Wir fühlten uns sicherlich aus unterschiedlichen Gründen schlecht. Isaac erschien allgemein in keiner guten Verfassung – mental und körperlich – zu sein und mir ging dieser ungewohnte Anblick an die Nieren. Daher reagierte ich umso eifriger auf die wenngleich kleine Aufgabe des Beschaffens von Wasser und tigerte bereits los, noch ehe Isaac die gesamte Frage ausformuliert hatte. Die Kühlbox stand ein bisschen schief in den Boden eingesunken nach wie vor dort, wo ich sie am gestrigen Abend hinterlassen hatte; unangetastet. Der Inhalt bestand ohnehin nur mehr aus Getränken und ein paar Gemüse-Spieße, nichts, was einem Werwolf im Blutrausch zusagen würde. Ich griff nach zwei Wasserflaschen, schloss die Box wieder geräuschvoll und kehrte zurück zu Isaac, der sich jedoch in der Zwischenzeit anderweitig Beschäftigung gesucht hatte. Kurz verunsichert, unterzog ich der kleinen Lichtung einen schnellen Rundblick, bevor meine Augen den Dunkelhaarigen bei der Musterung des Jeeps entdeckte. „Was tust du da?“, erkundigte ich mich eine Sekunde zu schnell, denn die Antwort gab ich mir sogleich selbst: „Du brauchst nach keinen Schäden suchen. Der Wagen hat dich keine Sekunde interessiert.“ Es musste furchteinflößend sein, am Morgen aufzuwachen und nicht zu wissen, was man die Nacht lang in Gestalt einer Killermaschine angestellt hatte. Erneut erfasste mich eine Welle des Mitgefühls. Ob Isaac meine Anteilnahme wollte? Ich ging auf Nummer sicher und zwang mich schnell zu einer neutraleren Miene, während Isaac halbwegs trocken und angezogen zurückkehrte und das Getränk entgegennahm. Ich selbst nippte nur verhalten an dem Wasser – mein Magen fühlte sich nach wie vor zugeschnürt an. Mit jeder schweigend verbrachten Sekunde vergrößerte sich meine innerliche Anspannung. Isaac schien ebenso unangenehm berührt zu sein, denn die Aufforderung zum Setzen klang alles andere als fest oder gar bestimmt. Nickend stimmte ich dem Vorschlag zu, denn das Hinauszögern dieses Gesprächs würde die Situation höchstens verschlimmern und für ungeklärte Anspannungen zwischen uns sorgen. Weiterhin stumm gingen wir hinüber zu den übriggebliebenen Campingsesseln, die natürlich vom Regen nicht verschont geblieben sind und ebenso von den Tropfen benetzt waren. Mit dem kleinen Handtuch wiesen wir keinen riesigen Erfolg auf, sodass erneut unsere Bekleidung daran glauben musste, bevor wir uns ohne Risiko einer akuten Blasenentzündung – in meinem Fall – darauf niederlassen konnten. Isaac rutschte mir gegenüber ein bisschen unrund auf der Sitzfläche herum, suchte wohl nach einer ansatzweise gemütlichen Position und dann… stieg er direkt und ohne Einleitung in den Versuch einer Erklärung ein. Ich fühlte mich ein bisschen ins kalte Wasser geschupst, folgte seinen Worten dennoch aufmerksam und nickte einmal kurz mit dem Kopf. Ich versuchte zu verstehen, was er mir erzählte, und sortierte die neuen Informationen. Ich hatte das mikroskopisch kleine Bluttröpfchen auf meiner Hand nicht einmal wahrgenommen, da war es bereits zu spät – im wahrsten Sinne der Worte der Anfang vom Ende. Kaum auszumalen, wie verschärft seine Ohren dann arbeiten mussten, wenn eine derart kleine Wunde bereits solch eine heftige Kaskade an Ereignissen in Gang brachte. Isaac saß mir wie ein Häufchen Elend gegenüber. Er hob nur kurz den Blick von seinen Händen auf, um mir ein kleines Lob für das richtige Verhalten auszusprechen. Dabei hatte ich nicht mit ihm gesprochen, ich hatte schluchzend um mein Leben gebangt – basierend auf der Hoffnung, dass sich selbst der hungrige Werwolf daran erinnerte, dass wir im gemeinsamen Team spielten. Am Ende der Gleichung blieb meine Präsenz im Hier und Jetzt dennoch Isaac zu verdanken. Ich wollte so gerne etwas sagen, fand aber nicht die richtigen Worte und schwieg deshalb weiterhin. Außerdem wirkte Isaac so, als hätte er noch mehr Unausgesprochenes auf dem Herzen liegen. Wie er da so bekümmert auf seine Schuhspitzen starrte… sein Geständnis oder eher eine getarnte Schuldzuweisung sorgten mit einem Schlag, dass ich doch sehr viel zu sagen hatte: „Du konntest es aber nicht besser wissen und es ist nicht falsch gewesen, dass du darauf hoffen wolltest, es würde funktionieren. Jetzt wissen wir es beide besser“, betonte ich absichtlich die Zeitfaktoren nachdrücklicher. „Lade dir bitte nicht die Schuld dafür auf. Es war nur ein Versuch, der schief gegangen ist“, versicherte ich ihm leise und griff nach seiner Hand. „Ich denke, du hast dich mit der Nacht im Regen schon genug bestraft und wirst dir deine Vorwürfe wahrscheinlich eh nicht so einfach von mir ausreden lassen. Also quäle dich nicht auch noch damit, dass du mich nicht durchgehend oder sofort als Partner erkannt hast.“ Ich bedachte ihn mit einem ernsten Blick, aber er wich mir absichtlich aus, sodass ich mich gezwungen sah, mich zu erheben, vor ihn zu treten und mich ungeniert auf seinen Schoß zu setzen, um nun mit einer Hand ganz leicht sein Kinn anheben zu können – einem De-ja-vú gleich, immerhin hatte mir vor ein paar Stunden erst ein Werwolf das Gesicht zum Sternenhimmel mit dergleichen Geste angehoben – und ihm den Blickkontakt aufzudrängen: „Isaac, ich bin dir wirklich nicht böse, falls du das denkst. Ich weiß, dass es da eine Barrikade bei Vollmond gibt und ich deshalb das Geschehe nicht als Absicht werten darf. Du bist wer weiß wie viele Stunden stur im Nassen vor dem Zelt gehockt und hast nichts gemacht, obwohl du ebenso gut die halbe Insel in Aufruhr hättest bringen können. Dein Beschützerinstinkt war da. Ausreichend.“ Ein zärtliches Lächeln untermauerte meine Überzeugung, bevor ich sein Kinn entließ und hoffte, dass die Ansprache ausgereicht hatte, um mögliche Spätfolgen in unserer Beziehung präventiv zu eliminieren.
Ich wünschte, ich könnte mich genauso klar an die Vollmondnacht erinnern, wie Riccarda das tat. Es war mit das schlimmste von allem, dass man sich nur noch vage an die Dinge erinnerte, die passiert waren - der unerfreuliche Zusammenstoß mit dem Engel war dabei noch mit am klarsten verzeichnet. Der Rest war grob zusammengefasst nur Hetzen, Schnüffeln und Fressen in zu geringem Ausmaß, um heute völlig entspannt ein Nickerchen machen zu können. Die Zufriedenheit, die ich sonst nach solchen Nächten spürte, blieb völlig aus. Es war gut, dass ich den Wagen ihrer Verwandten offenbar nicht mal angesehen hatte, aber das half mir nicht mit dem unschönen Rest der Umstände. Während meine Angetraute zuerst eine ganze Weile zu der Thematik schwieg und wohl versuchte, sich eine etwaige Vorstellung davon auszumalen, wie es mir in der letzten Nacht ergangen sein musste, schaltete sich ihre Zunge zum Ende meiner Ausführung dann doch sehr entschieden ein. Ich hob den Blick auch dabei nur flüchtig, weil ich es ehrlicherweise nicht wirklich verstand und kurz nachsehen wollte, ob sie das ernst meinte. Dementsprechend spiegelten sich Verwirrung und Widerspruch in meiner leicht faltigen Stirn und den müden Augen wieder. Es mochte schon sein, dass ich noch nie in einer Situation gewesen war, die der von letzter Nacht ausreichend glich, um sie als Referenz hernehmen zu können - aber die Hoffnung allein war schon dämlich gewesen. Man konnte mir viele schlechte und schräge Eigenschaften nachsagen, aber ich war normalerweise nicht naiv. Mir hätte klar sein müssen, dass dieser Feldversuch scheitern würde - die Sterne standen schließlich selten günstig für uns, da würde es der Vollmond erst recht nicht tun. Ich sah also noch wenig überzeugt auf Riccardas Hand hinab, als sie mit ihren Fingern nach meinen griff. Sie war nicht blind. Merkte längst, dass ich ihr zwar zuhörte, aber mein Gesicht weit davon entfernt war Einverständnis für ihre Worte zu zeigen. Doch Riccarda kannte meine Sturheit allzu gut und ihr gefiel diese Form der Antwort überhaupt nicht. Ich rechnete mit Vielem, aber nicht unbedingt damit, dass die zierliche Blondine sich plötzlich auf meinen Schoß pflanzte. Deshalb lehnte ich mich dezent perplex im Stuhl zurück und löste mich dadurch aus der etwas krummen Haltung, die ich vorher eingenommen hatte, um dem Engel den nötigen Raum zu geben. Es brauchte trotzdem ihre zierlichen Finger, damit ich meine wehmütig schimmernden Augen auf ihre fokussierte. Ihr Blick hielt den meinen beständig fest, als sie mein Gewissen erneut zu beruhigen versuchte. Ein bisschen effektiver dieses Mal, weil ihre Nähe und ihre Mimik doch sehr unmissverständlich zeigten, dass sie mir diesen Ausrutscher tatsächlich nicht übel nahm. Es brauchte nur noch einen kurzen stillen Moment im Anschluss, damit ich meinerseits einen kleinen Schritt auf sie zumachte und den freien Arm auf Taillenhöhe um sie legte. Ich wollte nicht, dass sie sofort wieder Reißaus nahm. Ihre Nähe war Balsam für die Reue, die ich empfand. "Ich bin dir wirklich dankbar... dafür, dass du versuchst, mich zu verstehen. Die Mühe macht sich sonst Keiner...", murmelte ich vor mich hin. Dabei musterte ich ihr Gesicht - als müsse ich mich noch einmal abschließend vergewissern, dass ich ihr wirklich kein Haar gekrümmt hatte. Die junge Frau war wohlauf und ich wusste wirklich zu schätzen, wie sehr sie sich in mich hineinzuversetzen versuchte. Dass sie mir Verständnis entgegenbrachte, wo ich sonst nirgends welches kriegen würde. Dass sie auch den Wolf in unserer Beziehung nicht aussperrte, obwohl er ihr weit mehr als einmal Schaden zugefügt hatte. "Der Regen fühlt sich trotzdem nicht nach genug Strafe an.", stellte ich ebenso leise fest, während ich mich ihr mehr zuneigte und mein Gesicht zögerlich in ihrer Halsbeuge vergrub. Ich machte die Augen zu, als ich noch ein paar Worte mehr anfügte. "Dir wehzutun ist das letzte, das ich will... ich hab schon so viel verloren im letzten Jahr... dich kann ich nicht auch noch verlieren." Es war nur ein leises, mehrfach unterbrochenes Nuscheln an Riccardas Haut, abgeschlossen von einem Hauch von Kuss an ihrer Halsbeuge. Vielleicht lag es nicht nur an dem vehementen Drang sie beschützen zu wollen, dass ich mich so schlecht fühlte. Ich hatte so ziemlich alles, was ich schon mein ganzes Leben lang kannte, über die letzten Monate losgelassen - das Rudel und damit verbunden auch die wenigen engen Freundschaften, die ich gepflegt hatte; meine Mutter, die die Einzige gewesen war, der ich mich sonst zumindest ansatzweise anvertraut hatte; und irgendwie auch meine ganze Existenz als Isaac Garcia. Dem Junggesellendasein trauerte ich nicht mehr nach und auch meiner Familie nur begrenzt, weil ich wusste, dass es da irgendwann ein Wiedersehen gab... mit mindestens einer Leiche. Aber die Erkenntnis traf mich in diesem Augenblick wie ein Schlag - wer war ich denn jetzt? Kein Garcia, weil ich vom Erbe größtenteils abgeschnitten war und mich weigerte, das Verhalten meiner Familie und die Unterdrückung meines Vaters weiter zu tolerieren. Aber auch kein Keerlow, weil ich schlichtweg keinen Heiligenschein auf dem Kopf trug und niemals vollständig mit der Lebensweise der Engel harmonieren würde - die eigentliche Feindschaft zwischen Engeln und Werwölfen war schließlich nicht unbegründet. Aber wer war ich dann? Ich hing völlig in der Luft und der blonde Engel auf meinem Schoß war das Einzige, das mir noch Halt gab.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Isaac brauchte mich weder derart irritiert noch misstrauisch mustern. Ich war nicht auf den Kopf gefallen und hatte auch keinen Schlag während meiner halsbrecherischen Flucht durch den Dschungel abbekommen. Mir ging es gut und ich befand mich im vollen Bewusstsein. Es war nun an ihm, mir anschließend an diese kleine Standpauke Vertrauen entgegenzubringen und daran zu glauben, dass es wirklich keinen Schaden in unserer verkorksten Beziehung verursacht hatte. Wie bereits angenommen, würde es wahrscheinlich Zeit und Ruhe brauchen, ehe sich Isaac selbst von seinen Gewissensbissen befreien könnte. Mir lag es daran, ihn vor eingebildeten Schuldzuweisungen – in welcher Form auch immer – zu bewahren und sämtliche Ansätze direkt im Keim zu ersticken. In der Hinsicht hielt ich locker mit seiner verdrossenen Hartnäckigkeit mit und da ich mich in der besseren Verfassung sah, rechnete ich mir gute Chancen aus, um als Sieger aus dieser Klärung zu gehen. Es handelte sich nicht um das letzte Wort oder wer am Schluss recht behielt; es ging um einen zutiefst betrübten Gestaltwandler, der sich Unzulänglichkeit vorwarf, weil er seinen Trieben erlag und bestenfalls in kein dunklen Loch abstürzen sollte. Ich wob mit meinen Worten ein kleines Sicherheitsnetz über dem Abgrund, in der hoffnungsvollen Absicht, dass Isaac sich nicht absichtlich daneben in die Abwärtsspirale warf. Das Schweigen zwischen uns fühlte sich längst nicht mehr so unangenehm an, vermittelte jedoch weiterhin eine nervenaufreibende Anspannung. Isaac musste mit mir reden, damit ich ihm die passende Hilfe anbieten konnte und doch reichte schlussendlich der sanfte Druck um meine Taille, als er mich in eine lockere Semi-Umarmung schloss. Der Schritt schien geschafft. Immerhin distanzierten wir uns nicht direkt wieder voneinander, obwohl Isaac psychisch nach wie vor halb in der vergangenen Vollmondnacht festhing – ich verübelte es ihm nicht, war diese Erfahrung in jeglicher Hinsicht aus all seinen gewohnten Mustern gefallen. Kein eigenes Territorium mit befriedigender Jagdbeute, eine zurückgehaltene Verwandlung bis zum aller letzten Augenblick und zu allem Überfluss noch einen blutenden Engel mit mangelhaften Werwolf-Fachwissen im Handgepäck. Ich verstand die Herausforderung der Situation und selbst, wenn ich nicht all die animalischen Dränge und Prinzipien kannte, so hielt ich dennoch an dem Glauben fest, dass Isaac sich wirklich bemüht hatte, die Nacht bestmöglich durchzustehen – nun lag es an mir, mich ebenfalls zu engagieren. Deshalb zeigte ich ihm nichts in meiner Körperhaltung oder Mimik, das ihn an meinen Worten zweifeln ließe und hielt der Musterung aus nächster Nähe stand. Mein Blick wurde erst wieder weicher, als Isaac etwas von mangelhafter Strafe murmelte und ich vehement mit dem Kopf schüttelte. „Du warst klatschnass über Stunden hinweg, bist sicherlich verdammt müde, hattest keine richtige Jagd und zu allem Überfluss drangsalierst du dich auch noch mit deinen Schuldgefühlen, weil du deinem Naturell entsprochen hast“, listete ich ihm seine Unannehmlichkeiten leise auf, weil er mir ohnehin so nah war, nachdem er geradezu schutzsuchend sein Gesicht an meiner Halsbeuge verbarg, dass ich meine Stimme kaum anheben musste. Mir entglitt ein leises Seufzen, als ich der Verlockung nicht widerstand und meine Wange auf seinen dargebotenen Scheitel legte. „Du verlierst mich deshalb schon nicht, die Sorge kannst du gleich wieder getrost streichen“, versicherte ich ihm mit einem resoluten Unterton in der Stimme, der keinerlei Widerworte oder gegenteilige Gedanken duldete. „Du hast mir nicht wehgetan. Weder physisch noch psychisch. Ich hatte einen Mordsschock und ich gebe zu, dass ich meine Momente hatte, in denen ich an dir gezweifelt habe, aber schlussendlich hast du dennoch bewiesen, dass dazu kein Grund bestand. Ich bin nicht unbedingt begierig darauf, das Ganze gleich noch mal auszuprobieren, aber im Akutfall werde ich auch bei zukünftigen Vollmond-Einsätzen an deiner Seite stehen“, die dann hoffentlich ein bisschen glimpflicher ausfielen, aber diesen Zusatz behielt ich für mich. Seine Lippen kitzelten sacht auf der Haut und verursachten ein spielerisches Kribbeln, das sich mein gesamtes Rückgrat hinab zog. „Wir sind mittlerweile ein Team. Da zählt wohl auch deine angriffslustigere Vollmond-Version dazu, mit der wir ebenfalls fertig werden“, zeigte ich mich zuversichtlich, obwohl ich im großen Ganzen bezweifelte, dass mich Isaac zu den folgenden Horrorfilmmonster-Nächten live und in Farbe dabeihaben wollte. Da gehörte ich schlichtweg nicht hin und ehrlich gesagt riss ich mich nicht unbedingt um weitere vergleichbare Erfahrungen.
Stillschweigend schenkte ich der Aufzählung der jungen Frau mein Gehör und atmete dabei nochmal etwas tiefer ein. Auch wenn es Schuld und Reue nicht auf Knopfdruck wegwischte, so ermöglichte mir Riccardas Duft doch etwas mehr Ruhe. Das war der primäre Grund für das großzügigere Einatmen, es rührte nur sekundär von der anhaltenden Anstrengung. Im Grunde hatte sie ja Recht - ich hatte keine Chance gegen meinen inneren Wolf unter Einfluss des Vollmonds und konnte nicht anders, als dem zu erliegen. Ich würde trotzdem noch eine Weile brauchen, um es mir selbst klarzumachen und damit ins Reine zu kommen, dass ihr Kopf letztendlich noch auf ihren Schultern saß und keiner gestorben oder verletzt war. "Hunger... du vergisst den Hunger.", fügte ich etwas ironisch noch ein weiteres Leiden hinzu, die Stimme dauerhaft verhältnismäßig leise. Als unterdrückter Sohn zweier Brüder tendierte ich oft dazu lauter und energischer zu sprechen, wovon jetzt jedoch keine Spur war. Die geringe Distanz zwischen uns machte Zimmerlautstärke überflüssig, während ich an ihrem Hals hing und Riccarda sich leicht an meinen Kopf lehnte. Der Hunger war leider nicht normaler Natur und ein bisschen was auf einem Teller zu drapieren würde ihn nicht lindern - andernfalls hätte ich dem Engel vorhin diesen Wunsch mit auf den Weg gegeben. Der unersättliche Hunger, der sich nicht nur in meinem Magen, sondern auch im Rest meines Körpers bemerkbar machte, galt der Jagd, dem Gefühl dabei und auch der erlegten Belohnung. Ich brauchte das, um nicht schwächer zu werden. Dass ich mir Mühe damit gab keine Menschenleben mehr zu nehmen, verlieh einer Nacht wie der gestrigen deutlich mehr Gewicht. Der Engel hatte nie etwas dergleichen von mir eingefordert und das Recht dazu stünde ihr auch gar nicht zu, aber ich versuchte schlichtweg jeden Bereich meines Lebens etwas menschenfreundlicher zu gestalten. Wer sein Leben lang übermäßig viel mit anderen Werwölfen herumhing - wie es in einem Rudel meistens so üblich war - verlor ein Stück weit den Blick für den Rest der Gesellschaft. Es war also eines der Dinge, an denen ich arbeitete. Ich würde sie nicht verlieren und ich hatte ihr nicht weh getan. In keinerlei Hinsicht, wie Riccarda extra betonte. Trotzdem hatte ich ihr einen Schreck eingejagt, der ihr sicher für lange Zeit eine Lehre sein würde. Mir allerdings ebenso. Ich ließ die schemenhafte Erinnerung an die Konfrontation letzter Nacht noch einmal in meinem Kopf Revue passieren und hängte mich letzten Endes an dem Moment auf, in dem ich sie einige Sekunden lang direkt angesehen hatte, um sie abschließend als Nicht-Beute abzustempeln. Alles um ihre Augenpartie herum war verschwommen, weil ich als Wolf ohnehin nur einen kleinen Punkt richtig scharf sehen konnte. Die Schwammigkeit der Erinnerung tat dann ihren Rest dazu, dass mir nur ihre nassen Augen klar erschienen. "Aber du hast geweint... und ich will auch nicht der Grund dafür sein, dass du weinst.", murmelte ich an ihre Haut und setzte einen weiteren flüchtigen Kuss an ihren Hals. Danach hob ich den Kopf behutsam wieder an und suchte mit meinem Blick nach ihrem. "Und ich will auch nicht, dass du mir bei Vollmond nochmal über den Weg läufst. Es müsste ungefähr die Welt untergehen, damit ich dieses Risiko ein weiteres Mal eingehe... dein Mut in allen Ehren.", stellte ich klar, dass ein akuter Notfall für meinen Geschmack nicht ganz ausreichend dafür war, den Engel noch einmal dieser unberechenbaren Gefahr auszusetzen. Ein Notfall allein reichte kaum dafür - es müssten schon sehr viele unglückliche Umstände zusammenspielen, damit sie ein weiteres Mal derartige Bekanntschaft mit mir machen würde. Ich ließ kurzerhand die Wasserflasche fallen - was ich spätestens dann bereuen würde, wenn ich sie wieder aufhob - und legte die frei gewordene Hand an ihren Kiefer. Streichelte ganz zart mit dem Daumen die Kontur nach vorne nach, während ich sie eher unterbewusst auch am Rücken ein bisschen streichelte. "Konntest du wenigstens einigermaßen schlafen, oder hab ich dir auch noch Alpträume eingebrockt?", erkundigte ich mich weiter nach ihrem Wohlergehen. Ich selbst hatte genau genommen gar nicht geschlafen, das bisschen Dösen vorhin konnte man so nämlich nicht bezeichnen. Ein paar unangenehme Träume hatten zwar noch Niemanden umgebracht, aber sie waren eben trotzdem nicht wünschenswert. Ich suchte wohl unbewusst nach weiteren Gründen, mir die Schuld nicht allzu bald von den Schultern zu nehmen. "Apropos Teamgeist und Schlaf... fährst du später zurück? Ich bin echt im Eimer.", gestand ich meine katastrophale Verfassung ganz ungeniert. Es dürfte für sie auch kaum zu übersehen sein, wie müde ich war. Von dem sonst so aktiven Wolf, der meistens nur ungerne längere Zeit stillsaß, war gerade weit und breit nichts zu sehen. Ich fühlte mich nicht mehr ganz so aufgewühlt wie vorhin, weil Riccarda mir nun mehrfach beteuert hatte, dass alles halb so wild war, sie an meiner Seite bleiben würde und es ihr gut ging. Die unterschwellige Angst vor diesem Gespräch zu verlieren - mochte sie im Nachhinein betrachtet auch noch so unbegründet gewesen sein - nahm mir noch einen Funken Energie mehr aus dem Körper. Das klärende Gespräch war in groben Zügen abgehakt und mein Körper hatte einen sehr entscheidenden Grund weniger, noch wach bleiben zu wollen.
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Stimmt. Ich vergas auf den Hunger – noch so ein menschliches Empfinden, welches ich durchaus kannte, aber niemals in einem Ausmaß, das über die herkömmliche Nahrungsaufnahme hinausging. Ich benötigte weder eine berauschende Jagd noch blutige Aromen auf meinen Geschmacksknospen, um die befriedigende Erfüllung in einer Mahlzeit zu finden; ein Wolf anscheinend schon. „Wäre es ein Kompromiss, wenn wir in der Stadt beim Fleischer stehen bleiben und ein halbes Reh kaufen, dass du dann irgendwo als Wolf fressen würdest?“, schlug ich nachdenklich vor, meinte es aber durchaus ernst. Diese Herangehensweise würde natürlich keiner richtigen Jagd gleichkommen, jedoch bekäme der animalische Anteil von Isaac dadurch zumindest frisches, rohes Fleisch zwischen die Zähne. Was bliebe uns als Alternative noch übrig? Ich für meinen Teil fühlte mich ziemlich ratlos und befürchtete, dass Isaac nicht unbedingt eine Auswahl an Optionen für Ausnahmefälle bereithielt. „Wie schlimm ist es für dich, wenn du noch bis zum Ende unseres Urlaubs auf eine richtige Jagd verzichten müsstest?“, erkundigte ich mich deshalb, um die Laune des jungen Mannes für die folgenden Tage zirka einzuschätzen. Dummerweise existierte kein Festland in unmittelbarer Nähe, das man mittels Fähre für einen Tagesausflug zum Jagen besuchen könnte. Auf den anderen Fidji-Inseln stünde es um die jagdbare Faune sicherlich nicht sonderlich besser, womöglich sogar noch schlechter. Sogar mir entglitt bei diesem Gedanken ein leises Seufzen. Beinahe seufzte ich direkt ein zweites Mal auf, als Isaac ein Detail der vergangenen Nacht ansprach, über das ich lieber geschwiegen hätte. Fast schon war ich der Hoffnung erlegen, dass sich mein Weinen unter dem Radar bewegt hatte und nicht als essenzielle Erinnerung bis in Isaacs menschliches Gedächtnis gedrungen war. „Du warst aber nicht der Hauptgrund dafür“, beschwichtigte ich ihn leise. Nun sah ich mich in der Rolle der Beschämten, versuchte aber eine Erklärung auszuformulieren: „Zuerst habe ich mich über meine Ungeschicklichkeit geärgert. Die Rutschpartie war absolut unnötig, wenn ich besser aufgepasst hätte und dann wäre dir mein Blut auch nicht in die Nase gestiegen. Der Abend wäre ganz anders verlaufen. Weniger lebensgefährdend. Dann ist mir die eigentliche Bedrohung erst so richtig bewusst geworden, nachdem ich dein Heulen gehört habe.“ Ich erinnerte mich schaudernd an meine gehetzte Flucht quer durch den Dschungel zurück. Ich brauchte einen kurzen Augenblick, um das überwältigende Entsetzen abzuschütteln, das mich von Neuem gepackt hatte, bevor ich ruhig weitersprach: „Ich hatte Angst vor dir, aber noch mehr hatte ich Angst davor, was ich gezwungen wäre zu tun, wenn du mich nicht erkannt hättest.“ Gegen Ende reduzierte sich meine Stimme nur mehr zu einem Hauchen und ich ballte meine Hand zu einer Faust. Gewalt entsprach trotz meiner in der Hinsicht zweifelhaften Fähigkeit einer Vorgehensweise, die ich nicht zu meinem Repertoire zählte – Engel galten als Pazifisten und ich machte da keine Ausnahme. Isaac hob seinen Kopf wieder an und hinterließ ein warmes Gefühl an meiner Halsbeuge. „Dann hoffe ich, dass die Welt nicht so bald vor ihrem Untergang steht“, denn ich war, wie bereits erwähnt, ebenfalls nicht scharf auf eine baldige Wiederholung dieses Desasters. Mein angeblicher Mut, den Isaac da hervorhob, glich eher Pflichtgefühl meinem Gefährten gegenüber. Mutig fühlte ich mich zu keinem Augenblick, hatte ich nicht und würde ich wahrscheinlich auch nicht. So viel dazu also. Der dumpfe Laut lenkte meine Aufmerksamkeit kurz auf meine unmittelbare Umgebung, jedoch drängte sich Isaac – oder eher seine zarte Berührung an meinem Kiefer – rasch zurück in den Vordergrund meines Fokus. Ich suchte seinen Blick, in dem ich einen Anflug von Sorge erahnte. „Eigentlich wollte ich wach bleiben“, gab ich zögerlich zu, sprach meine Befürchtung von weiteren wölfischen Komplikationen aber nicht laut aus, damit sich Isaac nicht einen weiteren Strick daraus drehen konnte, „und den Morgen abwarten, aber irgendwann dürfte die Müdigkeit dann doch überhandgenommen haben. Ich hab so tief geschlafen, falls ich geträumt habe, weiß ich es inzwischen nicht mehr“, versicherte ich ihm wahrheitsgetreu – für zukünftige Nächte garantierte ich nichts, das würde sich noch zeigen und brauchte Isaac nun nicht belasten. Er kämpfte ohnehin gerade mit seinen eigenen Dämonen. „Fahren kann ich, aber wenn du einschläfst, trag ich dich nicht ins Bett“, scherzte ich sanft und schenkte meinem Gegenüber ein zaghaftes Grinsen. Isaac in seinem Zustand hinters Steuers zu setzen, käme mir wie eine fahrlässige Gefährdung des Wohls aller vor und kam deshalb gar nicht erst in Frage. „Was hältst du davon, wenn wir hier zusammenpacken und heimfahren?“, schlug ich dem Dunkelhaarigen vor, dessen Erschöpfung sicherlich nicht durch Herumsitzen geheilt wurde und so scharf auf die alleinige Arbeit mit dem Zeltabbauen und dergleichen war ich eben auch nicht. Da ich vorhin ein bisschen Zeit mit Zusammenräumen vertrödelt hatte, erinnerte das Zeltinnere immerhin schon an Aufbruchsstimmung. Um meinen Worten auch wirklich Taten folgen zu lassen, erhob ich mich von seinem Schoß und griff nach seinen Händen, um Isaac ebenfalls aus dem Sessel zu ziehen.
Ein halbes Reh über eine Theke wandern zu lassen, klang im ersten Moment verlockend - Wild war und blieb meine bevorzugte Beute, weil es recht flink war und zudem auch noch eine angenehme Menge Fleisch bot. Es war auch der Geschmack, den ich aus der Heimat kannte. Allerdings gab es einen großen Unterschied zwischen einem Reh, das ich gerade frisch erlegt hatte und einem, dass womöglich schon seit zwei Tagen tot war. Das war für den feinen Gaumen meines inneren Wolfes quasi ein Bruch des Qualitätssiegels. "Es würde mich wahrscheinlich länger befriedigen, als durchgegrilltes Steak vom Grill... aber es wäre kalt und ich bin einfach kein Aasfresser. Das ist das Geld kaum wert." Ich zuckte fast schon gleichgültig mit den Schultern. Sich eine große Menge verhältnismäßig frisches Wild vom Metzger zu holen, der er irgendwo vom Festland haben musste, klang für mich nach verschwendetem Geld. Ich war nicht besonders genügsam und hatte schon oft sinnlos Scheine aus dem Fenster geworfen - bis vor meiner Zwangsehe war das quasi mein Lebensstil gewesen - aber selbst was das anging wurde ich wohl langsam etwas ruhiger und dachte zuerst darüber nach. Lag zum Teil sicher daran, dass mein schon überschriebenes Erbe nicht ewig halten würde und mein Stolz es nicht zuließ, mir Geld der Keerlows zu leihen. "Angenehm wirds nicht... ich werde deswegen zwar nicht so aufgekratzt rumlaufen wie gestern Abend, aber ich kann trotzdem nicht dafür garantieren, dass ich nicht launisch werde." Ich lächelte den blonden Engel nach diesen Worten entschuldigend an. Sie konnte nichts dafür, dass es hier nichts für mich zu Jagen gab und doch würde sie in den meisten Fällen die Person sein, die meine potenzielle Übellaunigkeit abbekommen würde. Das war nicht fair, aber wenn der Wolf aus Hunger schlechte Laune schob, dann hatte ich das noch viel weniger unter Kontrolle, als wenn ich aus menschlichen Gründen mies drauf war. Auch an dieser Stelle: einen Punkt mehr für Fluch statt Segen. Ich lauschte Riccardas folgender Erklärung sehr aufmerksam und war mir im ersten Moment nicht recht sicher, ob ich dem Glauben schenken sollte. Zumindest dem ersten Teil - dass sie mir nicht gerne mit schmerzhaften Mitteln entgegen getreten wäre, war hingegen naheliegend. Es entsprach nicht nur ihrer Lebenseinstellung, sondern auch dem aktuellen Stand unserer Beziehung, den ich durch meinen Kontrollverlust als gefährdet gesehen hatte. Das Taschenmesser in ihrer Hand hatte sich vollkommen meiner Aufmerksamkeit entzogen - mir reichte jedoch die Vorstellung der Brandwunden, die mir ihre sonst so unschuldigen Finger in die Haut gesengt hätten. "Ich werde alles dafür geben, dass es nicht wieder zu so einer Situation kommt. Versprochen.", versicherte ich der kurzzeitig angespannt wirkenden Blondine und strich ihr dabei mit anhaltendem Lächeln sanft über die Wange. Ich konnte auch im Alltag die Kontrolle über den Wolf verlieren, aber es war doch eine ganze Ebene schwieriger es so weit zu bringen, als bei Vollmond. Nachdem wir beide zunehmend nur noch danach strebten, Harmonie miteinander zu erleben, sah ich einen solchen Sicherungsausfall aktuell nicht kommen. Den Vollmond umgingen wir ebenfalls nach allen Möglichkeiten, sie müsste das also nicht noch einmal durchmachen. Nicht, wenn die Welt nicht unterging und ich eine Wahl hatte. Der kleine Engel hatte ursprünglich wohl keinen Schlaf angestrebt und war nur dem körperlichen Bedürfnis nach Schlaf erlegen. In meinen Augen war das gut so, dann hatte wenigstens einer von uns beiden einige Minuten wertvolle Ruhe gehabt. "Das war... verhältnismäßig unnötig. Zumindest während derselben Vollmondnacht hätte ich dich sehr sicher nicht wieder vergessen... aber die Befürchtung war wohl berechtigt.", gab ich angesichts der Umstände zu. Der Engel hatte es nicht besser wissen können und in Anbetracht der vorherigen Situation war sie einfach auf Nummer Sicher gegangen, oder hatte es jedenfalls versucht. Konnte man ihr kaum verübeln. Vorerst würde Riccarda sich auch nicht wieder ins Kissen legen, weil sie sich dazu bereit erklärte, den Rückweg selbst in die Hand zu nehmen. Der beigefügte Scherz ließ mir zumindest kurz die Mundwinkel nach oben zucken. "Die Vorstellung davon ist auf den ersten Blick trotzdem ziemlich witzig.", stellte ich fest. Die zierliche Blondine, die gefühlt zehn Köpfe kleiner war als ich, wie sie mich unter rotem Kopf und größter Anstrengung quer durch den Flur und die Treppe zog... ein witziges Bild, aber nein - da ging ich doch lieber selber. Mein verzogenes Gesicht und das schwere Seufzen, das ich ausstieß, während ich mich mithilfe des Engels zurück auf die Füße ziehen ließ, drückte die nicht vorhandene Begeisterung meinerseits überdeutlich aus. "Uuuungern.", kommentierte ich das anstehende Programm trotzdem mit leichten Allüren eines bockigen Teenagers. "Aber führt halt kein Weg dran vorbei... und lieber jetzt als später.", korrigierte ich meine eigene, zuerst trotzige Denkweise. Ich sammelte die Wasserflasche vom Boden und wischte den Dreck rund um den Verschluss sorgfältig ab, bevor ich sie noch leermachte. Vielleicht linderte das den hämmernden Schädel innerhalb der nächsten Minuten. Ich widmete mich zuerst dem provisorisch aufgebauten Rost rund ums Lagerfeuer und der Campinggarnitur, während Riccarda ihr Schlafgemach fertig ausräumte. Danach pflückten wir Stück für Stück auch das Zelt vom Boden. Einige Sachen hatten wir gar nicht erst aus dem Auto geräumt, weil sie sich als überflüssig herausgestellt hatten - die Pläne des Wolfs waren leider unschön anders verlaufen. Als wir alles eingeräumt hatten, besah ich mir die Lichtung nochmal einen Moment. Dass Jemand - oder Etwas - hier gewesen war, würde man noch monatelang sehen. So lange, bis die Witterung all die zerkratzte Rinde und die zerkauten Äste wieder zu kaschieren begann.
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Mein kleiner aber feiner Silberstreif am Horizont verpuffte leider nach Isaacs nüchterner Klarstellung sehr schnell wieder. Dann also kein halbes Reh vom Metzger, stattdessen einen quasi unfreiwillig fastenden Wolf an meiner Seite. „Schade“ kommentierte ich seinen Einwand mit leichtem Bedauern in der Stimme, jedoch schien es mir tatsächlich wie eine Geldverschwendung, wenn es unterm Strich nur ein weiteres Hinauszögern der sich verschlechternden Laune des weggesperrten Tieres brachte – vielleicht änderte ich meine Meinung in den folgenden Tagen diesbezüglich noch, aber zu diesem Zeitpunkt respektierte ich die Ablehnung. Ich konnte Isaac schließlich schwer dazu zwingen oder ihm das rohe Fleisch mit Gewalt zwischen die Lefzen drücken. Am Ende fehlte mir höchstens ein Finger. Keine angenehme Vorstellung, aber bei Isaacs Vorwarnung, eventuell doch im Bereich des Annehmbaren – bereits der Wortlaut seiner Einschätzung ließ mich das Schlimmste vermuten, trotz der abschwächenden Information, dass uns kein weiteres Debakel wie in der vorherigen Nacht widerfahren würde. „Du meinst etwa noch launischer als sonst?“, entsetzt riss ich die Augen auf, behielt den schockierten Ausdruck aber nicht lange im Gesicht, sondern ersetzte den Schock durch ein amüsiertes Lächeln. „Das bekommen wir auch noch irgendwie hin“, versicherte ich ihm einzig und allein wegen des niedlichen Grinsens, das beinahe an eine non-verbale Entschuldigung für potenzielle provozierte und in vollem Ausmaß unnötige Diskussionen erinnerte. Als ob ich in unseren Konfrontationen nicht bereist eine erprobte Expertin wäre! Trotzdem gefiel es mir zu wissen, dass der junge Mann keinen Gefallen mehr daran fand, mich zur Weißglut zu treiben und diese Art der Auseinandersetzung gerne ebenso vermeiden würde. Solang ich mich darauf verlassen konnte, überstand ich auch wölfische Hunger-Launen, die sich auf der menschlichen Ebene bemerkbar machten. Überhaupt schadete es mir sicherlich nicht, weitere – weniger gefährliche – Erfahrungen mit dem tierischen Teil des Gestaltwandlers zu sammeln, um mich weiter auf diese Besonderheit von Isaac einstellen zu können. Dennoch entlockte mir sein Versprechen ein erleichtertes Lächeln. Ich wusste natürlich noch immer, was ich ihm vor ein paar Minuten versichert hatte, jedoch bevorzugte ich einen gewissen Sicherheitsabstand in der nächsten Vollmondnacht zu dem Werwolf. Ich glaubte ihm sogar wiederstandlos, dass Isaac alles in seiner Macht mögliche tat, um nicht erneut vor mir in die Rolle des blutrünstigen Monsters zu schlüpfen. Den Schrecken würde ich eventuell noch eine Weile mit mir herumschleppen, aber anhand des so atypischen Reueausbruchs ging ich davon aus, dass auch Isaac noch ein bisschen an dem unschönen Zwischenfall knabbern würde und wir uns vielleicht gemeinsam die eine oder andere zukünftige Nacht um die Ohren schlagen dürften. Wer wusste schon, was noch so kam? Nun aber zu erfahren, dass ich umsonst meine Augen verkrampft offengehalten hatte, um schlussendlich den Kampf ohnehin zu verlieren, wunderte mich im geringen Ausmaß. „Ich bin ohnehin eingeschlafen, aber bis zu dem Augenblick hatte ich zumindest das trügerische Gefühl, die Situation wieder ein bisschen besser unter Kontrolle zu haben und nicht erneut von dir überrascht zu werden“, gestand ich brummelnd. Ich besaß keine konkrete Vorstellung, inwiefern mich Isaac noch einmal erschrecken hätte können, aber wer wusste schon, was mein von Adrenalin und Schock getränktes Hirn in seinem übernächtigen, angespannten Zustand für Fantasien fabrizierte. Allgemein arbeitete meine Vorstellungskraft derzeit auf Hochtouren, anderenfalls konnte ich mir das amüsante Bild von mir selbst, wie ich mit hochrotem Kopf Isaac an den Armen durch die Eingangshalle unseres Feriendomizils zerrte und jäh an den Stufen der geschwungenen Treppe scheiterte, nicht erklären. Grinsend schwelgte ich noch einen Augenblick länger in dem Kopfkino, ehe ich mich wieder der Realität anschloss. „Vielleicht ein anderes Mal“, frohlockte ich fröhlich mit einer Aussicht, die niemals eintreten würde. Aber noch befanden wir uns überhaupt nicht in einer ansatzweise ähnlichen Situation, sondern hockten nach wie vor mitten im Regenwald und Isaac machte keinerlei Anstalten, den Anfang zu machen und mich von seinen Oberschenkeln zu scheuchen. Es lag also an mir, den Muskelprotz von dem durchaus gemütlichen Campingsessel aufzuhelfen und ihm als Antwort auf sein pubertäres Gehabe ein belustigtes Augenrollen zukommen zu lassen. Immerhin zeigte er kurz darauf wieder eine vernünftigere Einstellung, sodass ich ihn guten Gewissens die Arbeit rund ums Zelt erledigen lassen durfte. Ich selbst kümmerte mich darum, die Rucksäcke und Kühlbox zurück ins Auto zu befördern und anschließend beim Abbau des Zelts zu helfen. Es lief bedeutend ruhiger und harmonischer als der Aufbau ab, weshalb die Lichtung sehr schnell leergeräumt war, aber unsere Spuren blieben deutlich merkbar. „Du machst echt keine halben Sachen“, bemerkte ich mit einem schwachen Lächeln an, bevor es mich hinters Lenkrad zog und ich den Motor schon einmal startete. Isaac folgte meinem Beispiel nur wenige Sekunden später, sodass wir schon bald den holprigen Dschungelpfad den Kamm hinab nahmen. Mir kam es – wie so oft – vor, dass wir am Rückweg viel schneller vorankamen, obwohl die Uhr in dem Jeep etwas anderes aussagte. Mit unserem Umweg bei der Anreise weggerechnet, brauchten wir zirka ebenso lang, um wieder auf dem Grund meiner Verwandtschaft anzukommen. Harrys teurer SUV stand nicht an seinem gewohnten Platz, weshalb ich davon ausging, dass sich zumindest mein Onkel irgendwo einen schönen Tag machte und wir im besten Fall das Herrenhaus für uns hatten. Tatsächlich, angepackt und mit einem murrenden Isaac im Schlepptau, betrat ich ein bis auf die Bediensteten leeres Haus. „Möchtest du trotzdem eine Kleinigkeit essen oder legst du dich direkt hin?“, erkundigte ich mich bei dem Dunkelhaarigen, der eher mechanisch dafür sorgte, dass die ausgeliehene Campingausrüstung wieder an den Platz in der Eingangshalle kam, wo Harry sie uns zurückgelassen hatte.
Ich wünschte mir wirklich, ich könnte diese rhetorische Frage verneinen - denn ja, wahrscheinlich noch launischer als sonst. Wir waren uns sicher beide meiner Fortschritte in diesem Bereich bewusst, weil ich nicht mehr so oft aus der Haut fuhr wie zu Beginn unserer Bekanntschaft, aber ich war und blieb eben ein Werwolf. Wenn uns etwas nicht passte, dann machten wir dem Luft - allein deshalb schon, weil sich anstauende Wut gefährlicher war, als ein paar angeknackste Sozialkontakte. Lieber verärgerte man nur Jemanden für eine Weile lang, als ihm den Arm abzubeißen oder gar Schlimmeres. Riccarda und ich hatten schon so viel zusammen durch, dass es an ein paar übellaunigen Tagen meinerseits eher nicht scheitern würde. Dafür, dass die zierliche Blondine geglaubt hatte, auch nur eine einzige Sekunde der letzten Nacht unter Kontrolle gehabt zu haben, erntete sie allerdings eine hochgezogene Augenbraue. Zum einen, weil das grundsätzlich sehr ambitioniert war in der Anwesenheit eines sinnbildlich tollwütigen Werwolfes, aber auch deshalb, weil sämtliche Gedanken in dieser Hinsicht zu jenem Zeitpunkt schon überflüssig gewesen waren. Jedoch äußerte ich mich dazu nicht weiter, bis wir die verwüstete Lichtung hinter uns ließen und meine Augen vom Beifahrersitz aus zurück zu dem Engel schwenkten. Erst hatte ich nicht das Gefühl gehabt, ihr mein Verhalten bei Vollmond noch weiter erklären zu müssen, weil sie es ohnehin nur bedingt verstand. Oft brachte der Engel jedoch mehr Verständnis und Taktgefühl diesbezüglich mit, als ich mir je ausgemalt hatte, weshalb ich meine Meinung dazu auf der Heimfahrt änderte. "Ich hab dich als... Partnerin und auch als Teil meines Rudels anerkannt. Vereinigung unter Vollmond ist was Besonderes... was ziemlich kitschig klingt, so im Nachhinein.", versuchte ich meine Formulierung mit einer Prise Sarkasmus weniger dämlich klingen zu lassen. "Deswegen jedenfalls das Heulen, als ich dich erkannt habe... theoretisch hättest du da mitmachen sollen, wärst du ein Wolf. So zur Untermauerung der Anerkennung." Sie war aber keiner und jedes menschliche Heulen hätte mir wahrscheinlich eher das Trommelfell gesprengt, als der Situation zutulich zu sein. "Ich war auch viel früher von der Jagd zurück als sonst. Ich denke mir war nicht wohl dabei, dich noch länger alleine zu lassen... deswegen auch keine halben Sachen." Damit schloss ich das Thema ab und zuckte leicht mit den Schultern, bevor ich mich tiefer ins Polster sinken ließ. Bis wir den unebenen Waldweg hinter uns hatten war ans Dösen nicht zu denken, aber auf dem Rest des Heimwegs fielen mir doch ein paar Mal die Augen zu. Wieder in unserem Urlaubsdomizil angekommen quälte ich mich vom Sitz und war froh darüber, dass die Verwandtschaft ausgeflogen war. Ich hatte wenig Lust auf eine möglicherweise anstrengende Konversation mit Harry oder prüfende Blicke seiner Engelsfrau. Es war auch ohne ihre Anwesenheit anstrengend genug, das ganze Campingzeug zurück ins Haus zu schleppen und ich war froh, als das geschafft war. Ich stellte das letzte Teil mit einem schweren Atemzug ab. "Ein bisschen was essen muss ich wohl... sonst wach ich später auf, weil mir der Magen knurrt.", räumte ich ein, dass es ganz ohne Frühstück nicht ging. Ich hatte in diesem Moment wenig Lust darauf, mir Irgendetwas zwischen die Kiemen zu schieben, was kein noch warmes, blutendes Reh war, aber ich konnte deshalb nicht einfach hungern. Als alles aus dem Wagen geräumt war, machte ich mich also auf den Weg in die großzügige Küche, in der noch eine der Haushaltshilfen zugange war. Sie begrüßte mich höflich und warf mir ein schmales Lächeln zu, meine Erwiderung fiel ähnlich nüchtern aus. Ich fragte sie danach, was vom Frühstück noch übrig sei, woraufhin sie mir ewig viel auflistete. Ich unterbrach sie also mit einem Kopfschütteln. "Irgendwas Rohes?" Sie verwies mich etwas irritiert von der Frage auf rohen Lachsaufschnitt, Kaviar und teuren Schinken aus Spanien. Sie nahm alles davon aus dem Kühlschrank und präsentierte es mir auf der Kücheninsel. Tja, ich war hier eben nicht im Wolfsschloss und hier wurde morgens keine ellenlange Fleischpalette serviert. Nach einer derartigen Vollmondnacht nicht von Vorteil und ich würde gerade wirklich viel für Tartar zum Frühstück geben. Mein Gesichtsausdruck spiegelte nicht unbedingt viel Begeisterung wider, aber ich bat die Küchenhilfe dennoch darum, mir die spärliche Auswahl auf der Theke und ein paar andere Sachen an den Tisch auf der Terrasse zu bringen. Ich fühlte mich draußen wohler, weil irgendwo im Haus gerade Jemand mit Staubsaugen und Putzen beschäftigt war, was mein sensibles, übermüdetes Gehör in diesem Moment unangenehm reizte. Lieber umgab ich mich mit dem Meeresrauschen und dem leichten Wind, der heute Morgen an der Küste ging. Außerdem hatte dort definitiv Niemand ein Auge darauf, ob mir beim Essen fast der Kopf auf den Teller fiel. Es reichte mir schon, dass mich der Blick in den Spiegel später mit reichlich vielen Anzeichen der Müdigkeit segnen würde. Meine Eitelkeit wollte keine zusätzliche Aufmerksamkeit.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Ich identifizierte mich durchaus auch als Partnerin von Isaac – wohl nicht in dem gänzlich romantischen Sinn, wie es dem Standard entsprach, aber ich fühlte mich längst nicht mehr nur durch das erzwungene Ehegelübde an den jungen Mann gebunden. Auf der emotionalen Ebene existierte da bereits mehr, ohne von mir in passenden Worten beschrieben werden zu können. Über meine Beteiligung als Rudelmitglied fand ich eher gemischte Gefühle. Es freute mich zu hören, dass ich sogar von Isaacs animalischer Seite als solches nicht nur toleriert, sondern auch akzeptiert wurde, jedoch fehlte mir das nötige Know-how, um mich auch richtig zu verhalten. „Es klingt zumindest höchst offiziell“, sprach ich gegen seinen angedeuteten Rückzug. Den kitschigen Touch schaffte ich nicht nachzuvollziehen, da es für mich viel mehr nach dem Beitritt einer dem Blutopfer nicht abgeneigten Sekte klang. Vereinigung bei Vollmond. Die drei Worte transportierten ein geheimnisvollen Mysterium, ein dunkles Geheimnis, in das ich nun eingeweiht worden war. Dass bei diesem erschreckenden, eventuell tödlich endenden Aufnahmeritual mein Zutun hinsichtlich der Gesangseinlage erwartet worden wäre, brachte Isaac einen freudlosen Blick ein: „Ich fürchte, die Phase der Anerkennung ist unbemerkt an mir vorbeigegangen.“ Ich hatte zu diesem besagten Zeitpunkt mit gefühlt hundert anderen Dingen oder eher Gedanken zu kämpfen, weshalb mir nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen war, in das Geheule einzustimmen. Abgesehen davon, wäre mir der Werwolf am Ende doch noch ins Gesicht gesprungen, da ich der Ästhetik sicherlich einen Abbruch verpasst hätte. „Aber ich bin dennoch froh, dass meine Daseinsberechtigung an deiner Seite nun auch von dem Wolf in dir abgesegnet wurde“, fügte ich wahrheitsgemäß und mit einem weitaus freundlicheren Lächeln auf den Lippen schlussendlich noch hinzu, da mir die vorherige Aussage ansonsten zu hart vorkam. Auf seine Behauptung, mich nicht länger allein lassen zu wollen, erwiderte ich nichts mehr – ich hatte nach wie vor nicht herausgefunden, ob mich das Wissen um seine Anwesenheit beruhigter schlagen gelassen oder nur für eine nervöse Unruhe gesorgt hätte. Die restliche Fahrt verlief still. Das Autoradio dudelte leise die Musik des eingestellten Senders und fungierte als vernachlässigbare Geräuschkulisse im Hintergrund. Isaac döste alle paar Minuten weg, nur um dann etwas ruckartig seine Sitzposition leicht zu verändern und dann wieder der Erschöpfung zu erliegen. Ich ließ ihn diesen unsinnigen Kampf ausfechten, sorgte lediglich dafür, dass wir sicher daheim ankamen und die beiden Rucksäcke zurück in unser Zimmer kamen. Ums Auspacken würde ich mich zu einem späteren Zeitpunkt kümmern, entschied ich relativ spontan und stieg erneut die Treppen hinunter, wo jedoch längst keine Spur mehr von Isaac war. Im Zimmer befand er sich nicht, von da kam ich gerade selbst, weshalb ich einer Intuition folgend in die Küche trat und dort eine junge Angestellte antraf, die mit einem leeren Tablett hantierte. Ihr fiel mein suchender Blick auf, weshalb sie mir nach einem höflichen Gruß den Weg auf die Terrasse ans Herz legte und ich ihrem Hinweis sogleich Folge leistete. Wie erwartet traf ich unter dem großen Sonnensegel Isaac an, der sich zum Frühstücken zwang. Kommentarlos nahm ich den Platz gegenüber von ihm ein und beteiligte mich an der schweigend verbrachten Mahlzeit.
Zeitsprung: ca. 1 Monat
Ein bisschen aufgeregt war ich ja schon. Direkt nach unserer Rückkehr in den beinahe vollständig rekonstruierten Engelspalast hatte ich die Sache mit einem eigenen Grund samt Haus in Angriff genommen und war meinen Eltern dabei gehörig auf die Nerven gegangen. Meine Hartnäckigkeit hatte sich aber bezahlt gemacht, denn mittlerweile besaß ich die Besitzurkunde des weitläufigen Grundstückes und die offizielle Baugenehmigung, die ich Isaac bisher vorenthalten hatte, um auf den richtigen Moment zu warten. Natürlich wollte ich auch seine Meinung in das Projekt miteinfließen lassen, dennoch hatte ich mir die Freiheit herausgenommen, bereits ein Architekten – nicht Jago! – mit einem Auftrag zu engagieren und hielt nun eine erste Skizze von unserem zukünftigen Häuschen in der Hand. Der ältere Mann zeigte sich sehr offen für meine Vorschläge und schlug auch Veränderungen nicht aus den Wind. Er versicherte mir, dass diese Pläne längst nicht in Stein gemeißelt waren, und vermittelte mir allein dadurch das Gefühl, eine gute Wahl getroffen zu haben. Ich sah Isaac heute zum ersten Mal, weil es mich bereits am frühen Morgen aufgrund von Erledigungen in die Stadt gezogen hatte und bei meiner Rückkehr war von Isaac keine Spur mehr zu finden gewesen, als er in mein Wohnzimmer trat, von dem aus eine Tür ins angrenzende Bad und eine weitere ins dazugehörige Schlafzimmer führten. Ich lümmelte mit einem Buch ausgestreckt auf der Couch und sah nur kurz über die Rückenlehne hinweg, richtete mich aber sogleich auf, nachdem meine Sinneswahrnehmung als Eindruck in meinem Gehirn verarbeitet worden war und ich mir der grimmige Ausdruck in den markanten Zügen auffiel. Augenblicklich schrillte ein kleines Alarmglöckchen in meinem Kopf auf. Ich markierte meine Stelle im Buch mittels eines Lesezeichens und legte den Wälzer zur Seite, um mich nun vollständig auf Isaac zu konzentrieren: „Ist alles in Ordnung?“ Meine gute Laune bekam augenblicklich einen Dämpfer verpasst. In den letzten Tagen überraschte Isaac geradezu mit seiner Ausgeglichenheit – eine anständige Jagd lag noch nicht so lang zurück – und ihn nun mit dieser Miene zu sehen, gefiel mir ganz und gar nicht. Für den Moment waren meine guten Neuigkeiten vergessen.
Die letzten Tagen auf der tropischen Insel verliefen wie erwartet etwas holprig und fühlten sich deutlich weniger nach Urlaub an, als es die Tage vor dem Vollmond getan hatten. Ich versuchte meine Launen nicht allzu sehr an meinen Mitmenschen und -Engeln auszulassen, aber es gelang mir zweifelsohne nicht immer. Auch Riccarda bekam hier und da etwas ab, meistens entschuldigte ich mich im Nachhinein jedoch dafür. Sie brachte die Sache mit dem schlechten Gewissen bei mir wirklich auf ein neues Level und vielleicht wirkte dabei auch noch eine Weile lang der unschöne Vorfall bei Vollmond nach. Obgleich sie die Sache sofort abgetan hatte und mir nie Vorwürfe dafür gemacht hatte, nagte mein Unterbewusstsein noch länger daran. Selbst dann noch, als wir wieder auf heimischem Boden landeten und ich endlich auf die Jagd gehen konnte. Ich war eigentlich ziemlich gejetlagged vom Rückflug, wartete aber dennoch nicht den nächsten Tag ab. Als ich am sehr späten Abend dann mit vollgeschlagenem Bauch nach einer Dusche ins Laken rollte, musste ich ironischerweise eher einem rundum zufriedenen Welpen, als einem blutrünstigen Werwolf ähnlich sehen. Riccarda schlief zu diesem Zeitpunkt schon, es konnte also Niemand das fast schon glückselige Lächeln auf meinen Lippen sehen, das anhielt bis ich einschlief... und das ging dank dem Jetlag ziemlich schnell. Die gute Laune zog sich auch erfolgreich durch die nächsten Tage. Es ging alles seinen geregelten Gang und das einzige, was ab und zu kurzweilig meine Laune knickte, war Riccardas Ex. Glücklicherweise hatte er jetzt aber nicht mehr allzu viel im Schloss zu tun. Ich konnte mich also meistens sehr effektiv mit dem Glauben daran beruhigen, dass er nicht mehr ewig hier sein würde. Was mir hingegen deutlich spanischer vorkam, war die Tatsache, dass der Wolfsgeruch in den Wäldern etwas nachgelassen hatte. Vor allem nahe des Engelsschlosses. Das ließ sich relativ simpel damit begründen, dass meine Familie gemerkt haben musste, dass ich nicht da war und demnach eben keiner mehr in meine Richtung ausgeschweift war, um mich dem Territorium möglichst fernzuhalten. Sie mussten aber wissen, dass ich inzwischen wieder da war - seit Wochen. Die Presse schwieg niemals und ich hatte mich in der Zwischenzeit längst wieder in der Stadt sehen lassen, was sollte dieser Spuk also? Ich beschloss dem Engel nichts davon zu sagen, weil sie in dieser ganzen Wolfsthematik ohnehin nicht richtig bewandert war, auch wenn sie wohl besser Bescheid wusste als jeder andere Engel in diesem Schloss. Es blieb meine eigene Sorge, nachdem Riccarda sich im Gegenzug mit dem ihr zugetragenen Baugrund herumschlug. Was das anging vertraute ich ihr, weil ich doch ziemlich klar gemacht hatte, dass mir diese Sache wichtig war. Sie würde es nicht auf die leichte Schulter nehmen. Genauso wenig, wie ich das auf die leichte Schulter nahm, was mir heute Morgen kurz nach dem Frühstück zu Ohren gekommen war. Meine Angetraute war da bereits ausgeflogen und ich hatte mich eigentlich meinem Training widmen wollen, als mich ein Heulen im Fitnessraum innehalten ließ. Ich hatte es lange nicht gehört und doch gehörte es zweifellos Pascal. Ich wollte es zuerst ignorieren, weil unser Kontakt zueinander inzwischen abgebrochen war, aber er gab keine Ruhe und er kam näher. Ich ließ also alles stehen und liegen, um diesen Idioten zu stoppen, bevor er das Engelsschloss in Aufruhr versetzte. Sehr vorsichtig eruierte ich, ob er auch tatsächlich alleine war, bevor ich mich im Wald in seine unmittelbare Nähe traute. Er fungierte nur als Bote - mein Bruder hatte gestern schon versucht telefonisch Kontakt zu mir aufzunehmen, was ich geflissentlich ignoriert hatte. Macht der Gewohnheit. Er wusste, dass ich unserem Cousin noch am ehesten über den Weg traute, wenngleich vielleicht auch nicht mehr so sehr wie früher. Pascal wollte mich sogar dazu ermutigen mit ihm ein Stück Richtung alter Heimat zu gehen, damit ich mir selbst ein Bild davon machen konnte, dass keinerlei wölfische Patrouille unterwegs war, aber da hatte er keine Chance - mein Misstrauen saß mehr als ein bisschen tief. Ich war im Anschluss noch eine kleine Weile im Wald unweit des Engelsschlosses geblieben, aber meine grüblerisch-missmutige Laune hielt sich bis jetzt noch wacker. Meine Unschlüssigkeit trug mich also weiter zu Riccarda, die ich nach kurzer Suche im privaten Wohnzimmer fand. Die zierliche Blondine legte das Buch schon zur Seite, während ich noch dabei war zu ihr aufzuschließen. "Weiß ich nicht.", war meine noch mehr Verwirrung stiftende Antwort auf ihre Frage. Ich ließ mich ein Stück von ihr entfernt auf dem Sofa nieder, um sie besser ansehen zu können. Mir war außerdem nie besonders nach Nähe, wenn ich so aufgewühlt war. "Mein Cousin hat mir heute Vormittag höchstpersönlich eine Einladung gegeben." Zumindest in Worten. "Von meinem Bruder... Chad, dem älteren." Der Engel hatte nie wirklich viel mit meinen beiden Brüdern verkehrt, weshalb ich klarstellen wollte, um wen es hier genau ging, auch wenn ihr der Name womöglich noch geläufig war. "Er lädt uns beide zum Essen ein und hat übermäßig deutlich klargestellt, dass es ihm wichtig ist, dass ich ihm und seiner Frau am besten nicht alleine am Tisch gegenüber sitze." Meine Stimme klang sowohl nach einem Hauch Verbitterung, als auch etwas verwirrt. Ich konnte einfach nicht hinter diese Einladung aus dem Nichts blicken und fragte mich ununterbrochen, was er sich davon erhoffte. Es könnte theoretisch eine Falle sein, aber dann wäre es doch sehr unvorteilhaft, das Essen in einer privaten Ecke eines sehr bekannten Restaurants in der Stadt abzuhalten. Wenn er uns also tatsächlich nichts Böses wollte, was wollte dann? "Ich weiß nicht, was er im Schilde führt... und wir können auch nicht lange mit der Entscheidung zögern, weil der Tisch schon für heute Abend reserviert ist. Ich... hab noch keine Antwort gegeben." Meine letzten Worte unterstrich ich mit einem ratlosen Seufzen und einer Handgeste, die bedeutete, dass ich einfach keine Ahnung davon hatte, ob wir zu diesem Essen aufkreuzen oder meinen Bruder mitsamt Begleitung im Regen stehen lassen sollten.
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Wow. Meine Irritation stand mir in Großbuchstaben ins Gesichts geschrieben. Undurchsichtiger hätte Isaac seine Antwort kaum formulieren können. Er wusste nicht, ob alles in Ordnung war. Dabei geisterte ihm ganz offensichtlich irgendein bedrückender Gedanke durch den Kopf, den es am gestrigen Abend noch nicht gegeben hatte. Meine Kombinationsgabe spuckte demnach die Vermutung aus, dass im Laufe des Tages irgendetwas vorgefallen sein musste, das meinen Partner vielleicht nicht unbedingt sorgte, aber zumindest eine Unruhe stiftete, die beinahe automatisch auf mich abfärbte. Trotz der aufsteigenden Ungeduld wartete ich ab, bis Isaac ebenfalls einen Platz auf der Couch gefunden hatte, wofür ich meine ausgestreckten Beine etwas anwinkelte und die Arme um meine Knie schlang. Ich wusste inzwischen, dass ich ihm vor allem den notwendigen Raum überlassen musste, wenn er mir seine Gedankenwelt öffnete und Drängen half da ebenfalls wenig – ich konnte diese paar Augenblicke davor zu gut nachvollziehen, in denen man die Fakten noch einmal sortierte und überlegte, wie man die Neuigkeiten oder Informationen am besten mitteilte. Lieber wäre es mir gerade natürlich, wenn er sofort mit der Sprache herausrückte, denn sein unglücklicher Gesichtsausdruck rief die schlimmsten Befürchtungen in mir hervor. Immerhin rückte Isaac relativ bald mit dem Ansatz einer Erklärung raus, die aber leider nur für weitere Fragezeichen meinerseits sorgte. Eine Einladung seines Cousin klang für mich vorerst nicht schrecklich genug, um die Laune derart maßgeblich zu beeinträchtigen, trotz der kritischen Verhältnisse, die innerhalb des Rudels momentan herrschten. Ein Rudel, zu dem sich Isaac meiner Kenntnis nach nicht einmal mehr richtig dazuzählte. Okay, vielleicht beunruhigte mich diese ominöse Einladung ebenfalls ein bisschen. Zudem schien besagter Cousin nur die Rolle des Boten übernommen zu haben, da der eigentliche Kopf hinter Sache Chad war. Ich kannte die Namen seiner engsten Familie, aber wer nun älter oder jünger war… da half mir die zusätzliche Info schon aus. Vielleicht zeigte ja zumindest einer der Geschwister sowas wie Vernunft und suchte das klärende Gespräch. Isaac hatte sich in den letzten Wochen – eigentlich Monaten – weiter von dem Rudel distanziert und somit auch von der Familie abgekapselt. Ich fand es eigentlich schön, wenn einer den Anfang machte, um womöglich die Wogen zu glätten und den Start für eine Neuentwicklung der Beziehung zueinander zu ermöglichen. Ich behielt meine Gedanken sicherheitshalber für mich, da ich fast mit Gewissheit wusste, dass Isaac die Einladung gänzlich anders interpretierte und ich lieber auf weitere Abers wartete. Noch fiel es mir leicht, die objektive Perspektive im Blick zu behalten, doch diese Rolle entschlüpfte mir ebenso schnell, wie ich mir ihrer bewusst geworden war. „Wie, sie wollen mich dabeihaben? Ich hatte doch bis auf das bisschen Händeschütteln und verkrampften Smalltalk noch nie etwas mit ihm zu tun“, stellte ich ernüchtert auf dem Boden der Tatsache angekommen fest. „Stellt er sich das als Kennenlernen vor?“, hakte ich weiter nach, merkte aber anhand Isaacs frostigen Ausdrucks, dass er sich ebenso wenig einen Reim daraus machen konnte. Seine Worten wirkten dabei fast überflüssig. Dennoch wunderte ich mich, dass Isaac mit seiner Antwort noch zögerte. Ich besaß kein Recht auf das Treffen dieser Entscheidung, wollte ihn aber bei der Lösungsfindung unterstützen. „Möchtest du denn hin? Abgesehen von möglichen Hintertürchen oder doppelten Böden, die man uns stellen könnte. Willst du den Kontakt zu deinem Bruder oder nicht?“, stellte ich ihm die elementare Frage, denn darum drehte es sich unterm Strich. Ich würde ihm keine Wahloption besonders beschönigen oder mich quer stellen, obwohl mein Verlangen auf ein Essen mit dieser exzentrischen Persönlichkeit sehr gering ausfiel. „Im schlimmsten Fall können wir einfach aufstehen und gehen“, sinnierte ich laut, immerhin stand es uns frei, zu tun was wir wollten. Das Annehmen der Einladung basierte auf einer freiwilligen Basis, dementsprechend durfte man auch seine Meinung ändern, wenn sich das Gegenüber nicht zu benehmen wusste.
"Das ist wohl auch das, was mir an der ganzen Sache am komischsten vorkommt. Ich hab wirklich keinen Schimmer, was das Ganze soll.", schnaubte ich, als Riccarda in etwa ebenso überrascht auf den Wunsch ihrer Anwesenheit reagierte, wie ich das vorhin im Wald getan hatte. Meine Familie hatte sich noch nie besonders für den Engel interessiert oder dafür, wie es mit uns beiden lief. Wir wurden aneinander gekettet, damit die Gesellschaft wegen unseres zuvor anhaltenden Zwists weniger beunruhigt war und danach hatte sich keiner auch nur im entferntesten mehr um uns geschert. Die Heirat hatte ihren Zweck erfüllt und eigentlich hatte ich gedacht, dass meine Familie froh darüber sein würde, wenn das schwarze Schaf auch noch dauerhaft zu den Engeln auszog. Besser ging's für meinen Vater sicher kaum. Ich sorgte in der Öffentlichkeit schon lange nicht mehr für ständig wechselnde Skandale, ging auch im Rudel Niemandem mehr gegen den Strich und alle müssten erreicht haben, was sie wollten. Oder doch nicht? "Vielleicht dachten sie, dass ich mich nur kurz zu euch verkriechen würde, nach dem Tod meiner Mom... und sind jetzt zu der Erkenntnis gekommen, dass ich vielleicht wirklich nicht mehr zurückkomme. Ich weiß es wirklich nicht, es könnte alle möglichen Gründe dafür geben.", gab ich mich genauso unwissend wie der Engel. Ich hatte mir zum jetzigen Zeitpunkt schon mehr als fünf Minuten lang Gedanken dazu gemacht und war noch auf keinen grünen Zweig gekommen, weil es schlichtweg mehr als eine Möglichkeit für diese merkwürdige Einladung geben konnte. Nur darüber nachzudenken würde uns beiden keine stichhaltigen Antworten liefern. Als Riccarda mich danach fragte, ob ich überhaupt zu diesem Essen gehen wollte, ließ ich erstmal den Kopf nach vorne in meine Hände kippen. Mit einem tiefen Atemzug verkroch ich mich für ein paar Sekunden in der Dunkelheit meiner Handflächen und massierte mir beiläufig die inzwischen sehr angespannten Schläfen. Ich wusste nicht, was ich wollte, was am Ende wohl auch der Hauptgrund dafür war, dass ich noch keine Entscheidung getroffen hatte. Der Wolf in mir war einsam und auch wenn ich Riccarda an meiner Seite nicht mehr missen wollte, ersetzte sie mir kein Rudel. Sie mochte indirekt zu einem Teil davon geworden sein, aber sie würde niemals mit mir den Mond anheulen oder auf die Jagd gehen. Ich vermisste meine Familie und den Zusammenhalt, der mit einem großen Rudel einherging. Doch etwa zu gleichen Teilen hasste ich einzelne Individuen davon, die am Ende auch der Grund dafür waren, warum sich die Familie so spaltete. Chad hingegen war schon sehr lange ein bisschen die Schweiz: Er hatte die Anweisungen meines Vaters stets befolgt, wenn es keinen anderen Weg gab ihn zu beschwichtigen, hatte sich jedoch nie aktiv gegen mich oder andere Mitglieder des Rudels gestellt, solange er eine andere Möglichkeit sah. Mein Verhältnis zu ihm war auch schon immer besser als das zu meinem jüngeren Bruder, der den Mund oftmals etwas zu voll nahm und sich grundlegend für wichtiger hielt, als er eigentlich war. Trotzdem hatte Chad nie etwas dagegen unternommen, dass mein Vater mir gegenüber deutlich strengere Erziehungsmittel ergriffen hatte, als bei jedem anderen jungen Wolf in der Familie. Ich schrieb ihm eine Teilschuld zu, auch wenn das vielleicht nicht fair war. Er hatte öfter als einmal zugesehen, das machte ihn für mich zum Mittäter. Aber was sollte passieren, wenn wir mit ihm und seiner Frau Essen gingen? Wie Riccarda schon sagte - zur Not verschwanden wir eben durch dieselbe Tür, durch die wir gekommen waren. Ich sah erst nach gut zehn stummen Sekunden wieder von meinen Händen auf. Die zierliche junge Frau ansehend zuckte ich schwach mit den Schultern und seufzte ein weiteres Mal. "Ich denke es wird uns kaum schaden, uns zumindest anzuhören, was er zu sagen hat. Er ist zweifelsohne der Ruhigste von uns Dreien und wird in Gegenwart seiner Frau wahrscheinlich wirklich nichts Schlimmes vorhaben.", äußerte ich mich schließlich nach kurzer Bedenkzeit, aber meine Augen verloren sich irgendwann auf ihre Knie, während ich laut vor mich hindachte. Natürlich war Chad ebenso wie ich ein Werwolf - gewissermaßen reizbar und er konnte auch extrem ungemütlich werden, aber dafür brauchte es deutlich mehr als bei mir. Ein maßgeblicher Grund dafür, warum er bis dato auch deutlich besser als ich dafür geeignet war, die Geschäfte der Familie weiterzuführen. "Ich will dich aber nicht dazu zwingen, mit mir da hinzugehen, wenn du absolut nicht möchtest." Ich murmelte die Worte ein bisschen und suchte im Anschluss daran wieder nach Riccardas Blick. Schon bevor sie etwas erwiderte, versuchte ich die Antwort aus ihren dunklen Augen zu lesen. Wir hatten schon viele Dinge zwangsweise zusammen hinter uns gebracht, auf die entweder einer oder keiner von uns beiden Lust hatte. In diesem Fall stand ihr die Wahl aber frei, ich würde ihr dieses Essen nicht aufdrücken. Ihre Anwesenheit anzufordern war meines Bruders Wunsch, aber gewiss nicht sein Recht.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Nicht zu wissen, was für Absichten hinter der unerwarteten Einladung steckten, schien mir eigentlich noch relativ normal, immerhin handelte es sich nicht um ein freundschaftliches Essen, weil man sich längere Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte – unter anderen Umständen wäre es also kein großes Drama, sondern lediglich eine Überraschung, die gemischte Gefühle heraufbeschwor. Der Fakt jedoch, dass meine Anwesenheit ebenso erwünscht war, schob die ganze Sache jedoch in ein anderes Licht und machte die Angelegenheit noch undurchsichtiger als sie ohnehin schon war. Mich beunruhigte es, nicht zu wissen, welche Rolle ich in diesem rudelinternen Drama spielte und bekam leider keine zufriedenstellende Antwort von Isaac. Dessen Gedanken schienen ohnehin eine ganz andere Richtung eingeschlagen zu haben. Die Überlegung, dass sie den Ausreißer wieder zurück ins Rudel integrieren wollten, durfte nicht ohne nähere Betrachtung abgelehnt werden. „Was würdest du tun, wenn dir dein Bruder den Vorschlag unterbreitet, zurückzukehren?“, fragte ich ihn geradeheraus. Ich würde nicht um den heißen Brei reden, nur um womöglich meine Gefühle zu schützen. Eigentlich wusste ich gar nicht, wie ich zu der jeweiligen Entscheidung wirklich stand; darauf musste ich wohl oder übel schlichtweg warten. Gerade prasselten viele unangenehme Fragen auf den Dunkelhaarigen ein. Deshalb gab ich ihm die nötige Zeit, um sich zu sammeln und Zuflucht in seinen Handflächen zu suchen. Mir blieben die Hände gebunden. Ich konnte ihm höchstens beistehen und gut zureden, seine Argumentation objektiver überprüfen oder ihn im besten Fall von einer dummen Schnapsidee abhalten. Für mehr reichten meine Möglichkeiten derzeit nicht, zumindest traf mich kein Geistesblitz mit der ultimativen Lösung – obwohl diese prinzipiell auf der Hand lag: eine Zusage zum Essen und dabei klären, wieso dieses Treffen überhaupt stattfand. Danach blieb immer noch genug Zeit und Spielraum, um sich den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht nahm ich dieses Spektakel einmal mehr zu schnell auf die leichte Schulter, andererseits half mir meine außenstehende Position auch einen kühlen Kopf zu bewahren und das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren. Abwartend beobachtete ich Isaac dabei, wie er sich wieder aufrappelte und ein schwaches Schulterzucken zeigte. Zuerst dachte ich schon, er bliebe mir eine Antwort schuldig, aber schließlich wandte er doch eine zaghafte Bestätigung ein, wofür er ein sanftes Lächeln erntete. „Es ist sicherlich nichts Schlechtes dabei, wenn du ihm eine Chance zuspricht, sich zu erklären und vielleicht wirst du sogar positiv überrascht“, sprach ich dem zwiegespaltenen Mann gut zu, während ich mich seitlich gegen die Couchlehne sinken ließ und den Kopf anlehnte. Irgendwo drückte der Schuh noch immer, ich sah es Isaac an der Nasenspitze an, forderte ihn stumm dazu auf, endlich reinen Tisch zu machen. Meine Verwunderung kam ohne Verspätung angerauscht und zwang mich wieder in eine aufrechtere Position. „Isaac“, seufzte ich leise und schüttelte den Kopf. „Ich fühle mich auch nicht gezwungen oder gedrängt. Ich bezweifle nämlich, dass dein Bruder selbst hier reinmarschiert und mich an den Haaren zu dem Essen schleifen würde, aber ich denke, dass es womöglich keine schlechte Idee wäre, der Bitte nachzukommen.“ Wer wusste im Vorfeld schon, welche Chancen sich aus diesem Treffen ergaben und da wollte ich persönlich nicht der ausschlaggebende Grund sein, weshalb die Stimmung direkt zu Beginn reserviert oder gar angespannt ausfiel. „Außerdem bin ich neugierig“, fügte ich schlussendlich mit einem munteren Zwinkern hinzu und kippte mit ein bisschen gut gewähltem Schwung nach vorn, sodass ich knieend vor dem sitzenden Dunkelhaarigen landete und mich grinsend noch ein bisschen vorlehnte, „und es schadet sicherlich nicht, wenn du auch ein wenig Unterstützung zur Seite hast.“ Und sei es nur dafür, um sein ungezügeltes Temperament hier und da im Schach zu halten – bei einem richtigen Ausbruch seiner Emotionen rechnete ich mir keine hohe Erfolgsquote aus, aber bei kleineren Holpersteinen schaffte ich es sicherlich, ihn zu beschwichtigen. „Ist Chads Frau auch ein Werwolf oder ein Mensch?“ So viel zu meiner Neugier.
Einen Moment lang sah ich Riccarda womöglich etwas irritiert von der Frage an, die sie mir stellte. Ob ich zurückgehen würde? Zur Hölle, nein. Stattdessen könnte ich mir genauso gut mein eigenes Grab schaufeln, solange mein Vater noch das Zepter der Familie in der Hand hielt. Ich war mir noch immer sehr sicher, dass er es mir niemals verzeihen würde, wie sehr ich seinen Namen damals nach der Beerdigung meiner Mutter in den Dreck gezogen hatte. Das machte ihm noch immer Probleme, was leicht in den Medien für mich nachzuverfolgen war. Im Grunde schadete es auch dem Rest der Familie, die ihn ja immer wieder verteidigt hatte über die letzten Jahre hinweg - es schadete allen, außer mir, weil ich nicht mehr dort war und weil mein ziemlich psychotisches Verhalten von damals nun für viele Menschen einen Sinn ergab. Es hatte zuerst an meinem Ego gekratzt, dass ich dadurch automatisch als der traumatisierte Sohn dastand, dessen Leben ihm vom eigenen Vater ruiniert worden war. Das interessierte mich inzwischen aber nicht mehr. Es ging mir besser so, wie es jetzt war. Weit weg von meiner Verwandtschaft und all den damit verbundenen Tragödien - auch wenn das zuweilen leider sehr einsam war. "Nicht für eine Milliarde Dollar, solange mein Vater noch das Ruder in der Hand hat.", verneinte ich ihre Frage sehr entschieden. Vielleicht würde ich meiner Familie noch mal eine ernsthafte Chance geben, sobald das tyrannische Familienoberhaupt die Führung abgegeben oder verloren hatte. Bis das geschah würde ich mich davor hüten, ihnen etwas von meinem zu oft gebrochenen Vertrauen zurückzugeben. Obwohl ich mit Engeln unter einem Dach wohnte, ging es mir hier immer noch sehr viel besser als im Wolfsschloss. Außerdem wäre mir ohnehin nicht wohl dabei, mein Engelchen mit in dieses von Intrigen zerfressene Gemäuer zu nehmen. Sie wäre dort nicht sicher und ich könnte nicht 24 Stunden am Tag auf sie aufpassen. Sie stattdessen einfach bei ihrer Familie zu lassen kam für mich genauso wenig in Frage. Riccarda zeigte sich offen für das Abendessen und versuchte mir ein paar positive Worte einzuflößen, die ich jedoch weiterhin nur mit Vorsicht genießen würde, bis mein Bruder mir die freundlichen Absichten eigenhändig bestätigte. Trotzdem zuckten meine Mundwinkel wenig später unweigerlich nach oben, als die junge Frau ihren guten freien Willen bezüglich des Essens ausdrücklich betonte. Als sie ihre Neugier kundtat formte sich sogar ein Lächeln, das dann schnell zu einem schmalen Grinsen wurde, als sie mir gewissenhaft kalkuliert entgegenkippte. "Früher hätte ich dir an dieser Stelle wohl widersprochen...", räumte ich ein und hob meine rechte Hand an. Ich legte sie an ihre Wange und musterte ihr Gesicht mit leicht zusammen gekniffenen Augen, als müsste ich neu beurteilen, ob ich es gutheißen sollte, welche Wirkung der Engel inzwischen auf mich hatte. An dieser Stelle machte ich mir nichts mehr vor und wusste, dass ich ihre Unterstützung ganz gut brauchen konnte. Ich würde in jedem Fall aufgewühlt sein, wenn ich meinem Bruder nach langer Zeit wieder gegenüber saß. "...aber wir wissen's beide besser.", vollendete ich den Satz verspätet und tippte ihr mit dem Zeigefinger zweimal leicht auf den Kieferknochen, ohne das Lächeln in der Zwischenzeit verloren zu haben. Die Neugier des Engels konnte scheinbar keineswegs noch bis heute Abend warten. "Ein Mensch... es gibt nur einen einzigen weiblichen Werwolf in der Familie. Nicht in diesem Teil, sondern in einem anderen Zweig.", erklärte ich Riccarda die beinahe nicht existenten Frauen im Wolfsrudel der Familie. Weibliche Wölfe waren eine wahre Rarität, auch in einer alten, weit zurück reichenden Familie wie meiner. Riccarda war demnach die einzige übernatürlich Frau im hier ansässigen Teil meiner Sippschaft. Ich lehnte mich der hübschen Blondine vermehrt entgegen, um etwas näher an ihr Gesicht zu kommen. "Du darfst dir diese herrlich direkten Fragen aber gerne für das Paar am Tisch aufheben, weißt du. Nur für den Fall, das ein unangenehmes Schweigen gebrochen werden muss und ich mir zu stolz dafür bin." Ich grinste sie leicht schief an. Sie hatte mir ihre Unterstützung zugesichert und musste sich dementsprechend bei Bedarf bitte auch ein bisschen nützlich machen. Sie wusste inzwischen besser aus meinem Gesicht zu lesen als jeder andere Mensch. Zur Not machten wir einfach ein bisschen von stummen Blickwechseln Gebrauch, wenn wir später zu Tisch saßen.
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Seine Reaktion mochte auf den ersten Blick berechtigt sein, jedoch sah ich diese Überzeugung nicht als selbstverständlich an. Es handelte sich trotz allem um seine Familie, sein Rudel und seine Wurzeln. Isaac bestätigte sogar meine Vermutung, dass dieser Widerwille einzig und allein auf die Anwesenheit seines eigenwilligen Vaters zurückzuführen war und ich mir, während dessen Regime keine Sorgen machen musste, wie es zwischen Isaac und mir weiterlaufen würde. Trotzdem hätte ich meine Frage womöglich expliziter auslegen müssen, um eine klarere Antwort als Zerwürfnis für meine Bedenken zu erhalten. Ob der junge Mann ebenso entschlossen gegen das Rudel stimmte, sollte ihm sein Bruder einen grandiosen Plan zum Sturz des derzeitigen Alphas darlegen? Ich wusste es nicht und fürchtete mich zugegebenermaßen sogar ein bisschen vor der unausweichlichen Wahrheit. Aber Isaac schleppte genug Bedenken dem Treffen gegenüber mit sich herum, da wollte ich ihm nicht als zusätzliches Laster in den Rücken fallen, zudem ich ihm ja meine Unterstützung zugesichert hatte. Daran hielt ich fest. Isaac durfte sich auf mich verlassen, immerhin hatte ich mir sein Vertrauen hart erarbeitet und ich schätzte dieses Privileg. Außerdem würde ein kleines Abendessen schon nicht meine gesamte Welt aus den Fugen reißen. Ich durfte mich nicht von diesem pessimistischen Argwohn anstecken lassen, sondern hielt an der zuversichtlichen Neugier fest, die Isaac sehr schnell zu spüren bekam. Ich lehnte mich geradewegs einem amüsierten Grinsen entgegen, das dem werten Herren ausgezeichnet stand, aber darum ging es eigentlich gar nicht. Sein Ego brauchte meine Zusprache gewiss nicht, um hausieren zu gehen. Ebenso kannte ich nun schon den einen oder anderen Abgrund hinter dem selbstbewussten Auftreten, sodass ich belustigt prustete, nachdem Isaac begann, potenzielle Einwände aus früheren Zeiten in Erinnerung zu rufen. Trotzdem hielt ich still, als er seine Hand seitlich an mein Gesicht legte und mich einer genauen Musterung unterzog. Herausfordernd funkelte ich ihn aus leuchtenden Augen an. Mein Lächeln vertiefte sich ebenfalls, als ich zu einem beipflichtenden Nicken ansetzte. „Und ob wir das tun“, stimmte ich fröhlich zu, wollte die unrunde Atmosphäre vertreiben. Vielleicht trug auch meine offensichtliche Erleichterung dazu bei, nachdem mir Isaac eröffnete, dass es sich bei der unbekannten Frau von Chad um einen normalen Menschen handelte. Lediglich die Überraschung bezüglich dieser unausgeglichenen Verhältnisse übertrumpfte jenes befreiendes Gefühl. „Ihr habt in der gesamten Familie nur einen weiblichen Werwolf?“, hakte ich ein bisschen ungläubig nach und machte große Augen. Bei den Engeln sah die Verteilung ein bisschen fairer aus – kein Vergleich zu der testosterongesteuerten Männerdomäne in der Wolfshöhle. „Zum Glück bin ich Spezialistin in Sachen unangenehmes Schweigen am Tisch, wäre aber sehr dankbar über einen Tipp bezüglich gern angesprochener Themen“, merkte ich mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen und ausreichend Sarkasmus in der Stimme tanzend an, nachdem sich Isaac mir ebenfalls ein Stück weit entgegen gelehnt hatte. Dass Isaac eher den reservierten Part übernehmen würde, naja, davon ging ich von Grund auf schon einmal aus und wollte mir im Vorhinein ein paar Ansätze zurechtlegen, falls die Stimmung wirklich zu kippen drohte. Da nutzte mir das Wissen über ungern gesehene Fragen bestimmt ausreichend, um entweder eine desaströse Szene zu umschiffen oder bei provokativen Verhalten auf ebenso wunde Punkte abzuzielen.
Bekräftigend nickte ich, obwohl ich auf die Frage eigentlich kein zweites Mal zu antworten brauchte. Ich glaubte mich daran zu erinnern dem blonden Engel schon einmal erzählt zu haben, dass das weibliche Geschlecht bei uns Werwölfen nicht besonders häufig vorkam. War aber auch gut möglich, dass ich mich diesbezüglich irrte, weil ich inzwischen tatsächlich etwas den Überblick darüber verloren hatte, was genau ich Riccarda schon alles erzählt hatte hinsichtlich meiner wölfischen Natur. "Das mit den Frauen ist ironischerweise auch wie ein Fluch.", meinte ich. Es war als würde wer auch immer unsere Spezies ins Leben gerufen hatte nicht wollen, dass wir unser Blut absolut rein hielten und dadurch Generation für Generation noch stärker wurden. Nicht auszumalen, wie viel mehr Kraft ich noch hätte, wenn meine Mutter ebenfalls ein Werwolf gewesen wäre. "Wölfe zeugen nur selten Mädchen. Wenn es ausnahmsweise doch vorkommt, dann sind sie in der Regel keine Wölfe... und wenn sie tatsächlich welche sind, gehören sie in den meisten Fällen leider zu dem Prozentsatz, der die erste Verwandlung nicht überlebt. Es ist als sollte es einfach nicht sein.", ging ich doch noch etwas mehr auf diesen Punkt ein und zuckte anschließend leicht mit den Schultern. Was Riccarda nun mit diesem Wissen anfing war ihr überlassen. Nicht als stünde mir etwas dergleichen im Sinn, aber sie brauchte sich dementsprechend keinerlei Gedanken darüber zu machen, ob ich sie bei Gelegenheit für eine Wölfin verlassen würde. Die Wahrscheinlichkeit im Verlauf meines Lebens überhaupt jemals eine zu treffen, ohne bewusst danach zu suchen, war schwindend gering. Allerdings ärgerte es mich in diesem Moment doch ein wenig, noch nicht mal die Wölfin in der eigenen Verwandtschaft kennen gelernt zu haben - das kam auf meine imaginäre Liste mit Dingen, die ich irgendwann mal nachholen wollte. Die junge Frau bestätigte mir ihr Fachgebiet und ihr Grinsen steckte mich unweigerlich an. "Hmmm, mal sehen...", kündigte ich an, in meinen Erinnerungen herumzuwühlen und nahm meine Hand dabei kurz von ihrem Gesicht, um stattdessen eine der blonden Strähnen hinter ihr linkes Ohr zu streichen. Meine Augen folgten meinen Fingern. "Vermeiden solltest du zu detaillierte Geschäftsfragen, die Narbe an Ava's Unterarm", seine Frau, aber ich glaubte das erschloss sich in diesem Kontext von selbst, "Geschichten aus unserer Kindheit und die Tatsache, dass er sich all die Jahre über sehr bedeckt gehalten hat und trotzdem derjenige sein wird, der die Familie zukünftig anführt. Es fühlt sich scheinbar nicht so gut an, sich die Spitze zu erschleichen." Er hatte sich an irgendeinem Punkt im Leben dazu entschlossen, dass das für ihn die besten Überlebensstrategie war und mir war deshalb schleierhaft, weshalb er darauf immer so empfindlich reagierte. Er hätte es schließlich einfach anders machen können. "Er redet aber allzu gern über die dumme kleine Stiftung, die er vor einer ganzen Weile ins Leben gerufen hat, über seine ach so schöne, perfekte Beziehung mit Ava oder darüber, welche Pläne er für das Rudel und die Politik drum herum hat..." Musste ich erwähnen, dass ich letzteres zum Gähnen fand? Wahrscheinlich nicht. "...aber um letzteres kommen wir vermutlich sowieso nicht rum. Ich denke nicht, dass das Essen ein reiner Freundschaftsakt ist. Irgendeinen Hintergedanken wird er dabei schon haben.", schloss ich ab. Es war möglich, dass ich mich damit irrte, aber einfach nur mit mir essen gehen zu wollen sah ihm nun mal nicht ähnlich. Das hatten wir noch nie gemacht, nicht ohne den Rest der Familie. "Was wirst du anziehen?", switchten meine Gedanken zu einem anderen Aspekt des Essens. Ich biss mir neugierig auf die Unterlippe, was das anhaltende Grinsen aber nicht verschleiern konnte. Mein Blick streifte die weichen Lippen des Engels. Es war selten, dass uns beiden Niemand ein Dresscode für ein Essen außer Haus vorschrieb und Riccarda hatte viele schöne Kleider im begehbaren Kleiderschrank. Welches davon durfte es also heute sein? Ich sollte meinem Bruder wohl mal eine kurze Nachricht zukommen lassen, in der stand, dass wir die Einladung annahmen - aber das konnte ich ihn zehn Minuten auch noch machen. Es störte mich keineswegs ihn noch etwas schmoren zu lassen.
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Zuerst verteidigte ich meine Unwissenheit noch vehement, doch je näher Isaac auf das Thema der weiblichen Raritäten bei Werwölfen zu sprechen kam, desto vertrauter klang der Kontext. Irgendwo in den Windungen meines Gedächtnisses meldeten sich abgespeicherte Informationen, die sich nun wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins kämpften. „Jetzt wo du’s sagst, bilde ich mir ein, dass wir schon einmal darüber gesprochen haben“, erinnerte ich mich vage zurück und strengte meine grauen Zellen noch ein bisschen weiter an. „Entschuldige bitte“, murmelte ich verstimmt – es sah mir tendenziell nicht ähnlich, dass ich derartige Details einfach so vergas und ließ sich nur darauf zurückführen, dass ich in letzter Zeit sehr viel Wolf-Input bekommen hatte. Zwar verfolgte mich die Vollmondnacht schon lang nicht mehr, hatte mich zum Glück auch in keinen Albträumen auf Trab gehalten, aber die Einblicke in diese persönliche Erfahrung überschatteten sehr viele andere verbale Eindrücke, die mir lediglich geschildert worden waren. So viel also zu meiner herausragenden Auffassungsgabe. Auf die Gefahr hin, mich im Geiste zu wiederholen, kreisten meine Gedanken wieder an dieses natürliche Ungleichgewicht; als würde eine höhere Balance nicht zerstört werden und dafür den Engel primär heilende oder konstruktive Fähigkeiten schenken. Ich mit meinen brennenden Fingern entsprach einer exotischen Ausnahme unter meinesgleichen, da diese Gabe lediglich destruktiv einzusetzen war. So besaß wohl jede Spezies ihre Schwachpunkte. Wie schön, dass sich Isaac und ich diesbezüglich gut ergänzten, obwohl unsere Zusammenführung eher experimentell abgelaufen war. Mittlerweile schafften wir es, uns gegenseitig schelmisch anzugrinsen und wie Verbündete aufzutreten. Ich genoss dieses Gefühl der Einigkeit. Ich genoss zudem die immer häufiger auftretenden, wie nebenbei wirkenden Berührungen von Isaac. Hin und wieder zog er mich etwas näher an sich heran, dann strich er mir wieder ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht oder half mir in die Jacke und streichelte dabei meine Arme entlang. Ich verlor mich für ein paar kostbare Sekunden in diesen Kleinigkeiten, konzentrierte mich aber rasch wieder auf die folgenden Instruktionen, um die ich schließlich gebeten hatte. Ich fühlte mich gerne vorbereitet und am Tisch mit zwei im Streit liegenden Werwölfen bedarf es Fingerspitzengefühls. „Ich kenne seine Geschäfte doch gar nicht, da kann ich mich nur bedingt für schmutzige Geheimnisse erwärmen“, merkte ich grinsend an, wurde aber bei der Erwähnung einer gewissen Narbe ruhiger, gefasster hakte ich dieses Mal nach: „Hat Chad Ava verwundet?“ Es schien mir das Naheliegendste, doch wollte ich dem fremden Gestaltwandler keine schweren Anschuldigungen unterstellen. Meine besagte Neugier verlangte nach einer Antwort. Ebenso juckte es mich in den Fingern, nach der angesprochenen Kindheit zu fragen, aber ein kurzes Aufblitzen in Isaacs Augen warnte mich davor, diese weiteren Fragen jetzt in den Raum zu werfen. „Wäre es nicht leichter für ihn, einfach dazu zu stehen, als allen im Umkreis den Kopf für diese Tatsache abreißen zu wollen?“, merkte ich relativ trocken an und hob eine Augenbraue prüfend an. Mir wurde echt ein bisschen leichter ums Herz, als Isaac endlich zu den begrüßten Gesprächsthemen wechselte und ehrlichermaßen interessierte mich diese Stiftung ebenfalls. Ich verkniff mir ein verständnisvolles Lächeln, entschied mich aber schnell für ein süffisantes Grinsen. „Höre ich da etwa Missgunst aus deiner Stimme heraus?“, ärgerte ich Isaac amüsiert und kniff ihn leicht in den Oberarm. „Oder darf ich das viel mehr als Anspielung verstehen, dass ich von unserer geradezu perfekten Beziehung schwärmen muss, wann immer ich die kleinste Chance dazu erkenne?“, spielte ich mein Spielchen weiter und zwinkerte vergnügt. Über diverse Geschäftsmodelle und Führungsvorstellungen unterhielt ich mich dann primär doch nicht so euphorisch, würde jedoch die interessierte Zuhörerin mimen können, sofern es von mir verlangt wird. Früher hatte ich bei den politischen Gesprächen beim Abendessen zwischen meinem Vater und meinen Brüdern auch nichts anderes getan, weshalb ich diese Rolle ganz gut meisterte. „Was ich… wow, das ist eine neue Art von Themenwechsel“, bemerkte ich mit einem hellen Lachen und erfreute mich dabei auf dem geradezu jugendlich-frechen Ausdruck auf Isaacs Gesicht. „Hast du denn gewisse Vorstellungen?“, spielte ich ihm den Ball kokett zurück und hielt ihn dabei mit meinem forschenden Blick fest. Der Abend würde wahrscheinlich formell ablaufen, obwohl alle verkrampft einen lockeren Eindruck zu erwecken versuchten, sodass ich mich dem entsprechend in einem eleganten Kleid sah, aber es hing auch davon ab, ob ich Eindruck schinden sollte oder mehr als Friedensstifterin am Tisch sitzen würde.
Ein wenig den Kopf schüttelnd und mit einem Lächeln tat ich ihre Entschuldigung ab, die in meinen Augen nicht nötig war. "Ist ja nichts, was für dich wirklich von Bedeutung ist.", stellte ich fest. Es war mir lieber, wenn sie sich stattdessen die wirklich wichtigen Dinge merkte, da konnte sie die unschöne Minderheit von Wölfinnen ruhig vergessen. Schließlich spielte das für uns beide keine Rolle und war nur eine zusätzliche Randinformation. "Solange du dir die Dinge merkst, die sich aktiv auf mich oder uns beide auswirken, bin ich völlig zufrieden.", meinte ich und legte den Kopf leicht schief, ohne das Lächeln zu verlieren. Ich war zuversichtlich, dass das Engelchen sich die für uns beide relevanten Dinge auch zukünftig merkte und das war ausreichend. Sicherlich merkte ich mir auch nicht absolut alles lückenlos, was ich hier und da hinsichtlich der heiligen Flattermänner aufschnappte. Es war fast unmöglich diesbezüglich nicht mehr Input zu bekommen, wenn man mit so vielen Engeln unter einem Dach wohnte - alles blieb davon aber bestimmt nicht hängen, dafür interessierte mich manches schlichtweg zu wenig. "Ich meinte auch eher, dass du nicht akribisch drin rumstochern sollst, wenn er irgendwas erwähnt, das vielleicht gerade nicht so gut läuft.", korrigierte ich meine vorherige Aussage mit hochgezogener Augenbraue und leichtem Grinsen. Wahrscheinlich erwähnte ich das auch nur, weil ich ganz genau wusste, wie unheimlich gerne Riccarda früher auf meinen Schwachpunkten herumgeritten war. Eine ihrer leichtesten Aufgaben, wenn sie es drauf anlegte. Sollte mein älterer Bruder sich nicht am Riemen reißen, durfte sie von mir aus dann aber auch gerne austeilen - ich würde mich selbst kaum zurückhalten, wenn ich das Maß an Dreistigkeit als voll ansah. Die unschöne Geschichte rund um die Narbe war leicht erzählt. "Ja, hat er. Ich erinnere mich noch an den schrillen Schrei, als wär's gestern gewesen.", seufzte ich. Der Grund dafür war simpel - Avas Stimmlage war allgemein etwas höher und wenn sie schrie, zerfetzte es jedem Wolf im Umkreis von zwei Kilometer gefühlt das Trommelfell. "War ein sehr übler Trümmerbruch, er hat ihr den Arm ziemlich zermalmt." Ich zuckte mit den Schultern. Seitdem schrie sie jedes Mal, wenn Chad ihrer Meinung nach ein paar Gänge zu hoch schaltete - noch ein Grund mehr, weshalb ich froh war, nicht mehr bei den Wölfen zu hausieren. Aber ab zur nächsten Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten war. Mal ganz davon abgesehen, dass Chad im Gegensatz zu mir für gewöhnlich nicht willkürlich Jemandem den Kopf abriss, steckte meinem Empfinden nach auch noch etwas mehr dahinter. Allerdings war das eher eine Vermutung, weil wir beide darüber niemals gesprochen hatten. "Ich glaube er stört sich gar nicht so sehr an der Tatsache an sich, sondern daran, dass sowohl unser Vater, als auch meine Wenigkeit ein gutes Stück... naja, stärker daher kommen. Er ist kleiner, er ist schmaler und im Ernstfall stünden seine Chancen gegen mich eher schlecht. Es gab nie einen Kampf, der die Rangfolge tatsächlich geklärt hätte, obwohl das eigentlich so üblich ist. Vielleicht aus Rücksicht seinerseits, vielleicht aber auch aus Angst, ich könnte danach den Alpha-Posten für mich haben wollen." Ich nahm meine Hand jetzt endgültig von Riccardas Gesicht. Unseren jüngsten Bruder hatten wir beide von Tag Eins an untergebuttert, weil er eine schreckliche Nervensäge war. Das Verhältnis zwischen Chad und mir hingegen war immer gut gewesen, bis mein Vater mir gegenüber zunehmend ausschweifender geworden war. Seitdem hatte sich die einst enge Bruderschaft Stück für Stück im Sand verlaufen. "Sei nicht immer so frech.", gab ich ihr im ersten Moment keine Antwort auf die Frage, die mehr nur reine Provokation war. Ich kniff die Augen etwas zusammen und der lebhafter werdende Schimmer darin war das erste Signal für ein möglicherweise folgendes Echo. Nur kurz zögerte ich, bevor ich mich dem Engel mehr zuwandte und beide Hände an ihre Schultern legte, um sie rücklings zurück aufs Sofa zu werfen. Ich folgte ihr, jedoch nur um zwischen ihren Beinen knieend beide Hände nach ihrer Taille auszustrecken. Allzu gern machte ich es mir jetzt zunutze, dass ich schon herausgefunden hatte, wie kitzelig Riccarda war. Ich kitzelte sie aber nur kurz, wollte ihr lediglich eine verspielte Retourkutsche geben. Als es meiner Meinung nach genug war, blieb ich aufrecht auf den Knien sitzen. "Das würde dir ziemlich sicher Niemand glauben, also versuch's besser gar nicht erst.", schnaubte ich, gefolgt von einem amüsierten Grinsen. Wir beide wussten es besser - unsere Beziehung mochte noch lange nicht perfekt sein, wir hatten aber sehr große Fortschritte gemacht und uns lag etwas aneinander. Das würde uns von den Wölfen wohl noch immer keiner glauben, der es nicht tagelang mit eigenen Augen sehen würde. Außer Chad, möglicherweise... er kannte mich besser als die meisten anderen. Als Riccarda mich nach meiner Meinung zur Kleiderwahl befragte, sah ich kurz in Richtung der Zimmerdecke, obwohl ich eigentlich nicht wirklich darüber nachdenken musste. In meinem Kopf formten sich stattdessen nur überflüssige Szenarien, die sich so nicht bewahrten würden, im gleichen Zug aber das schelmische Grinsen weiter in meine Lippen meißelten. "Ist mir eigentlich egal, solange du in dem Kleid nur mindestens wahnsinnig gut aussiehst.", sagte ich, als wäre auch das eine Königsdisziplin des Engels. Meine Augen lagen dabei längst wieder in ihren. Ich kannte mich nicht aus mit den eine Millionen verschiedenen Schnittmustern für Kleider und im Grunde genommen war mir die Form am Ende auch recht egal - ich ging bekanntlich aber immer noch am liebsten mit einer Frau am Arm durchs Restaurant, die den einen oder anderen ringsum sitzenden Gast schön vor Neid sabbern ließ. War schließlich nicht so, als würde wir durch eine Hintertür hineinkriechen.
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Möchtest du vielleicht direkt zum Abend springen, wenn Isaac dezent angespannt und natürlich gar nicht ungeduldig darauf wartet, dass sich Riccarda auch endlich dazu bequemt, fertig zu werden? ^^
Trotz Isaacs Beschwichtigung bekam ich den bitteren Beigeschmack nicht von der Zunge – hatte ich womöglich noch andere Dinge vergessen, die durchaus Wichtigkeit besaßen? Dabei aktualisierte ich mein mentales Werwolf-Handbuch akribisch und speicherte die essenziellen Fakten normalerweise gewissenhaft ab. Wiederkehrende Verhaltensmuster sowie meine entsprechende Reaktionen zählten dann wohl zu den angesprochenen, aktiven Auswirkungen auf Isaac oder unsere Beziehung, die ich aber mittlerweile verinnerlichen konnte. Über kurz oder lang gewöhnte man sich anscheinend an wölfische Exzentrik. Zudem bemühte sich der werte Herr auch meistens, manchmal merkbarer als in anderen Situation, darum, die Lebensphilosophie meiner Familie und damit auch im engeren Sinne mir selbst zu verstehen und ein wenig Anpassungsarbeit zu leisten, ohne dass ich ihn jemals direkt darauf ansprechen hätte müssen. Diese gegenseitige Akzeptanz schien einer stillen Übereinkunft zu entspringen. Meine persönliche Toleranz dehnte sich lediglich auf einen Werwolf aus, alle anderen Mitglieder des wüsten Rudels befanden sich in meinen Augen auf Bewährung und durften sich deshalb weit weniger Verständnis erwarten. Wahrscheinlich war sich Isaac dieser Tatsache ebenso bewusst, weshalb er seine vorherige Anmerkung detaillierter ausführte und mir damit gleichermaßen wichtige Grenzen aufwies: Kein unangenehmes Kreuzverhör vom Zaun brechen, sollte dies nicht provoziert werden. Nun grinste ich ihm ebenfalls breit entgegen, nickte gelehrig und erweckte wohl dennoch keinen engeltypischen unschuldigen Eindruck. Ich wusste mich durchaus verbal zu verteidigen, wie mein Gegenüber langfristig am eigenen Leib erfahren durfte, ehe sich unser Verhältnis deutlich besserte. Mein unbeschwerter Ausdruck verblasste erst bei der Bestätigung von Chads Schuld an Avas Verletzung – Trümmerbruch – und rückte den fremden Gestaltwandler automatisch in ein gedrückteres Licht. „Es scheint aber keine allzu große Sache für dich gewesen zu sein“, hinterfragte ich indirekt Isaacs Gehabe, aber eventuell interpretierte ich diese anteilnahmslose Gestik auch aufgrund der Verjährung falsch. Hatte er sich damals nie Sorgen darüber gemacht, dass ihm jemals Ähnliches mit seiner Partnerin geschehen könnte? Die damit verbundenen, eher unerfreulichen Gedanken verpufften glücklicherweise sehr schnell wieder, nachdem ich mir den anscheinend niemals enden wollenden Konkurrenzkampf vor Augen führte. „Er sieht in der noch immer eine Bedrohung, obwohl du mehr oder weniger aus freien Stücken das Feld vorerst geräumt hast“, fasste ich zusammen, jedoch schwang in meiner Stimme ein großes Fragezeichen unterschwellig mit. Ich wusste nicht, was uns die Zukunft brachte, aber es lag im Bereich des Möglichen, dass Isaac irgendwann seinen rechtmäßigen Platz einfordern könnte und im Vorfeld zu ahnen, keine guten Aussicht bei der Konfrontation zu besitzen, führte über kurz oder lang zu Stress, Abneigung oder im aussichtslosesten Fall zu Paranoia. Ebenfalls düstere Gedanken… weg damit. Isaac sorgte gewissenhaft für Ablenkung, weckte damit gleichzeitig auch mein Misstrauen. Inzwischen erkannte ich das unheilverkündende Funkeln in seinen klaren Augen. „Ich bin überhaupt nicht frech“, hielt ich grinsend dagegen, reagierte aber vom ersten Moment an zu langsam, um mich noch aus seinem Griff zu befreien. Reflexartig umklammerte ich seine Handgelenke jeweils mit einer Hand, als er mich geschickt auf den Rücken beförderte und seine Finger zu meiner Taille wanderten. Ich ahnte Böses. Ehe ich eine Warnung ausstoßen konnte, begann schon die Kitzel-Attacke, unter der ich mich lachend wand und aufbegehrend von einer Seite zur anderen warf, sofern ich den benötigten Platz bekam, aber Isaac schaffte es recht gut, mich an Ort und Stelle zu halten, weshalb ich – kräftetechnisch hoffnungslos unterlegen – verzweifelt unter japsenden Lauten versuchte, seine Hände irgendwie von meinen Seiten zu befördern. Schlussendlich galt meine Erlösung Isaacs Nachsicht. Schnaufend blieb ich am Rücken liegen und linste ihn finster unter halb geschlossenen Lidern hervor an. „Du bist gemein“, echauffierte ich mich schmollend, stützte mich aber dann soweit auf den Unterarmen ab, um zumindest eine leicht erhobene Haltung einzunehmen. Mein pikierter Ausdruck währte nicht lange, da kippte mein Kopf zurück in den Nacken und ein amüsiertes Lachen tanzte über meine Lippen. „Schon klar. Mindestens wahnsinnig gut“, wiederholte ich grinsend, noch während ich den Kopf wieder anhob und in eine angenehmere Position brachte. „Aber ich denke, dass ich zufälligerweise ein passendes Exemplar für diese Ambition in meinem Kleiderschrank hängen habe“, versicherte ich Isaac mit einem geheimnisvollen Glitzern in den Augen.
Tatsächlich hatte es mich herzlich wenig interessiert, ob Ava den Arm verlieren würde oder nicht. Streng genommen juckte mich das auch immer noch nicht - sie war schließlich nicht meine Frau. "Es ist eben nicht so, als würde sowas selten passieren... sie waren damals noch nicht ewig lange zusammen und es hätte gut sein können, dass sie sich irgendwann wieder trennen.", meinte ich sachlich, vom Thema völlig unberührt. Ich hatte selbst auch die eine oder andere meiner Liebschaften mal mehr und mal weniger schwer verletzt und mein Vater hatte es gehasst, weil er dann immer Schweigegeld aus der Hosentasche hatte ziehen müssen. Wenn das nicht gefruchtet hatte, dann hatte ihnen noch Schlimmeres geblüht. Es fiel mir auch jetzt noch schwer, Mitleid mit Menschen zu haben, die ich kaum kannte. Selbst wenn ich mich mal ein paar Wochen mit ein und derselben Frau begnügt hatte - was an sich schon selten war - hatte sie mir am Ende dann trotzdem nichts bedeutet. Sonst säße ich heute nicht hier mit Riccarda. Ich hoffte wirklich sehr, dass ich sie nie wieder beißen würde und dass diese Phase unserer Beziehung weit genug hinter uns lag, aber das Restrisiko blieb immer. Die zierliche Blondine würde so einen Biss als Engel besser wegstecken als eine menschliche Frau und dennoch würde uns das nicht vor dieser Art des Vertrauensbruchs retten. Blieb also zu hoffen, dass es nie wieder passieren würde. Ihre dem Verständnis dienende Wiederholung meiner Aussage bezüglich des ausstehenden Kampfs zweier Brüder nickte ich nur noch einmal ab, weil ich nichts weiter dazu zu sagen hatte. Dann schon eher zu der Feststellung, die sie im Anschluss an die kleine Attacke von mir tätigte. Die ließ mich nämlich selber kurz lachen, was unter anderem auch an Riccardas herrlichem Gesichtsausdruck lag. "Zu dir schon lange nicht mehr.", korrigierte ich ihre Aussage, weil die eben einfach nicht stimmte. Verglichen mit unseren Auseinandersetzungen und Kämpfen vor unserer Hochzeit, war ich ihr gegenüber inzwischen wirklich sehr zahm. Selbst wenn wir uns jetzt noch einmal stritten - was nicht mehr oft vorkam, weil ich es wirklich zu vermeiden versuchte - dann ging ich niemals mehr auf die hässlich persönliche Ebene, auf die ich es früher immer angelegt hatte. Ich war lösungs- und nicht mehr gewinnorientiert, mir lag etwas an der Versöhnung. Ich hörte die junge Frau nämlich viel lieber lachen als streiten, weshalb ich in diesem Moment auch absolut nicht aufhören konnte zu grinsen. Riccarda nahm meinen ziemlich hoch gegriffenen Wunsch bezüglich ihres Outfits an, auch wenn es sie im ersten Moment amüsierte. Ich war natürlich sehr neugierig darauf zu erfahren, was der Engel heute Abend vom Kleiderbügel zog. Trotzdem würde ich mich davon überraschen lassen und beugte mich grinsend über sie, um nahe mit den Lippen an ihr Ohr zu kommen. "Enttäusch mich nicht.", neckte ich sie raunend ein letztes Mal und hauchte anschließend einen flüchtigen Kuss auf ihre Wange, bevor ich mit wieder deutlich angehobener, guter Laune vom Sofa aufstand. Schon im Weggehen zog ich das Telefon aus der Hosentasche, um meinen Bruder in Kenntnis zu setzen. Ich ging am Nachmittag noch ein, zwei kleineren Erledigungen nach und dabei war ich relativ gut abgelenkt. Als die Zeit dann jedoch zu drängen begann und ich damit anfangen musste zu duschen und mich fertig zu machen, kam das flaue Magengefühl wieder hoch. Riccarda hatte betont, dass es so schlimm eigentlich nicht werden konnte und doch saß ich hier jetzt auf heißen Kohlen. Ich war früher fertig als der zierliche blonde Engel und versuchte mir die letzten Minuten vor unserer Abfahrt mit dem Smartphone totzuschlagen, während ich in dem maßgeschneiderten schwarzen Anzug im Sessel im Wohnzimmer saß. Zu keiner Sekunde hatte ich mich dabei angelehnt, sondern saß mit den Ellenbogen nach vorne auf die Knie gestützt und fing zwischendurch immer wieder an, mit dem rechten Bein zu wippen. Jedes Mal, wenn ich das merkte, unterband ich dieses dämliche Verhalten und doch ließ es sich nicht langfristig abstellen. Warum war ich so aufgeregt? Schließlich ließ ich mich doch mit einem genervten Stöhnen nach hinten an die Sessellehne kippen und sah in Richtung der Schlafzimmertür, die halboffen stand. "Ich weiß, dass ich wollte, dass du perfekt aussiehst... aber geht das auch schneller?" Diese trockene, eigentlich vollkommen überflüssige Frage war nur ein Ausdruck meiner sehr angespannten Nerven. Mir war nämlich eigentlich egal, ob wir tatsächlich zu spät kommen würden. Mein Bruder konnte ruhig ein paar Minuten auf uns warten, ich hielt es nur nicht mehr lange aus hier rumzusitzen und mir die unmöglichsten Theorien auszumalen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈