier wohl nicht einfacher.”, meinte der Alpha mit guter Prise Humor. Nach kurzer Pause fuhr er fort: “Aber für dich ist es sicher noch schwieriger, dich bei uns einigermaßen wohlzufühlen, so angesichts der vielen Zähne. Deshalb möchte ich, dass du es mir sagst, falls dir Irgendjemand Probleme macht.” Er lächelte noch immer entspannt vor sich hin und im Gegensatz zu Riccarda konnte ich ihm das auch abkaufen, weil ich spüren konnte, wie er sich fühlte. Er bekam trotzdem einen kurzen skeptischen Seitenblick von mir, weil ich zu wissen glaubte, dass er eigentlich Besseres zu tun hatte, als Schlachten für einen Engel zu schlagen, die er auch einfach mir überlassen konnte. Doch auch mein Blick konnte ihn nicht irritieren. Der Alpha sprach bald weiter, kaum hatte ich den ersten vorsichtigen Schluck vom noch heißen Kaffee genommen. “Isaac hat allerdings auch schon beiläufig erwähnt, dass du dich ganz gut selbst verteidigen kannst… physisch, meine ich, nicht nur mit Worten. Wie muss ich mir das vorstellen? Ich habe hier im Norden selten Kontakt mit Engeln und bisher hat mir keiner den Pelz versengt. Es interessiert mich wirklich und Isaac hat mir nichts darüber erzählt, weil das deine Entscheidung sein sollte.” Jetzt erntete Sylvan doch ein unterschwellig drohendes Funkeln aus meinem Blick und ein angespanntes Kiefermahlen. Wurde das hier jetzt ein Verhör? Wollte er nur wissen, wovor er sein Rudel warnen musste? War die nette Einleitung nur dafür gedacht gewesen? Seine ebenso eisblauen Augen trafen ruhig auf meine und er ließ mich für zwei bis drei Sekunden sehr offen sehen, was in seinem Kopf vorging – er schien tatsächlich nichts Böses im Schilde zu führen. Diese wölfische Telepathie brach ohnehin abrupt ab, als er seinen Fokus vollständig zurück auf Riccarda legte. Nur semi-beruhigt streckte ich eine Hand aus, um sie auf den Oberschenkel des Engels zu legen. Dabei drehte ich den Kopf ebenso wie mein Vater leicht in ihre Richtung – jedoch nur so weit, dass ich Sylvan nicht ganz aus dem Blick verlor.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Dank Isaacs Briefings hatte ich mit einem möglichen Ausbruch seitens der jungen Werwölfe gerechnet, jedoch überraschte mich die überdurchschnittlich kurze Zündschnur der davonstürmenden Gestaltwandlerin. Scheinbar reichte meine alleinige Anwesenheit, um sie aus der Fassung zu bringen. Ein Umstand, der sie schlagartig auf Platz eins meiner Liste an zu vermeidenden Personen katapultierte. Wachsam folgte mein Blick ihr durch den Raum, eine Angewohnheit aus alten Zeiten, als ich auch Isaac für keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, wenn wir uns im selben Zimmer befunden hatten. Drehe deinem Feind niemals den Rücken zu, schon gar nicht, wenn dieser mit geifernden Reißzähnen, scharfen Krallen und einer manipulativen Fähigkeit beschenkt war. In dem Moment kam es mir klug vor, Isaac zu einem späteren Zeitpunkt nach den Gaben der anderen Rudelmitglieder zu fragen und ob die Verwendung dieser ebenfalls irgendwie in ihrem Kodex vermerkt war. Während ich mich meiner Überlegung hingab, kümmerte sich Sylvan indirekt um die Unannehmlichkeit, indem er seine Frau nachschickte. Vielleicht verband Vater und Tochter ein schwieriges Verhältnis? Es gab noch mehr als genug offene Fragen zu den Beziehungen innerhalb dieses Familienverbandes, aber vorerst schien die akuteste Bedrohung verschwunden zu sein, denn der Dunkelhaarige neben mir fühlte sich nicht dazu gezwungen, seine Meinung bezüglich Salacias Abgang zu verschleiern. Ich hingegen hütete mich davor, eine sarkastische Bemerkung über die junge Wölfin zu machen und schüttelte stattdessen nur den Kopf. Weibliche Werwölfe galten als besondere Rarität, weswegen ich gewiss keine Sympathiepunkte sammelte, indem ich eine spitze Bemerkung aussprach. Natürlich läge mir ein Kommentar auf der Zunge, aber ich schluckte diesen hinunter und bediente mich der jahrelang eingetrichterten Etikette des höflichen Schweigens. Währenddessen versorgte uns die mild lächelnde Bedienstete mit heißem Kaffee, stellte zusätzlich ein kleines Kännchen mit Milch und eine Dose Zucker auf den Tisch, ehe sie weiter am Tisch entlangging und leere Tassen wieder auffüllte. Kamen derartige Ausbrüche öfter in dem Haus vor, weshalb die Angestellte nicht einmal mit der Wimper zuckte, oder beruhte dieses Verhalten auf einer vertraglichen Regelung? Ich wusste definitiv zu wenig über diesen Haushalt, um stichhaltige Schlüsse ziehen zu können und entschied deshalb, meine Fragen zu sammeln und später meine Neugier beziehungsweise den Wunsch, ein bisschen mehr Verständnis für das Leben im Rudel zu erlangen, zu stillen. Immerhin war es nett zu wissen, dass gewisse gesellschaftliche Normen auch hier galten, obwohl die nachträgliche Entschuldigung für das Verhalten einer anderen Person nicht nötig wäre. Zumindest hier nicht, denn ich wusste ja im Vorfeld bereits, worauf ich mich bei einem Treffen einließ. Trotzdem zauberte ich ein schmales Lächeln auf meine Lippen. „Es sind viele Neuigkeiten auf einmal, die verarbeitet werden müssen. Manche arrangieren sich leichter damit als andere“, erklärte ich diplomatisch, womit diese Woge hoffentlich geglättet war. Wie sehr hatte ich den rhetorischen Unterricht in der Vergangenheit gehasst, aber inzwischen leistete mir die unerbittliche Erziehung meiner Eltern doch ihre guten Dienste. Deshalb verzog ich auch keine Miene bei Sylvans Mutmaßung, die voll ins Schwarze traf, oder seinem Hilfsangebot bei Schwierigkeiten. Ich bezweifelte, dass ihm mein Wohl dabei an erster Stelle stand. Seine Motivation lag wahrscheinlich mehr darin, eine potenziell blutige Auseinandersetzung zwischen Isaac und anderen Rudelmitgliedern zu verhindern und wenn ich als auslösender Trigger funktionierte, dann galt es wohl oder übel mich vor Anfeindungen in Schutz zu nehmen. „Die Zähne, die Krallen, die Schnelligkeit, der Kraftunterschied, … die Liste lässt sich sicher weiter ausführen“, zählte ich nun meinerseits mit einer Brise Humor in der Stimme auf. Manchmal half das kleine Eingeständnis der eigenen Unterlegenheit bereits, um die Gegenpartei zu besänftigen. Vor allem verriet ich hier kein Geheimnis und mein Stolz vertrug meinen offensichtlichen Nachteil durchaus. Dennoch bestärkte es das Gegenüber in dessen Position und öffnete damit neue Wege für weitere Verhandlunge beziehungsweise führte zur Unterschätzung, was man im Anschluss für die eigenen Zwecke nutzen konnte, so zumindest wurde es mir theoretisch sowie praktisch in der Vergangenheit beigebracht. „Danke, aber ich hoffe, dass es dazu gar nicht erst kommen muss.“ Was sollte ich auch sonst darauf erwidern? Vielleicht galt diese Anmerkung auch indirekt als Warnung an die Rudelmitglieder? Möglichst beiläufig glitt mein Blick über die illustre Runde am Tisch, von denen niemand sonderlich pikiert, aber auch nicht unbedingt begeistert aus der Wäsche schaute. Sylvan forderte erneut meinen Blick auf sich, als auf meine, für einen Engel äußerst ungewöhnliche Fähigkeit zu sprechen kam. Natürlich. Ein wissendes Funkeln trat in meine Augen. Noch ein strategischer Schachzug des Alphas oder unschuldige Neugier? Da er ein Werwolf war, traute ich ihm prinzipiell alles zu, dennoch blieb ich vorerst noch den Umständen entsprechend locker und sah mit einer angehobenen Braue samt schiefen Grinsen zu Isaac. „Hat er das?“ Es störte mich nicht. Isaac hingegen wirkte semi-angetan von diesem offensiven Vorstoß des Kennenlernens. Mir entging der intensive Blickwechsel zwischen den beiden Männern nicht, aber was auch immer zwischen den beiden vereinbart wurde, es schien in Ordnung zu sein, denn Isaacs warme Hand landete auf meinem Oberschenkel und animierte mich indirekt dazu, näher auf meine ungewöhnliche Fähigkeit einzugehen. „Selbst wenn es hier im Norden Engel gäbe, läge die Chance sehr gering, einen Engel mit ähnlicher Veranlagung anzutreffen. Es ist sehr selten. Oder wird verheimlicht.“ Immerhin hatten wir einen Ruf zu verlieren. Es wäre durchaus schädigend für unsere nach außen hin blütenweiße Weste auf einmal mit übergriffigen oder destruktiven Skandalen in Verbindung gebracht zu werden. Wenn Isaac mich nicht bis zum Explodieren provoziert hätte, wüsste auch ein Teil meiner Verwandtschaft bis heute nicht, was in mir lauerte. Die Gefahr von äußeren Einflüssen erschien meinen Eltern zu groß, deshalb machten sie ein großes Mysterium aus meiner Gabe, sodass es gerüchteweise sogar hieß, ich hätte keine. Der Vorfall damals schlug also durchaus Wellen und brachte mir einen gewissen Respekt, aber auch Argwohn ein. Hier, inmitten skeptischer Werwölfe, würde ich meine Beliebtheit so jedoch nicht steigern. Ich musste die Informationen also behutsam vermitteln; aber wie? „Ich kann Elektrizität über meine eigenen Energiereserven akkumulieren und bei Körperkontakt weiterleiten.“ Abwartend musterte ich Sylvan und streckte meine intuitiven Fühler nach der Stimmung im Raum aus. Ich wollte nicht zu viel offenbaren, um mich als Bedrohung, die eliminiert werden muss, darstellen, aber dennoch genug, um ein bisschen Licht ins Dunkle zu bringen. und niemanden auf dumme Gedanken kommen lassen. Außerdem befand ich, dass Isaac das Recht besäße, als Erster das volle Ausmaß meiner Möglichkeiten zu erfahren und ihn nicht im Beisein seiner zweiten Familie mit der Überraschung zu beglücken. Ich konnte nicht nur attraktive Gesichter ruinieren oder Pelze ankokeln, wenn mir keine andere Wahl blieb…
Ich für meinen Teil hatte die ungute Vorahnung, dass meine liebreizende Halbschwester sich mit gar nichts arrangieren wollte. Nicht mit meinem Platz in dieser Familie und genauso wenig mit der Anwesenheit eines natürlichen Feindes, der sich auch noch ausgerechnet mit mir verbündet hatte. Mir, ihrem ach so fürchterlichen Halbbruder, der sich überhaupt nicht an einem Platz in dieser Familie interessiert zeigte. In meinen Augen übertrieb Salacia noch immer maßlos. “Nun, ich schätze, so kann man diese einschlagenden Bomben sehr nett umschreiben.”, zeigte Sylvan sich mit einem Schmunzeln amüsiert von Riccardas wohlwollender Formulierung. Ich seufzte fast tonlos. Es hätte ja gar nicht zu diesen Bomben kommen müssen, hätte er dieses Geheimnis gar nicht erst so lange für sich behalten. Ein paar der Rudelmitglieder waren zwar mehr überrascht gewesen als andere, als er mich so ganz offiziell als seinen Sohn angepriesen hatte, doch eine frühere Eingliederung meiner Wenigkeit in die Familie hätte es wirklich allen leichter gemacht. Allen außer ihm, der sich auf diese Weise lange vor seiner Verantwortung gedrückt hatte. Riccardas Aufzählung der wölfischen Attribute ließen sowohl Sylvan, als auch mich ein bisschen grinsen. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich der schlanken Blondine vor nicht allzu langer Zeit eine lange Auflistung der Dinge gegeben hatte, die ich einem gewöhnlichen Menschen voraus hatte… und das noch ganz unabhängig von meiner Fähigkeit der Gedankenmanipulation. “Und obwohl du dir all dessen bewusst bist, suchst du dir ausgerechnet Isaac aus… ein langjähriges Paradebeispiel dafür, wie sich ein Werwolf nicht verhalten sollte.”, machte mein Vater keinen Hehl aus der Ironie unserer Verbindung und erntete dafür ein flüchtiges Augenrollen von mir. “Ehrlich gesagt haben wir die Hochzeitseinladung damals für einen schlechten Scherz gehalten… und für euch beide war es das wohl auch. Mir scheint, als hättet ihr euch inzwischen aber bestens damit arrangiert.”, führte er weiter aus. Ich vermutete, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen – Riccarda hatte mich schließlich ganz und gar nicht freiwillig ausgesucht und ich hoffte, dass der Engel sich mehr als nur damit arrangiert hatte. Eigentlich war ich mir damit auch sicher, aufgrund diverser Umstände, die mir weit mehr als nur ein neutrales Verhältnis suggerierten. Aber wo genau wir jetzt gefühlsmäßig seitens Riccarda standen, war mir unklar. Wir sprachen ja nie darüber, was ein guter Grund dafür war, Sylvans Blick nach seiner Aussage erstmal zu meiden. Da er meine Gefühle ohnehin bestens spüren konnte, solange ich direkt neben ihm saß, brauchte er von mir gar keine wörtliche Antwort dazu. In einem waren wir uns jedenfalls alle drei einig – bitte keine Engel-Wolf-Zwischenfälle. Mein Blick traf auf Riccardas, als sie rhetorisch meine Erwähnung ihrer Fähigkeiten in Frage stellte. Es hatte genau genommen zwei Gründe, weshalb ich dem Alpha des Rudels gegenüber nicht weiter darauf eingegangen war. Erstens machten die Wölfe mit etwas Glück einen größeren Bogen um Riccarda, wenn sie nicht genau wussten, worauf sie sich bei dem Engel einließen und zweitens hatte ich das Engelchen vor langer Zeit mal darum gebeten, dass sie ihrer Familie gegenüber nichts ausplauderte, was mit mir oder meiner Familie auf wölfischer, übernatürlicher Ebene zu tun hatte. Diese Grenze zog ich also auch für sie ganz von selbst, wenn es um Details ihrer Existenz ging, die für meine Familie nicht irrelevant waren. Also erzählte sie nun von sich aus, was es mit ihrer Fähigkeit auf sich hatte, wobei meine Hand weiter an Ort und Stelle ruhte. Nur mein Daumen bewegte sich immer wieder ein bisschen. Während ich ihren Worten lauschte und mit einem Auge immer halb in Sylvans Richtung schielte, fiel mir jedoch auf, dass sie erstaunlich ruhig war, in Anbetracht der Situation. Ihr Herzschlag mochte sich noch nicht zu 100% dem normalen Takt angepasst haben, aber er normalisierte sich stetig weiter und sie verkrampfte sich auch nicht. Dementsprechend hörte ich ihrer Erklärung relativ entspannt zu, wobei mir das alles im Grunde schon bekannt war. Das unter Verschluss halten ihrer Fähigkeit war ja nicht zuletzt einer der ausschlaggebenden Gründe dafür gewesen, wie empört auch ihre Eltern über unsere ständigen Auseinandersetzungen waren und wie sehr das alles hatte vertuscht werden sollen… mit einer Zwangsehe. Trotzdem stellte ich fest, wie wenig Gedanken ich mir bisher darüber gemacht hatte, wie genau Riccardas Fähigkeit eigentlich funktionierte. Ich hatte immer nur das Licht gesehen und den Schmerz gespürt, was ich seit den unschönen Zwischenfällen dann hatte vermeiden wollen. So wie mein Blick in diesem Moment auf der hübschen Blondine ruhte, taten es allerdings auch einige andere prompt wieder, kaum war sie mit ihrer Ausführung fertig. Sylvans Augenbrauen zuckten ein wenig nach oben, jedoch weiterhin mehr interessiert als besonders schockiert. Er nickte nachdenklich ein wenig vor sich hin und wandte sich daraufhin an mich. “Wie schlimm ist es?”, fragte er gerade heraus. Ich bediente mich bei der Antwort vollkommener Ehrlichkeit. “Es ist schmerzhafter als Verletzungen eines Alphas… und vor allem verheilt es sehr viel langsamer als alle anderen Wunden, was es nur noch unangenehmer macht.", erzählte ich meiner eigenen Erfahrung nach. Als Sylvan daraufhin die Brauen noch etwas weiter hochzog, wanderte sein Blick zurück in die Runde voll Werwölfen. “Ich hoffe, ihr hört alle zu und schreibt’s euch hinter die pelzigen Ohren, damit ich mir im Nachhinein kein Gejaule anhören muss.” Der Alpha erntete ein paar kaum sichtbar nickende Köpfe, hier und da ging etwas Gemurmel durch die Runde, die meisten versuchte desinteressiert zu wirken – obwohl sie’s nicht waren. Es war ihnen aber sowieso nicht möglich, nicht zuzuhören, der übernatürlichen Ohren sei Dank. Viel mehr war das eine weitere Warnung seitens des Rudelführers. “Gibst du mir eine Kostprobe davon, nach dem Essen? Also… falls du es gut genug kontrollieren kannst, selbstverständlich. Ich möchte nicht mit einem komplett verbrannten Unterarm oder dergleichen enden, aber ich würde das Ausmaß deiner Fähigkeit gerne besser begreifen.” Ich glaubte im ersten Moment, mich verhört zu haben. Im zweiten Moment versuchte ich zu eruieren, was genau Sylvan damit bezwecken wollte und im dritten Moment fragte ich mich dann, was eigentlich das volle Ausmaß war. Elektrizität hatte in einem Gefäß sicherlich immer irgendwelche Grenzen. Andererseits fürchtete Riccarda sich schrecklich vor Gewitter, was ich jetzt noch viel weniger verstand als vorher. Die Spannung eines Blitzschlags war natürlich ein ganz anderes Kaliber als ein Griff in die Steckdose – aber sollte sie, so als potenzieller Ableiter, im Falle eines Treffers nicht von allen menschlichen Wesen am unwahrscheinlichsten daran sterben? Oder funktionierte das so gar nicht? Laut jetzigem Stand würde ich diesen Saal mit mehr Fragen verlassen als betreten.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Obwohl mich eine ausreichend nachdrückliche Portion Misstrauen davor bewahrte, allzu viel Vertrauen in dieses sozusagen für mich neuartig handelnde Rudel zu legen, wies mein erster Eindruck weit weniger Abneigung gegenüber dem schmunzelnden Alpha auf als ich zugegebenermaßen erwartet hatte. Die Formulierung der einschlagenden Bomben traf es ausgezeichnet, deren Detonation auch mein Leben gehörig durchgerüttelt und die Karten neu gemischt hatte. Das gesamte Ausmaß dieser Neuigkeiten würde sich wohl erst im Laufe der Zeit herausstellen, aber ein Schritt nach dem anderen. Vorerst versuchte ich meinen Kopf zu behalten und gleichzeitig eine halbwegs annehmbare Beziehung zu diesem zurückgezogenen Familienteil von Isaac aufzubauen – mit gewissen Ausnahmen. Ich entschied, dass Sylvan ein guter Anfang dafür darstellte, eine Verbindung zu knüpfen, noch dazu schien er mir sehr empfänglich für die direkte Wahrheit und damit konnte ich am besten arbeiten. Wahrscheinlich traute ich mich deshalb mit einem leichten Lachen auf seine Feststellung zu reagieren. „Ausgesucht habe ich mir in der Hinsicht gar nichts“, merkte ich amüsiert an, „wir sind eher dank unseres jeweiligen Temperaments und dem Unvermögen, nachzugeben, aneinandergeraten.“ Ganz bedacht schoben sich ein paar Erinnerungsfetzen vor mein geistiges Auge und zeigten auf, wie schwer wir uns gegenseitig das Leben gemacht hatten. Wir waren uns jahrelang nie bewusst über den Weg gelaufen und plötzlich kreuzten sich unsere Schicksale bis hin zum unvermeidlichen Supergau. „Keine Sorge, ich habe die ganze Hochzeit bis zum Schluss für einen schlechten Scherz gehalten, aber dann hat irgendwie niemand Einwände erhoben und naja… hier sind wir.“ Unbewusst drehte ich den falschen Ring um meinen Finger, während ich eine sehr knappe Zusammenfassung meiner Ansicht bezüglich der aufgezwungenen Ehe schilderte. Obwohl ich Isaac einmal mit dem Tragen des Zeichens unserer Scheinehe konfrontiert hatte und er durchaus bereit war, mir meine Freiheit, das Abnehmen des Ringes, einzuräumen, hatte ich es nach wie vor nicht übers Herz gebracht. Obwohl ich wusste, dass dieses Symbol der Verbundenheit an unseren Ringfingern überhaupt nichts bedeutete. Es zeigte lediglich die Macht unserer Eltern über uns. Trotzdem lag mein Blick nicht auf meiner Hand, sondern wanderte von Sylvan zu Isaac, den ich zwar amüsiert angrinste, aber in meinen Augen lag ein weitaus liebevollerer Ausdruck. Über unser jetziges Arrangement mit der Ehe oder uns schwieg ich, das ging niemanden an – vor allem deshalb nicht, weil ich selbst nicht wusste, wie das volle Ausmaß zwischen uns zu betiteln war. Vielleicht fürchtete ich mich auch noch immer ein wenig vor der Antwort mit all ihren Konsequenzen, weshalb ich mein Bewusstsein von diesen komplizierten Gefühlen bis zu einem gewissen Grad abschottete. Daher war es mir nur recht, das Thema zurück in sichere Gefilde zu lenken, obwohl mein Vater wahrscheinlich im Dreieck springen würde, sollte er jemals erfahren, dass ich hier munter einem potenziell feindlich eingestellten Rudel Details über meine ungewöhnliche Veranlagung verriet. Als ob ich hier Staatsgeheimnisse ausplauderte, was in seinen Augen wahrscheinlich sogar der Fall war. Dennoch fühlte es sich gut an, selbst entscheiden zu dürfen, wie viel ich von meiner persönlichen Angelegenheit verriet… immerhin ging es um mich, meine Fähigkeit, mein Potenzial – ein Umstand, den man als Vater mit einer großen Verantwortung für den gesamten Clan wohl leicht vergas. Wie auch immer. Immerhin erschlugen mich keine massiven Schuldgefühle, nachdem ich mit meiner kleinen Einführung in Sachen knisternder Elektro-Finger geendet hatte und aufmerksam die überwiegend non-verbalen Reaktionen einsammelte. Mir gehörte definitiv die Aufmerksamkeit der Anwesenden, vielleicht bis auf Theo, der sich weiterhin tatkräftig am Kuchen bediente und wohl noch zu jung war, um das Tischgespräch wirklich verstehen zu können. Schlussendlich landete ich mit meinem Blick wieder bei Sylvan, der mich nun mit erhobenen Augenbrauen musterte und mich damit rein instinktiv handeln ließ: ich streckte meinen Oberkörper durch und hob das Kinn leicht an. Ebenso schnell entspannte ich mich wieder, als er seine nächste Frage an Isaac richtete und leicht schmunzelte. Wie praktisch, dass mein einziges Opfer direkt für Nachforschungen neben mir saß. Zugegebenermaßen interessierte es mich aber auch, wie Isaac die Erfahrung nun ohne gekränktem Stolz beschreiben würde. Schmerzhafter als die Verletzung durch einen Alpha? Das hörte ich nun doch zum ersten Mal und legte den Kopf unweigerlich leicht schief. Dass meine verursachten Verletzungen länger zum Verheilen gebraucht hatte, hatte der werte Herr mir lang genug während des Prozesses vorgeworfen. Als Sylvan die versammelte Mannschaft direkt ansprach, hoffte ich ebenfalls inbrünstig, dass sie es nicht drauf ankommen lassen wollten. Amüsant, dass der Alpha auf das anschließende Gejaule zu sprechen kam. „Naja, manche bevorzugen auch das beleidigte Schmollen“, warf ich beiläufig ein und schenkte Isaac dabei ein zuckersüßes Lächeln. Das Lächeln erstarb aber sehr schnell und wich einem Gemisch aus Fassungslosigkeit und Überraschung. Sylvan wollte das Versuchskaninchen spielen? Kurzfristig zweifelt ich ernsthaft an seiner geistigen Gesundheit, andererseits schien seine Neugier erst vollends gestillt zu sein, wenn er auch am eigenen Leib die Erfahrung gemacht hatte und meine Auswirkungen tatsächlich einschätzen konnte. Wenigstens fügte er eine kleine Absicherung hinzu, was mich dann durchatmen ließ. Ja, ich besaß die Kontrolle über meine Fähigkeit – dafür hatten meine Eltern früh gesorgt –, aber es hatte sich noch niemand ohne finanzieller Entschädigung eine Kostprobe meiner Elektrizität eingeholt. All die Lehrer im Laufe meiner Ausbildung hatten eine vollumfängliche Krankenversicherung samt Gefahrenzulage ausbezahlt bekommen. Skeptisch musterte ich Sylvan, versuchte in seinen klaren Augen zu lesen und nickte schließlich zögerlich. Wenn er es wirklich wollte. „Ich kann es gut genug kontrollieren“, dabei warf ich einen sehr flüchtigen Blick hinüber zu Isaac, bevor ich mich wieder dem interessierten Alpha zuwandte, „aber egal wie sanft ich vorgehen werde, du musst zumindest mit leichten Gewebeschäden rechnen.“ Ich musste ihn allein für mein Gewissen davor warnen. Meinen Fähigkeit war zu einhundert Prozent destruktiv… ein bisschen Ausprobieren gab es da leider nicht. „Du wirst Schmerzen haben, die über unangenehm hinausgehen, obwohl keine offensichtliche Verletzung ersichtlich wird.“ Das wirkliche Ausmaß wollte er bestimmt nicht herausfordern, daher versuchte ich bewusst ihn dazu zu bewegen, eigene Grenzen zu stecken. „Und wenn es Zuschauer geben sollte, dann will ich die Gewissheit, dass ich nicht zum Appetithäppchen werde, weil es irgendwer als Angriff auf ihren Alpha fehlinterpretiert“, stellte ich noch die Bedingung, bei der ich darauf achtete, jedem Mitglied des Rudels, das mich betrachtete, mit festem Blick entgegenzutreten. Zu meinem Leidwesen schien mit dem Essen der Kuchen zum Kaffee gemeint gewesen zu sein, denn als die meisten Tassen geleert und kaum noch etwas von der süßen Köstlichkeit übrig war, klatschte Sylvan regelrecht begeistert in die Hände. Galt das als Startschuss, denn mein Herz entschied dies als solchen zu interpretieren und galoppierte mir metaphorisch gesprochen davon. „Ich schätze, im Wohnzimmer gibt es am meisten Platz“, eröffnete der Alpha, woraufhin das Kratzen von Stühlen über den Holzboden zu vernehmen war und auch ich mich zögerlich erhob. Isaac wich mir netterweise keinen Moment von der Seite, als wir als Schlusslicht in den weitläufigen Raum traten, wo sich der Großteil der Teegesellschaft auf die diversen Sitzmöbel verteilte. Sylvan stellte sich breitbeinig vor den Kamin und schaute mir erwartungsvoll entgegen. Ich hielt es immer noch für keine gute Idee, mich hier vor einer Meute misstrauischer Werwölfe von meiner zerstörerischen Seite zu zeigen. So viel also zu dem vorherigen Versuch, mich als unbedeutend und unterlegen unter dem lauernden Radar durchzuschleichen.
Hach ja, unsere zu gleichen Teilen große Sturheit… heute war sie kein so großes Problem mehr, weil wir einander besser kannten und wohl auch schlicht keine Lust mehr auf derartige Streits hatten. Es war schön, dass wir mittlerweile fast darüber lachen konnten, was wir uns mit dieser Sturheit eingebrockt hatten. Über Verletzungen durch die Engelsfinger könnte ich aber auch heute noch nicht lachen, würde es wieder passieren. Wahrscheinlich würde ich sogar noch mehr schmollen als früher, da unsere Beziehung zueinander jetzt ganz anders war. Riccarda erntete für diese Bemerkung einen Seitenblick mit hochgezogener Augenbraue, inklusive schiefem Lächeln. Heute würde offenbar aber jemand anderes den Part mit dem Aufjaulen übernehmen. Trotz Riccardas offensichtlicher Warnung hinsichtlich dieses unsinnigen Feldversuchs, nickte Sylvan leicht vor sich hin. “Gut genug muss mir dann wohl als Absicherung reichen.”, grinste der Alpha beschwingt mit leicht zusammengekniffenen Augen. Er schien es tatsächlich darauf anzulegen, heute noch einen Adrenalinkick der ganz anderen Sorte zu kriegen. “Dessen bin ich mir bewusst, keine Sorge. Ich nehme ohnehin an, dass ich instinktiv auf Distanz gehen werde, sobald ich es spüre… solange du also nicht planst, mir ernsthaften Schaden zuzufügen, werden alle Anwesenden ihre Pfoten stillhalten.”, versicherte er ganz die Ruhe selbst. Ich sah einen Moment zu Riccarda und musterte ihr Gesicht, bevor ich plötzlich doch wieder zu meinem Vater sah. “Es ist aber möglich, dass du dich aufgrund der Schmerzen verwandelst. Es wird dich wütend machen.”, sprach ich selbst noch einen ernst gemeinten Appell an den Alpha aus. Der jedoch zuckte bloß mit den Schultern. “Ich habe mich sehr gut im Griff, Isaac. Das Temperament hast du nämlich nicht von mir und im schlimmsten Fall bist du sicher schneller als ich, meinst du nicht?” Sylvan sah mich mit schief gelegtem Kopf an und wüsste ich es nicht besser, würde ich ihm eine blanke Herausforderung zum Kampf unterstellen. Ich hielt das – obwohl ich mich für schnell und stark genug befand – noch immer für keine besonders gute Idee. “Du wirst es so oder so bereuen, spätestens morgen.”, ließ ich ihn mit einem provokanten Lächeln wissen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Riccarda sich mit diesem Unterfangen wohlfühlte, als es dann tatsächlich ans Eingemachte gehen sollte, auch wenn sie kein Veto eingelegt hatte. Sylvan hatte es sich offenbar auch nicht anders überlegt und so trottete ich mit dem blonden Engel hinter der anderen her zum Wohnzimmer. “Du musst das nicht machen, wenn du nicht willst.”, murmelte ich Riccarda im Gehen zu. Ich wollte nicht, dass sie sich zu alledem genötigt fühlte und trotzdem wusste ich, dass sie sich nur äußerst selten etwas anders überlegte. Schon gar nicht, wenn es dabei um Unsicherheit oder Schwäche ging. Wer A sagte, sollte auch B sagen und Niemand mochte leere Worte, ganz gleich ob sie ein Versprechen waren oder nicht. Unterwegs spalteten sich noch ein paar der Werwölfe ab – die jüngeren, die sich möglicherweise zu sehr von diesem Spektakel angestachelt fühlen könnten, teilweise mitsamt der Mütter und/oder Väter. Es war schließlich immer noch der Alpha, dem Schaden zugefügt wurde. Alle anderen hingegen waren ebenso interessiert daran, mehr über die junge Frau an meiner Seite herauszufinden, wie es auch mein Vater war. Das Wohnzimmer mutierte kurzerhand zu einem winzigen Kolosseum, die Schaulustigen reihten sich ringsum. Als Sylvan dem Schmerz offensichtlich motiviert entgegen blickte und sich auch sonst keiner im Raum mehr von seiner Position weg bewegte, sah ich mich kurz um. Die einzige Möglichkeit, alle Anwesenden im Blickfeld zu haben, war direkt neben meinem Vater zu stehen. So konnte ich sämtliche Anzeichen von Unruhe der Werwölfe rundherum sofort erkennen und auch den Alpha am Kragen – oder am Fell – packen, sollte er sich mehr als angenommen von dem Schmerz getriggert fühlen. Letzterer sah mich mit hochgezogener Augenbraue an, als ich ziemlich dicht neben ihm Stellung bezog. “Ich vertraue deiner Selbstbeherrschung in dieser Sache erst, wenn ich sie sehe.” Ich tätschelte ihm lächelnd die Schulter, woraufhin er nur mit dem Ansatz eines Lachens den Kopf schüttelte. Ja ja, lach nur, das wird dir gleich vergehen. Ich scannte ein weiteres Mal die anderen Wölfe, aber es gab noch keinen Grund zur Sorge, also traf mein Blick schließlich direkt auf Riccardas, mitsamt einem kaum wahrzunehmenden Nicken. Ich war bereit für diese bescheuerte Aktion, wenn sie es war. Erst kurz darauf schlich sich noch ein weiterer Wolf in mein unmittelbares Radar. Ich konnte sie nicht sehen, aber diese durch und durch negative Energie war kaum zu ignorieren. Salacia musste irgendwo draußen direkt hinter dem Haus herumschleichen. Ob in menschlicher oder wölfischer Gestalt, war unklar. Sylvan schien es ebenfalls zu bemerken und angelte mit dem Klang seiner dunklen, fließenden Stimme nach meiner Aufmerksamkeit. “Sollte sie es wagen, hier reinzuplatzen, dann tu’ was nötig ist. Sie kennt die Regeln.”, bekam ich die offizielle Erlaubnis, seinem Goldstück von Tochter im Ernstfall Schaden zuzufügen. Ich nahm auch das nur mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis. Es war nämlich nicht so, als hätte ich mich davon abhalten lassen, Riccarda auch vor dem seltenen Wolfsweib zu verteidigen, hätte er mir das jetzt nicht gesagt. Partner waren tabu und solange Sylvan kein offizielles Go aussprach, waren sämtliche ernsthafte Angriffe auf egal wen sowieso zusätzlich verboten. Wenn sie also dumm genug war, es trotzdem darauf anzulegen, bekam sie den entsprechenden Denkzettel dafür. Als die Augen meines Vaters sich wieder voll und ganz auf den einzigen Engel im Raum fokussierten, er den linken Arm hob und den Knopf an seinem Ärmel öffnete, um seinen Unterarm freizulegen, blickte auch ich zurück auf das unmittelbar anstehende Geschehen. Mir blieb an dieser Stelle nichts anderes übrig, als still und leise zu hoffen, dass Riccarda mir hier nicht gleich das ganze Rudel anstachelte.
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Selbst meine zusätzlichen Warnungen schienen den Alpha nicht ernsthaft zu schockieren oder von dem Vorhaben abzuhalten, also ergab ich mich seiner irrsinnigen Bitte. Anscheinend hatte jeder Alpha so seinen Sprung im Porzellan, aber den Gedanken behielt ich lieber für mich. Genauso verkniff ich mir eine Bemerkung über den allbekannten Pazifismus der Engel. Wir – auch ich – legten es eigentlich nie darauf an, anderen Lebewesen ernsthaften Schaden zuzufügen, daher auch der vegetarische Lebensstil und die überwiegend konstruktiven Fähigkeiten, wie das Heilen oder das Wachstum von Pflanzen. Mir gefiel es überhaupt nicht, absichtlich Schmerzen zuzufügen, aber wenn es mir im Umgang mit den Werwölfen half, dann sprang ich auch über meinen moralischen Schatten. Mir war vollkommen bewusst, dass ich besonders behutsam mit dem Alpha umgehen müsste – egal ob mit oder ohne Zuschauer – und der Einwurf von Isaac bestätigte das Risiko nur, in das ich mich semi-freiwillig begab. Ein wütender Sylvan und sein ganzer Clan im Nacken als worst case gefiel mir zwar überhaupt nicht, aber gleichzeitig erhoffte ich mir von dieser Erfahrung seitens des Werwolfes, dass er danach nur noch erpichter darauf war, seinen Rudelmitgliedern meine Selbstverteidigungsmaßnahmen zu ersparen. Ich redete es mir sozusagen als Mittel zum Zweck ein. Isaac unternahm noch ein paar erfolglosen Versuchen bei seinem Vater, um ihn von dieser Schnapsidee abzubringen, aber er ließ sich nicht umstimmen und schien die eintreffenden Konsequenzen in Form physischer Schmerzen bereitwillig hinzunehmen. Unterschätzte er meine Fähigkeit? Ob es eine Alpha-Stolz-Sache oder schlichtweg das männliche Ego war, dass ihn annehmen ließ, den Schmerz gut wegzustecken, wusste ich nicht, würde aber diesbezüglich auch nicht nachhaken. Wahrscheinlich reichten Worte in diesem Fall ohnehin nicht. Schlussendlich sah auch Isaac ein, dass all seine Überredungsversuche zwecklos blieben und der Entschluss stand fest: ein kräftezehrendes Spektakel vor versammelter Mannschaft. Isaac spürte meinen Unmut, anderenfalls würde er mir sicherlich nicht diesen Ausweg anbieten beziehungsweise mir noch einmal verdeutlichen, dass ich hier niemandem etwas beweisen musste. Wenn es nur wirklich so wäre. „Schon gut. Mir wird es nicht wehtun.“ Ich würde danach nur müde sein, mich ausgelaugt fühlen. Die Zuschauer hatten ihre endgültigen Plätze gefunden, Sylvan bereitete sich ebenfalls vor und ich stand einen guten Meter versetzt zu dem Alpha und fühlte mich wie auf dem Präsentierteller. Noch ein bisschen Grünzeug drumherum und das Abendessen wäre serviert; ein sehr makabrerer Gedanke, den ich sogleich wieder aus meinem Kopf verbannte. Kurz huschte mein Blick zu Isaac, der meine Seite verlassen hatte, um sich strategischer im Raum zu platzieren – soll bedeuten, dass er nun direkt neben seinem Vater stand. Ich nahm an, dass ich als Einzige nicht hörte, was der Dunkelhaarige zu meinem Versuchsobjekt sagte, aber eventuell würde ich Isaac später, in einem entspannteren Augenblick, danach fragen. Worüber ich mich nicht erkundigen musste, war, wen er bei seiner Anweisung an Isaac meinte. Das ungute Gefühl in meiner Magengegend ließ sich inzwischen nicht länger ignorieren und mein beschleunigter Puls sprach wohl auch für die restlichen Anwesenden für meine Unruhe. Dennoch reichte mir Isaacs Nicken als Okay. Er würde mich wahrscheinlich schimpfend über diese Dummheit aus dem Raum schleifen, sollte nicht eine gute Chance bestehen, dass das Ganze glimpflich ausging. Sylvan streckte mir auffordernd seine linke Hand entgegen, doch ich griff nach seinem Handgelenk, obwohl meine schlanken Finger es kaum vollständig umfassen konnten. „Es wird sich zuerst wie ein Knistern anfühlen, dass sich schlagartig zu einem Brennen steigert und sich auszubreiten beginnt“, erklärte ich, damit sich der Werwolf zumindest mental auf den Schmerz vorbereiten konnte. Ich gab ihm ein paar Sekunden, begutachtete unsere körperliche Verbindung und richtete dann erst den Blick geradewegs in seine herausfordernd glänzenden Augen. Isaac hatte mich ähnlich provokant, wenngleich hasserfüllter angesehen, bevor ich ihm den Schock seines Lebens verpasst und geradewegs ins Krankenhaus befördert hatte. Ich seufzte leise, bevor ich vorsichtig meine Energie anzapfte und ihn langsam sickernden Bahnen in den fremden Körper umleitete. Sylvan würde es zuerst gar nicht wahrnehmen, aber meine Elektrizität wand sich längst an seinen Nervenbahnen entlang, sodass bereits erste Schäden entstanden, noch ehe er physiologisch Wind davon bekam. An dem leichten Zucken, ob absichtlich oder automatisch, wusste ich, dass sein Unterarm nun zu kribbeln begann, als ob ihm das Körperteil eingeschlafen wäre. Nur hörte es nicht auf. Die unangenehme Taubheit würde in einem vielfachen Schmerz explodieren… in drei, zwei, … eins. Sylvans Augen wurden groß, ein kehliges Knurren entfloh tief aus seiner Brust heraus und präsentierten hübsch gebogene Fänge, die seinem Naturell entsprechend nach der Bedrohung schnappten. Ich ließ prompt von ihm ab, wich instinktiv einen Schritt nach hinten. Nur machte das leider keinen Unterschied beim Ausmaß seines Schmerzempfindens. Die Ausläufer meines Kraftschubs würden trotzdem in seinem Arm wüten, bis ihnen sozusagen der Saft ausging, weil ich den Energiestrom gekappt hatte. Wachsam behielt ich den schwer atmenden Alpha im Auge, der mit seiner unverletzten Hand seinen linken Unterarm reflexartig umklammerte, etwas dichter an seinen Oberkörper hielt und leicht vorgebeugt dastand. Am meisten beunruhigte mich jedoch der intensive Blick aus seinen finsteren Augen, den ich schon einmal bei Isaac im milchigen Schein eines unheilverkündenden Vollmonds entdeckt hatte. Und damals ging es nur knapp gut für mich aus.
Tja, genau das war ebenso der Segen, wie es auch der Fluch in dieser Angelegenheit war. Ich war natürlich froh darüber, dass dem Engel bei dieser Aktion kein direkter Schaden drohte. Andernfalls hätte ich ihr schließlich noch viel stärker davon abgeraten. Für die Situation jedoch war es nicht unbedingt besser, ausgerechnet den stärksten aller anwesenden Werwölfe zu verletzen und an seinem Urinstinkt zu rütteln. Ich war ein sehr großes Exemplar von Werwolf, aber Genetik war auch bei uns nicht einfach nur Glück. Meine Gene waren Sylvans Gene und es wäre mir sehr recht, wenn ich heute nicht mehr herausfinden musste, wie fit er für sein Wolfsalter war. Auch nicht mit Handicap im Vorderbein. Zum Umkehren war es aber jetzt zu spät, als Riccarda spürbar unruhiger wurde und ihre Finger auf die Haut des Alphas legte. Ich schluckte tonlos, während ich ihrer Erklärung zuhörte, obwohl nicht ich es war, der sie brauchte. Sie rüttelte damit unschöne Erinnerungen wach, die ein inneres Schütteln auslösten – ich begrub sie lieber sofort wieder, um mich stattdessen mit jeder Faser meines Körpers auf die kommende Reaktion meines Vaters zu fokussieren. Sylvans Zucken steckte mich an, weil mein Körper nicht weniger unter Hochspannung stand als seiner, wenn auch aus anderen Gründen. Für meinen Geschmack stand Riccarda viel zu nah an der Gefahrenquelle. Ich musste davon ausgehen, dass er sich ebenso schnell verwandeln konnte, wie ich selbst. Da könnte eine Sekunde einen tödlichen Unterschied machen. Meine Atemzüge waren gleichmäßig, aber sehr tief. Das Knurren war mein Signal. Ich hob reflexartig den linken Arm und streckte ihn nach Sylvans weniger schmerzender Schulter aus, als ich gleichzeitig einen Schritt vorwärts ging. Meine Finger verkrampften sich und alles in mir schrie danach, ihm einen Schritt voraus zu sein, indem ich mich verwandelte. Doch das würde ihn nur animieren, es mir gleich zu tun. “Sylvan.”, bediente ich mich laut und deutlich seines Namens, weil er auch nach einigen Sekunden noch in dieser Zehntel-Version eines Werwolfs feststeckte. Sein Knurren hielt an und auch die umstehenden Wölfe bekamen funkelnde Augen… während Riccarda mittendrin stand. Ich zog den Alpha an der Schulter ein Stück nach hinten, weshalb ich es war, der als nächstes sein Gebiss vor dem Gesicht hatte. Mein Vater starrte mich an, als würde er mir jeden Moment in die Kehle beißen und ich scheute nicht davor zurück, diesen Blick wie ein Spiegel zu erwidern. Es dauerte ein paar elend lange Sekunden, dann rempelte er an mir vorbei und entfernte sich von selbst ein paar Schritte weit, weg von Riccarda und mir. Ich schloss zu ihr auf und stand wieder direkt neben ihr, sah sie jedoch nicht an, sondern behielt weiterhin die Situation im Blick. Leider wandte mein Vater sich weiter unter den Schmerzen, stand nie wirklich still und seine Unruhe übertrug sich kontinuierlich mehr auf den Rest der Anwesenden. Er knurrte immer wieder, mal leiser und mal lauter, doch ausschlaggebend war letztlich das schmerzerfüllte Heulen, das jedem Tierliebhaber das Herz hätte bluten lassen. Daraufhin wurde der erste Wolf im äußeren Ring von seinem Rudelinstinkt in die Knie gezwungen… und ich würde nicht warten, bis sie es ihm alle gleich getan hatten, denn er war nicht der einzige, dem es offensichtlich in den Pfoten juckte. Ich hörte Salacias geheulte Antwort von draußen, woraufhin noch zwei weitere allmählich der Verwandlung nachgaben. Nur für die Dauer der schnell abgeschlossenen Verwandlung distanzierte ich mich ausreichend von Riccarda, um sie dabei nicht zu erwischen. Ich baute mich auf und fletschte selbst die Zähne, als ich in einem Bogen um den Engel herum schlich. Mein Blick ruhte dabei auf allen umstehenden Wölfen, egal ob mit oder ohne Pelz und man, das sorgte echt für Verwirrung. Sylvan quälte sich noch immer mit dem Schmerz herum, aber ich stand in der Nahrungskette trotzdem über den anderen und gehörte gleichzeitig nicht wirklich zum Rudel. Die Zerrissenheit stand einigen quer übers Gesicht geschrieben. Als ich Salacias Pfoten auf den Fliesen des Wintergartens hörte, postierte ich mich sofort zwischen Riccarda und der kommenden Bedrohung. Die schneeweiße Wölfin riss beinahe die Tür aus den Angeln, als sie auftauchte, obwohl sie ein gutes Stück kleiner und damit flinker war, als ich selbst. Ihre schwarzen Augen glühten regelrecht, als sie mit offenem Maul auf uns zusprang.
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Ich wollte wirklich nicht altklug daherreden oder einen besserwisserischen Touch annehmen, aber: mir war von Anfang an nicht wohl bei der Sache gewesen. Und nun entwickelte sich die Situation in eine gänzlich falsche Richtung. Nicht gut wäre eine maßlose Untertreibung, das wurde mir spätestens dann in vollem Ausmaß bewusst, als Isaac seinen Vater an der Schulter zurückhielt und sich damit in den Fokus der wölfischen Augen drängte. Mir klopfte noch immer das Herz bis zum Hals, nur dieses Mal weniger vor Aufregung. Angst wäre der treffendere Begriff, denn einmal mehr sah ich mich meinem natürlichen Feind gegenüber – dieses Mal in einer schieren Überzahl. Zusätzlich mischte sich da auch noch die Sorge um Isaac ein, der damit beschäftigt war, die menschliche Gestalt von Sylvan im Hier und Jetzt zu verankern. Schön und gut, aber was war mit dem restlichen Rudel? Besorgt flatterte mein Blick über das Publikum, aus dem mich nicht minder verstörend funkelnde Augen ins Visier genommen hatten. Gar nicht gut. Immerhin entfernte sich der Alpha aus freien Stücken, zog sich in eine entfernt liegende Ecke des Raums zurück, immer noch zusammengekrümmt und mit lauernden Knurren auf den Lippen. Erfahrungsgemäß müsste die Ausbreitung der Elektrizität nun ein Ende gefunden haben, doch der Schmerz würde in den betroffenen Teilen seines Arms bleiben; für Stunden bis Tage. Mir wurde beinahe schlecht bei dem Gedanken, was das für die Zukunft bedeuten würde. Genau deshalb verwendete ich meine Fähigkeit nur in äußersten Notfall. Wie konnte man nur so dumm sein und sich einer derart riskanten Bitte hingeben? Meine Übelkeit schlug in Wut um. Diese Emotion bezog sich zwar auf meine eigene Unvernunft, aber trotzdem brodelte sie in meinem Inneren. Bei dem qualvollen Jaulen zuckte ich ruckartig zusammen, als hätte man mir mit aller Kraft ins Gesicht geschlagen. Aber nicht nur mich traf mich der herzzerreißende Laut. Mehr brauchte das ohnehin in Unruhe versetze Teilrudel nicht, schon begann der erste Verwandte mit seiner Verwandlung. Doch noch schien die Angriffslust in Grenzen zu bleiben. Ich wusste nicht direkt wieso, wagte aber nicht einmal einen zu tiefen Atemzug. Eine falsche Bewegung könnte den Unterschied zwischen Glück im Unglück und einem wölfischen Amoklauf ausmachen. Während ich mit meinen Selbstvorwürfen oder dem Unsichtbar-werden beschäftigt war, hatte Isaac die Zeit genutzt um sich seinen nachtschwarzen Pelz überzuziehen. Ebenso wie weitere Gestaltwandler und mit dem schneeweißen Wolf in der auffliegenden Tür zum Wintergarten, vervollständigte sich mein Albtraum endgültig. Ich war unbewusst bis zu einer begrenzenden Seitenmauer des Kamins zurückgewichen, nun gab es keine Möglichkeit mehr für einen weiteren Rückzug mit einer recht stabilen Wand im Rücken. Die Situation lief völlig aus dem Ruder. Salacia – niemand sonst stürzte sich sonst mit derartiger Leidenschaft auf Isaac – zögerte keine Sekunde, setzte bereits zum Sprung an und riss das Maul samt gefletschter Zähne dabei weit auf. „Aufhören! SOFORT!“, donnerte es plötzlich durch den Raum. Charlotte stand mit zu Fäusten geballten Händen, die sie seitlich an ihren Körper drückte, direkt im Durchgang, durch den wir vorhin ebenfalls das Wohnzimmer betreten hatten. Ihre gesamte Haltung sprach eine Unnachgiebigkeit aus, die ich der bisher so quirligen Hausherrin nicht zugetraut hätte und ebenso drohend sprühten ihre Augen, als sie mit langen Schritten weiter in den Raum drang. Ihr Auftreten hielt zumindest weitere Verwandlungen zurück, aber die bereits in Aufruhr geratenen Pelzträger wippten noch immer wie elektrisiert – haha – auf ihren vier Pfoten. Nur Salacias Manöver oder eher ihre Flugbahn ließ sich durch das Einschreiten ihrer Mutter nicht mehr aufhalten. Die weiße Wölfin segelte regelrecht in den Aktionsradius meines lauernden Gefährten.
Ich wollte hier kein Blutbad anzetteln und Salacia zu verletzen war nicht wirklich meine Intention, aber letzteres ließ sich jetzt nicht mehr vermeiden. Ich hörte Charly im Hintergrund, schenkte ihr jedoch keine Aufmerksamkeit. Auf die Kehle ihrer Tochter hatte ich keine Chance, also duckte ich mich und schnappte stattdessen nach ihrem Vorderbein, um sie auf den Boden zu bringen. Weil Salacia instinktiv lieber weiter in Riccardas Richtung als in meine vordringen wollte, erwischte ich sie anschließend leicht im Genick und konnte sie festhalten, sie ein Stück rückwärts von dem blonden Engel wegziehen. Es war unvermeidbar, dass meine Zähne sich dabei in ihr Fleisch bohrten, je mehr sie sich loszureißen versuchte. Dabei wurde mir aber nochmal bewusst, wie sehr sie mir in Sachen Größe hinterher hinkte. Es war möglich, dass sie noch etwas wachsen würde, aber viel konnte da eigentlich nicht mehr kommen. Die großen Wachstumsschübe waren vorüber. Allein ihr fehlendes Gewicht war ihr gerade schon zum Nachteil. Wie sollte sie so klar kommen? Es war sicher ein Grund mehr dafür, weshalb Sylvan sie hier verbarrikadierte. Meine Halbschwester tat mir zum ersten Mal ein bisschen leid, auch wenn die Wut auf sie und ihr blindes Handeln deutlich größer war. Charlotte suchte meinen Blick und versuchte sich damit abzusichern, dass ich die Göre im Griff hatte. Sie ging weiter zu Sylvan und zwang ihn dazu, ihr in die Augen zu sehen, was ich nur im Augenwinkel beobachtete. Die wölfischen Augen ermöglichten mir ein sehr viel größeres Sichtfeld und ich war nach wie vor bereit dazu, Salacia zur Seite zu werfen, um andere Bedrohungen zu eliminieren. Die Frau des Alphas redete auf ihn ein, bis er unter einem letzten Knurren die wölfischen Fänge ablegte. Ich hörte Sylvan tief durchatmen, er schüttelte sich. “Heilige Scheiße…”, fluchte er stoßartig, während er sich noch immer den Arm hielt, sich aber abgesehen davon sichtbar beherrschter an sein nur halb kontrolliertes Rudel wendete. “Ihr drei”, er stellte nach und nach Blickkontakt zu den Pelz tragenden Wölfen her, “braucht offensichtlich noch mehr Training. Morgen früh… noch vor dem Frühstück.” Der pochende Arm machte ihn fertig, das war gut zu hören. Er unterwarf auch den Rest der Anwesenden mit seinem herrischen Blick, obgleich er durch Schmerz verzerrt sein mochte. Den Funken des Alphas hatte er trotzdem inne. Die meisten gingen ein bis zwei Schritte zurück und klebten ihre Augen betreten an den Boden. Die Rangniedrigsten verließen den Raum gleich ganz in Richtung Flur, während drei noch mit ihrem Willen zur Rückwandlung kämpften. Währenddessen kam Charlotte auf mich und ihre bissige Tochter zu. Mir krampfte schon der Kiefer, als sie an die Vernunft ihrer Tochter appellierte. Doch Salacia schob weiter ihren Film, schnappte immer wieder in Riccardas Richtung und ignorierte ihre Mutter vollkommen. Mit gleichermaßen aufgebrachtem wie fassungslosem Kopfschütteln hob Charlotte die Hände und klatschte zwei mal laut in die Hände. Ich zuckte ebenso wie das Bündel, das ich festhielt — für mich war dieses Geräusch genauso unangenehm wie für meine Schwester, aber sie hörte endlich zu zappeln auf und hing nur mehr mit dem Schwanz schlagend in meinen Fängen. Ich senkte den Kopf und legte Salacia ab, lockerte meinen Biss jedoch nur sehr langsam und knurrend. Als sie es wagte, trotz Warnung zurückzuknurren, biss ich ihr in die Schnauze und löste damit das nächste Jaulen aus. Charlotte ging indes auf Riccarda zu, mein Gehör fixierte sich darauf. “Ich hoffe, dir ist nichts passiert? Bis auf den absolut unnötigen, riesigen Schrecken, natürlich.“, seufzte sie, so als würde sie selbst Schuld daran tragen. “Ich muss mich wirklich hierfür entschuldigen… der Hang zum Grenzen austesten fernab jeder Vernunft liegt in allen Wolfsgenen, fürchte ich.“ Den letzten Satz betonte sie mit Blick auf ihren Ehemann, der jedoch noch mit den anwesenden Wölfen beschäftigt war und seine Frau ignorierte, obwohl er sie gehört haben musste. Erst als Salacia ruhig hielt, ließ ich sie ganz los. Die Wölfin mit den roten Flecken im weißen Fell rutschte hastig mit den Krallen über den Boden und suchte sich mit blutiger Nase den kürzesten Weg, sich vor weiterer Verantwortung zu stehlen. Sie verschwand beinahe so schnell durch die Tür zum Wintergarten, wie sie rein gekommen war. Ich sah ihr nur kurz nach, bevor ich mich zurückverwandelte. Jetzt, wo ich Zeit zum Durchatmen hatte, wurde ich nämlich wirklich wütend und ich hatte mehr als einen Satz zu sagen. Vorher gab es nur noch eine Sache abzuhaken: Ich ging zu Riccarda, wobei ich Charly wiederum dazu zwang, einen Schritt von dem Engel wegzutreten. Wie immer, wenn sie meiner Meinung nach in Gefahr gewesen war, überprüfte ich mit eigenen Augen ihre Unversehrtheit. Ich sah ihr direkt in die Augen, streichelte ihr mit mahlendem Kiefer über die Wange, musterte sie, hörte ihr noch immer rasendes Herz, doch ihr Blut konnte ich nicht riechen. Hätte Salacia sie erwischt, wäre hier noch mehr der Teufel los, als es nun ohnehin schon der Fall war. Trotzdem sagte ich kein einziges Wort, bis meine Hand von ihrer weichen, unversehrten Haut rutschte und ich mich zu dem Mann umdrehte, der dieses Chaos bewusst herbei geführt hatte. Mein Vater hörte mich kommen und drehte sich zu mir um, den schmerzenden Arm ließ er dabei erstmals sinken. “Du hättest sie härter strafen sollen.”, sagte er, so neutral wie der Schmerz es ihm ermöglichte. “Es ist nicht meine verdammte Aufgabe, deiner Tochter irgendeine Form von Beherrschung beizubringen. Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht? Du wusstest doch, dass sie da war und was passieren würde!”, ging ich ihn scharf an, die Schultern gestrafft und unter der Spannung leicht angehoben. Dass Sylvan daraufhin leicht schmunzelte, brachte mich nur noch mehr in Rage. “Zugegeben, ich habe die Kraft deines Engels ein wenig unterschätzt. Wirklich beeindruckend… aber es ist niemandem was passiert, oder? Und wenigstens habt ihr beide das jetzt endlich geklärt, ihr braucht euch um den Stuhl neben mir also nicht mehr zu streiten.” Ich konnte in seinen Augen lesen, dass das nicht die einzigen beiden Gründe dafür waren, wieso er dieses Risiko eingegangen war. Ich trat auch den letzten, gefährlich nahen Schritt noch an den Alpha heran und versuchte ihn förmlich mit meinem Blick zu zermalmen, wäre ihm am liebsten an die Gurgel gegangen. Doch so sehr wie ich wusste, dass ich es gar nicht erst hierzu hätte kommen lassen sollen, so sehr wusste auch Sylvan, dass ich ihn nicht angreifen würde, weshalb er meinen Blick völlig undurchdringlich erwiderte, ohne die minimal angehobenen Mundwinkel abzulegen. Ich hörte zwei Paar Schritte hinter mir.
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Meine Augen weiteten sich in Angesicht der heransegelnden Gefahr in weißem Pelz samt gebleckter Zähne, die definitiv den Weg in mein Gesicht suchten. Die Loyalität ihrem Alpha gegenüber ging sogar so weit, dass sie Isaac – den weitaus erfahreneren Wolf – links liegen ließ und scheinbar nur mich in ihrem hasserfüllten Visier wahrnahm. Dumm von Salacia. Die schneeweiße Wölfin wirkte beinahe kindlich neben ihrem imposanten Halbbruder und Isaac bewies seine Überlegenheit innerhalb weniger Sekunden. Weiterhin knurrend und sich gebärdend, versuchte die Werwölfin sich aus seinem Biss zu befreien, verschlechterte ihre Situation dabei jedoch zunehmend. Mir blieb nichts anderes übrig, als diesem grausamen Schauspiel beizuwohnen. Auf mich wirkte es, als hätte die junge Gestaltwandlerin von Begann an keine reale Chance gegen Isaac gehabt und dies galt es nun zu demonstrieren. In einer anderen Situation würde ich es Salacia eventuell zugutehalten, dass sie sich dennoch nicht unterkriegen lassen wollte, aber auch ich hatte lernen müssen, wann es Sinn machte, eine bereits verlorene Schlacht weiter auszufechten und wann der Rückzug die beste Strategie darstellte. Gleichzeitig mit dem Verschwinden einzelner Rudelmitglieder löste sich auch ein Anteil meiner körperlichen Anspannung. Wobei diese Welle der Erleichterung eher darauf zurückzuführen war, dass sich der Alpha endlich aus den irreführenden Ranken seiner Schmerzen befreit und zurück in die Gegenwart gefunden hatte. Nur ihm traute ich die vollständige Kontrolle über die noch im Raum befindlichen Wölfe zu, wobei er jene verwandelten Individuen direkt zu weiteren Trainingseinheiten verdonnerte. Eventuell schadete so ein allgemein gültiges Seminar über das Kontrollieren der eigenen Emotionen niemanden der zur Verwandlung fähigen Anwesenden – sei es nur zur Auffrischung. Salacia benötigte eventuell einen Ehrenplatz in der ersten Reihe. Ich verstand nicht, wie sie noch immer nicht einsehen konnte, dass sie verloren hatte. Aber dafür fehlte mir schlichtweg der ganzheitliche Einblick in das Dominanzgefüge innerhalb des Rudels. Erst das laute Klatschen seitens ihrer Mutter, welches auch mich unangenehm tangierte, brachte ihre Gegenwehr zum Erliegen. Aber die Wölfin forderte es unbedingt mit einem aufmüpfigen Knurren heraus und bekam prompt eine blutige Schnauze verpasst. Ihr Jaulen nahm einen gepeinigten Klang an, der sie bis hinaus in den Wintergarten begleitete und ich aus reichen Sicherheitsgründen den leeren Türrahmen noch für zwei oder drei weitere Sekunden im Auge behielt, ehe ich mich an Charlotte wandte. „Mir geht es gut, keine Sorge“, versicherte ich der besorgt schauenden Hausherrin und zeigte ein aufmunterndes Lächeln, obwohl mir eigentlich absolut nicht danach war. „Eine Entschuldigung ist nicht nötig. Ich hätte ablehnen können… und hab’s nicht getan“, nahm ich einen Teil der Schuld auf mich. Uns allen war das Risiko bewusst gewesen; Sylvan und ich wollten es eingehen. Es half nichts, nun den Bösewicht unter den Wölfen zu suchen. Charlotte sah mich einen Augenblick lang beinahe erleichtert an, womöglich bildete ich mir die Regung in ihren Augen aber auch nur ein, denn da schob sich bereits Isaac in mein Blickfeld und drängte Charly geradewegs auf die Seite. Meine Schuldgefühle machten es mir unmöglich, seiner forschen Musterung standzuhalten, weshalb ich den Blick auf seine Brust heftete und mir selbst nur zugestand, meinen Kopf seitlich in die Berührung an meiner Wange zu schmiegen. Ich brauchte nicht erst nachzusehen, um zu wissen, unter welcher Anspannung Isaac geradestand – die Ruhe vor dem Sturm. Das Gewitter konnte jederzeit losbrechen, doch zunächst entfernte er sich von mir, lies Charlotte und mich neben dem Kamin stehen und durchschritt das Wohnzimmer mit einigen wenigen, langen Schritten. Innerlich stöhnte ich auf. Legte Isaac sich nun wirklich mit dem verletzten Alpha an? Ich war wirklich versucht, ihn davon abzuhalten, aber stattdessen legte mir Charly zur Ruhe mahnend ihre Hand mit leichtem Druck auf die Schulter. Also fügte ich mich dieser stummen Aufforderung, behielt die beiden Männer aber wachsam im Auge. Sylvans Unterschätzung wäre uns beinahe allen zum Verhängnis geworden. Dabei hatte ich es gewusst. Tief in meinem Inneren war ich überzeugt davon gewesen, dass der Alpha nicht wusste, worauf er sich mit mir einließ und ein Teil, den ich lieber abstritt, wollte dem Anführer des Rudels beweisen, dass ich eine ernstzunehmende Person war; nicht nur als Partnerin seines Sohns. Ich mochte diese Seite an mir nicht, trotzdem erfüllte mich dieses offene Eingeständnis mit Genugtuung. So sehr, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde sogar gewillt war, ihm zu verraten, dass Isaac damals einer weitaus größeren Menge meiner Kraft ausgesetzt gewesen war und nicht dem sacht dosierten Elektrizitätsstrom, der hier für das nur knapp an einer Katastrophe vorbeischrammende Chaos verursacht hatte. Aber nein, da stand ich drüber. Sylvan hatte recht, dass niemandem etwas passiert war. Dank Isaac. Hoffentlich war dem Alpha das auch bewusst! Oder auch nicht. Isaac trat noch einen weiteren, auf andere sicherlich einschüchternden Schritt auf seinen Vater zu, was meine Geduld endgültig überstrapazierte. Ohne zu zögern, löste ich mich von Charlottes Griff und marschierte entschlossenen Schrittes auf die beiden Kontrahenten zu – dicht gefolgt von Charly. Beim Näherkommen meinte ich, dass ausgeschüttete Testosteron förmlich spüren zu können, aber auch das hinderte mich nicht daran, mich entschlossen neben Isaac zu positionieren und nach seinem verkrampften Arm zu greifen. „Isaac“, sprach ich ihn leise an und wartete auf eine Reaktion, die leider nicht kam. Deshalb wiederholte ich seinen Namen, dieses Mal mit einem minimal eindringlicheren Klang in der Stimme. Endlich reagierte er. Ebenso wie sein Vater. Nun, da ich mir der Aufmerksamkeit beider Gestaltwandler bewusst war, atmete ich einmal tief durch, bevor ich Sylvan direkt ins Auge fasste „Mir war von Anfang an bewusst, dass eine Verweigerung meinerseits dein Interesse nur noch weiter gesteigert hätte, trotzdem hätte ich ablehnen müssen.“ Allein Isaac zuliebe. „Dir wird dein Arm die nächsten Tage Schmerzen bereiten und es gibt nichts, das du dagegen tun könntest. Es tut mir leid, dass ich sie dir zufügen musste und sei es nur zu demonstrativen Zwecken gewesen. Aber ich kann und ich werde mich im äußersten Notfall verteidigen. Also hoffe ich, dass wir das nun fürs Erste geklärt haben.“ Nun band ich auch Isaac in meinen fordernden Blick ein.
Ich hörte Riccarda schon beim ersten Mal klar und deutlich meinen Namen sagen. Den starrköpfigen, oft leichtsinnig handelnden Junggesellen von früher hatte ich inzwischen weitestgehend abgelegt und trotzdem würde er wohl nie vollständig verschwinden. Jede Faser meines Körpers bäumte sich dagegen auf, dem Blick des Alphas zu weichen, obwohl ich das musste – vor allem Riccarda zuliebe, aber auch meiner eigenen Unversehrtheit wegen. Leise murrend unterbrach ich den Blickkontakt zu meinem Vater und sah zu der zierlichen Blondine neben mir. Sylvan tat es mir gleich, er hatte seinen Sieg ja jetzt bekommen. Ich hörte ihr zu, dachte mir eingangs ein ’ich habs dir sogar noch gesagt’, das angesichts meiner eigenen Leichtsinnigkeit zehn Sekunden zuvor nicht wirklich angebracht war, bevor ich schließlich wieder zu meinem Vater sah. Gehässigkeit waberte ungebremst durch meinen Körper und ich gönnte sie ihm wirklich, diese Schmerzen. Ich mochte zu einem besseren Menschen geworden sein, all die letzten Monate über – die Rachsucht würde ich jedoch nie ablegen, da war ich mir ziemlich sicher. Es würde schön anzusehen sein, wie er jedes Mal die Miene verzog, nur weil er den Arm ein bisschen bewegte. Ich bremste diesen Gedankenstrom erst ein bisschen aus, als ich daran dachte, dass Riccarda ihm die Hand lieber gleich an den Schädel hätte legen sollen, so wie mir damals. Die Kopfschmerzen mussten weit schlimmer gewesen sein, als ein vorübergehend außer Gefecht gesetzter Arm. “Nun…” Sylvan atmete einmal etwas tiefer durch. “...ich habe dich darum gebeten und es nicht anders gewollt.”, nahm er ihre Entschuldigung zwar an, gestand jedoch auch an dieser Stelle sein eigenes Mitwirken. “Und es ist dein gutes Recht, dich zu verteidigen, das würde ich dir niemals absprechen wollen. Die Demonstration war notwendig, fürchte ich.” Er zuckte mit den Schultern und bereute es noch im selben Moment, es folgte leises Fluchen. Für mich war die Sache an dieser Stelle jedoch nur semi-geklärt, weshalb ich Riccardas Blick im ersten Moment bewusst ignorierte. “Soll heißen?”, hakte ich weiter nach und zog angespannt die Brauen nach oben. Mein Vater seufzte, warf erst einen kurzen Blick in Richtung des Engels und sah anschließend zu mir. “Ihr beide wisst, dass eure Beziehung zueinander nicht normal ist. Ich wusste selbst nicht, ob ich das wirklich ernst nehmen soll, bis du hergekommen bist.” Er sah noch einmal zu Ricccarda. “Ich war überzeugt in dem Moment, als ich euch zusammen gesehen habe. So ungewöhnlich es auch sein mag… eure Verbindung ist ehrlich und ernst, nicht mehr das Puppentheater eurer Elternhäuser, auch wenn ich da noch Verbesserungspotenzial sehe. Die Alleinstehenden unter den Werwölfen tun sich schwerer damit, sowas zu erkennen und zu spüren, als solche, die selbst schon diese Art der…” Sylvan sah mich nicht an, machte aber eine künstliche Denkpause, die nur einem einzigen Zweck diente – die Kommunikation verlief still übers Wolfsradar. Sags nicht, SAGS NICHT! “...Partnerschaft erlebt haben. Isaac hat dich ohne zu Zögern verteidigt, auch vor mir. Sein Standpunkt ist klar und spätestens jetzt sollte es jeder Wolf in diesem Haus begriffen haben. Wer sich dennoch über die alten Gebräuche hinwegsetzt, ist für euch ab jetzt Freiwild.” Ich verengte die Augen und legte den Kopf schief. “Auch meine Schwester?”, bohrte ich weiter nach. Fest rechnete ich damit, dass mein Vater irgendwelche Sonderregeln für das seltene Wolfsweibchen aufstellte, stattdessen lachte er leise. “Oh, Sally wird euch so schnell sicher nicht nochmal zum Verhängnis werden. Du bist der erste, abgesehen von mir, der sich eigenständig gegen ihre Strapazen gewehrt hat. Die anderen lassen munter auf sich herumtrampeln, solange ich nicht eindrücklich das Gegenteil befehle. Sie ist diesen Gegenwind ganz und gar nicht gewohnt und das tut ihr gut, egal von wem sie eine Abreibung bekommt… also ja, auch sie.” Ich blinzelte übermäßig, ein wenig ungläubig. Es war jedoch nicht weit hergeholt – sie war rein genetisch gesehen trotz ihres jungen Alters ein Alpha und alle wussten, was für ein Wunder sie verkörperte. Wahrscheinlich bekam sie seit jeher nur eine abgeschwächte Form vom eigentlich ganz normalen, teilweise harten Gerangel unter Wölfen, weil ihr kein Beta ernsthaft weh tun wollte… trotzdem war es für mich schwer begreiflich. Wenn dieses Biest an meinem Ohr rumnagte, nur weil ihm langweilig war, dann tolerierte ich das doch nicht einfach?! “Tja, ich schätze ihr ganzes verkorkstes Verhalten ergibt jetzt leider Sinn.”, meinte ich trocken und schüttelte den Kopf. Jetzt bereute ich es fast schon, sie für meine Verhältnisse mit Samthandschuhen angefasst zu haben. Sie würde mehr als einen dieser sachten Dämpfer brauchen, um auf ein gesundes Level von Kampffertigkeiten heranzuwachsen. Womöglich mochte sie deswegen auch ihre Mutter lieber – wenn es meistens nur der eigene Vater war, der einem in den Schwanz biss, dann war eine komplizierte Beziehung vorprogrammiert. Davon konnte ich ein Lied singen. “Ich würde es verstehen, wenn ihr das späte Abendessen heute lieber meiden und stattdessen auf dem Zimmer speisen wollt… es würde eure Stellung allerdings nochmal unmissverständlich klarmachen, wenn ihr euch sehen lasst.”, legte mein Vater uns einen Ratschlag mit einem Lächeln ans Herz. Ich hasste es, wie ich ihm jetzt schon fast nicht mehr böse dafür sein konnte, für die Provokation dieser hässlichen Situation. Es war schließlich gut für Riccarda und auch für mich, wenn von weiteren Attentaten abgesehen wurde, weil die Anfechtung meiner Beziehung zu dem hübschen Engel damit vom Tisch war. “Mach sowas nicht nochmal… ich hasse diese Heimlichtuerei, für solche Spielchen bin ich nicht hergekommen.”, musste ich trotzdem noch meine fünf Cent an Trotz dazugeben, ohne auf seine vorherigen Worte einzugehen. Schon während ich sprach, angelte ich mit den Fingern beiläufig nach denen von Riccarda. Sylvan lächelte, doch das Funkeln in seinen Augen sollte mir deutlich machen, dass ihm meine Formulierung nicht schmeckte. “Ich gebe mir Mühe.”, war seine abgeschwächte Version von ’was in diesem Haus passiert, entscheide immer noch alleine ich, Sohn’.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Dieser elende Sturkopf von einem Mann. Ich hoffte nur, dass Sylvan nicht mit demselben Attribut gesegnet war, denn sonst hätte meine kleine Ansage wenig Effekt. Dabei erhoffte ich mir gar keine wellenschlagende Einsicht, sondern nur das Beruhigen der erhitzten Gemüter. Meine vorgereihte Sorge galt Isaac, der einmal mehr den Kopf für mich hinhalten musste und nun drauf und dran gewesen war, eine Auseinandersetzung mit dem Alpha anzuzetteln. Ich kannte diese verkniffene Mimik in Kombination zu der Körperhaltung einer überspannten Sprungfeder bei ihm und meistens ging es danach erst richtig los, wenn niemand einschritt. Es schadete sicherlich nicht, dass der Gestaltwandler an meiner Seite vorerst noch den Mund hielt und Sylvan das Gespräch zu mir aufnahm. Mit einem knappen Nicken akzeptierte ich seine Einsicht. Ebenso wichtig war mir, dass der Alpha begriff, was er jenem Rudelmitglied antat, sollte es mich tatsächlich so weit in Bedrängnis bringen, dass mir kein anderer Ausweg blieb als die Grillfähigkeit meiner Finger zum Einsatz zu bringen. In dem Sinne stimmte ich dem älteren Mann also zu: die Veranschaulichung meines Potenzials war nötig gewesen. Sofern sich alle das Risiko zu Herzen nahmen, sah ich also keinen Grund, weiter auf dem Geschehenen herumzureiten. Leider unterschied sich meine Einstellung zu der von Isaac, denn dieser zeigte sich noch sichtlich unzufrieden mit unserem Wortwechsel und hakte explizit nach. Mir entging dabei nicht, dass er mich seit meines Herantretens noch keines Blickes gewürdigt hatte; ich verdiente es wohl gerade nicht anders. Sylvan tat ihm – uns – den Gefallen und holte mit einem tiefen Atemzug dazu aus, seine Stellung näher zu durchleuchten. Nicht normal unterschrieb ich ihm in der Sekunde, aber dennoch existent und funktionierend. Ich hoffte tunlichst, dass das hier kein Vortrag zur atypischen Verbindung zwischen natürlichen Feinden wurde, denn diese Karte hatten wir beide schon gespielt und sie war als ungültig erwogen worden. Wir hatten das Beste aus unserer unglücklichen Situation herausgeholt und es in so viel mehr umgewandelt. Deshalb fühlte es sich inzwischen auch richtig an. Gelinde gesagt, gefiel es mir nicht, was ich im ersten Moment zu hören bekam und zog die Augenbrauen dementsprechend finster zusammen. Der finstere Ausdruck verflüchtigte jedoch sehr schnell wieder, wich dem kurzlebigen Impuls der Empörung. Natürlich war es ernst, anderenfalls würde ich meinen Hintern nicht in ein verdammtes Wolfsrudel am Ende der Welt setzen – für einen Werwolf! Den dezenten Seitenhieb mit dem Verbesserungspotenzial überging ich lieber, immerhin war ich mir über die Baustellen in unserer Beziehung durchaus im Klaren. Dazu brauchte ich keinen Mann, den ich nicht einmal 24 Stunden kannte und dessen Fangzähne ich dafür schon direkt vor der Nase gehabt hatte. Trotzdem hörte dem Alpha geduldig zu, als er eine Erklärung für das Verhalten einzelner Mitglieder seiner Familie versuchte zu formulieren und eine für meinen Geschmack etwas zu langgezogenen Kunstpause einlegte. Unweigerlich wanderte eine dünne Augenbraue etwas nach oben, bevor die zweite folgte und aus meinem Gesicht das Verblüffen sprach. Partnerschaft in welchem Kontext? Freiwild. Schon wieder dieses elende Werwolf-Vokabular, bei dem ich nie genau wusste, ob ich die volle Tragweite verstand oder mir dafür der versteckte Pelz fehlte. Wenigstens konnte ich dem Dialog über Salacia vollständig folgen. Es war verheerend, wenn man niemals Grenzen aufgewiesen bekam, und niemand tat dem Mädchen in ihrer Entwicklung mit diesem schonenden Verhalten einen Gefallen. Für Mitleid reichte diese Erkenntnis dennoch nicht. Immerhin schien sich Sylvan diesem Problem bewusst zu sein, was ja fast als halbe Miete galt. Der Teil mit der Maßregelung von Halbschwestern ließ mich eher außen vor, dafür ging mich die konkrete Einladung zum Abendessen durchaus etwas an. Zwar brauchte ich den Wink mit dem Zaunpfahl nicht, denn ich wäre trotz all der Unannehmlichkeit erschienen, jedoch unterstützte mich die Zustimmung des Alphas, obwohl ich einmal mehr nicht genau einzuschätzen wusste, wie wichtig dieser Auftritt für das Verständnis oder die Akzeptanz des restlichen Rudels war. Mich mussten sie nicht mögen, sondern nur in Ruhe lassen. Für Isaac, um es ihm zu erleichtern, wünschte ich mir dennoch, dass ich nicht wie ein rotes Fähnchen vor seiner Familie im Wind flatterte. Also tat ich, was eben getan werden musste. „Wir werden da sein.“ Isaac äußerte sich ja nicht, sondern warf nur munter mit Ermahnungen um sich, die auf wenig Begeisterung seitens seines Vaters trafen. „Aber jetzt waren mir das wieder genug Wölfe und Zähne auf einmal und ich brauche eine kleine Pause“, entschuldigte ich mich, indem ich Sylvans vorherige Worte aufgriff und ein vages Lächeln zeigte. Isaac hatte ohnehin bereits nach meiner Hand gegriffen, deshalb musste ich erst gar keinen Körperkontakt aufbauen, sondern zupfte so an seinen Arm und animierte ihn dazu, mir aus dem Wohnzimmer zu folgen – auf direktem Weg in die Sicherheit des Gästezimmers. Dort musste ich mich wenigstens nur um einen Wolf sorgen. Zwar nicht, weil er mir an den Kragen wollte, aber ich befürchtete, dass er sich eventuell noch eine Ich-hab-es-dir-gesagt-Ansprache extra für mich aufgehoben hatte. Seufzend lehnte ich mich gegen die fest verschlossene Tür in meinem Rücken und fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht, das ich anschließend kurz gen Decke richtete, bevor ich einen vorsichtigen Blick zu Isaac riskierte. Ja, er stand immer noch unter Strom.
Wir würden also da sein… würden wir das? Nun war ich an der Reihe, kurz eine Augenbraue anzuheben und zu dem blonden Engel rüberzuschielen. Im Grunde war mir bewusst, dass Sylvan Recht hatte und Riccardas Einwilligung richtig war. Es war auch nicht so, als wäre der Nachmittagstisch besonders unangenehm gewesen – ein bisschen komisch schon irgendwie, weil der Alpha sich noch nicht so richtig wie mein Vater anfühlte und ich ihm gleichzeitig trotzdem sowas ähnliches wie meine Freundin vorstellte, aber abgesehen von seiner Aufforderung zum Auslösen puren Schmerzes war’s okay gewesen. Nur alles was danach im Wohnzimmer stattgefunden hatte, schubste meine Laune ins Bodenlose. Mir pochte aufgrund mehrerer aufdringlicher Emotionen noch immer spürbar das Herz. “Natürlich, ruht’ euch aus.”, sprach der Alpha noch sein ach so wohlwollendes Verständnis aus, das mir in diesem Moment ehrlicherweise gestohlen bleiben konnte. Ich ließ mich mit anfänglich leichtem Widerstand von Riccarda dazu überreden, Sylvan und Charlotte zurückzulassen, der Alpha hatte sicherlich noch ein paar Worte mit seinem Rudel zu wechseln. Mir lagen Worte auf der Zunge, aber dort blieben sie vorerst. Dafür blitzte dem einen oder anderen Wolf in der Nähe des Türbogens zum Flur flammendes Eis entgegen, als wir an ihnen vorbeigingen. Einer, der für meinen Geschmack zu dicht an unserem Weg stand, kassierte noch ein nicht ganz menschlich klingendes Knurren, woraufhin er zwei Schritte zur Seite ging. Meine Sinne liefen weiter auf Hochtouren, als wir den Weg zu unserem vorübergehenden Zimmer bewältigten und ein paar Mal sah ich nach links oder rechts, wenn ich Geräusche aus jenen Richtungen wahrnahm. Unser nicht existenter Wortwechsel passte sich meinem Gemüt an, bis hinter verschlossene Türen war eisiges Schweigen die Devise. Dort distanzierte ich mich von Riccarda, weil ein Teil von mir das gerne wollte. Der Teil, der irgendwann ein bisschen verlernt hatte, was Angst wirklich bedeutete und wie schmerzlich sie gleichzeitig sein konnte, wenn man um etwas anderes als sich selbst fürchten musste. Ein wieder anderer Teil wollte hingegen nicht mal die Hand des Engels so richtig loslassen, weil ich froh darüber war, wie verhältnismäßig glimpflich die Situation ausgegangen war und es viel schlimmer hatte kommen können… und dann war da auch noch die Wut, die lange Zeit mein bester Freund gewesen war und gerade jetzt, wo sie mal wieder mit Feuereifer brannte, keinen Bock darauf zu haben schien, sich zurück in ihre Kiste zu verkriechen. Ich ging zu einem der Fenster, sah eine kleine Weile lang schweigend nach draußen, versuchte durchzuatmen und ignorierte die Augen, die ich im Rücken spüren konnte. Trotzdem stöhnte ich schließlich genervt auf und hob die rechte Hand, um mir einmal mit ordentlich Druck übers Gesicht zu reiben, bevor ich mich letzten Endes zu der zierlichen Blondine umdrehte. Sie sah ein bisschen so aus, als würde sie lieber durch die Tür hinter sich glitchen, als sich jetzt mit meiner geladenen Persönlichkeit zu unterhalten, aber darauf nahm ich keine Rücksicht – ich ging sogar auf sie zu, während ich sprach. “Das war so dämlich. Hätte ich auch nur eine Sekunde wirklich effektiv darüber nachgedacht, wie sich diese Situation hätte umgehen lassen, hätte die Lösung direkt vor uns auf dem Silbertablett gelegen. Du hättest genauso gut jedem anderem verdammten Rudelmitglied den Arm lahmlegen können, das wäre fast aufs selbe hinausgelaufen… mit dem Unterschied, dass sehr wahrscheinlich bloß dieser eine Wolf deinen Kopf gewollt hätte.” Ich gestikulierte wilder mit den Händen, als ich sollte. Sylvan wäre dann vielleicht weniger zufrieden gewesen, aber was interessierte mich das denn in diesem Fall? Ich hätte das Versuchskaninchen bloß festhalten müssen und nichts wäre passiert. Salacia wäre unwahrscheinlicher ins Geschehen gestürzt und alle anderen Wölfe wären ebenso weniger getriggert gewesen. Trotzdem ein bisschen, natürlich, aber nicht so sehr wie bei Verletzung ihres verdammten Anführers. Ich wusste, dass Riccarda sich selbst verteidigen konnte – hatte es vorhin das erste Mal seit langer Zeit sogar wieder mit eigenen Augen gesehen – und dennoch lud ich mir die volle Bürde ihres Schutzes auf. Ich hätte es besser machen müssen, hätte mich nicht so bereitwillig im Notfall selbst opfern, sondern einen kühlen Kopf bewahren und einfach mal das Hirn einschalten sollen. Kurz bevor ich bei dem Engel angekommen wäre, drehte ich jedoch wieder ab, weil mein Kontingent von Stillstehen schon am Fenster aufgebraucht wurde. Ich tigerte mit großen, aber offensichtlich sehr bemüht ruhigen Schritten durch den Raum, weiter am Kleiderschrank vorbei, streckte sogar im Vorbeigehen die Faust danach aus, belehrte mich aber noch rechtzeitig eines Besseren – statt reinzuschlagen, bremste ich die Hand und fuhr mir energisch durchs Haar. Warum musste dieses beschissene Gefühl in meiner Brust so aufdringlich sein? Es wurde immer anstrengender, kein Wort darüber zu verlieren, wenn es mich während ein paar Stunden förmlich in den irdischen Himmel katapultierte und mich im nächsten Moment mit direktem Sturzflug in meine persönliche Hölle eskortierte. Sowas konnte einfach nicht gesund sein. “Das war genauso wahnsinnig wie die Aktion mit dem Vollmond.” Ich erinnerte mich noch etwas zu gut an den völlig durchnässten Pelz, weil ich vor lauter Schuld und Scham draußen vor dem Zelt geschlafen hatte. Jetzt war ich zwar trocken und es war viel mehr Ärger im Spiel, aber ich fühlte mich auf etwa gleicher Ebene beschissen. Riccarda war leider auch in dieser Sache ein bisschen zu sehr wie ich selbst – von der Familie manchenfalls nicht ganz ernst genommen, bewies sie sich gerne bei sich bietender Möglichkeit. Offensichtlich sogar auch dann, wenn es eine Katastrophe herbeiführen konnte, obwohl normalerweise sie die eindeutig verantwortungsbewusstere von uns beiden war. “Dass ich von uns beiden gerne unfassbar leichtsinnig mit dem Teufel tanze, ist ja nun nichts neues… aber es hilft uns wirklich nicht, wenn du in genau solchen Momenten deine engelsgleiche Vernunft ablegst und da auch noch mitmachst.”, beziehungsweise das Parkett sogar selbst eröffnest, obwohl du ganz genau weißt, dass ich dir folge. Oder war Riccarda das noch immer nicht klar? Reichte es nicht, dass ich ihr gesagt hatte, dass ich ihr gehörte? Nahm sie es nicht ernst, weil es wie eine Übersprungshandlung aus dem Affekt gewirkt hatte? Ich hatte das dringende Bedürfnis, doch noch einen sinnlosen Kampf im Wohnzimmer auszulösen, nur damit mir irgendwer diesen blöden, viel zu laut schreienden Muskel aus der Brust riss.
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Erfahrungsgemäß musste ich Isaac seine Zeit lassen, um sich zu adjustieren und zu sammeln. Zwang brachte bei uns beiden nichts, deshalb blieb ich stumm und drängte ihn zu nichts. Widerstandslos löste ich meine Finger aus seiner Hand, als er entschied, Abstand zu brauchen. Abwartend beobachtete ich, wie er seiner Unruhe endlich gestattete, vollständig an die Oberfläche zu treten. Dabei sah ich die imaginäre Gewitterwolke über seinem Kopf stetig wachsen. Der erste Blitz würde sicherlich bald krachen einschlagen, gefolgt von einem gewaltigen Donnern. Isaac erweckte nicht den Eindruck, als wäre es mit einer scharfen Bemerkung erledigt, also versuchte ich mich bestmöglich auf die bevorstehende Auseinandersetzung zu wappnen. Dabei verstand ich seinen Ärger im Grunde, was jeglicher Argumentation meinerseits die überzeugende Kraft nahm und ich direkt im Vorfeld entschied, keine Rechtfertigung anzustreben, sondern seine angestauten Emotionen bestmöglich aufzufangen. Irgendwo musste er schließlich hin damit und da er seinem Vater, dem Alpha, schwer eine Kriegserklärung an den Kopf knallen konnte, würde ich mich mit dem tobenden Sturm auseinandersetzen. Nicht, dass es mir leichtfiel. Eigentlich raubte mir dieser Disput den letzten angeschlagenen Nerv und ich wünschte mir einen einfachen Ausweg aus der angespannten Situation. Aber wann waren Beziehungen schon wirklich einfach? Endlich wandte sich Isaac mir zu, obwohl mir sein dunkler Blick einen harten Knoten in die Eingeweide zog und ich plötzlich ziemlich froh um die Stabilität der Tür in meinem Rücken war. Ohne zu blinzeln, sah ich ihm entgegen, wie er mit ausladenden Schritten und untermauernder Gestik auf mich zukam. Seine Beschuldigung stimmte. Es war von vorne bis hinten eine unglaublich dämliche Idee, auf die ich mich beim besten Willen nicht hätte einlassen sollen. Weder beim Alpha noch bei einem rangniedrigeren Rudelmitglied. Aber dennoch stand ich zu der Aktion, da es eben nicht fast auf dasselbe hinausgelaufen wäre. Sylvan wäre nach wie vor der Überzeugung, meine Fähigkeit gut wegstecken zu können und das Rudel hätte mich weiterhin als leicht zu machende Beute angesehen, sollte Isaac für einen Moment wegsehen. Ich vertraute einem einzigen Wolf – der stand gerade mit Zornesröte im verbissenen Gesicht direkt vor mir und starrte mich in Grund und Boden – und trotz der kleinen Pluspunkte in Sachen Sympathie dem Alpha gegenüber, konnte ich die tief verankerten Urinstinkte gegenüber meines natürlichen Feindes, der einzigen realen Bedrohung für mein Leben, nicht gutgläubig über Bord werfen, nur weil es irgendein Kodex besagte, der ohnehin mehr eine Empfehlung als eine Verbindlichkeit darstellte, dass die Gefährtin eines Wolfes tabu war. Isaac hatte eine gefühlte Ewigkeit gebraucht, um mein zerstörtes Vertrauen wieder aufzubauen und zu stärken, da durfte er nicht von mir erwarten, dass ich mich auf mir unbekannte Gesetze unter Werwölfe verließ, die in meiner Vorstellung sehr dehnbar wurden, sobald er einmal zu lange wegsah. Ich wollte nicht auf diese Art abhängig von ihm sein. Aber noch war nicht die Zeit, um diese Klarstellung laut auszusprechen. Dafür drehte Isaac ohnehin zu schnell wieder ab und für einen kurzen Augenblick glaubte er, dass der Schrank eine sehr physische Form seiner aufgebrachten Energie zu spüren bekäme. Aber der Dunkelhaarige erwies mehr Beherrschung als ich ihm noch vor ein paar Monaten zugetraut hätte, und zerzauste sich stattdessen mit einer fahrigen Geste durch die Haare die Frisur. Ein weiterer Beweis dafür, wie sehr er an sich gearbeitet hatte und entgegen der furchtbaren Stimmung zwischen uns, wärmte es mich zumindest ein bisschen von innen heraus. Meine Hände blieben dennoch eiskalt, was neben dem kräftigen Herzschlag der einzige Indiz zu meiner Gemütsverfassung war. Zu dem Knoten im Magen kam zusätzlich die Last der Schuld auf meinen Schultern hinzu, als Isaac das Camping bei Vollmond ins Spiel brachte und ich für einen kurzen Augenblick die Augen schloss, um mich nicht von der Flutwelle an Erinnerungen forttragen zu lassen. Die Zurechtweisung half wie ein Eimer kalten Wassers. Nun gab es keinen Aufschub mehr. „Warum denkst du denn, dass ich dich nicht in einer Vollmondnacht mitten im Nirgendwo allein herumstreifen lassen wollte? Wieso habe ich mich entgegen jeder Vernunft in den Flieger gesetzt, um mich mitten in ein mir völlig unbekanntes Rudel zu setzen? Beide Male waren riskant und widersprachen einem gesunden Menschenverstand. Trotzdem bin ich in dem Zelt gesessen. Trotzdem stehe ich jetzt hier.“ Wie um meine Aussage zu unterstreichen, löste ich mich von der Tür hinter mir und stellte mich aufrechter hin. „Gefühle haben nun mal nichts mit Vernunft zu tun, dagegen ist auch ein Engel nicht immun.“ Meine Stimme nahm automatisch einen weicheren Klang bei den Worten an. Wann verstand Isaac endlich, wie viel er mir inzwischen bedeutete und dass ich mich unterm Strich auch nur um ihn sorgte. Es gab keinen anderen Grund, weshalb ich diese Strapazen sonst freiwillig auf mich nehmen würde. „Denkst du denn, es hätte einen Freiwilligen gegeben, obwohl der Alpha selbst um einen Versuch mit meiner Fähigkeit gebeten hat? Und selbst wenn, dann hätte es einen Wolf im Rudel gegeben, der ein ganz persönliches Problem mit mir hätte und die anderen würden mich einfach aufgrund meiner Genetik nicht akzeptieren oder sich mit ihrer Abneigung um den einen Betroffenen scharren. Du hättest weiterhin keine ruhige Sekunde, weil du denkst, dass du die Verantwortung für mich trägst und ausgesprochenen Zusicherungen bezüglich meiner Sicherheit nie vollständig vertraut hättest. So aber wurde das Exempel direkt am Alpha statuiert, die Fronten sind vorerst geklärt. Du hast mir bewusst oder unbewusst so oft verdeutlicht, dass euer soziales Gefüge stark von Machtdemonstration geprägt ist. Ich habe mich bei der sich anbietenden Möglichkeit eingeordnet. Hier muss mich niemand mögen. Sie sollen mich nur in Ruhe lassen, damit du deine Chance bekommst, deine zweite Familie kennenzulernen und deinen Platz zu finden.“ Es nervte nicht nur ihn, wenn er meinte, sich bei jeder Gelegenheit heroisch zwischen mich und seinesgleichen werfen zu müssen, weil kein Gestaltwandler bereit war, meine Präsenz hinzunehmen. „Ich bin hier, um dich bei dem Ansturm an Neuigkeiten und Veränderungen zu unterstützen und nicht um als weiteres Problem auf deiner Agenda aufzuleuchten. Also sei ruhig wütend auf mich, weil ich unvernünftig gehandelt habe. Es wird ziemlich sicher auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich im Hinblick auf dich dumme Entscheidungen treffen werde.“ Instinktiv hatte ich die Arme vor der Brust verschränkt. Einerseits um mich festzuhalten, denn dieses Geständnis zwischen den Zeilen machte mich verletzlicher als ich mich in diesem Moment fühlen wollte und andererseits fühlte ich mich dadurch entschlossener, seinem Sturm besser entgegentreten zu können; ohne dabei zurückzuweichen oder vor seinem Funken sprühenden Blick einzuknicken. Ich meinte es genau so, wie ich es auch gesagt hatte.
Vielleicht war es keine herausragende Idee, sich schon jetzt darüber zu unterhalten. Ich hörte Riccarda genauso wachsam zu wie sonst auch, als sie schließlich auf meine Worte reagierte, aber ich merkte schnell, dass ich erpicht darauf war, alles in den falschen Hals zu kriegen. So wie immer eben, wenn ich sauer war. Mit dem blonden Engel stritt ich mich inzwischen mit Abstand am unliebsten, doch in diesem Fall war sie die einzige Option dafür. Ich grummelte kaum hörbar vor mich hin, als sie sich von der Tür löste. Das Geräusch war ausreichend, um mich dazu zu bewegen, mich immerhin halb zu ihr umzudrehen, während sie sprach. Ausreichend, um sie nicht zu unterbrechen, als sie weitersprach, obwohl mir schon wieder etwas Giftiges auf den Lippen lag… und ich war schnell froh darüber, mich beherrscht zu haben. Gefühle. Ich wusste, dass ich nicht undankbar klingen wollte und froh darüber sein sollte, dass die zierliche junge Frau sich überhaupt so weit ins Wasser der unangenehmen Zugeständnisse wagte. Meiner bisherigen Erfahrung nach tat sie sich damit ebenso schwer wie ich, was der Hauptgrund dafür war, dass wir nie mehr als nötig darüber sprachen. Unter diesen Umständen, in dieser Situation, sollte es mir reichen, dass sie sich diese Blöße zu geben überhaupt traute. Es war mir auch nicht egal – ich konnte das leicht nervöse Kribbeln spüren, das immer wieder auftauchte, seit ich mich unbewusst dazu entschieden hatte, Riccarda mein Herz zu öffnen. Es bremste sogar die Wut aus, auch wenn der Sturm in meinem Kopf sich nicht vollständig auflöste. Trotzdem reichte mir das nicht. Gefühle hatte jeder Mensch, immer. Ich versuchte, ihrer Ausführung bezüglich der Vorführung ihrer Fähigkeiten mit mehr als einer Hirnhälfte zu folgen, aber die andere hing nach wie vor an den Worten fest, die sie vorher ausgesprochen hatte. Als Riccarda noch ein paar letzte Worte anfügte und schließlich am Ende angekommen zu sein schien, versuchte ich all das Gesagte von hinten aufzurollen – angefangen mit einem leisen Schnauben, wobei ich den Kopf mit geschlossenen Augen nach vorne kippen ließ. Begleitet von einem Kopfschütteln und einem offensichtlich geknickten Lächeln. Meine Mundwinkel waren wohl nur deswegen angehoben, weil ich krampfhaft versuchte, nicht absolut alles, was an Emotionen durch meinen Körper schwappte, nach außen zu tragen. Als hätte das Riccarda gegenüber überhaupt noch einen Sinn. Ich wusste nicht, ob ich kotzen, schreien oder mich doch einfach nur in Luft auflösen wollte. “Weißt du… ich bin wirklich verdammt froh über jede dumme Entscheidung, die du triffst, weil du denkst, dass du mir damit hilfst. Jede einzelne, weil Niemand sonst das für mich machen würde. Ich weiß das zu schätzen.”, versuchte ich, mit ein paar Worten all das abzumildern, was in den nächsten Sekunden wie eine Lawine meinen Kopf verlassen würde. Ich sprach schon ein bisschen weniger laut als vorher, doch es lag immer noch Druck hinter den Worten. “Aber absolut alles wäre weniger schlimm für mich gewesen, als das… ich brauche hier keinen festen Platz. Du weißt so gut wie ich, dass ich mich niemals lange unterordnen kann. Das geht – mit Glück, wie wir vorhin erst wieder gesehen haben – mal für die Dauer eines Besuchs in Ordnung, bevor ich wieder damit anfange, die Rangordnung in Frage zu stellen… und davon gibt es bis heute nur eine einzige Ausnahme.” Erst während der letzten Worte hob ich den Kopf wieder in einer gleichmäßigen Bewegung an und drehte ihn gezielt in Riccardas Richtung, um ihr in die Augen zu sehen. Natürlich ordnete ich mich dem Engel nicht so unter, wie das ein Beta einem Alpha gegenüber in einem Wolfsrudel tat. Doch ich stellte mich ihr freiwillig auf Augenhöhe entgegen und steckte für sie zurück, wenn es das Beste war. Ich passte mich ihr an und versuchte mit ihr zusammenzuarbeiten, ich befahl ihr nichts. Wenn ich jemals wieder einem Rudel beitrat, dann wäre ich derjenige, zu dem alle anderen Wölfe aufsehen würden… und dann würde sie weiter zu der hübschen jungen Frau sehen, die meine Position teilen würde. Selbst rein menschliche Frauen hatten etwas zu melden, wenn sie an der Seite des Alphas standen. Charlotte war dafür vorhin ein gutes Beispiel gewesen… und der blonde Engel war so viel mächtiger als sie. Ich sah sie nicht nur an, ich sah zu ihr auf. Nach kurzem Zögern ging ich erneut auf Riccarda zu. Mein Blick machte dabei schon eingangs unmissverständlich klar, dass ich kein zweites Mal abdrehen würde. “Ich würde mich ohne zu blinzeln vor einen Zug werfen, wenn es dein Leben rettet. Nicht mal wenn ich es anders wollen würde, könnte ich was dagegen machen.” Ich atmete tief durch, weil das alles in meinen Ohren noch immer so hirnrissig und nach einem dummen, völlig idiotischen Bild einer Filmromanze klang. Nur übertrieb ich leider kein bisschen. Während die meisten Menschen, die ’für dich würde ich sogar sterben’ aussprachen, mit absoluter Sicherheit im letzten Moment einen Rückzieher aus Selbsterhaltungstrieb machten, würde ich das einfach durchziehen. Selbsthinrichtung vom feinsten, fernab jeder Logik. Ich kam direkt vor Riccarda zum Stehen. “Jedes Mal, wenn ich denke, ich könnte dich verlieren, krieg’ ich einen verdammten Herzinfarkt. Ich kann dir nicht mal sagen, wann in meinem Leben ich das letzte mal so große Angst hatte, wie vor ein paar Minuten. Nach dem hässlichen Abendessen mit meinem Bruder wars schon schlimm, aber das grade war ein ganz anderes Level… und ich hab dieses Gefühl wirklich nicht vermisst.” Ich schluckte tonlos, mahlte sichtbar mit dem Kiefer und meine Augen funkelten noch immer. Mit jedem weiteren Wort lag das jedoch weniger an meinem Ärger über das unnötige Chaos im Wohnzimmer, sondern mehr und mehr an dem heillosen Durcheinander in meinem Inneren. “Ich weiß, dass ich dir etwas bedeute. Sonst wärst du nicht hier und würdest dich nicht dafür interessieren, was es in mir auslösen könnte, wenn du dieses bedeutungslose Stück Metall von deinem Finger ziehst.” Sie drehte immer wieder daran, oft tat sie es wahrscheinlich unbewusst. Die Frage war nur, ob das rein der abwesenden Nachdenklichkeit und einem Drang zur Beschäftigung entsprang, oder ob sie sich dabei tatsächlich fragte, wie sehr sie sich an mich binden wollte. Ich hatte ihr schon gesagt, dass wir irgendwann nochmal richtig heiraten konnten, wenn sie darauf Wert legte. Für mich änderte sich dadurch nichts – der Wolf in mir hatte sich längst an sie gebunden, dafür brauchte er keine menschlichen Bräuche. “Du kannst ihn abnehmen, es wird keinen Unterschied machen. Ich werde dir blind überall hin folgen, solange du mich nicht fortschickst… egal wie viel Angst es mir macht, egal ob mich das irgendwann umbringt. Also tut mir leid…” Ich zögerte. Eigentlich war das, was ich bis hierhin schon gesagt hatte, mehr als wahrscheinlich zu viel des Guten. Ich wollte Riccarda nicht bedrängen, sie zu nichts zwingen. Das hatte ich mir geschworen, nach dem ungefähr größten Fehltritt meines Lebens. Ich hatte fast schon Schiss davor, je wieder irgendetwas falsch zu machen, weil ich sie auf keinen Fall wegen irgendeiner Dummheit verlieren wollte. All die ständige Ungewissheit und das Gefühl, der Engel könnte es sich jeden Tag doch noch anders überlegen und mich einfach so links liegen lassen, machten mich unfassbar fertig. Immer mehr, je länger es sich so hinzog. Es waren jetzt schon Monate, die sich wie tausend Jahre anfühlten. Sollte das auf ewig so weitergehen, bis wirklich mal einem von uns beidem was zustieß? Und das nur, weil wir auf so vielen Ebenen unfähig dazu waren, uns wie zwei Erwachsene zu unterhalten? “...aber Gefühle ist mir nicht genug.”, vollendete ich meinen zuvor angefangenen Satz ein wenig leiser. Meine Augenbrauen waren noch immer angespannt und dieses eine Mal zwang ich mich selbst dazu, nicht wieder den Blick abzuwenden. Gerade zu stehen für das, was mein Herz ihr sicher schon seit einer ganzen Weile mitteilen wollte, während mein Puls erneut Fahrt aufnahm. Ich stand noch immer stark unter Strom, aber die Wut lag irgendwo unter einer Schuttwelle aus Schmerz und Verlustängsten begraben.
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Meine Körperhaltung entsprach womöglich einer selbstbewussten und standhaften Version von mir, aber eigentlich fühlte ich mich überwiegend verunsichert. Hinzu kam eine emotionale Erschöpfung, als hätte mir jemand sämtliche Energie für das Führen einer vernünftigen Konversation geraubt. Zu gern hätte ich meinen Standpunkt verlautbart und dann die Schotten dicht gemacht, um mich nicht weiter mit diesem sensiblen Thema auseinandersetzen zu müssen. Unsere Unterhaltungen mit erhitzten Gemütern galten selten – eher nie – als erfolgsversprechend und allein der Ausdruck in Isaacs funkelnden Augen kündigte unangenehme Worte an, mit denen ich mich natürlich auseinandersetzen sollte, aber in diesem Moment wirklich nicht konfrontieren wollte. Ich hatte über die gemeinsame Zeit hinweg Erfahrungen mit seinem Temperament sammeln dürfen und wenn sich diese Launen gegen mich richteten, wusste ich inzwischen nicht mehr, wie ich darauf richtig reagieren sollte. Mittlerweile ließen mich seine ausgesprochenen Worte nicht mehr kalt, Andeutungen beschäftigten mich und ich achtete vermehrt auf versteckte Hinweise in seiner Körpersprache. Meistens gelang mit sogar eine halbwegs adäquate Einschätzung seiner Mimik und Gestik, aber in diesem Fall kam ich zu keiner zufriedenstellenden Interpretation seines Verhaltens. Oder vielleicht weigerte ich mich auch unbewusst dagegen, weil mir sein vorangegangenes Schnauben in Kombination zu dem Kopfschütteln einen spitzen Stich in der Brust verpasste. Glaubte mir Isaac nicht? Dieses gequälte Lächeln verstand ich sogar noch weniger. Und nein, ich wusste derzeit gar nichts so richtig. Zwar sagte er eben noch, dass er meine wenngleich unvernünftige Entscheidung irgendwie schätzte, gleichzeitig aber hatte er mir nur kurz davor seinen Frust über eben diese Sache unter die Nase gebunden. Was sollte ich also für bare Münze nehmen? Indirekt erhielt ich die Antwort, irgendwie aber auch nicht. Am liebsten hätte ich ihn unterbrochen und gefragt, was er denn dann von mir wollte, aber glücklicherweise hielt ich an mir. Wer wusste schon, ob Isaac auch mit Unterbrechung so viele seiner Gedanken mit mir geteilt hätte. Er sah also keine Zukunft hier im Norden, worüber ich ehrlich erleichtert war, sprach diesen Umstand aber seiner non-existenten Bereitschaft zum Unterordnen zu. Das war für mich prinzipiell kein Problem. Zum Problem wurde erst sein intensiver Blick, der mich nun förmlich an Ort und Stelle festnagelte. Obwohl seine Anspielung kaum Raum für falsche Auslegungen ließ, untersagte ich mir dennoch vehement eine emotionale Reaktion, wie Freude oder Hoffnung oder etwas gleichermaßen Fragiles. Schließlich wusste ich noch immer nicht, welches Ziel Isaac mit seiner Ansprache verfolgte und all die hässlichen Diskussionen hatten mich gelehrt, dass seine Worte mindestens genauso scharf wie seine Klauen waren. Ich dachte nicht, dass er mich absichtlich verletzen wollte oder es darauf anlegte, aber gefühlstechnisch sah ich mich bereits zu weit hineingezogen, um in erster Linie nicht auf emotionaler Ebene zu agieren und reagieren. Da kamen gekränkte Gefühle schneller vor als mir lieb wäre. Normalerweise gehörte Isaac nicht zur dramatischen Sorte, aber diese Ankündigung tendierte schon in eine stark theatralische Richtung, die ich so mit ihm nicht assoziiert hätte. Trotzdem glaubte ich es ihm aus einem Bauchgefühl heraus sofort – abgesehen von der vollen Überzeugung in seinen ernsten Augen, hatte er diese Bereitschaft nun zum zweiten Mal bewiesen. Dabei wollte ich gar nicht, dass er sich für mich beim Anzeichen von Gefahr bereitwillig in den Tod stürzte. Hatte ich bei dieser – definitiv wölfisch-übergriffigen – Hingabe nicht auch ein Wörtchen mitzusprechen? Immerhin müsste ich am Ende mit der ewigen Schuld leben. Nicht Isaac. Einmal mehr wurde mir so richtig bewusst, was es bedeutete, aus derart unterschiedlichen, eher gegensätzlichen Welten zu kommen. Zwar vergas ich nie, dass Isaac kein normaler Mann war, dennoch setzte ich die Maßstäbe beziehungsweise meine Vorstellungen oft noch in speziellen Punkten an einer herrlich durchschnittlichen Beziehung an; eindeutig der falsche Weg. Er ließ mir keine Wahl, weil er die selbst nicht besaß. Dabei handelte es sich wohl um keinen bahnbrechenden Gedankengang, aber trotzdem brachte diese längst in mir geschlummerte Erkenntnis an der Oberfläche meines Bewusstseins eine neue Perspektive mit ins Spiel. Ich zwang ihn regelrecht zu diesem Verhalten, ob er es nun auskostete oder lieber vermieden hätte, bedeutete keinen Unterschied für den Wolf in ihm. Isaac durfte sich gratulieren. Ohne seiner Absicht – zumindest ging ich von keiner bewussten Manipulation aus – vervielfältigte sich mein ohnehin schlechtes Gewissen und meine Schultern sanken bekümmert herab. Gerne würde ich die kleine Distanz zwischen uns überbrücken und ihm durch meine Nähe vergewissern, dass Isaac mich nicht so bald verlor. Aber er fühlte sich so unheimlich weit entfernt an, obwohl ich eigentlich nur meinen Arm ausstrecken müsste, um ihn zu berühren. Etwas hielt mich ab. Meine eigene Unsicherheit, seine Welle an schwer zu verdauenden Worten und das Bedürfnis, jetzt nichts falsch machen zu wollen. Bei Isaacs Erwähnung des Rings zuckte mein Blick zu dem angesprochenen Objekt hinunter. Froh darüber, seiner Beobachtung für einen kleinen Augenblick zu bekommen und damit hoffentlich auch den Schmerz in meinen Augen wieder ordentlich zu verstecken. Ja, es war ein bedeutungsloses Edelmetall, dabei wünschte ich mir einen persönlichen Wert für dieses eigentlich so aussagekräftige Schmuckstück. Aber Isaac hatte bereits einmal verdeutlicht, dass er diesen menschlichen Zusatz nicht bräuchte und auch jetzt wiederholte er die Bedeutungslosigkeit des Rings für ihn. Egal wie wenig ich es mir eingestehen wollte, aber dieses Wissen tat weh. Weil es für mich und meine heimlich-romantische Anwandlung eben doch Gewicht besäße. Eine Aussprache diesbezüglich schadete sicherlich nicht, aber ich hielt mich damit zurück. Jetzt und wahrscheinlich auch in Zukunft, denn Isaac würde für mich eine zweite Runde drehen, das Zeremoniell wiederholen und doch würde es ihm nie dasselbe bedeuten wie mir. Ich hatte Angst vor der Frustration, die dieses Ungleichgewicht nach und nach in mir schüren könnte und deshalb verzichtete ich lieber ganz. Obwohl diese Feststellung manchmal schmerzte, war sie in Ordnung. Ich schützte damit nicht nur mich, sondern auch alles, was aus uns noch werden würde. Alles, was mir Isaac mit seiner leidenschaftlichen Aussage in Aussicht stellte. Mein Blick kletterte wieder zurück in seine Augen empor und verhakte sich dort mit seinem. „Ich werde ihn nicht abnehmen und ich werde dich auch nicht wegschicken“, fing ich an und hörte ebenso unkreativ wieder auf, weil der Knoten in meinem Magen nun hinauf in meine Stimmbänder gewandert war. Ein Anzeichen für die um sich greifende Nervosität in meinem Inneren. Irgendwann hätte uns all das Schweigen und Zurückhalten bestimmt eingeholt, aber warum ausgerechnet jetzt? Jetzt, wo Isaacs Wut in meinem Kopf nachhalte und mich meine eigene Angst vor dem Ungewissen beinahe erstickte. Ich wusste, dass ich Expertin darin war, meine Gefühle zu verstecken und trotz des beißenden Drangs in meiner Brust, in eben jenes Verhaltensmuster zu fallen, verzichtete ich auf den antrainierten Schutzmechanismus. Wir glänzten beide nicht hinsichtlich klärender Gespräche, aber ich schätzte Isaac für seinen Mut, nun den Anfang zu machen. „Und was willst du von mir hören, das du selbst aber nicht bereit bist ohne Umschreibungen zu sagen?“ Er hatte mir gerade sehr viel gesagt. Mehr als ich eigentlich auf einmal verarbeiten konnte, und all das bekräftigte mich durchaus in der Richtigkeit meiner Entscheidung, dass ich in Isaac die beste Wahl getroffen hatte. Er ging aus sich heraus und nun war ich an der Reihe. „Ich habe immer noch Angst davor, dass es nicht funktioniert. Dass ich mich in dich verliebt habe und wir trotzdem keine Chance haben, weil es einfach nicht sein soll. Weil ich dich womöglich zu einem Leben als Einzelgänger verbanne, weil ich einen potenziellen Kinderwunsch nicht überlegen könnte. Weil ich weiterhin miese Entscheidungen in guter Absicht treffen werde. Weil dich dein Instinkt, dich vor jede mögliche Gefahr zu werfen, Kopf und Kragen kosten könnte.“ Weil es mir wahrscheinlich das Herz brechen würde, ihn aufgrund unserer gegensätzlichen Natur irgendwann unglücklich zu machen. Dieses Gespräch kostete mich jede Reserve von sozialer Batterie, die ich vorzuweisen hatte. Als wäre dieser Anreisetag nicht ohnehin ausreichend strapaziös gewesen. Ich klammerte mich weiterhin an mich selbst, weil gerade beschlich mich die Ahnung, dass ich ohne dieser selbstinduzierten Unterstützung einfach auseinanderfallen könnte. Langsam wurde es zu viel. Mein Geständnis setzte der emotionalen Ausgelaugtheit lediglich die Kirsche oben auf.
Lag das Risiko dafür denn wirklich bei Null? Ihre Worte klangen entschlossener, als ich es Riccarda in ihrer Verfassung zugetraut hätte. Sie war nicht weniger nervös als ich, auch wenn sich das bei ihr ganz anders äußerte. Ich wollte ihr glauben, dass sie mich niemals fortschicken würde, doch das klang in meinen Ohren unwirklich. Schließlich wusste ich selbst am besten, wie anstrengend ich sein konnte, ganz gleich wie viel ausgeglichener ich in den letzten Monaten auch geworden war. So richtig einfach würde das Leben mit mir wahrscheinlich nie für den Engel werden… und genau das war offensichtlich ein Problem. Selbst ungeachtet der massiven möglichen Probleme, die Riccarda aufzählte, würde es sicherlich immer wieder irgendwelche Felsbrocken geben, die auf unseren Weg rollten. Wollte sie ewig darauf warten, darüber hinweg zu klettern, obwohl ich sogar vorgehen und ihr von oben aus die Hand reichen würde? War das die Art, wie sie ihr Leben führen wollte – in ständiger Angst davor, irgendwas könnte schiefgehen, wenn sie auch nur einen einzigen Schritt nach vorne wagte? Ich wäre heute entweder tot oder ein brav dressierter Vollidiot in den Reihen meines Ziehvaters, hätte ich mich diesem Motto verschrieben. Es war nicht so, dass ich Riccarda nicht verstand… das war bestens allein an der Tatsache zu sehen, dass ich ihr bisher nicht gesagt hatte, was ich mir inzwischen sicher war, für sie zu empfinden. Ich behielt es für mich, aus Angst, ich könnte sie verlieren, weil es ihr zu viel war. Doch es schien, als könnte ich auf ewig damit warten und es wäre am Ende dieser Ewigkeit noch immer zu früh für solche Worte. Nicht weil der blonde Engel nichts für mich übrig hatte, sondern weil sie sich nicht traute, sich bewusst für oder gegen mich zu entscheiden – mit sämtlichen darauffolgenden Konsequenzen. Was sie gesagt hatte, war viel. Nicht weniger, als ich ihr zuvor an den Kopf geknallt hatte. Deshalb atmete ich einmal stumm tief durch, was nur an dem vermehrten Heben meiner Brust zu sehen war. Versuchte, dadurch so weit wie möglich ihre Worte zu verarbeiten und meinen Kopf zu sortieren, damit bei dieser aus reinem Ärger gestarteten Konversation vielleicht auch noch irgendetwas nützlicheres als mehr Streit herauskam. “Also… ist es das, was du willst? Einfach so weiter neben mir her in Angst leben und ewig darauf warten, dass vielleicht irgendwas passiert, was dir einen Wink mit dem Zaunpfahl gibt? Ich kann dir garantieren, dass das ein harter Aufprall wird… sich nicht zu entscheiden, ist auch eine Entscheidung.”, ich versuchte neutral zu klingen, aber das war schier unmöglich. Ich spürte, wie meine eigene Kehle langsam Druck aufbaute und auch das schmerzhafte Pieken in der Brust, vor dem ich am liebsten immer davonlaufen wollte. Riccarda traf mein Herz an Stellen, die sonst keiner auch nur berührte. Es war der einzige Schmerz, den mein übernatürlicher Körper nicht zu bekämpfen wusste, den ich aussitzen und irgendwie damit umgehen musste. “Ich verstehe dich und ich weiß, wie unfassbar kompliziert alles ist... und noch eine ganze Weile bleiben wird. Ich mache mir darüber auch Gedanken und das nicht selten.” Nur, um das klarzustellen – ihr Kopf war nicht der einzige, der deshalb zuweilen sehr schwer hing. Die Probleme stapelten sich gefühlt wöchentlich weiter auf und irgendwie wurden es auch nicht weniger. “Doch auf Vieles davon gibt es jetzt noch keine Antwort und das wird sich nicht in naher Zukunft ändern. So, wie es jetzt gerade ist, halte ich das aber nicht noch zehn Jahre durch, bis sich unter Umständen vielleicht alle Lösungen ergeben haben.”, gegen Ende hin klang ich etwas trocken, was nur ein schlechter Versuch war, meine eigentlichen Emotionen zu verbergen. Ich senkte für einen Moment den Kopf und schüttelte ihn kaum merklich. Je mehr ich sprach, desto weiter verschob sich mein Inneres von Aufregung in Richtung puren Unwohlseins. Eigentlich hatte ich es ursprünglich gar nicht auf diese Art von Gespräch angelegt, doch es rückwirkend noch auszubremsen, wäre dumm gewesen. Offensichtlich brauchte ich starken emotionalen Druck, um das Maul in Sachen Gefühle aufzukriegen. Ich hatte nicht vergessen, was Riccarda mir allem voran gesagt hatte – dass ich es selbst nicht sagen konnte. Wahrscheinlich könnte ich schon, wenn ich mich bewusst dazu entschied. Ich war inzwischen mit so vielen Dingen über meinen eigenen Schatten gesprungen, da bekam ich das auch noch hin. Aber nicht so, nicht während einer dermaßen unangenehmen Auseinandersetzung. “Ich weiß, was ich für dich empfinde…” Erst nach diesen Worten, nach denen ich leise schluckte, sah ich Riccarda wieder direkt in die dunklen Augen. Der Druck wollte sich nach wie vor nicht aus meinem Rachen lösen. “...deswegen hab ich mich ja längst dafür entschieden, dass ich mein Leben mit dir zusammen leben möchte. Es ist mir egal, wie schwierig das vielleicht ist. Ich werde immer kämpfen für das, was mir wichtig ist… was uns beiden wichtig ist.”, inzwischen sprach ich eine gute Stufe leiser, weil es mir schwerer fiel, diese Worte überhaupt über die Lippen zu kriegen und dabei irgendwie auch die Kontrolle über meine Gesichtszüge zu behalten. Ich hatte eine zuweilen sehr extreme Persönlichkeit und das oft nicht in guter Hinsicht. Doch mein lange Zeit über sehr hart verlaufenes Leben hatte mich eines unweigerlich gelehrt – wenn du nicht kämpfst, dann hast du schon verloren. Mit einer Brechstange kam man bei meinem Mut nicht weit. Man müsste mich schon in tausend Einzelteile zerlegen, um auch meinen Kampfgeist zu brechen. “Ich kann es sagen, ich hab’ keine Zweifel. Es fühlt sich nur nicht richtig an, solange ich weiter das Gefühl habe, dass du bei jedem Schritt, den ich auf dich zugehe, wieder zehn zurückspringen könntest... das macht mich fertig." Die letzten vier Worte waren nur noch gehaucht. Es fühlte sich plötzlich sehr falsch an, den blonden Engel zwischen meiner Präsenz und der Zimmertür einzukeilen, so als würde ich sie mit all diesen Worten hinrichten wollen. Das war gar nicht meine Intention... also ging ich langsam zwei Schritte rückwärts und drehte mich weg, um mit nur mehr schleppenden Schritten an das große Bett heranzutreten. Der große Schwall Energie war einfach in der Luft verpufft, als wäre er nie da gewesen. Ich ließ mich auf die Kante sinken, weil sich im Sitzen bestens das Gesicht in den auf Knien abgestützten Händen verstecken ließ. Es fühlte sich so an, als hätte ich Riccarda viel zu viel über das verraten, was in mir vorging. Obwohl ich eigentlich schon wusste, dass es richtig war, all das mit ihr zu teilen. Nur so konnte sie mich verstehen. Es würde vielleicht einfach noch eine Weile dauern, bis ich mich damit wohlfühlen konnte, wirklich sämtliche Schilde fallen zu lassen und mich verletzlich zu machen. Dabei wollte ich so gerne alles mit dem hübschen Engel teilen. Nicht nur die schönen Dinge und die Siege. Auch all das, was ich lieber nicht alleine tragen wollte, weil es mir zu viel war. Vielleicht war es wieder mal eine sehr leichtsinnige Entscheidung von mir gewesen, Riccarda einfach aus dem Bauch heraus mein ganzes Leben verschreiben zu wollen. Trotzdem fühlte es sich nicht falsch oder nicht machbar an... nicht für mich.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Zugegebenermaßen wusste ich in diesem Moment längst nicht mehr, wo mir eigentlich der Kopf stand. Scheinbar verkomplizierte sich die ohnehin angespannte Stimmung mit jedem ausgesprochenen Wort zwischen uns, dabei hieß es normalerweise, dass Kommunikation der Schlüssel zum Erfolg war. Bei uns resultierte es gerade eher im Gegenteil. Oder übertrieb ich bei dem Gefühl, dass wir gerade unbewusst an einem Scheidepunkt angekommen waren und sich dieser Ausbruch an Emotionen am besten Weg zu einem ausgewachsenen Streit befand? Mir stand die Überforderung bis zum Hals, weshalb ich am liebsten einfach schreien würde, um endlich aus meiner Haut zu kommen, aber da dies nicht im Bereich des Möglichen klang, kniff ich mir stattdessen kurz und schmerzhaft mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel, presste die Augenlider dabei zusammen und holte einmal tief Luft. Davor hätte ich wahrscheinlich nicht ohne den Gebrauch von unangebrachten Schimpfworten auf Isaacs Unterstellung reagieren können. „Ich will dich. Aber anscheinend kannst oder willst du mir nicht genug vertrauen, um das endlich auch einzusehen. Ich bin in dieser und vielen Hinsichten nicht wie du und ich schätze deine Versuche, mir dein Denken und Verhalten näher zu bringen, aber ich werde es dennoch nie auf der Gefühlsebene nachvollziehen können. Ich bin nämlich kein Werwolf. Ich werde nie einer sein und nie wie einer denken.“ Ich sah ihn an, ob er verstand, worauf ich anspielte, ging schlussendlich jedoch auf Nummer sicher, indem ich es eben leise aussprach. „Deswegen kann ich mich auch nie so binden, wie es deinesgleichen gewohnt ist. Ich kann mich nur auf meine diesbezüglich vollkommen menschliche Art an dich binden und gerade sieht es für mich aus, als wäre dir das nicht genug.“ Keine Entscheidung war auch eine Entscheidung, darin gab ich ihm recht. Aber was, wenn ihm meine Grenzen der Möglichkeit schlichtweg nicht reichten und er es deshalb als mangelnden Entscheidungswillen interpretierte? Traurigkeit füllte meinen Blick, denn momentan fühlte ich mich überhaupt nicht verstanden. Um diese Ehrlichkeit jedoch offen auszusprechen, fehlte mir die Courage. Isaac versuchte es bestimmt und ich glaubte ihm, dass er meine Bedenken und Ängste ebenso auf seine Art teilte. Er lebte längst nicht mehr locker in den Tag hinein, unbeeindruckt bezüglich seiner Zukunft. Der Gestaltwandler nahm potenzielle Probleme wahr und nahm Herausforderungen, die eine Eroberung für die Nacht zu finden übertrafen, an. Mir ging es nicht um all die Schwierigkeiten, die unser Weg sicherlich noch in der einen oder anderen Form für uns bereithielt. Meine Angst nährte sich von der hartnäckigen Sorge, nicht genug für ihn zu sein, weil es anscheinend bereits im Vorfeld daran scheiterte, ausreichend Vertrauen zu generieren beziehungsweise meine Entscheidung wahrzunehmen. Daher ersparte ich mir die Erwiderung, dass ich ebenso wusste, wie es um meine Empfindungen stand. Diese Klarstellung stand vielleicht später noch zur Debatte, aber vorerst konzentrierte ich mich auf seine Ansprache, die mich auf einer tiefgreifender Ebene berührte – zusätzlich lieferte sie mir eine indirekt ausstehende Antwort. Isaac verwechselte meine Ängste mit Zweifeln. Dabei hatte ich bereits die Erfahrung im Leben gemacht, dass man etwas wollen konnte und dennoch ängstigte man sich davor. Als Isaac sich abwandte, verstand ich im ersten Moment die Welt nicht mehr, aber nachdem ich wieder freier atmen konnte, erkannte ich seine Rücksicht auf meine Perspektive: in die Ecke getrieben – und sei es verbal – von einem Raubtier. Ich fürchtete mich nicht vor einem physischen Angriff, weswegen mir mit steigender Hitzigkeit der Diskussion nicht bewusst aufgefallen war, wie demonstrativ sich der junge Mann vor mir aufgebaut hatte; wahrscheinlich ein Instinkt des Wolfes in ihm. Trotzdem gefiel mir die neue Distanz nicht, sondern folgte ihm mit zeitlichem Abstand, aber zu meinen Bedingungen, hinüber zum Bett, wo ich mich neben ihm auf die Matratze sinken ließ. Ich wählte meinen Platz nicht zu nah, um nun die Aufdringliche zu sein, jedoch nah genug, um keine Grenze zwischen uns zu signalisieren. Lange – zumindest fühlte es sich für die Situation nicht nur nach ein paar Sekunden der Stille an – bedachte ich den Dunkelhaarigen ruhig mit meinem Blick, suchte nach Formulierungen, um das Chaos in meinem Kopf begreiflich zu machen. „Ich möchte dir dieses Gefühl nicht abstreiten, deshalb erkläre mir bitte, wie es dazu kam? Ich kann es nicht nachvollziehen. Ich vertraue dir mein Leben an, weil ich weiß, dass du auf mich Acht gibst. Welchen Vertrauensbeweis möchtest du noch von mir haben?“ Ich sprach nun ebenfalls mit gesenkter Stimme. „Ja, ich gebe zu, dass deine extreme Aufopferungsbereitschaft gewöhnungsbedürftig für mich ist, aber für mich war diese Offenbarung kein Schritt auf mich zu, sondern eine Unterstellung, fahrlässig mit deinem Leben umzugehen. Als du mich damals mühevoll um Verzeihung gebeten hast, das war ein Schritt auf mich zu, bei dem ich nicht davongelaufen bin. Du hast mir auch den Gefallen getan und bist mit mir zu meiner Verwandtschaft geflogen, was ich jetzt ebenso bereit war für dich zu tun.“ Für eine kurze Atempause hielt ich inne, spielte dabei mit meinen kühlen Fingern, um eine Beschäftigung zu haben und nicht permanent an meinen Haaren zu nesteln. Ich erkannte mein Fehlverhalten leider wirklich nicht, schließlich spiegelten wir unsere emotionale Verschlossenheit geradezu perfekt. Hoffentlich meinte Isaac nicht, dass ein brechender Staudamm, der den Pool an Gefühlen bisher brav weggesperrt hatte, automatisch einen Schritt in meine Richtung bedeutete – noch dazu in Kombination seiner wütenden Tonlage und der aufgebrachten Ausstrahlung.
Das war das Problem, oder? Unsere menschliche Anatomie mochte der normalsterblichen Spezies fast identisch sein, aber unsere Denk- und Verhaltensmuster unterschieden sich wie Tag und Nacht. Das zeigte sich immer besser, je länger wir aneinander vorbei redeten. Dabei war ich mir jedoch recht sicher, dass das nicht nur an der Tatsache liegen konnte, dass ich kein Engel und Riccarda kein Werwolf war. Es machte einen nicht außer Acht zu lassenden Unterschied, wegen unserer sehr unterschiedlichen Art des Aufwachsens, aber es war nicht das primäre Problem, glaubte ich. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann verstand ich meine eigene Gefühls- und Gedankenwelt in dieser Sache oftmals nicht vollständig. Was wiederum vermutlich daran lag, dass das hier meine erste Erfahrung in Sachen Liebe war… und verdammte Scheiße, es war anstrengend, kompliziert und sowas von verwirrend. Doch klar und deutlich von Riccarda zu hören, dass sie mich wollte, ließ meine Augen etwas größer und mein Herz ein wenig ruhiger werden. Es brachte mich nicht augenblicklich zurück in völlige Entspanntheit, aber es wischte eine große Portion Unsicherheit einfach weg, als wär sie nie da gewesen. So gut wie es tat, so wichtig war es auch – es offenbarte mir selbst nämlich ein entscheidendes Problem. “Dass du kein Werwolf bist, ist nicht relevant. Schließlich binden sich auch fast alle anderen Werwölfe an Menschen… und ich bin auch ein Mensch, teilweise.”, seufzte ich leise in meine Hände hinein. Der blonde Engel saß inzwischen neben mir, ich hatte ihre Schritte gehört und das Gewicht neben mir auf der Matratze gespürt. Der leichte Part war ausgesprochen, jetzt musste ich noch irgendwo genug Mut für alles Weitere zusammenkratzen. Ich brauchte noch einen Moment, weshalb eine weitere zähe Pause folgte, die für mich absolut unangenehm war. Obwohl Riccarda offensichtlich versuchte, mich zu verstehen und auf mich zuzugehen, es mir im Grunde schon leichter zu machen versuchte, waren all die Gedanken in meinem Kopf nur schwer in gut für sie verständliche Sätze zu verpacken. Für mich als ausgewachsenen Kommunikations-Nichtprofi keine leichte Aufgabe. Allem voran ließ ich die Hände sinken, um nicht mehr nur mit meinen Handflächen zu sprechen. “Ich möchte dir keine Vorwürfe machen, es ist nur… so stark mein wölfisches Naturell auch sein mag, trifft das offensichtlich nicht automatisch auch auf den Menschen zu, der hier gerade neben dir sitzt.” Ich murmelte undeutlich und ich sah Riccarda noch nicht wieder an, sondern blickte gerade in den Raum hinein. Es war mir hochgradig unangenehm, mir meine eigene Schwäche einzugestehen. Ich vergaß allzu gerne, dass ich nicht nur aus dem Predator bestand, der sich für 80% meiner Lebenszeit hinter der Fassade eines Menschen versteckte, aus Tarnungsgründen. Es war der Mensch in mir, der mir all diese extrem sensiblen, tiefen und komplexen Gefühle zu empfinden erst möglich machte – nicht der Wolf. “Ich nehme das alles wahr: Dass du meine Nähe suchst, dass du dich um mich sorgst, dass du mir helfen möchtest… dass du für mich da bist, wenn ich dich brauche, auch wenn mir das anzunehmen oder danach zu fragen oft noch immer etwas schwerfällt.” Ich hatte mich auch zu dem Anruf, der den Engel letztendlich bis hierher aufs Gästebett katapultiert hatte, erst lange durchringen müssen – trotzdem hatte ich ihn aber gemacht. “Das grade eben… als du gesagt hast, dass du mich willst… das hat mich aufatmen lassen.”, gestand ich zögerlich. Mühsam näherte ich mich den Kernaussagen, um die es mir eigentlich ging, aber ich bekam das alles nicht einfach mal eben so über die Lippen. “Offensichtlich bin ich… sehr unsicher, wenn es um uns beide geht. Ich gebe dir Recht damit, dass das wahrscheinlich daran liegt, dass ich mir sehr schwer damit tue, überhaupt Irgendjemandem zu vertrauen…”, gestand ich ihr diese Feststellung zu und zuckte kaum merklich mit den inzwischen nicht mehr angespannt angezogenen, sondern fast schon verzweifelt am Boden klebenden Schultern. Dass ich merkte, dass auch Riccarda neben mir sich bei diesem Gespräch schlecht fühlte, ihre negativen Emotionen förmlich auf mich überschwappten, machte mir mehr und mehr ein schlechtes Gewissen. Es war nie mein Ziel gewesen, sie heute Abend noch unglücklich zu machen. Es konnte nur wirklich nicht länger mit diesem beidseitigen Schweigen weitergehen – das machte uns scheinbar mehr Probleme, als die Hürden, die für uns noch in der Zukunft lagen. “...und vielleicht fällt es mir genauso schwer, dir zu glauben, dass du sicher bist, mit mir leben zu können. Ich bin das, was wirklich viele Menschen als das pure Böse abstempeln würden. Auch deine Familie, jedenfalls ein Teil davon.” Mit manchen von Riccardas Verwandten verstand ich mich inzwischen sogar ganz gut, aber nicht mit allen. Das war wie bei den Werwölfen hier im Norden – manche würden den Engel früher willkommen heißen, als andere. Manche änderten wahrscheinlich nie ihre Meinung, so auch die Engel. “Ich kann wirklich verstehen, dass es dir weiterhin lieber ist, wenn wir das mit uns beiden nicht jedem deiner Verwandten unter die Nase reiben. Wegen dem noch nicht ausgesprochenen, vorläufigen Plan, langfristig um- und damit wegzuziehen, falls das mit Harrys Firma was wird… und weil es Zuhause nicht so ist wie hier, wo wir einfach wieder aus dem Radius aus Empörung und Fragen flüchten können, wenn es uns zu viel wird.” Ich bemühte mich dauerhaft, einigermaßen klar zu sprechen und nicht nur irgendwie in mich reinzumurmeln. Ich machte eine kurze Pause, atmete ein weiteres Mal tief durch und drehte dann erst den Kopf in Riccardas Richtung, um sie ansehen zu können. Das würde mir über kurz oder lang Genickschmerzen einbrocken, doch ich fühlte mich in dieser nach vorn gelehnten Position wohler. Weniger exponiert, als würde ich mich gerade hinsetzen. “Aber es fällt mir immer schwerer, jeden Tag so zu tun, als hätten wir nur zwangsweise ein freundschaftliches Arrangement, weil wir die Ringe tragen. Neben den ganzen anderen Sachen… bestärkt das einfach meine… Unsicherheit. Erst sind wir alleine, du verhältst dich so… dann sind wir nicht mehr alleine und du verhältst dich mühelos vollkommen anders… ich hab keine so perfekte Fassade wie du. Es widerspricht einfach meiner Persönlichkeit, meiner Einstellung und auch dem Wolf in mir. Für mich ist das verwirrend, obwohl ich weiß, dass du das eigentlich nicht so meinst.” Ich hatte zwar auch menschliche Social Skills, aber dieses Puppentheater widersprach absolut meinem wölfischen Naturell – da kommunizierte man ausschließlich über Körpersprache, Mimik und Gestik, teilweise auch über Laute. Worte gab es jedoch nicht und vielleicht brauchte ich sie als Mensch deshalb umso mehr, wenn alles andere sich konstant widersprüchlich verhielt. “Das gerade eben… das war das zweite Mal, dass du’s gesagt hast…” Das erste Mal war gewesen, als sie beschlossen hatte, ihre Angst zusammen mit ihren Klamotten irgendwo neben das Bett fallen lassen zu wollen. Nur war das inzwischen geschätzte vier Monate und damit schon ewig her. “Ich weiß, dass wir beide uns damit schwer tun… aber könntest du’s öfter sagen? Nicht Wort für Wort, nur… einfach irgendwas, das ich nicht missverstehen kann… das mir klar sagt, was du fühlst.” Schließlich konnte ich ihren Herzschlag hören und mit meinem sensiblen Gehör winzige Veränderungen in ihrer Tonlage erkennen. Würde sie lügen, würde ich es merken – ebenso, wenn sie es nicht tat. Es tat mir leid für Riccarda, dass sie sich ausgerechnet in den größten emotionalen Krüppel verguckt hatte, den sie im Umkreis von hundert Kilometern hätte finden können. Aber das war nichts, was man nicht hinbekommen konnte, oder? Meine Kehle wurde immer rauer und es machte sich langsam Druck in meiner Magengegend bemerkbar. Trotzdem war mir noch etwas wichtig zu sagen, weil ich es richtigstellen wollte: “Du bist viel mehr als nur genug für mich und ich möchte dir wirklich vertrauen, mit jeder Faser meines Körpers... ich brauch' nur noch etwas Hilfe dabei, zu verstehen, womit ich das alles überhaupt verdient habe.” Zum Ende hin brach meine Stimme leicht, weshalb ich im direkten Anschluss trocken schluckte. Meine Lider flackerten für einen kurzen Moment ein wenig, aber ich hielt auch den Blickkontakt aufrecht. Jetzt war's sowieso gelaufen, kein Grund mehr krampfhaft irgendwelche Abwehrmechanismen abzurufen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈