Immerhin kitzelte ich eine kleine, wenngleich kaum positive Gefühlsregung aus Isaac hervor. Ein lediglich schwacher Trost in Anbetracht der Tatsache, dass der furchtsame Teil in mir durchaus gerne eine Vorwarnung bekäme, um rechtzeitig in den Verteidigungsmodus zu wechseln, aber diese Bitte erschien mir laut ausgesprochen noch lächerlicher als zuvor leise in meinen Gedanken. Da ich nicht mit einem derartigen Entgegenkommen rechnete, musste ich mich wohl oder übel auf meine Reflexe verlassen und hoffen, dass ich auch unbewusst schnell genug handeln würde, um die schlimmsten Ausartungen zu vermeiden. Blieb nur die Frage offen, was die richtige Reaktion auf eine Eskalation seitens des Werwolfs umfasste. Mir tat der Kopf zugegebenermaßen ein wenig weh. Da oben schwirrten zu viele Dinge herum. Dinge, die eigentlich nichts zu der derzeitigen Situation beitrugen und mir dennoch keine Ruhe ließen – zu breitgefächert, um im Detail darauf einzugehen, andererseits würde ich mich in dem gewaltigen Strom verlieren und sämtliche Konzentration darauf verschwenden, nicht in den Gedankenmassen zu ertrinken. Obwohl ich meine Anstrengung niemals mit jener aufgebrachten Willenskraft des Gestaltwandlers vergleichen wollte, bemerkte ich wenig begeistert, wie sehr Isaacs Unausgeglichenheit auch an meinem Nervenkostüm zehrte. Da brachten auch lieblose Scherze nichts beziehungsweise Klarstellungen, die mit müden Lächeln begleitet wurden. Ich schnaubte nur leise, fügte anschließend dennoch ein knappes Zucken der Mundwinkel hinzu: „Schade eigentlich. Wäre ein nützlicher Service.“ Mehr gab es dazu nicht zu sagen, oder? Für mich jedenfalls hatte sich das Thema sehr schnell wieder erledigt. Da in meinem Kopf ohnehin genug Aufregung herrschte, fand ich schnell andere Gelegenheiten, um mich abzulenken und verlor dadurch binnen weniger Augenblicke den Anschluss. Der helle Taschenlampenkegel hüpfte beinahe fröhlich durch die Dunkelheit, während ich mein Schritttempo erhöhte, um nicht innerhalb der ersten hundert Meter verloren zu gehen und fand schnell wieder großgewachsene Silhouette meines Gefährten. Womöglich hatte er meine kurzfristige Abwesenheit gar nicht mitbekommen oder schlichtweg keine Nerven, um auch noch seine ohnehin mäßig vorhandenen Geduldreserven zusammenzukratzen. Wie dem auch sei: ich tauchte rasch wieder mit ein zwei stolpernden Schritten, weil der Untergrund doch von allerlei Wurzelzeug durchwachsen war, schräg neben Isaac auf und bemühte mich ganz darauf, nicht sofort wieder abzudriften – mental als auch physisch. Schlussendlich durchbrach die herbe Männerstimme unser monotones Gehen – mein zwischendurch hörbares Atmen – und ließ mich aufschauen. Ein gefährliches Unterfangen für jemanden ohne übernatürliche Raubtiersinne, aber ich meisterte das Vorhaben dennoch lang genug, um Isaac einen musternden Blick zu unterziehen. „Wie kommst du auf jetzt auf das Haus?“, stellte ich ihm zuerst reflexartig die Gegenfrage, ehe ich zu einer Antwort meinerseits überging: „Da mein erfolgreicher Abschluss an der Uni eine der Voraussetzungen für die Erbschaft ist, denke ich schon, dass wir dazu kommen würden… also, sofern du das auch möchtest.“ Eigentlich hatten wir noch nie in Ruhe über diese Option gesprochen und ich wusste nicht, was ich davon hielt, dieses Fass nun zu öffnen. Jedoch schien mir das Interesse seitens Isaac ehrlich zu sein, weshalb ich in meinem Gedächtnis zu kramen begann. „Ich müsste mich noch einmal erkundigen, um ganz sicher sein zu können, aber meines Wissens gehört der Grund plus alles darauf mir.“ Ein Anflug elterlichen Pflichtgefühls oder der schieren Freude an Besitz, einer der beiden Gründe führte dazu, dass meine Brüder und ich mehr als genug Optionen besaßen, um nicht auf ewig in den familiären Kreisen residieren zu müssen. „Eigentlich wollte ich das mit dem eventuellen Erbe noch niemanden sagen, solange es mehr oder weniger in der Schwebe steht. Denkst du, dass ist ein Fehler?“ Ein unsicherer Unterton hatte sich in meine Stimme geschlichen, als ich ein weiteres Mal zu Isaac hinüberschaute. Ironisch, dass ich ausgerechnet ihn um moralische Führung bat, aber wer sollte mir denn einen, bestenfalls hilfreichen Rat erteilen. Obwohl Isaac es vielleicht noch immer als unmöglich erachtete, so besaß seine Meinung für mich durchaus eine gewisse Wichtigkeit und ihn betraf diese ganze Sache mit einer Auswanderung ebenso wie mich. Da spielte seine Ansicht ebenfalls eine entscheidende Rolle.
Für Riccarda - oder jedes andere meiner unfreiwilligen Opfer - wäre es sicher eine Verbesserung der totbringenden Umstände. Der Engel könnte allerdings deutlich besser etwas mit der Warnung anfangen, als ein gewöhnlicher Mensch. Denn Riccarda könnte sich tatsächlich gegen mich wehren, wenn ich so dermaßen blind werden sollte, dass ich plötzlich vergaß, wer und wie wichtig sie mir inzwischen war. Ich hoffte dennoch, dass dieser Fall nicht eintreten würde. Heute nicht und auch an keinem anderen Tag. Ganz gleich wie nützlich dieses Upgrade für den Engel wäre, konnte ich ihr das heute noch viel weniger als an allen Nicht-Vollmond-Tagen bieten. Wenn mir die Sicherungen durchbrannten, dann grundsätzlich ohne wörtliche Vorwarnung. Es kam momentan häufiger vor, dass ich urplötzlich Themen anschlug, mit denen die zierliche Blondine nicht gerechnet hatte. Ich glaubte zu wissen, dass das vor allem daraus resultierte, dass sie uns beiden eine ernsthafte Chance geben wollte. Es stand noch in den Sternen, ob sie sich nach allem, was passiert war, tatsächlich in mich verlieben konnte, aber wir schätzten einander. Mit alledem gingen auch ernstere Gedanken an unsere Zukunft einher. "Ich bin gerade kein guter Gesprächspartner. Wortwechsel sterben uns am wenigstens gleich nach zwei Sätzen, wenn wir über etwas reden, das mich interessiert." Ich warf mit lebhaft funkelnden Augen einen kurzer Blick zu ihr rüber, bevor ich wieder geradeaus sah. "Die ganze Thematik rund ums Auswandern und unsere Zukunft wirft eben einige Fragen auf. Wo ich zukünftig schlafe, interessiert mich mehr als vieles Andere. Ich hab mich an deine Familie gewöhnt, aber es ist für mich trotzdem wesentlich entspannter, wenn ich nicht in einem Schloss voller Engel und Pseudo-Profi-Architekten wohnen muss." Ich bemühte mich an dieser Stelle um eine Prise Humor. Nannte Jago bewusst nicht beim Namen, sondern inkludierte seine zwei oder drei Gehilfen, die er zwischendurch mit sich herumschleppte. Meine Worte klangen trotzdem trocken und Riccardas Ex-Freund war definitiv kein Thema, das wir hier und jetzt breiter auffächern sollten. Wahrscheinlich beantwortete all das allein schon ausreichend die abschließende Frage des Engels, aber ich erläuterte ihr auch das gerne genauer, solange es mich am Reden hielt. Das war immer noch besser, als zu schweigen und den Kopf zu verlieren. "Wenn es nach mir geht, brauchst du also kein Sterbenswort darüber zu verlieren, bis dein Abschluss durch ist oder bevor wir unsere Sachen packen und abhauen. Ich dachte nur du willst es ihnen vielleicht so früh wie möglich beichten, weil... du dich dazu verpflichtet fühlst, oder so." Ich zuckte schwach mit den angespannten Schultern und fuhr ein paar Sekunden später fort. "Das ist natürlich etwas egoistisch, a..." Ich hörte ein etwas lauteres Rascheln rechts von uns. Instinktiv blieb ich stehen und lenkte meinen Blick stur auf das einige Meter weit entfernte Dickicht am Abhang rechts von uns, in dem sich gerade irgendetwas bewegt haben musste. Nichts Großes, wahrscheinlich handelte es sich wieder nur um eins von diesen zähen, pelzigen, kleinen Viechern, die fast ungenießbar waren. Aber eine kleine Jagd? Nur eine kurze? Ich musste es ja nicht fressen. Nur ein bisschen hetzen, das angsterfüllte Quieken in meinen Ohren genießen und dann... Die feinen Haare in meinem Nacken hatten sich kribbelnd aufgestellt und mein Herz pochte schneller. Ich schloss die Augen und deutete ein Kopfschütteln an, während ich versuchte den verlorenen Faden wiederzufinden. "Wo war ich... ach ja.", erinnerte ich mich. "Es deiner Familie noch eine Weile vorzuenthalten ist nicht die feine, englische Art, aber uns hat auch Niemand gefragt, ob wir heiraten wollen. Wir haben sicherlich beide irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft wir übergangen worden sind.", erläuterte ich weiter, warum ich es für durchaus vertretbar hielt, in dieser Sache einfach mal Niemanden einzuweihen. "Es wäre mir also schon recht, wenn du nochmal nachsiehst, ob das Haus auch wirk...", wirklich dir gehört. Ich machte erneut Halt. War das schon wieder das gleiche Vieh?
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Isaacs Selbstdiagnose fand bei mir keinen Widerspruch. Eher im Gegenteil, denn ich nickte erneut knapp, hütete mich jedoch vor einer zustimmenden Erwiderung. Da er bereits Einsicht zeigte und mir eine Hilfestellung für die anstrengende Führung einer Unterhaltung anbot, so würde ich diese auch annehmen. Ich versuchte das mulmige Gefühl in der Magengegend zu unterdrücken, schließlich schien sich sein wankelmütiges Interesse momentan vorwiegend auf anspruchsvollere Thematik eingeschossen zu haben und das dürfte schon in ausgeglicheneren Situationen die eine oder andere Diskussion heraufbeschwören. Ich versuchte, die Zweifel bezüglich einer streitlosen Konversation so gering wie möglich zu halten, aber die Skepsis hatte sich bereits erfolgreich in meinem Kopf eingenistet. Meiner Einstellung entgegen, begann ich kurz zu grinsen: ausgerechnet dem ehemaligen Junggesellen samt promiskuitiven Image im Handgepäck interessierte sein Schlafplatz – ich vertrag die feste Überzeugung, dass sich dieses Denken erst erzwungenermaßen durch mich in seinen Verstand gegraben hatte und beließ es deshalb auch dabei. Ebenso ging ich nicht weiter auf die beiden offensichtlichsten Kritikpunkte an einem Leben im elterlichen Palast ein, sondern schenkte Isaac nur einen schnellen, wissenden Blick. Wahrscheinlich würde sich Isaac noch am ehesten mit meiner Familie arrangieren können, aber meinen Ex-Freund dort bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzutreffen dürfte für reichlich Explosionen sorgen können. Sein angedeuteter Humor half nicht über die zynische Trockenheit der Aussage hinweg. „Mir wäre es ebenfalls lieber, wenn wir unser eigenes Reich haben. Obwohl ich es gewohnt bin, mit dem ganzen Haufen unter einem Dach zu leben, wünsche ich mir oft genug ein bisschen mehr Privatsphäre in meinen Angelegenheiten.“ Jago blieb außen vor. Eine Vollmondnacht kam mir denkbar unpassend für ein derartiges Gespräch vor. Glücklicherweise versiegte Isaacs Interesse an der Unterhaltung noch nicht, weshalb mein Schweigen keine nennenswerten Wellen schlug und ich stattdessen in einer Annahme bestätigt wurde, die sich nicht konkret, aber dennoch unterbewusst in meinem Kopf festgesetzt hatte. Meinem Gefährten durfte es im Prinzip auch egal sein, wann ich der restlichen Verwandtschaft diverse Zukunftspläne berichtete. Nur kam mir der momentane Zeitpunkt einer Verkündung der Neuigkeiten verfrüht vor. Ich wollte nichts überstürzen – es mussten noch so viele andere Dinge zuvor geklärt und erledigt werden. Demnach stand meine Entscheidung bereits fest, wenngleich auf sehr wackligen Beinen, jedoch bestärkte mich die laut ausgesprochene Meinung von Isaac weiter in meinem Vorhaben, die Sache noch ein Weilchen auf sich beruhen zu lassen. Leider besaß er im Bezug auf mein ärgerliches Pflichtgefühl gegenüber meinen Eltern recht. Es fühlte sich schon ein bisschen falsch an, dieses große Geheimnis samt der daraus resultierenden Konsequenzen vorerst einfach für mich zu behalten. „Aber?“, hakte ich nach, taub für die anscheinend offensichtlichen Geräusche. Ich hielt erst in meiner Bewegung inne, als ich die Veränderung in Isaacs Haltung entdeckte. Unwillkürlich blickte ich ebenfalls angestrengt in die Dunkelheit hinein, erkannte aber überraschenderweise gar nichts… haha… ich starrte also in das finstere Dickicht, lauschte auf irgendetwas Unbekanntes und wartete. Ich wartete darauf, dass mir Isaac verriet, worauf wir hier so gespannt lauerten. Oder auch nicht. Irritiert kniff ich die Augenbrauen einen Moment zusammen. „Was hast du gehört?“, verlangte ich dann doch zu wissen, ließ mich aber ebenso leicht wieder auf das eigentliche Gespräch zurücklenken. Isaac würde amüsiert auflachen, ich hörte es förmlich in meinem Kopf widerhallen, aber in seiner Anwesenheit fühlte ich mich trotz der Werwolf-Problematik gerade sicher genug, um keine Angst vor unbekannten Geräuschen im Wald zu bekommen. Was sollte mir im Beisein einer Killermaschine schon passieren, sofern besagtes Raubtier es nicht auf mich persönlich abgesehen hatte? Isaac verpasste es nicht, mich darauf hinzuweisen, dass ich diesen Luxus nur dank der grandiosen Idee einer Zwangsehe genoss. Unwissentlich hatte der Gestaltwandler einen perfekten Bogen in meinen Gedanken gesponnen und leitete mich zurück in die Unterhaltung. „Ich würde es ihnen weniger aus Rache vorenthalten, sondern mehr aus Selbstschutz. Was glaubst du, wie viele Fragen nicht nur über mich hereinbrechen würden, sondern auch dich erwarten, wenn ich die Bombe platzen lasse, dass wir vielleicht nach meinem Studium auswandern? Ich hab allein bei der Vorstellung schon ein nerviges Klingeln in den Ohren.“ Und niemand, wirklich niemand, konnte mir weis machen, dass sich nicht sämtliche Verwandten mit ach so wertvollen Ratschlägen oder besorgter Skepsis an mich wenden würden, weil noch absolut nichts fixiert wurde oder ein konkreter Plan existierte. Um meine Eltern wirklich zu ärgern, sollte ich ihnen dieses verwaschene Wahrscheinlichkeitskonstrukt an den Kopf werfen und sie daran knabbern lassen, aber unterm Strich würde ich mehr darunter leiden. Die Gleichung ging nicht auf. Die Genugtuung wog die folgenden Anstrengungen nicht auf. Daher lieber ein Schritt nach dem anderen: dazu zählte zu den ersten Punkten auf der abzuarbeitenden Liste, dass ich die Eigentumsrechte an dem Grundstück klärte. Eigentlich wollte ich Isaac eben noch wissen lassen, dass ich mich darum kümmern würde, sobald wir wieder Heimatboden betraten, aber sein abgelenktes Verhalten bremste mich aus. Automatisch rückte ich ein bisschen näher an den großgewachsenen Mann heran und lugte an ihm vorbei ins Dunkle. „Witterst du etwas?“, hauchte ich leiser. Plötzlich fühlte auch ich mich angespannt. „Renn jetzt bitte nicht einfach wild drauflos“, warf ich die im Ernstfall vergebliche Bitte in den Raum, um den menschlichen Anteil in seinem Denken daran zu erinnern, dass ich auch noch da war – nicht nur die Regenwald-Kulisse mitsamt ihrer Klänge und Düfte. Ich merkte gar nicht, dass ich reflexartig nach seinem Shirt gegriffen hatte, als ob ich ihn dadurch vor einem spontanen Sprint abhalten könnte, aber es vermittelte mir ein kleinen Anflug von Sicherheit.
Der Engel schien glücklicherweise nichts dagegen einwenden zu wollen, noch in das eigene Heim umzusiedeln, bevor wir - wahrscheinlich - irgendwann auswandern würden. Ich nickte also zufrieden ein klein wenig vor mich hin, nachdem sie gesagt hatte, dass es ihr ohnehin ab und zu sehr an Privatsphäre mangelte. Dem konnte ich nur beipflichten, wo es gerade für mich als beinahe zwei Meter großer Wolf unmöglich war, keine Augen auf mich zu ziehen. Als einziger Gestaltwandler unter so vielen Augen wurde mir nicht gerade selten ein prüfender Blick nachgeworfen, wenn ich erhobenen Hauptes durch die Gänge des Engelsschlosses wandelte. Es hatte schon nachgelassen, wo ich nun bereits eine ganze Weile bei den Goldlocken wohnte, aber es würde wahrscheinlich niemals ganz versiegen. Mein Ruf als chronischer Problemsohn und Unruhestifter eilte mir ebenfalls voraus und trug nicht unbedingt positiv zu dieser Diskrepanz bei. Riccardas Frage hinsichtlich meines ungeplanten Stopps überging ich beim ersten Mal, weil ich da noch versuchte mein Hirn wieder zu sortieren. Hier im Wald vermischten sich ohnehin viele Gerüche - ich müsste wohl den Wolf auspacken und gezielt schnüffeln, um ihr mit einhundertprozentiger Sicherheit sagen zu können, was da im Unterholz gerade von meiner Anwesenheit aufgewühlt wurde. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass die Eltern meiner Angetrauten wieder mal einen ordentlichen Zirkus veranstalten würden, wenn wir sie darüber einweihten, auf lange Sicht das Weite suchen zu wollen. Ich konnte mich dem - zumindest vorübergehend - etwas leichter Entziehen als der blonde Engel. Inzwischen vermied ich es eigentlich, mich innerhalb der Mauern des Engelsschlosses auf vier Pfoten zu stellen, weil das eine sehr starke Abwehrhaltung signalisierte und ich mit den Engeln auf einen grünen Zweig hatte kommen wollen. Wenn mir allerdings Jemand allzu penetrant auf die eher dünnen Nerven ging, konnte ich dahingehend für nichts garantieren. "Ich könnte glatt wetten, dass sie immer noch Angst haben, dich an meiner Seite allein zu lassen.", erwiderte trocken. Wahrscheinlich würden sie sich auch darum sorgen, dass ich eigentlich gar nicht in dieses ganze Geschäftskonzept passte und Riccarda die Sache um Himmels Willen nochmal überdenken sollte. Ich konnte mir aber beim besten Willen auch nicht vorstellen, dass sie sich wohl damit fühlen würden, ihre geliebte Tochter mit dem großen bösen Wolf in die weite Welt reisen zu lassen, fernab ihrer schützenden Hände. Dass ich mich für alle Beteiligten sichtbar zu bessern versuchte würde nicht ausreichen, um ihnen diese Angst zu nehmen. Ein Teil von mir würde immer nur begrenzt berechenbar sein. Bedingte Selbstkontrolle galt auch für den jetzigen Moment. Ich zuckte zusammen, als ich Riccardas Hand am Stoff des Shirts ziehen spürte. Das Zucken kam nicht aus Überraschung, sondern weil meine Sinne wegen des Raschelns in diesem Augenblick so unter Strom standen, dass sie keinerlei Störung in Form von Berührung wünschten. Abgesehen davon reagierte ich aber überhaupt nicht auf die zierliche Blondine, während ich in das Dickicht starrte und der Bewegung der Blätter mit den Augen folgte. Für ein paar Sekunden hörte ich auf zu atmen, als das Geräusch plötzlich verstummte, um besser hören zu können. Vielleicht war der mutmaßliche Mungo in einem Bau verschwunden, in den ich mit meiner großen Wolfsnase ohnehin nicht rein passte, denn das Vieh tauchte nicht wieder auf. Riccardas Berührung kehrte also genauso wie regelmäßiges Atmen langsam in meine Sinne zurück und ein knurriges Grummeln kroch meine Kehle nach oben, kurz bevor ich nach ihrer Hand griff. "Zieh mich einfach weiter, wenn ich das nächste Mal anhalte." Es klang wohl weniger wie eine freundliche Bitte und mehr wie ein Befehl. Wir würden andernfalls ab jetzt alle paar Meter stehenbleiben, nur weil ich irgendwas hörte oder roch. Ich setzte mich angespannt wieder in Bewegung, nur minder Herr meiner Sinne. Der einsetzende Jagdtrieb ließ zunehmend alles in mir kribbeln. "Hier gibt es nichts, dass dich angreifen würde. War sicher nur einer dieser Mungos, nichts Großes...", beantwortete ich dem Engel sehr verspätet noch ihre Frage und wollte ihr damit auch verdeutlichen, dass ich hier eigentlich das einzige Lebewesen war, vor dem sie sich in Acht nehmen sollte. Sie könnte maximal von einer Schlange attackiert werden und die waren hier oben auf dem verhältnismäßig trockenen Kamm des Hügels sicher nur selten vertreten. "Das einzige, was mich gerade noch vom Jagen abhält, ist das Wissen, dass es hier eigentlich nichts Essbares gibt... aber das wird nicht ewig reichen, also halt mich in Bewegung.", grummelte ich vor mich hin, sicht- und hörbar unter Hochspannung stehend. Meine Sinne waren zu Vollmond leider noch viel sensibler und wenn die Sicherung wirklich durchbrannte, würde Riccarda mich kaum weiterziehen können. Es war aber wünschenswert, dass ich es mit der Verwandlung zumindest noch aushielt, bis wir zurück am Zelt waren und ich den Engel dort in Sicherheit wusste. Ich würde nur unwahrscheinlich wieder aus dem Pelz rauskommen, wenn ich erstmal drinsteckte... nicht, bis der Mond wieder hinterm Horizont verschwand. Dass ich die Verwandlung ganz unterbinden konnte, glaubte ich inzwischen nicht mehr. Der Wald war meine zweite Heimat und lehrte mich wie so oft eines Besseren.
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Angst hielt ich für eine sehr starke Emotion, ein das Verhalten beeinflussendes Gefühl. Meine Eltern ängstigten sich bestimmt nicht vor einem einzelnen Werwolf, egal wie stark und kampferprobt dieser auch sein mochte, immerhin wimmelte es innerhalb der Palastmauern stets von Engeln – darunter genug, die einen Fuchs im Hühnerstall trotz vorbildlichen Gebären des Raubtieres nicht dulden wollten. Ich traute mich viel darauf zu verwetten, dass einige in meinem Verwandtenkreis nur darauf lauerten, dass Isaac einen gravierenden Fehler beging und damit den Anfang vom Ende einläutete. Bei der Angst um mich, die einzige Tochter meiner Eltern, sah die Welt bestimmt etwas anders aus, jedoch hätten sie sich diese Konsequenz ein paar Monate früher überlegen sollen, als sich die Hochzeit mit dem skandalbehafteten Sprössling der Garcia-Familie so glänzend in die Problemlösung einfügte. Ich vertraute Isaac mehr als sonst jemand der Engel. Meine Beschwichtigungen sorgten selten bis kaum zu mehr Toleranz gegenüber dem Gestaltwandler. „Dass ich über kurz oder lang Zeit alleine mit dir verbringen werde, hätte ihnen vor der Eheschließung einfallen sollen und nicht Monate danach“, grummelte ich etwas unwirsch, versuchte mich aber nicht allzu sehr über diese atypisch unbedachte Herangehensweise meines Vaters zu ärgern. „Ihnen wäre es auch nicht recht, wenn ich alleine in die Welt hinausspaziere und mein Glück versuche“, berichtigte ich Isaac mit einem halbschiefen Lächeln. Glücklicherweise schimpften sich meine Eltern noch nie Glucken, da ihnen dafür schlichtweg die zeitliche Kapazität fehlte, aber so richtig flügge durften dennoch nur meine Brüder werden. Tja. Fehlanzeige. Zugegebenermaßen zog es mich tatsächlich in die Ferne und ich genoss auch den Aufenthalt in den Tropen, obwohl die derzeitige Phase nicht unbedingt unter die Top 3 der besten Erlebnisse gelangen würde. Wirklich nicht. Isaacs geradezu harsche Reaktion auf meine reflexhafte Berührung schockierte mich nicht konkret, trug aber nichts zu meinem Wohlbefinden bei. Dennoch fiel meine Entscheidung auf die Nähe des überstrapazierten Mannes, wenn ich als Alternative die lauernde Finsternis eines belebten Urwaldes dargeboten bekam. Vor allem, wenn mich besagte Person ohnehin gekonnt ignorierte. Was blieb mir anderes übrig, als abzuwarten und den Bemühungen nachzugehen, ebenfalls etwas in dem dicht bewachsenen Unterholz wahrzunehmen. Mein Sinnesradar spürte nichts auf… wie auch, wenn anscheinend auch der Werwolf die Spur verloren hatte. Isaac wirkte daraufhin noch frustrierter, obwohl wir beide wussten, dass hier kein erwähnenswertes Wild für eine euphorische Jagd existierte. Plötzlich war ich es, die leicht zusammenzuckte. Isaac griff so abrupt nach meiner Hand, die sich tapfer an sein Shirt klammerte, dass mir keine andere Wahl blieb, als von ihm abzulassen – zumindest von seiner Bekleidung, denn laut seiner Worte sollte ich dafür sorgen, dass der großgewachsene Kerl in Bewegung blieb. Selbstbewusster als ich mich grundsätzlich fühlte, verschränkte ich meine Finger mit seinen und antwortete mit einem Zucken der Schultern auf seinen gebieterischen Tonfall: „In Ordnung.“ Besaß ich andere Optionen? Eher nein, also begnügte ich mich eben damit, nicht auf die Schnauze zu fallen und Isaac auf Trab zu halten. Eine ungewöhnliche Hitze ging von seiner Hand auf mich über. „Du empfindest sicherlich anders, wenn du mitten in der Nacht durch einen dicht bewachsenen Wald wanderst, aber ich bin den normalen Horrorvorstellungen eines Stadtbewohners, der vergleichbare Szenarien aus Killer-Filmen kennt, ausgeliefert. Da erscheint im ersten Impuls auch ein kleines Nagetier als gefährlich“, bemühte ich mich um einen kleinen Scherz auf meine Kosten, erhoffte mir jedoch keinen ausschlaggebenden Erfolg. „Wenn du umdrehen willst, musst du es mir nur sagen beziehungsweise mir die Richtung weisen. Ich halte dich in Bewegung, aber für die Navigation bleibst du zuständig“, wies ich Isaac sicherheitshalber auf meine Orientierungslosigkeit hin. Mit mehr Glück als Verstand fände ich hoffentlich zurück zum Zelt, aber sollte Isaac merken, dass er den Kampf gegen die wölfischen Triebe verlor, so wäre eine gewisse Nähe zu unserem Camp echt vom Vorteil für mich. Anderenfalls durfte er mich nach dem Sonnenaufgang suchen gehen. „Mein Dad hat mir früher oft versprochen, dass er mit mir zum Zelten fahren würde, aber schlussendlich kam immer etwas dazwischen. Als ich den Pfadfindern beitreten wollte, stellte sich meine Mutter quer, weil sie die Meinung vertrat, dass es sich ein Mädchen meines gesellschaftlichen Ranges nicht schickte, im Wald durch den Schlamm zu kriechen und die Kacke von Tieren zu untersuchen“, erzählte ich einer Intuition folgend drauf los – eventuell hielt ihn das ja noch ein bisschen länger bei mir. „Also ganz streng genommen kann ich nichts für meine Hilflosigkeit in der Natur.“ Ich wagte ein Grinsen. Isaac konnte meine Anekdote natürlich auch als Erklärung dafür verstehen, dass er mit mir nur einen nervigen Klotz am Bein hatte.
Ich zweifelte ohnehin daran, dass unsere Eltern wirklich lang und breit darüber nachgedacht hatten, was diese unfreiwillige Ehe an Konsequenzen mit sich brachte. Vielleicht sollte mich das bei meinem Vater nicht wundern, weil er ohnehin schon seit Jahren überwiegend egoistische Entscheidungen traf. Diese hier hatte erfolgreich dazu gedient mich loszuwerden, das musste ich ihm wohl lassen. Trotzdem waren die negativen Konsequenzen für meine Familie zweifelsfrei schwerwiegender als meine Abwesenheit ihnen gut tat. Ich war schließlich der Einzige gewesen, der ihm noch ansatzweise die Stirn geboten hatte. Die Umstände im Wolfsschloss mussten inzwischen noch katastrophaler geworden sein. "Ich habe generell nicht den Eindruck, dass sie viel darüber nachgedacht haben.", stellte ich plump fest. Immerhin schien Riccardas Eltern sowieso grundsätzlich unwohl damit zu sein, ihre Tochter in die weite Welt ziehen zu lassen. Vielleicht konnte ich das nur deshalb nicht nachvollziehen, weil ich selbst keine Kinder hatte und ich in der Blondine schon sehr lange keine zerbrechliche, wehrlose Frau mehr sah. Sie mochte nicht ganz so unkaputtbar wirken wie ich, wenn ich den Wolf aus dem Schrank ließ - dennoch war sie als Engel und insbesondere mit ihrer Gabe gewiss besser fürs Leben mit all seinen Gefahren gewappnet, als jede menschliche Frau. Sie kam schließlich auch mit einem Werwolf bei Vollmond aus, wenn sie es musste. Bisher jedenfalls. Der völlig grüne Bereich begann inzwischen zu gelber Farbe umzuschwenken. Riccarda würde die Güte besitzen mich nach Möglichkeit in Bewegung zu halten und mehr konnte sie im Augenblick kaum tun. Als sie das Horrorszenario eines normalen Menschen ansprach, zog ich die rechte Augenbraue nach oben. "Du merkst selber wie ironisch das ist, während du gerade einen Werwolf an der Hand durch den Wald ziehst, oder?", hakte ich trocken nach, wenn auch ganz unterschwellig etwas Sarkasmus mitschwang. Ich konnte darüber nur den Kopf schütteln. Riccarda fürchtete sich also vor ein bisschen raschelndem Farn und klammerte sich nüchtern betrachtet zum selben Zeitpunkt an das einzige Wesen, das besagten Horrorvorstellungen im Wald auf dieser Insel gerecht werden könnte. Es bräuchte in diesem Augenblick nicht viel mehr als einen Tropfen Blut aus einer Schürfwunde ihrerseits dafür. Ich war kein Vampir, aber blutige Spuren in der Luft oder auf dem Boden reizten mich nicht weniger als den klassischen Blutsauger in Filmen. Blut bedeutete immer eine bereits verletzte Beute. Sie täte also gut daran, jetzt keine Bruchlandung im Wald hinzulegen. Ich hatte in meinem beginnenden Vollmond-Wahn beinahe vergessen, dass der Engel eine Niete darin war, sich in der Umgebung zurechtzufinden. Normalerweise störte mich das nicht, aber jetzt gerade konnte es tendenziell negativen Einfluss auf ihre Unversehrtheit nehmen, sollte mich der Mond endgültig packen. "Und dann dachtest du, du holst das einfach nach, indem du mit mir bei Vollmond campen gehst?" Es war eine rhetorische, nicht ernst gemeinte Frage - eben meine aktuell sehr stumpfe, angespannte Art, mich an ihrem Humor zu beteiligen. Je länger wir uns über diesen Campingausflug unterhalten hatten, desto klarer war geworden, dass diese Nacht wahrscheinlich nicht einfach werden würde. Das hatte mit normalem Camping und Spurenlesen wenig zu tun. Ich dirigierte die junge Frau beiläufig alleine mit Körpersprache nach links, was über die Verbindung unserer Hände nicht schwierig war. Ich ging nicht gerne stumpf denselben Weg zurück, den ich gekommen war. Wir würden also eine kleine Runde laufen, die uns in diesem Moment seitlich am Kamm ein paar Höhenmeter nach unten führte. Der Boden war relativ trocken und nicht rutschig, aber auch hier ragten immer wieder Wurzeln aus dem Boden. Das war gut, weil ich dann gezielter gucken musste, wo ich hin lief und weniger Zeit zum Schnuppern hatte. "Wir sollten das nachholen, wenn wir wieder Zuhause sind. Wenn du mit einem Werwolf verheiratet bist, solltest du dich zumindest ein bisschen zurechtfinden können... und einen besseren Lehrer als mich wirst du in deiner Familie kaum finden.", meinte ich relativ neutral, während ich über eine größere Wurzel abwärts stieg. Natürlich müsste ich in den Pfadfinderunterricht einkalkulieren, dass der Engel weder mein Gehör, noch meine Nase hatte und mich dementsprechend auf andere Aspekte stützen, aber das sollte eine meiner leichtesten Übungen werden. Es klang auf jeden Fall unterhaltsam die ansonsten tendenziell verzogenen Engelstochter ein bisschen im Dreck wühlen zu lassen. Ich hielt dieses Mal nicht an, als ich ein Knacken im Unterholz hörte, verlangsamte jedoch merklich das Tempo und richtete den Blick wieder in die Dunkelheit. Zack, da war sie wieder - die Anspannung, die wie Strom durch meinen Körper floss.
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Erst als wir in diesem angespannten Moment auf die damalige Idee der Eheschließung zu sprechen kamen, fiel mir auf, dass wir zuvor noch nie ernsthaft und ohne gekränkter Gefühle über diesen Schicksalsschlag gesprochen hatten. Isaac unterstützte zwar meine Meinung, dass sich die Entscheidungsträger keine allzu großen Gedanken über die möglichen Folgen gemacht haben dürften, aber dabei belief es sich im Großen und Ganzen schon. Im Augenblick schien es mir der falsche Moment zu sein, um sinnvoll darüber eine Unterhaltung zu führen, aber ich merkte in Gedanken an, dass ich dieses Gespräch irgendwann in näherer Zukunft nachholen wollte – ich bemerkte, wie wenig ich über Isaacs grundsätzliche Wünsche vom Leben wusste. Wo hätte er sich eigentlich in dieser Etappe seiner Entwicklung ohne mich gesehen? Falls wir das Thema doch in der Vergangenheit angeschnitten hatten, so müsste ich die darauf gewonnene Erkenntnis vergessen oder im schlimmsten Fall aufgrund unerfreulicher Neuigkeiten verdrängt haben, wovon ich jedoch nicht ausging. Es gab noch so unheimlich viel, was man normalerweise in der Kennenlernphase besprach und miteinander teilte, doch uns wurde diese Möglichkeit erst gar nicht gewährt und so brauchte es einiges an Nachholbedarf, den es vorsichtig aufzuarbeiten galt. Eines nach dem anderen, denn noch schlugen wir uns mit der Vollmond-Problematik herum, das verlangte ohnehin all meine zur Verfügung stehenden mentalen Kapazitäten, sodass ich mir zusätzliche Überraschungen gerne für einen passenderen Zeitpunkt aufhob. „Nur mal angenommen, dass hier wirklich gleich ein Serienkiller mit Fleischermesser oder irgendein mutiertes Urwald-Monster aus dem Schatten gesprungen kommt, hoffe ich mal stark, dass dein wölfischer Instinkt dir nicht sagt, dass du die kleine Blondine an deiner Hand anfallen solltest, sondern die wahre Bedrohung jagen musst. Demnach wäre ich den Horrorfilm-Protagonisten und den Werwolf los“, schilderte ich Isaac meine Überlegung hinsichtlich der Ironie meiner Quelle der Furcht. Aber da die Wahrscheinlichkeit eines nächtlichen Überfalls sehr gering ausfiel, hielt ich mich tatsächlich schutzsuchend an der einzigen Bedrohung im Umkreis von mehreren Kilometern fest – hoffentlich würde ich bald über diesen Wahnsinn lachen können, doch jetzt, in der Situation gefangen, rang es mir nur ein schmallippiges Lächeln ab. Ebenso lockerte der prinzipiell sarkastische Wortwechsel die Stimmung nicht unbedingt auf, obwohl ich mir Mühe gab, unbefangen zu bleiben und mich von dem provokanten Sarkasmus nicht reizen zu lassen: „Auch sonst quelle ich nur so vor grandioser Ideen über.“ Natürlich hätte ich mir hundert gemütlichere Campingausflüge als erstes Mal gewünscht, aber die Situation hatte ein mehr oder weniger spontanes Handeln verlangt und so stand ich nun samt Defizite und Werwolf im Dschungel. Isaac wies mir meist nur mit einem leichten Ziehen oder Drängen die entsprechende Richtung, was ich kommentarlos hinnahm. Laut meiner geistig angelegten Karte tippte ich meistens eh falsch, sodass ich dankbar für die nonverbalen Anweisungen war. Isaac durchbrach erst mit etwas, das ich als Angebot auffasste, die Stille zwischen uns, denn der Wald bei Nacht gab ganz bestimmt keine Ruhe. „Kann mir schon denken, dass dir das Spaß machen würde, mich in der Wildnis mit Karte und Kompass auszusetzen und dir dann ein schönes Wochenende allein daheim zu machen“, scherzte ich amüsiert über die Vorstellung, obwohl das leicht mulmige Gefühl in meinem Magen mich daran erinnerte, dass diese Aussage durchaus auch meine schlimmste Befürchtung widerspiegelte. Vorausgesetzt ich verlor nicht sämtliche Motivation und Lust am Campen nach diesem gemeinsamen Trip. Ich verkniff mir die Bemerkung, dass Isaac sich das indirekte Eigenlob wohl nicht hatte sparen können – im Grunde behielt er ja auch recht, aber er hätte es nicht explizit erwähnen müssen, dass ihm bei dergleichen Angelegenheiten niemals ein Engel das Wasser reichen könnte. Dafür – und gerade in diesem Moment entsprach es tatsächlich einem Vorteil – juckten mich die Geräusche, die ich zumindest wahrnahm, kaum noch und so interessierte mich das unzählige Rascheln im Unterholz schon bald nicht mehr, was man von Isaac leider nicht behaupten durfte. „Komm“, wies ich den jungen Mann nur leise an, der gleichzeitig mit dem Auftreten des Geräuschs deutlich an Tempo einbüßte und von mir etwas vehementer weitergezogen werden musste. „Auch jetzt ist das nichts, dass dich zufriedenstellen würde“, rief ich dem Wolf in ihm ins Gedächtnis und ruckelte nachdrücklich an der verschränkten Hand. „Wie weit ist es denn noch bis zum…“, weiter kam ich leider nicht, denn da löste sich bereits der kleine Steinhaufen, auf den ich unabsichtlich getreten war, unter meinem Gewicht und folgte dem leichten Gefälle hinab. Mir zog es die Füße unter dem Hintern weg und ich rutschte gut zwei Meter auf dem lehmigen Untergrund weiter, ehe ich zum Stillstand kam. Kurz saß ich nur perplex im Dreck, ehe ich meine Stimme wieder fand und die angefangene Frage beendete, „Lager?“ Ich wusste nicht, ob ich lachend oder grimmig auf meine Rutschpartie reagieren sollte, nachdem außer meiner Würde nichts verletzt war, entschied ich mich, keine große Szene zu machen, sondern grummelte nur ein halbherziges: „Na großartig…“
So weit konnte ich hoffentlich noch denken, sollte es jemals zu diesem unwahrscheinlichen Fall kommen. Die Chancen diesbezüglich standen sogar ziemlich gut. "So gesehen... ergibt es zumindest in der Theorie Sinn.", stellte ich fest, wenn auch begleitet von einem ungläubigen Kopfschütteln. Die Praxis würde wie gesagt nur hochgradig unwahrscheinlich eintreten, weil uns hier kaum so ein Grizzly wie in unseren Flitterwochen über den Weg laufen würde, aber theoretisch würde ihr Plan so aufgehen. "Wenn ich die Wahl habe, bevorzuge ich in der Regel immer die schwierigere Beute.", fütterte ich Riccarda mit weiterem möglicherweise überflüssigen Wissen über meine wölfische Persönlichkeit. Es gab ohnehin nicht wirklich etwas auf diesem Planeten, das mir gefährlich werden konnte. Zumindest wenn man von menschlichen Waffen absah - ich konnte schon einige Kugeln einstecken ohne zu Boden zu gehen, wenn keine davon wichtige Organe traf. Jedoch war ich am Ende auch nur Fleisch und Blut. Genetisch ein kleines Wunder der Selbstheilung, aber ein durchbohrtes Herz oder Blut in der Lunge vermochte selbst der Werwolf in mir nicht mehr zu heilen. Dass der Engel sich kurzerhand selbst aufs Korn nahm, kommentierte ich nicht weiter. Nicht, dass ich wirklich aktiv darüber nachgedacht hätte, aber mein menschliches Unterbewusstsein schien mir anzuraten, sie nicht völlig unnötig anhaltend zu provozieren. Das würde nur für unerwünscht gesteigerte Anspannung sorgen, die wir nicht brauchen konnten. Ich hatte allerdings wirklich nicht daran gedacht, die kleine Blondine irgendwo in der Wildnis alleine ihrem Schicksal zu überlassen. Vielleicht höchstens als finale Abschlussprüfung des wölfischen Pfadfinder-Vereins, aber nicht zu Beginn. Da würde sie ja nichts lernen und das war eigentlich der Kern der Sache. Dem Vollmond-Wolf gefiel ihre Version zwar besser, aber den hatte bei dieser Sache keiner gefragt. "Ist zwar ein unterhaltsamer Gedanke, aber das war tatsächlich nicht meine Intention dahinter.", ließ ich sie trocken mit hochgezogener Augenbraue wissen. Was wollte ich auch alleine ein ganzes Wochenende lang unternehmen? Mir fiel jetzt gerade erst auf, wie abhängig ich schon von Riccarda geworden war. Mindestens die Hälfte meiner Tagespläne richteten sich nach ihr. "Außerdem könnte ich das unter normalen Umständen gar nicht. Mein Beschützerinstinkt ist dir gegenüber schon viel zu groß... du bräuchtest bloß zu schreien und ich würde wieder umdrehen." Ich dachte eher laut, als wirklich gezielt zu antworten. Manchmal fiel mir das im Alltag auf, wenn sie sich weh tat. Sei es nur ein Schnitt durch Papier oder ein kleiner blauer Fleck, weil sie sich aus Unachtsamkeit irgendwo angestoßen hatte - meine Augen waren jedes Mal sofort drauf und dran, sich das Ausmaß des eigentlich nicht erwähnenswerten Unglücks anzusehen. Inzwischen war ich sehr auf ihre Unversehrtheit bedacht. Wie aufs Stichwort, quasi fast schon meinen Gedanken folgend, entglitt mir der Engel. Ich ließ mich nur grummelnd und weiterhin dezent abwesend von Riccarda weiterziehen, was zur Folge hatte, dass sie sich vorübergehend wieder nur am Rande meiner Wahrnehmung befand und nicht die gewohnte, allgemeine Priorität genoss. Deswegen merkte ich im Grunde erst, dass sie den Halt unter den Füßen verlor, als ich den kurzen Ruck an der Hand spürte und ihre Finger den meinen entglitten. Ich stolperte durch den Ruck selbst einen Schritt abwärts, fand den Halt aber instinktiv gleich wieder. Meine Augen klebten trotzdem sofort auf der zierlichen Blondine und ich schloss - etwas vorsichtiger mit weiteren Schritten als vorher - zu ihr auf. "Hast du dir weh getan?", fragte ich als erstes nach, obwohl ich sie bereits musterte und streckte dabei meine Hand nach ihr aus, um ihr wie selbstverständlich vom Boden aufzuhelfen. "Ich wollte einen kleinen Umweg machen, aber wir können auch direkt zurück. Luftlinie sind es nur ein paar Meter und ich will nicht, dass du...", meinte ich, als der Engel wieder auf den Beinen stand. Allerdings brach ich ab, als mir sehr flüchtiger Eisengeruch in die Nase stieg. Ich richtete den Blick auf meine Finger, drehte die Handinnenfläche nach oben und sah den winzigen Tropfen Blut, der wahrscheinlich einer kaum spürbaren Schürfwunde entsprang, an meinem Handballen. "...blutest." Das Wort war nur dünn gehaucht. Meine Pupillen weiteten sich und ich trat zwei unachtsame Schritte rückwärts von ihr weg, rutschte dabei selbst ein kleines Stück auf dem Geröll abwärts. Ich machte den Mund nochmal auf, um etwas zu sagen, aber raus kam dabei nur ein gedrückt klingendes Knurren. Komischerweise warf ich die Kontrolle nicht sofort ganz über Bord, sondern kämpfte noch einen Moment dagegen an, was in so einer Situation völlig atypisch war. Dabei ging ich weiter rückwärts in Richtung des unheilvollen Dickichts und hob die minimal kontaminierte Hand, während ich den Rücken unter dem einsetzenden Schmerz der knöchernen Veränderung zu krümmen begann. Deutete in die Richtung, die den kürzesten Weg zurück zur Lagerstelle bedeutete - den Hang leicht schräg in die andere Richtung rauf. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal versucht hatte, mich gegen die Verwandlung zu wehren und ich spürte in diesem Moment überdeutlich, warum das so war - Niemand setzte sich diesem Schmerz freiwillig aus. Niemand außer mir, wie's schien. Vielleicht lag es an dem kurzzeitig getriggerten Beschützerinstinkt, weil Riccarda gestürzt war. Vielleicht lag es auch einfach nur an ihrer Präsenz, an ihrem Geruch. Daran, dass ich ganz tief in mir drin wusste, dass ich ihr nie wieder weh tun wollte. Ich zögerte die Verwandlung so lange heraus, wie ich konnte. Nach einigen Sekunden zwang mich der Schmerz runter auf den Boden und ein gequälter Jammerlaut drang durch das sich verändernde Gebiss nach draußen, während meine Hände allmählich zu Pfoten mutierten und die Krallen sich unter Anspannung in die Erde gruben. Ich hörte sie im Hintergrund, ihre Schritte.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Sollte es nun wirklich meiner eigenen Unachtsamkeit zu Schulden kommen, dass Isaacs Beherrschung flöten ging? Vor weniger als fünf Sekunden hatte ich mich mental darauf eingelassen, einen wahrscheinlich verletzenden Kommentar für diese Tollpatschigkeit einsacken zu dürfen, da die Geduldspanne meiner überstrapazierten Begleitung ohnehin zu wünschen übrigblieb und ich den kleinen Zwischenfall deshalb direkt mit Humor zu nehmen versuchte, aber das leicht verlegene Lachen bekam erst gar keine richtige Chance, um aus meiner Kehle zu dringen. Isaac war mir die locker bewachsene Böschung hinab gefolgt und bot mir sogar seine Hand an, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich bemühte mich darum, meine Überraschung zu verbergen, obwohl ich langsam aber sicher damit aufhören musste, permanent von diesem prinzipiell atypischen Verhalten irritiert zu werden – dabei, genauer betrachtet, wiederholte sich Isaacs Umsicht in meiner Gegenwart auffällig oft. Mir fiel ein, was er vor Kurzem erst gemurmelt von sich gegeben hatte: ich musste nur schreien und er stünde schon wieder parat. Sein wölfisch-instinktiver Beschützerinstinkt dürfte mittlerweile auf mich übergegriffen haben und trotz dieses Wissens sah ich noch immer etwas Besonders in der Art der umsorgenden Aufmerksamkeit, mit der er mir nun auch schwungvoll wieder auf die Beine half und ich eigentlich nahtlos damit begann, den Dreck von meiner Kleidung zu klopfen, weswegen mir das besorgniserregende Mienenspiel in den markanten Gesichtszügen des jungen Mannes entgingen. „Nein, nein. Alles gut, ich bin nur ausgerutscht“, versicherte ich ihm gedankenlos und verdrehte mich akrobatisch, um auch meine Hinterseite bestmöglich von lehmverklebten Geäst zu befreien. „Wir können ruhig noch weitergehen“, versicherte ich ihm während meiner eigentlichen Beschäftigung und winkte dabei mit einer kurzfristig freigewordenen, natürlich ebenfalls dreckigen Hand ab. Ich sah erst auf, als Isaacs Stimme mitten im Satz abbrach und die Endung zusammenhanglos weitergeführt wurde. Zuerst verstand ich nicht, was die Ursache für das ungewohnte Krächzen der ansonsten sehr klangvollen Stimme zu bedeuten hatte, als mir der fokussierte Blick auf seine Hand auffiel, mit der er mir eben noch zurück in eine aufrechte Haltung geholfen hatte. Isaac wich ruckartig von mir ab. Da erst fiel der Groschen. Mein Blick huschte zu meiner eigenen schlammverkrusteten Hand hinab. Es brauchte zwei Sekunden bis ich die Quelle des Übels gefunden hatte: die kleinen Steinchen versteckt im Regenwaldboden hatten unzählige kleine Schürfwunden auf meiner Handinnenfläche hinterlassen und aus einem der schmalen Risse trat Blut hervor. Minimal… ich hätte es nicht einmal mitbekommen, wenn da nicht… Isaac… Sein Knurren versetzte meinen Herzschlag in einen holprigen Galopp. Instinktiv drückte ich meine Arme oder eher die Handflächen gegen meinen Körper, um damit den Trigger von frischem Blut bestmöglich zu verbergen, aber der Schalter schien bei dem Gestaltwandler bereits umgelegt worden zu sein. Der Wolf hatte das Duell gewonnen. Wie hypnotisiert (fasziniert wäre übertrieben und vollkommen unangebracht) starrte ich Isaac an, der sich bereits unter der Macht des inneren Drangs zur Verwandlung zu krümmen begann und dabei fast den Deut mit seinem Arm verpasste. Es hätte ja auch ebenso ein unkontrolliertes Ausschlagen oder eine Reaktion der angespannten Nervenenden sein können. Meine Panik behielt vielleicht die Kontrolle über mein rasendes Herz und den flachen Atem, jedoch schaltete mein Fluchtinstinkt schneller und verstand den Hinweis für die Richtung zum Zelt. Ich stolperte rückwärts besagten Hang entlang, schaffte es aber nicht, mich loszureißen, als Isaac zu Boden ging und seine Finger krampfartig Halt im Untergrund suchten. Sein schmerzverzerrter Laut zerriss mir beinahe das Herz, riss mich aber endlich aus dieser halben Paralyse und erinnerte mich daran, dass die paar Sekunden Vorsprung vielleicht entscheidend für… ja, für was denn? Ich weigerte mich, den Gedanken zu Ende zu führen, sondern drehte mich weg und begann zu rennen – es handelte sich eher um ein verzweifeltes Kämpfen gegen die Vegetation des tropischen Dschungels. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich deutlich zu langsam weiterkam. Hatte ich das Zelt schon verpasst? Der Kegel der Taschenlampe zitterte im Takt meiner Bewegungen durch die Dunkelheit, während ich gleichzeitig versuchte, das Taschenmesser aus meiner Pullover-Tasche zu fischen. Mein kleines, stählernes Geheimnis für den Notfall. Erst als ich das ausgeklappte Messer in der rechten Hand hielt und mit der linken weiterhin meine einzige Lichtquelle fest umklammert hielt, merkte ich, dass mir heiße Tränen über die Wangen liefen. Was tat ich hier eigentlich? Dachte ich allen Ernstes, eine Chance gegen einen Top-Prädator zu haben? Lief ich überhaupt noch in die richtige Richtung? Die Fragen überschlugen sich in meinem Kopf. Bildete ich mir das stetige Knacksen von Ästen hinter mir nur ein? Wie weit würde ich tatsächlich gehen, um Isaac zu stoppen, falls er mich angriff? Während ich mich selbst mit unschönen Vorstellungen überhäufte, wanderten die salzigen Tropfen weiterhin ungehindert über mein Gesicht. Warum heulte ich eigentlich? Wegen meiner Angst, meiner unabsichtlichen Dummheit, die diese Kaskade erst entfesselt hatte oder aufgrund des Wissens, dass ich im absoluten Notfall nicht davor zurückschrecken würde, mich auf Kosten von Isaac zu retten. Aber brächte ich diese Sache trotz letztem Ausweg wirklich übers Herz? Ich wünschte mir, es nicht herausfinden zu müssen. Ich strauchelte und viel beinahe wieder der Länge nach hin, als das Wolfsgeheule die Nacht durchschnitt. Glücklicherweise – ein Hoch auf meinen nun doch passablen Gleichgewichtssinn – fing ich mich ausreichend, um schlussendlich keuchend und mit brennenden Seitenstechen auf die kleine Lichtung zu stürzen, wo ich abrupt anhielt und mich knapp über den Knien, nach vorne übergebeugt abstützte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Mein Körper zitterte von dem hingelegten Sprint, aber die erhoffte Erleichterung, das Ziel erreicht zu haben, wollte sich beim besten Willen nicht bemerkbar machen. Als ob mein Unterbewusstsein längst mitgeschnitten hatte, was während meiner holprigen Flucht durch den Wald geschehen war. Ein tiefes, bedrohliches Knurren erklang von dem Platz, an dem unser Zelt stand. Ich riss den Kopf nach oben und wich instinktiv ein paar hastige Schritte zurück. Ein mächtiger Körper schob sich geschmeidig aus dem Schatten des vergleichsweise klein wirkenden Zeltes. Isaac musste irgendwo in seinem triebgesteuerten Gedächtnis trotzdem nach wie vor wissen, wohin ich mich zurückziehen würde, und wo fing man die Beute demnach am besten ab? Richtig, in falscher Sicherheit wiegend und kraftlos an besagtem Ort. Große Augen kniffen sich zusammen und geifernde Lefzen präsentierten sich mir, als ich die Taschenlampe auf die unheilvolle Bewegung richtete. „Isaac“, wimmerte ich. Hilflos, überfordert, ängstlich. Ich wagte es, für den Bruchteil einer Sekunde darüber nachzudenken, wieder in die Finsternis des Waldes abzutauchen, aber die Idee verwarf ich ganz entschieden wieder.
Ich fühlte mich beinahe in die Tage meiner Kindheit zurück versetzt. Der anhaltende Schmerz war mit nichts anderem als den ersten Verwandlungen vergleichbar. Machte mich der Schmerz wütend? Ich war auf jeden Fall mehr als nur ein wenig gereizt, als sich auch die letzten Haare des dichten Wolfspelzes durch meine Haut schoben und meine Knochen mit dem Biegen und Brechen aufhörten. Die körperliche Qual endlich losgeworden schüttelte ich kurz den Kopf und meine Augen passten sich erneut der Dunkelheit an. Dabei brauchte ich sie eigentlich gar nicht - ich hörte die fliehende Beute überdeutlich und setzte mit einem tiefen Knurren zur Verfolgung an. Mit Feuereifer stürzte ich mich in das Dickicht, in dem die Fußspuren den Hang hinaufführten. Ich kam aber nicht schnell genug voran, nicht für meinen Geschmack. Als überdimensional großer Wolf zwängte es sich nicht so leicht durch dichte Vegetation und eigentlich war das auch unnötig. Ich kannte mich hier aus, ich war das Gelände rund um die Lichtung schon abgelaufen und außerdem brannte das kleine Feuer noch immer, ich roch die Asche und den Rauch. Verfehlen konnte ich das Ziel also nicht. Der Frust über den Umweg ließ mich aufheulen, bevor umdrehte und den Abhang wieder ein Stück nach unten sprang. Mit energischen Schritten suchte ich nach einer Stelle mit weniger Gestrüpp, die Ohren aber weiterhin konstant auf meinen heutigen Fang fokussiert. Der Zweibeiner hatte den Kurs nicht geändert, als ich selbst mit wenigen Sprüngen wieder den Hang empor kletterte. Ohne den Weg versperrende Sträucher ging das erstaunlich schnell und so kam ich sogar schon wenige Sekunden vor dem Menschen auf der Hochebene an. Ich duckte mich und hielt mich unweit des Zeltes in den Schatten bereit, die leuchtenden Augen auf die Stelle gerichtet, wo meine Beute jede Sekunde auftauchen musste. Der Lichtkegel kam schon vor ihr an und die Taschenlampe blendete mich etwas, bevor die Blondine sich nach vorne beugte und das Licht sich damit ebenfalls vermehrt nach unten auf den Boden verlor. Nicht nur das Blut, das jetzt auch an ihren Klamotten klebte, stieg mir wieder in die Nase. Ich konnte ihre Angst riechen, was das nächste Knurren meine Kehle hinauf beschwor und mich erneut in Bewegung setzte. Es waren keine eiligen, aber sehr zielstrebige Schritte, mit denen ich mich näherte. Wieder schlug mir der grelle Lichtkegel entgegen und gereizt wurde das Knurren noch tiefer, während ich den Kopf mehr nach unten neigte, um nicht weiter geblendet zu werden. Auch der salzige Geruch stieg mir in die Nase, lockte mich genauso wie das hilflose Hecheln an... Bis das Knurren schlagartig verstummte und ich mit gehobener Vorderpfote in der Bewegung innehielt. Mein Kopf schickte in diesem Moment zwei sehr widersprüchliche Befehle. Während mir eine Hirnhälfte riet endlich zuzupacken, um mir das Blut und das frische Fleisch auf der Zunge zergehen zu lassen, wollte die andere mich zum Kommandoabbruch zwingen. Mit einem leuchtenden Neon-Stoppschild wurde über dem Pult in der Zentrale gewedelt. Ein paar meiner Synapsen assoziierten meinen Namen und vor allem den Klang der Stimme mit einer wichtigen, mir sehr gut bekannten Person. Der ausgehungerte, angestachelte Wolf jedoch blieb stur. Nach etwa fünf Sekunden scharrte ich völlig unter Strom stehend mit den Vorderpfoten und setzte daraufhin den todbringenden Pfad mit einem drohenden Knurren fort. Doch je näher ich an den Menschen herantrat, desto mehr vermischten sich Blutgeruch und Angstschweiß mit dem Eigengeruch meines potenziellen Opfers. Ich hob den Kopf wieder etwas und ging langsamer - schnupperte überdeutlich in ihre Richtung und versuchte mindestens eine der beiden Parteien in meinem Kopf dadurch zu beruhigen. Doch der sehr penetrante Rauch des Feuers trübte meinen sonst so einwandfreien Geruchssinn. Der Vollmond ließ mich alles derartig intensiv wahrnehmen, dass es in diesem Augenblick zu viel war. Meine Sinne waren überladen, was unweigerlich in Ungeduld und Gereiztheit umschwenkte - das war der ewige Kreislauf des Blutrausches unter Vollmond. Ich trat also mit gefletschten Zähnen bis an die zierliche Gestalt heran, um ganz sicher zu gehen, dass ich sie nicht laufen lassen musste. Meine Nase berührte beinahe ihr Ohr, als ich letztendlich stehenblieb und auch das Knurren leiser wurde - ich musste mich zwanghaft auf den Geruch konzentrieren, um ihn überhaupt isolieren und gesondert betrachten zu können... was mich wieder ein paar Sekunden kostete. Meine Konzentration war mangelhaft, jetzt wo die Beute so herrlich zum Beißen nahe stand.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
In meinem Kopf herrschte gähnende Leere. Wie angewurzelt stand ich am Rande der im tanzenden Feuerschein nur mäßig erhellten Lichtung und sah mich der animalischen Hälfte meines Gefährten gegenüber. Einer Hälfte, die mich nicht zu erkennen schien. Ich schluckte hart. Hatten wir für diesen Notfall irgendeinen Schlachtplan entwickelt? Selbst wenn, in diesem Augenblick erinnerte ich mich nicht daran. Isaac – dabei widerstrebte es mir, diese Bestie mit seinem Namen zu betiteln – duckte sich unter dem grellen Kegel der Taschenlampe weg, führte seine Bewegung jedoch fort. Ich wusste nicht, was ihn in diesem Stadium der Jagd noch aufhalten könnte… insgeheim fürchtete ich mich davor, die Antwort ohnehin zu wissen. Nichts. Es gab nichts, das ihn vor Anbruch des neuen Tages aus diesem Vollmond-Blutrausch holen könnte und es lag an mir, diese Nacht zu überleben; im Angesicht eines lauernden Werwolfes. Mir blieben kaum Optionen. Eine Hetzjagd durch den Wald kam nicht in Frage, wahrscheinlich spielte ich ihm damit sogar noch in die Karten und feuerte seinen Jagdtrieb weiter an. Im direkten Kampf würde ich mit meinem lächerlich klein wirkenden Taschenmesser in Anbetracht seiner rasiermesserscharfen Zähne und Klauen ebenfalls den Kürzeren ziehen. Meine Fähigkeit erschien mir eher wie die Reißleine, die ich erst im allerletzten Augenblick ziehen würde und so blieb ich apathisch stehen und beobachtete, wie Isaacs Zögern ein Ende fand und die kurze Distanz zwischen uns endgültig dahinschmolz. Das kehlige Knurren brachte mein gesamtes Nervenkostüm zum Beben, trotzdem rührte ich keinen Finger. Heißer Atem strich stoßweise über meine Wange, meinen Hals, mein Ohr. Ich fühlte mich wie zur Salzsäule erstarrt, unfähig, auch nur mit dem kleinen Finger zu wackeln. Was tat er da? Ich kratzte all meine Willenskraft zusammen, um nicht zurückzuweichen oder eine andere ruckartige Bewegung zu machen. Es kostete mich einiges, dem schreienden Fluchtinstinkt in meinem Kopf zu verstehen zu geben, dass Wegrennen absolut keinen Sinn machte. Resolute Eigensinnigkeit zählte seit jeher nicht zu meinen besten Eigenschaften und auch in diesem Augenblick profitierte ich nicht unbedingt von diesem sturen Drang, möglichst viele Meter zwischen mich und den Wolf zu bringen. Zwischen Isaac und mich. Isaac, der vor ein paar Minuten, die mir nun eher wie eine kleine Ewigkeit vorkamen, noch meinte, sein Beschützerinstinkt ließe es gar nicht erst zu, mich mutwillig einer Gefahr auszusetzen. Wo war dieser blöde Sinn nun? Unweigerlich ratterten meine Gedanken, während ich regelmäßig dank brennender Lungen daran erinnert wurde, möglichst flach nach Sauerstoff zu japsen. Ich fürchtete mich davor, eine falsche Bewegung zu machen. Andererseits: wie verhielt man sich in so einer Situation richtig? Einfach auf den vernichtenden Biss warten oder verzweifelt in Tränen auszubrechen. Ich war mir meines tränenverklebten Gesichts durchaus bewusst, aber das verräterische Brennen meiner Augen wollte auch kein Ende nehmen. Ich heulte einfach stumm weiter, bis mir ein leises Schluchzen über die Lippen trat und das gewaltige Raubtier vor mir reflexartig die Ohren wieder in meine Richtung drehte. Als ob mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit nicht ohnehin galt. Ganz langsam, wachsam begann mich der Wolf zu umkreisen, schnitt mir damit wohlwissentlich den letzten, wenngleich auch lächerlich irrationalen Ausweg ab, sodass ich mich am liebsten klein zusammenrollen und auf den Boden kauern würde. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Ein wesentlicher Teil in mir hatte anscheinend bis zum Schluss fest daran geglaubt, dass ich niemals in eine reale Gefahrensituation schlittern würde und nun stand ich zitternd wie Espenlaub da. „Isaac, bitte“, flüsterte ich in meiner Verzweiflung. Vorsichtig wagte ich einen Blick über die linke Schulter nach hinten und zuckte merklich zusammen. Ich sah direkt in ein Gebiss voller gefletschter Zähne. Sollte mir nicht bereits jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen sein, spätestens in diesem Moment war es so weit. „Isaac, ich bin’s.“ Mir brach die Stimme beinahe bei den drei einfachen Wörtchen, weil die begierig witternde Nase ganz dicht vor meinem Kopf schwebte und sein Atem regelmäßig die immer wieder zurückrutschenden Haarsträhnen aus dem Gesicht blies. „Isaac“, wiederholte ich mich, als müsste ich mich selbst daran erinnern, wer da eigentlich vor mir stand. Nicht umgekehrt. „Bitte lass mich in Ruhe“, hauchte ich, „ich will dich nicht verletzen müssen.“ Fand er bestimmt sehr lustig. Ob er mich als wimmernde Beute mit der potenziell tödlichen Fähigkeit assoziierte, die in meinen Fingern schlummerte? Ich glaubte kaum. Ich schaffte es scheinbar nicht einmal, mich als Person in sein Gedächtnis zu schieben, wie sollte er sich dann einem derart kleinen Detail bewusst sein. Mit viel Pech, sah er in mir lediglich einen Engel… den natürlichen Feind seinesgleichen.
Doch, ich kannte Sie. Ohne jeden Zweifel. Der süße, weibliche Geruch war in der Prioritätenliste weit oben abgespeichert und konnte nicht einfach ignoriert werden. Nur wieso roch sie dann gleichzeitig nach den goldlockigen Heiligen? Bemessen an ihrer Haarfarbe und der Intensität des Geruchs konnte das nur daher kommen, dass sie einer der Engel war... mein Wolfshirn stieg ins nächste Karussell, als ich mich schnaubend wieder in Bewegung setzte. Mir knurrte der Magen, während ich die junge Frau zu umkreisen begann. Ich war unentschlossen und meine Schritte fast schon bedächtig, während sich der Wolf das Hirn zermarterte. Jedes noch so kleine Geräusch aus ihrer Richtung reizte mich - angefangen mit den etwas zu bemüht flachen Atemzügen, dem Schluchzen und schließlich auch wieder ihrer Stimme. Zum wiederholten Mal trat ich mit den Pfoten durch den Lichtkegel der Taschenlampe, die als Verteidigung denkbar unnütz wäre - abgesehen vom blendenden Effekt für meine nachts empfindlicheren Augen. Ich sah dem Engel im Vorbeigehen in die verheulten Augen, wurde dabei auch langsamer, ging dann aber eine weitere Runde um sie herum. Das immer wieder aufkommende Knurren klang stetig ungeduldiger und ich schüttelte unter ihren Worten den Kopf. Als wollte ich sie nicht hören, weil ich eigentlich ganz genau wusste, was sie bedeuteten und wer zu mir sprach. Sie hörte aber nicht auf zu reden und ich konnte mein sensibles Gehör dem Klang ihrer Stimme nicht entziehen. Ich zog die Lefzen höher und meine Schnauze legte sich durch die gerümpfte Nase in noch tiefere Falten, während ich das Maul leicht geöffnet hielt. Der Schwanz war stets leicht erhoben und ich plusterte mich auf so gut es ging - als wäre das zur Einschüchterung wirklich nötig gewesen. Aber das Knurren wurde leiser, als ich schließlich erneut vor dem Engel ankam. Ich blieb stehen und das Geknurr verstummte. Mir über die Zähne der vorderen Reihe leckend suchte ich mit meinen gold schimmernden Augen nach ihrem Blick. Stellte mich ihr schließlich wieder frontal gegenüber und neigte den Kopf nach unten, um auf ihre Augenhöhe zu kommen. Ein paar ewige Sekunden lang starrte ich sie dicht vor ihrem Gesicht einfach nur an. Suchte in ihren geröteten Augen nach dem fehlenden Indiz, während mir ihr verlockender Duft um die Nase wehte. Was immer ich in ihrem Blick auch suchte - letztendlich fand ich unsere Verbundenheit in Riccardas flehenden, braunen Augen. Meine Lefzen sanken zeitgleich mit der Rute und mein ganzes Gesicht entspannte sich. Grotesk behutsam nutzte ich die feuchte Nase, um ihr Kinn ein ganzes Stück anzuheben, damit sie mit mir in den Himmel sah. Daraufhin streckte ich selbst den Kopf nach oben und schickte dem Vollmond ein lautes, unerbittliches Heulen. Als ich der Meinung war, dem umliegenden Waldgebiet deutlich genug vermittelt zu haben, dass das hier mein Revier war - unseres, um genauer zu sein -, kehrte die Unruhe zurück. Ich ging ohne einen weiteren Blick in Riccardas Richtung an ihr vorbei und meine pelzige Schulter streifte sie dabei minimal. Ich zerkratzte den nächstbesten breiten Baumstumpf. Danach trabte ich energisch mit der Nase am Boden über die Lichtung, fand dort aber nur meinen eigenen und Riccardas Geruch. Mit einem frustrierten Jauchzen gab ich die Suche vorübergehend auf und trat an einen toten, gefallenen Baum heran. Er war eher schmaler Natur und ich kaute daran herum wie ein Hund auf einem Knochen - erst am Stumpf, dann an mehreren dicken Ästen, die allesamt dem immensen Druck meines Gebisses nachgaben. Ich kratzte mir den Hinterkopf einen Baum weiter und war zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig damit, den Rand der Lichtung in Beschlag zu nehmen. Nicht mal Zehn Minuten später waren ringsum Kratz- und Bisspuren zu finden, doch der Hunger blieb und der Mond stand noch immer hoch am Himmel. Ich suchte erstmals seit der missverständlichen Jagd wieder nach Riccarda. Sobald ich sie geortet hatte und wusste, dass sie noch immer hier war, machte ich Kehrt und verschwand ohne weitere Vorwarnung im Wald. Ich musste irgendwas zwischen die Zähne kriegen... und wenn es nur zwei dieser unappetitlichen Mungos waren. Es war gar nicht möglich, den Vollmondhunger tatsächlich zu stillen - aber zumindest ein bisschen Blut zwischen die Zähne zu kriegen, wäre für einen minimal ruhigeren Gemütszustand wünschenswert.
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Angespannt mit jeder Faser meines Körpers klammerte ich mich an die Taschenlampe und das kleine Taschenmesser, suchte Halt in den beiden Utensilien und versuchte damit endlich das vehemente Zittern meines Körpers wieder unter Kontrolle zu bekommen. Isaacs Rastlosigkeit färbte auf mich ab. Am liebsten würde ich ebenfalls aus dieser Starre erwachen und mich in Bewegung setzen, aber das Risiko einer weiteren Verschlechterung meiner Situation erschien mir zu akut, weshalb ich die Inspektion auf Tuchfühlung regungslos über mich ergehen ließ. Zwischendurch kniff ich nur die Augen ein paar Mal fest zusammen, aber diese kurzen Phasen der Blindheit waren beinahe noch furchteinflößender als der Gefahr direkt von Angesicht zu Angesicht zu stehen. Trotzdem sackte mir mein Herz noch ein bisschen weiter dem Erdboden entgegen, als der riesige Wolf endlich aufgehört hatte, seine engen Kreise um mich zu ziehen und stattdessen regelrecht angriffslustig vor mir aufgebaut stehen blieb. Das Tier knurrte mich in einer Tour an. Ich wusste nicht länger, was ich noch zu ihm sagen sollte – was würde seiner Erinnerung noch auf die Sprünge helfen? Ich würde ihm nun keine sentimentalen Geschichten unseres Kennenlernens erzählen… Früher hatte ich Isaac aus reiner Bosheit mit einem räudigen Köter verglichen, mittlerweile suchte ich höchstens einen Vergleich zu den vierbeinigen Nachkommen des Wolfes, um mir seine tierische Körpersprache etwas verständlicher zu machen. Zwar besaß ich kaum den Nerv, um mir seine Haltung genauer anzusehen, jedoch reichten die hochgezogenen Lefzen und die gebleckten Zähne, um mich weiterhin in Acht zu nehmen. Trotzdem schien Isaac mir irgendetwas vermitteln zu wollen, weshalb ich nach passenden Hinweisen suchte und schlussendlich seinen stechenden Blick fand, der wohl die ganze Zeit über bereits auf mir lag. Mein Herzschlag jagte einem neuen Streckenrekord entgegen, dennoch begegnete ich dem Blickkontakt möglichst fest. Selbstbewusstsein mit bebenden Gliedmaßen, rasendem Puls und verräterisch geröteten Augen zu suggerieren gehörte offiziell in die Königsklasse der Manipulation, trotzdem bemühte ich mich um einen möglichst resoluten Eindruck. Das gesprenkelte Gold wirkte geradezu faszinierend auf meine Psyche, gerne würde ich mich in einem ruhigeren Moment in dem Anblick dieser schönen Augen verlieren, aber es lag zu viel auf dem Spiel und an Entspannung war auch nicht zu denken. Erst im Nachhinein rief mir mein Sinnesradar ins Bewusstsein, dass das zuvor permanent anhaltende Knurren endlich verstummt war. Hoffentlich ein gutes Zeichen. Ich verstand nicht, was sein suchender Blick bedeutete. Ich hoffte nur, dass er es fand. Ich hoffte aus tiefstem Herzen, dass sich unsere bisherige gemeinsame Zeit in seine tiefsten Gehirnwindungen eingebrannt hatte und selbst nach dieser Wesenswandlung irgendwo ein kleines Plätzchen für mich reserviert blieb. Die folgende Körpersprache zeichnete sich in meinen Augen als positiv ab; als würde ein Großteil seiner Anspannung abfallen und die Jagdsequenz damit beendet sein. Ich traute mich dennoch keinen Millimeter von meinem Standort weg, was scheinbar ohnehin nicht zu Isaacs weiterem Plan mit mir gehörte. Fast hätte sich ein verzweifelter Schrei aus meiner Kehle gelöst, als sich die überdimensionale Schnauze meiner Kehle näherte, doch statt eines tödlichen Bisses kitzelte mich nur die feuchte Nase am Kinn und übte Druck auf meinen Kopf aus, dem ich nur zögerlich nachgab. Mein Blick wanderte automatisch in den ruhigen Sternenhimmel empor. Die riesige, leuchtende Mondscheibe spendete silbrig-graues Licht und tauchte die Nacht in einen geheimnisvollen Glanz. Was wollte mir Isaac zeigen? Ich wartete wachsam ab. Meine Hauptaufmerksamkeit lag nicht am Firmament, sondern überwiegend auf dem Werwolf direkt vor mir, aber dieser schien momentan einer anderen Intuition nachzugehen: sein volles Heulen durchbrach die Nacht und erschreckte mich fürchterlich. Ich zuckte willkürlich zurück, beäugte den Pelzträger misstrauisch, wie er in Pose stand und seine Schnauze heulend dem Mond entgegenreckte. Konnte ich diese Botschaft schon nicht verstehen, so verstand ich das weitere Verhalten ebenfalls nur mühsam. Isaac war schlussendlich ganz dicht an mir vorbeimarschiert, wobei mir die Berührung mit seinem struppigen Fell einen Schauder über den Rücken gejagt hatte, und hatte begonnen, diverse Baumbestandteile des Lichtungsrandes zu zerlegen. Ungläubig folgte ich seinem Vorgehen mit meinen Augen, ehe ich die Zusammenhänge verstand. Isaac markierte geradezu überdeutlich sein Revier. Zählte das zu den normalen Miterscheinungen in einer Vollmondnacht? Noch immer kreisten hunderte Fragen durch meinen Kopf, während ich dem gewaltigen Wolf dabei zusah, wie er eigene landschaftsarchitektonische Veränderungen vornahm und ich vorübergehend nicht länger zu seinen Belangen zählte. Ich wertete es als meine Chance, mich vorsichtig Zentimeter für Zentimeter dem Zelt entgegenzuschieben – die wetterfesten Plastikschichten würden mich gewiss nicht vor einem rasenden Raubtier im Blutrausch bewahren, aber die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit stieg mir beinahe ähnlich einem alkoholinduzierten Hoch zu Kopf. Ich ließ den werkenden Wolf nicht aus meinem Sichtfeld verschwinden, aber Isaac schien so in seiner Aufgabe zu versinken, dass ich sogar die halbe Strecke bis zu meinem eingebildeten sicheren Hafen schaffte, ehe er mich erneut mit einem musternden Blick bedachte. Ich erstarrte reflexartig, wie auf frischer Tat ertappt. Doch zu meiner Überraschung schien es den Werwolf mittlerweile kaum noch zu interessieren – ganz im Gegenteil wirkte es vermehrt wie eine Absicherung auf mich, dass ich nicht plötzlich verschwunden war. Eine bizarre Annahme, aber ich verstand sicherlich bei keiner seiner Aktionen die volle Bedeutung und Tragweite, sondern schusterte mir meine Erklärungen nach bestem Wissen aus den Berichten und Erfahrungen von Isaac zusammen. Hatte er das Gebiet rund ums Zelt so sorgfältig markiert, um mich ruhigen Gewissens zurücklassen zu können? Ich fand keine andere Erklärung dafür, nachdem der große Wolf ohne einen weiteren Laut im Dickicht untertauchte und mich allein auf der Lichtung stehen ließ. Verdattert blieb ich an Ort und Stelle stehen, suchte die flüsternde Finsternis nach einem animalischen Schatten ab, doch alles blieb ruhig. Ich war allein. Die Erkenntnis traf mich wie ein ganzer Felssturz. Endlich entließ mich die instinktive Angst aus ihrem erstickenden Klammergriff, obwohl eine warnende Stimme in meinem Hinterkopf blieb. Am liebsten würde ich das Feuer ein bisschen näher an das Zelt ziehen, um die Dunkelheit zu vertreiben, aber ewig würden die Flammen ohnehin nicht mehr durchhalten und ich besaß immer noch die wacker durchhaltende Taschenlampe. Vollkommen aufgekratzt wusste ich nicht, was ich nun anstellen sollte – in meiner naiven Vorstellung hatte ich mir zwei Bücher zum gemütlichen Schmökern mitgenommen, aber an Lesen war in meinem Zustand beim besten Willen nicht zu denken. Trotzdem zog es mich ins Innere des Zeltes. Es vermittelte mir zumindest ein bisschen das Gefühl von Sicherheit und sperrte eine gewisse Geräuschlautstärke aus. Meine Schuhe hatte ich gegen dicke Kuschelsocken ersetzt, nachdem ich auch die lehmverschmierte Leggings gegen eine saubere Jogginghose ausgetauscht hatte, und säuberte meine Hände bestmöglich mithilfe von Feuchtigkeitstüchern. Die Schürfwunden waren nicht einmal der Rede wert, ich spürte höchstens ein sanftes Brennen wie ein Prickeln unter der obersten Hautschicht. Die kleine Verletzung hatte ausgereicht, um den nächtlichen Spaziergang zu einem Horrortrip mutieren zu lassen. Ich ärgerte mich über meine eigene Unachtsamkeit. Ebenso lachte ich mich über meine eigene Paranoia aus, die verhinderte, dass ich das kleine Taschenmesser endlich wieder wegpackte. Nein, stattdessen begann ich mit dem kleinen Gefährten aus Stahl zu spielen, was natürlich sehr geistreich in Anbetracht des Verletzungsrisikos war, aber im Moment schien mir jede Ablenkungen willkommen zu sein. Meine Vitalparameter hatten sich längst wieder auf die Norm zurückgeschraubt, aber die Gedanken in meinem Kopf wirbelten weiterhin verflucht schnell in der Gegend herum. So flink, dass ich keinen einzigen richtig zu fassen bekam und irgendwann doch der reinen Erschöpfung erlag. So viel zum Vorsatz, den Sonnenaufgang abzuwarten – auf Isaac zu warten.
Kaum war ich ein paar Höhenmeter weiter unten im dichteren Wald angekommen, begann die Reizüberflutung von neuem. Für die nächsten drei Stunden verschwendete ich keinen einzigen Gedanken an Riccarda und ich verzichtete generell auf weiteres Geheul. In dem teilweise dichten Unterholz war es für mich nicht leicht unentdeckt zu bleiben, obwohl ich ein geübter Jäger war. Ich jagte deutlich lieber eine Herde Wild durch einen gewöhnlichen Laub- oder Nadelwald, als mir hier im Dschungel - obgleich er weiter oben ein klein wenig lichter sein mochte, als in tieferen Regionen - das Gesicht ständig am Farn nass zu machen oder den Rücken einziehen zu müssen. Das war die unbequemste Jagd seit langem und ich endete nach drei Stunden mit nur zwei Mungos, die ich fies aus dem vorderen Teil ihres Baus gezogen hatte und einer Schlange, die ich eher aus Frust von den Ästen eines Baumes fischte. Das war auch der einzige Moment, in dem mir meine Größe in der heutigen Nacht zugute kam. Das Schlangenfleisch war nicht unbedingt genießbarer, als die kleinen Säugetiere - die Pazifikboa war sehr zäh, was mich wenigsten eine Weile lang mit Kauen beschäftigt hielt. Ich streifte danach noch weiter durch den Wald, war dabei jedoch indirekt bereits auf dem Rückweg. An einem kleinen Bach, der vom Berg hinunter floss, stillte ich den Durst, der durch all das Hetzen entstanden war. Ich machte mir jedoch keinerlei Mühe auch das Blut von meiner Schnauze zu entfernen. Hier und da baute ich ein paar größere Umwege ein, aber der Vollmond klebte ohnehin noch immer am Himmel. Mittlerweise wurde er allerdings von einigen Wolken verschleiert, die das Mondlicht trübten. Er entfernte sich außerdem Stück für Stück weiter und die Dämmerung lag nicht mehr allzu weit entfernt, als ich mit den matschigen Pfoten wieder auf die Lichtung auf dem Kamm des Berges trat. Die Asche roch ich noch immer, doch das Feuer war längst abgebrannt und das einst gesammelte Holz lag nur mehr in kleinen verkohlten Brocken da. Ich senkte die Nase noch einmal kurz, als ich daran vorbeiging, bevor ich eine Art Kontrollgang absolvierte. Mein Weg führte dabei zuerst nahe am Zelt vorbei, weil ich sichergehen wollte, dass der Engel noch da war. Danach witterte ich rund um den Lagerplatz nach Durchkreuzungen meines Reviers, auch wenn das eigentlich unnötig war. Die Jagd in diesem entlegenen Gebiet auf der Fidji-Insel hatte mir noch einmal unmissverständlich klar gemacht, dass hier kaum was anderes als Mungos und Flughunde wohnte. Als ich der Meinung war genug Ausschau gehalten zu haben, trat ich schließlich zurück in die Nähe des Engels. Mit dem Rücken leicht schräg zum Zelteingang und wenig Abstand ließ ich mich auf dem Boden nieder, aber ich bettete den Kopf nicht auf die Vorderpfoten. Aufrecht liegend blieben meine Ohren auf vollem Empfang - das empfindliche Gehör verfolgte jedes noch so unauffällige Geräusch im Wald um uns herum, bis es schließlich zu nieseln anfing. Wenige Minuten später setzte ein Landregen ein, der symbolisch wohl für die desaströse Nacht stand. Die Sonne suchte sich gerade langsam dem Weg zum Himmel, aber es wurde wegen der Wolken noch kaum heller und der Regen beschwörte Nebel herauf. Es sah so aus, als würde der Schauer noch eine ganze Weile anhalten und ich wurde langsam müde. Der Vollmond zog vorüber und der körperliche Höhenflug verabschiedete sich langsam. Doch der Regen blieb. Eine ganze Weile lang hielt mein Fell den Tropfen stand, aber nach einer halben Stunde klebte mir der Pelz förmlich am Körper. Ich war völlig durchnässt und auch wenn es noch immer knapp 20°C haben musste, war bis auf die Haut nass gewordenes Fell sehr unangenehm. Dennoch weigerte ich mich, meinen überflüssigen Wachposten vor dem Tor des Zeltes zu verlassen. Stattdessen kringelte ich mich ein und versuchte so die leicht fröstelnden Pfoten wieder wärmer zu kriegen. Das war auch das erste Mal, dass mir die Augen seit etwas mehr als 20 Stunden zufielen. Trotzdem schlief ich nicht, meine Ohren blieben stets aufgestellt in Empfangsbereitschaft. Ich war diese langen Nächte gewöhnt und doch ließen sie mich jedes Mal ähnlich erledigt zurück. Normalerweise wäre mir das egal - ich hätte mir die Nacht über den Bauch vollgeschlagen und würde genüsslich den Tag verschlafen. Nicht aber jetzt und heute. Mit der aufgehenden Sonne kam auch die Erinnerung an die kurze Jagd direkt nach meiner Verwandlung zurück. Mein Gewissen hatte sich inzwischen wieder eingeschaltet und ließ mich mit Reue auf dem nassen Boden zurück. Ich hatte zwar gewusst, dass es eine dämliche Idee war bei Vollmond campen zu gehen, aber ich hatte wohl still und heimlich gehofft, dass es keinen neuen Krater zwischen Riccarda und mir ziehen würde. Hatte sie jetzt wieder Angst vor mir? Vielleicht nicht, wenn ich versuchen würde, ihr all das zu erklären. Ich musste wohl einfach darum beten, dass sie versuchen würde, es zu verstehen und nicht stur abblockte, weil sie verängstigt und beleidigt war... nicht, als könnte man ihr das wirklich übel nehmen. Jedenfalls wusste ich jetzt, was sie definitiv nicht wieder tun sollte, falls sie mir je wieder bei Vollmond über den Weg lief und der Rausch mich mit dem nächsten Gedächtnisschwund segnete. Vielleicht wäre die Situation niemals so ausgeartet, wenn sie nicht weggelaufen und mich damit zur Jagd animiert hätte. Ich hatte sie von mir wegschicken wollen, um einen sofortigen Biss zu vermeiden - inzwischen hatte ich jedoch das Gefühl, dass das eine dumme Idee war. Was nicht weglief, war nicht auf der Flucht und was nicht floh, war keine Beute.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Ich erwachte aus einer sehr unbequem zusammengerollten Position und brauchte ein paar Augenblicke, um mich in dem kleinen Zelt zu orientieren. Weder wusste ich, um welche Uhrzeit es sich handelte, noch konnte ich genau einschätzen, wie lang ich insgesamt geschlafen hatte – fest stand nur, dass ich mich gerädert fühlte. Hoffentlich stellte sich nicht heraus, dass Campen im Allgemeinen unter weniger lebensbedrohlichen Umständen auch derart anstrengend blieb. Nur kurz wunderte ich mich über den Gedanken, dem Zelten noch eine zweite Chance geben zu wollen. Ich durfte dieses Erlebnis nicht als Referenz herannehmen, aber die Bilder der vergangenen Nacht samt meiner überschwappenden Angst hatten sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Unweigerlich zog ich den Schlafsack ein bisschen enger um mich. Es war vorbei! Ich atmete einmal tief durch, um den engen Knoten wieder aus meiner Brust zu bekommen und redete mir mental gut zu: mir fehlte es an nichts und den Schreck würde ich ebenfalls noch aufarbeiten. Eines nach dem anderen. Da mich schlussendlich erst die Erschöpfung mitten in der Nacht überwältigt hatte, war mir keine Zeit nach all der aufgelösten Panik geblieben, um mir die Kaskade an Ereignissen erneut vor Augen zu führen und mir in Ruhe Gedanken darüber zu machen. Ich saß ganz still da, starrte zum Zeltausgang und wartete auf irgendeine Art der bahnbrechenden Erkenntnis, die jedoch ausblieb. Änderte der Zwischenfall etwas an meinem Verhältnis zu Isaac? Ich kannte seine Perspektive der Nacht nicht und wollte mich auf keine voreiligen Schlüsse festlegen, die mich indirekt in eine womöglich ungerechtfertigte Denkweise lenkten. Grübelnd nestelte ich an ein paar der raschelnden Falten des Stoffs vor mir herum. Zugegebenermaßen bereute ich meine eigene Leichtfertigkeit, mit der ich in diesen Feldversuch gestartet war und ich bedauerte mein Ausrutschen, obwohl der Fall die kleine Böschung hinab in die Senke keiner Absicht verschuldet war. Wer wusste schon, wie die restliche Nacht verlaufen wäre, hätte Isaac nicht plötzlich mein Blut als aller erstes Indiz für eine ausstehende Jagd in die Nase bekommen. Wo steckte Isaac überhaupt? Obwohl mich die Neugier vermischt mit Sorge packte, zögerte ich das Verlassen des Zeltes noch ein paar kostbare Minuten hinaus. Ich wusste nicht, was mich auf der anderen Seite der Plane erwartete, deshalb hielt ich mich gerne noch ein bisschen länger in der geborgenen Sicherheit des Zeltinneren auf und räumte ein bisschen in der Reisetasche herum, band mir die Haare zusammen und trödelte einfach. Ich fand sogar auf Anhieb das nach wie vor ausgeklappte Taschenmesser, welches ich wieder sicher in dem kleinen Lederetui verstaute und dieses wiederum in das Rucksackseitenfach steckte. Kurz sah ich mich auf der zusammengeräumten Fläche von knapp drei Quadratmetern um, fand aber keinen weiteren Dorn fürs Auge mehr, den ich als Aufschub hernehmen könnte. Ich ertappte mich selbst dabei, wie ich mein Verhalten als dumm befand, schaffte es aber nicht aus dem mulmig beklemmenden Gefühl heraus. Aber es half nichts, wenn ich mich in meinem Schlafsack versteckte und der unangenehmen Konfrontation auswich – ich sollte es hinter mich bringen. Dieser mentale Ansporn reichte, um mich in meine Sportschuhe zu bringen und gleichzeitig die verräterische Hoffnung aufleben zu lassen, dass Isaac eventuell noch gar nicht von seinem Streifzug zurückgekehrt war. Fehlanzeige. Keinen ganzen Meter vorm Zelteingang lag ein riesiger pelziger Körper und versperrte jedem potenziellen Angreifer den Weg. Vielleicht interpretierte ich zu viel in Isaacs Platzwahl hinein, denn hier am Kamm gab es nichts und niemanden, der mir in der Gegenwart eines gigantischen Wolfes ernsthaft gefährlich werden konnte. Unbewusst schlich sich trotz der überflüssigen Vorsicht seitens des Raubtieres ein schmales, kaum das aufwärts Zucken meiner Mundwinkel übersteigende Lächeln auf meine Züge, während ich ganz vorsichtig um den gleichmäßig atmenden Fellberg stieg. „Isaac?“, machte ich mich leise bemerkbar, verhinderte aber den fragenden Unterton nicht. Schlief er noch oder hatte er die Vollmondnacht überhaupt ein Auge zugetan? Bedächtig umrundete ich den Wolf, suchte sozusagen das ansprechbarere Ende des Tieres und kam erst vor dem Kopf samt gespitzt aufgestellter Ohren zum Stillstand. „Guten Morgen.“ Große goldene Augen bedachten mich mit einem schwer einschätzbaren Blick, weshalb ich nicht wusste, wie ich mich meinerseits verhalten sollte. Ich fühlte mich stark an unsere Anfänge zurückversetzt, nachdem wir entschieden hatten, dass sich etwas in unserem Verhältnis zueinander gravierend verändern musste und nie jemand dem anderen zu nahe steigen wollte. Mein Blick glitt über die Lichtung samt der zerstörerischen Reviermarkierung und dem kleinen, weißen Campingtisch plus der dazugehörigen Sessel. Keine weiteren Veränderungen mehr. Ich schaute zurück zu Isaac, der mich anscheinend noch immer beobachtete, und verlagerte mehrfach das Gewicht von einem Bein auf das andere. Und jetzt? Gern hätte ich gelacht, aber mir blieb jede Heiterkeit in der Kehle stecken. Ich stellte fest, dass ich nervös war.
Schon lange bevor die zierliche Blondine letzten Endes aus dem Zelt kroch, hörte ich sie im Inneren der nicht besonders dicken Stoffwände herumwerkeln. Man könnte es als ansatzweise dösigen Zustand meinerseits bezeichnen, ich schenkte den Geräuschen vorerst keine weitere Beachtung. Wenn sie sich bewegte, dann war sie wohlauf - zumindest so weit, wie das möglich war, wenn einem des nachts ein unfreundliches Werwolfsgebiss vor der Nase gehangen hatte. Trotzdem wirkten ihre Bewegungen recht ruhig auf mich, was ich als gutes Zeichen wertete. Wäre sie zutiefst beunruhigt, wären ihre Handgriffe sicher fahriger und etwas unkoordinierter. Was auch immer Riccarda im Zelt getrieben hatte, sie war schließlich damit fertig. Schon das Ziehen am Reißverschluss ließ mich hellhörig werden. Der Regen war in der Zwischenzeit versiegt, trocken war ich aber noch lange nicht. Wandelnde Heizung hin oder her, bis das Fell wieder föhnfrisch war, würde es noch dauern. Wahrscheinlich länger, als ich noch in dieser Gestalt verweilen würde, also müsste dann in menschlicher Form ein Handtuch herhalten... hatten wir Handtücher eingepackt? Ich hatte nicht unbedingt geplant im Regen zu schlafen und das Packen von solchen Dingen hatte Riccarda übernommen. Noch lange hatte mich der Vollmond daran gehindert, in meine menschliche Präsenz zu wechseln, doch inzwischen hatte das andere Gründe. Einerseits wollte ich gerne sehen, wie mein Beinahe-Opfer auf mich reagierte, wenn ich noch immer auf vier Pfoten wandelte. Ob sie sich erschrecken würde oder nicht. Andererseits graute es mir bis jetzt noch davor, dem Schmerz wieder entgegenzutreten. Eigentlich müsste es schnell gehen, so wie sonst auch. Vielleicht aber auch nicht und der Wolf wollte sich nicht gerne zurück in die Kiste stecken lassen, nachdem ich versucht hatte, ihn am Rauskommen zu hindern. Als die zierliche junge Frau in mein Sichtfeld trat, waren meine Augen schon offen und ich löste mich gerädert aus der zusammengerollten Haltung. Mit erhobenem Kopf musterte ich sie einen Moment lang. Sie wirkte nicht wirklich ängstlich, aber doch etwas angespannt - berechtigte Nervosität, in Anbetracht der Umstände. Ich konnte ihr Guten Morgen nicht wörtlich erwidern und wandte stattdessen für kurze Zeit den Blick ab, um mit zur Seite gedrehtem Kopf einem etwas längeren Gähnen nachzugeben. Inklusive leisem Jauchzen, dem aber keine größere Bedeutung galt. Auch nur die wenigsten Menschen gähnten völlig tonlos. Mein Blick lag anschließend jedoch gleich wieder auf der jungen Frau. Sie würde längst wissen, dass ich mich nicht noch einmal auf sie stürzen wollte, so ruhig wie ich hier lag. Trotzdem hatte ich das dringende Bedürfnis, ihr das noch anderweitig zu deuten. Mich außerdem zu entschuldigen, auch wenn sie wahrscheinlich längst wusste, dass ich das nicht gewollt hatte. Der Wolf, nicht ich. Sichtbar zögernd und vorsichtig streckte ich meinen Kopf nach Riccarda aus. Dicht mit der Nase vor ihrem Unterarm hielt ich nochmal inne und warf einen prüfenden Seitenblick in ihre Gesicht - wollte mich vergewissern, dass es schon okay war mich ihr zu nähern und dass sie keine längere wölfische Auszeit brauchte, um den Schock der Jagd in der Dunkelheit zu verdauen. Als ich mir sicher genug damit war, dass sie nicht gleich rückwärts stolpern würde, schob ich langsam meine Nase zwischen ihren Unterarm und ihre Hüfte. Zumindest der vordere - zuvor an meinem Bauch vergrabene Teil meines Kopfes - dürfte schon wieder recht trocken sein, was man von den Ohren eher nicht behaupten konnte. Ich war normalerweise strikt dagegen, dass man mich wie ein braves Hundchen streichelte und betatschte, weil ich das nun mal einfach nicht war. Aber wem machte ich hier was vor? Vor wenigen Tagen erst hatte ich Riccarda auf meinem Rücken durch den Dschungel kutschiert, was machte eine kleine Streicheleinheit da noch für einen Unterschied? Ich musste mich wohl einfach langsam damit abfinden, dass ich - in ruhigem Zustand - in den meisten Fällen kein Problem mehr damit hatte, wenn die junge Frau ihre Finger nach mir ausstreckte. An diesen Gedanken festhaltend verpasste ich ihrem Arm einen kleinen, seitlichen Stups mit der Schnauze und animierte sie damit sogar dazu, mich wie den braven Hund zu knuddeln, der ich nicht war. Werwolf im... Hundepelz? Schaf war ich keines, aber ich hätte noch immer nichts dagegen, wenn aus dem Nichts eines über die Lichtung marschieren würde.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈
Wir blickten uns stumm an, prüften anhand des Ausdrucks in den Augen, was in unserem Gegenüber vorging. Leider wurde ich für meinen Teil nicht sonderlich schlau aus diesem ruhigen Blickduell. Isaac erinnerte nun wieder vermehrt an jenen Wolf, den ich bereits kennen gelernt hatte, auf dessen Rücken ich sogar durch den Dschungel getragen wurde und mit dem ich meinen persönlichen Frieden abgeschlossen hatte. Natürlich war der Anblick eines XXL-Wolfes einschüchternd und ich bezweifelte, jemals den Respekt vor seiner Kraft und Gefahr zu verlieren, aber ich fürchtete mich nicht vor dieser wölfischen Version. Das Vollmond-Exemplar jagte mir allein bei der Erinnerung eine Gänsehaut über den Körper und ließ mich leicht erschaudern. Bestimmt drängte ich den Gedanken aus meinem Bewusstsein hinaus, fokussierte mich gar nicht erst auf die unzähligen Details, die mir nun immer wieder spontan als kleine Horror-Show vor Auge traten. Ich wollte lieber den umgänglichen, vertrauensvollen Vierbeiner in Isaac sehen; nicht die blutrünstige Killermaschine. Immerhin fiel es mir herrlich leicht, dem Wolf gegenüberzustehen und keine Angst zu verspüren, die mir die Luft abschnürte oder das bekannte Engegefühl in die Brust setzte. Mein Zustand ließ sich mehr mit dem zarten Auswuchs einer nervösen Anspannung vergleichen, mit der ich dabei zuschaute, wie sich die nach wie vor reißend-scharfen Zähne bei dem herzhaften Gähnen im Seitenprofil präsentierten. Ich schreckte nicht zurück, sondern wartete ab. Ich wusste, dass keine verbale Kommunikation zwischen uns im Bereich des Möglichen lag, aber das bedeutete nicht, heillos mit der Situation überfordert zu werden. Mein Vertrauen in Isaac existierte nach wie vor zu einem ausreichend großen Anteil in mir, um seine Annäherung bereitwillig zuzulassen und lediglich Beobachtungen anzustellen. Spätestens beim Anblick des fragenden Ausdrucks in dem glänzenden Gold seiner Augen wusste ich, dass Isaac meine Toleranz dem Wolf gegenüber neu eruierte. „Ist schon wieder gut wäre wohl übertrieben, aber ich vertraue dir weiterhin… auch mit Pelz und feuchter Schnauze“, erklärte ich ihm ruhig, zuckte ganz leicht mit den Schultern und spürte erst beim lauten Aussprechen, wie wahr diese Aussage wirklich war. Isaac hatte mich vor seiner Zügellosigkeit und dem reellen Gefahrenrisiko gewarnt. Er hatte sich mir unbekannten Schmerzen ausgesetzt, um einen im Nachhinein betrachtet unnötigen Vorsprung für mich herauszuholen und hatte sich schlussendlich daran erinnert, dass ich weiterhin Bestandteil seines Lebens bleiben sollte. Isaac selbst hatte mein Vertrauen zu keinem Augenblick verletzt. Ich blieb zuversichtlich, dass er meine Intuition verstand und sich deshalb nicht mit übermäßig reuevollen Gedanken herumplagen musste. Ebenso hoffte ich aber meinerseits, dass ich die Situation ebenfalls weiterhin richtig interpretierte und das auffordernde Stupsen tatsächlich als Einladung gedacht war. Nun zögerte ich doch einen Moment lang. Eine Erklärung besaß ich nicht wirklich dafür. Erneut spürte ich den warmen Atem an meiner Körperseite, das leicht raue Fell auf der Haut und trotzdem fühlte es sich an diesem Morgen ganz anders an. Mein Herz flatterte nicht länger wie ein aufgeschreckter Vogel im Käfig und mein Atem rasselte nicht schmerzhaft in den Lungen. Ich brauchte nur einen kleinen Ruck, um über die Zurückhaltung hinwegzukommen, ehe meine Hand bedächtig seitlich an dem großen Kopf in dem dichten Pelz versank. „Du hast draußen im Regen geschlafen“, stellte ich mit leichtem Bestürzen in der Stimme fest, als ich mit den streichelnden Bewegungen weiter nach hinten in den Bereich der Ohren und des Nackens gelangte, wo das Fell direkt an der Haut noch deutlich nass waren. Ich fragte nicht, warum er draußen vor dem Zelt geblieben war, da ich die Antwort wahrscheinlich bereits kannte, aber nun steckte er weiterhin in dem feuchten Fell und ich wunderte mich, ob es einen speziellen Grund für seine ausstehende Rückwandlung gab. „Fällt es dir schwerer, nach einer Vollmondnacht zurück in die menschliche Form zu gelangen?“, erkundigte ich mich nachdenklich, sah dabei zu, wie meine Finger immer wieder in dem strähnigen Schwarz verschwanden und auftauchten. Irgendwie hatte ich mit vielen gerechnet, sobald ich aus dem Zelt kam und mich der Realität stellte, nur auf eine Streicheleinheit hatte ich nicht getippt. Durfte ich dieses Zugeständnis als Friedensangebot werten und mich damit versöhnlicher stimmen, was im Grunde gar nicht notwendig wäre oder versuchte er die jüngsten Erfahrungen an den Wolf direkt mit neuen Erinnerungen zu überkleistern? „Ich würde gerne wissen, wie es dir geht.“ Eine subtile Bitte, in seine Gefühlswelt eintauchen und verstehen zu dürfen. Dabei war mir durchaus klar, dass mir die tierische Gestalt nur in eingeschränkter Weise antworten konnte und ich Isaac nicht drängen wollte, wenn es nun an ihm war, ein bisschen Zeit zu brauchen.
Ich ging schon die ganze Zeit über davon aus, dass der Engel eine kleine Weile brauchen würde, um den Vorfall letzter Nacht gänzlich hinter sich zu lassen - dass es eben nicht gut war. Es tat meinem angekratzten Gewissen dementsprechend sehr gut zu hören, dass Riccarda mir trotzdem noch vertraute und ich nicht zum wiederholten Mal sämtliche unserer erarbeiteten Werte in Grund und Boden gestampft hatte. Es ging mir besser mit diesem Wissen und ich fühlte mich zumindest ein bisschen weniger schlecht deshalb. Die Gewissensbisse verschwanden dadurch nicht gänzlich, aber das sollten sie auch nicht. Ich hatte es nüchtern betrachtet schon vorher besser gewusst und trotzdem zugelassen, dass der Engel sich der Gefahr dieses schwer berechenbaren Fluches aussetzte. Trotzdem ließ sich das vorübergehend ein wenig ausblenden, als die schmalen Finger schließlich in meinem Fell spürbar wurden und ich die Augen für ein paar Sekunden zumachte. Ich machte zwischendurch einen tieferen Atemzug, der wohl gleichermaßen aus Müdigkeit, wie aus Zufriedenheit und Erleichterung rührte. Ganz gleich wie angenehm die warmen Finger des Engels im leicht ausgekühlten Fell waren, die Müdigkeit konnte sie damit leider nicht einfach ausradieren. Da half nur Schlaf. Eine ganze Menge, auf jeden Fall mehr als meine gewöhnlichen sieben bis acht Stunden. Ja, ich hatte im Regen geschlafen. Das war dumm gewesen und hatte keinen anderen Zweck erfüllt, als dem Engel nahe zu sein. Als hätte ich mich tatsächlich davor gefürchtet, dass sie fluchtartig Reißaus nahm oder doch noch eine Bedrohung in einem der Büsche saß. Beides war denkbar unwahrscheinlich und trotzdem war ich klatschnass. Ihr diese Feststellung zu bestätigen war überflüssig, ihre nächste Frage hingegen berechtigt. In einem durchnässten Pelz zu stecken war schließlich auch nicht angenehmer, als in nassen Klamotten zu verweilen. Ich zog den Kopf nur langsam zurück, weil ich eigentlich nichts dagegen hätte weiter gekrault zu werden. Kommunikation war ohne menschliche Stimmbänder allerdings knifflig und sie wurde nicht leichter, wenn man den Kopf am Arm seines Gesprächspartners vergrub. Begleitet von einem kurzen Blickwechsel deutete ich ein Nicken an und unterstrich die Geste noch mit einem deutlich verlangsamten Blinzeln. Es war normalerweise schon mit etwas Nachdruck verbunden, sich nach dem Freilassen der Bestie bei Vollmond wieder zurück in den zweibeinigen Körper zu zwängen. Wenn, so wie in diesem Moment, noch zusätzlichen Bedenken hineinspielten, machte es das nicht einfacher. Es blieb aber dabei, dass ich nicht mit der zierlichen Blondine sprechen konnte, wenn ich im Pelz stecken blieb und ich konnte ihr schwer mit Pfoten schildern, was in mir vorging. Konnte ihr diese indirekte Frage also nicht beantworten, weil es keine Ja-oder-Nein-Frage war. Mehr als Nicken oder den Kopf zu schütteln war mir nicht vergönnt. Deshalb machte ich mich mit einem fast stummen Murren nun doch daran, die Pfoten wieder auf den aufgeweichten Boden zu stellen. Ich fühlte mich eingerostet, als ich auf allen Vieren stand. Meine Schultern waren steif und der Hintern war gefühlt eingeschlafen, was alles in allem sicher von der Nässe rührte. Trotzdem holte ich mir erst noch eine indirekte Streicheleinheit ab, indem ich meinen Kopf ein klein wenig an Riccardas Schulter rieb, bevor ich ein paar Schritte von ihr wegmachte. Dann schüttelte ich mich ausgiebig vom Kopf bis zur Schwanzspitze, um zumindest einen Teil der Regentropfen loszuwerden und wahrscheinlich hatte der Engel trotz der Distanz noch welche davon abbekommen. Ich hatte deswegen aber nicht extra bis zum anderen Ende der Lichtung laufen wollen und ein paar Tropfen hatten noch Niemanden umgebracht. Der zum Engel gewonnene Abstand war eigentlich groß genug und trotzdem zögerte ich einen Moment lang damit, die Verwandlung zu beginnen. Der Schmerz hatte sich unangenehm tief eingebrannt und ich brauchte einige Sekunden, um mir selbst den Kopf zu waschen. Ich hatte diese Verwandlung schon gefühlt eine Milliarde Mal hinter mich gebracht - ich würde es auch dieses Mal hinkriegen, die Bedenken waren unnötig. Meine Lider fielen und ich konzentrierte mich auf den Prozess, der sich schlussendlich tatsächlich etwas in die Länge zog. Ich zählte die Sekunden nicht, aber ich brauchte auf jeden Fall länger als damals kurz vor der Rafting-Tour, um meine menschliche Gestalt zurück zu erlangen. Dann saß ich da - mit leicht schmerzenden Knien im Dreck, der natürlich gleich fröhlich an mir kleben blieb. Einzelne Tropfen lösten sich aus meinen nassen Haarsträhnen, während ich die Hände mit nach vorn gekipptem Kopf auf die Oberschenkel stützte. Das hatte weh getan, ich war verflucht müde und fühlte mich, als wäre ich mindestens zehn Jahre gealtert. Kopfschmerzen hatte ich auch, was bei mir ein wirklich seltenes Phänomen war. "Scheiße. Es geht mir scheiße.", beantwortete ich die Frage der Blondine um die fünf Minuten verspätet mit leicht kratziger, kehliger Stimme. "Hast du'n Handtuch mitgenommen?" Es ging mir zwar zu großen Teilen auch wegen noch unausgesprochenen Worten nicht gut, aber nicht mehr nass zu sein würde allem voran mein körperliches Leid schon ein ganzes Stück lindern.
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Ein bisschen absurd, wie beruhigend das Streicheln eines Werwolfes auf mich wirkte. Unter anderen Umständen hätte ich ein herzliches Grinsen gezeigt und mich über dieses Privileg gefreut, aber Sorgen und düstere Gedanken überschatteten die Ehre. Obwohl ich Isaac nicht überdeutlich darauf hinweisen musste, war seine verregnete Wachschicht vor dem Zelt überflüssig gewesen und hatte sicherlich nicht zu seinem Wohlbefinden beigetragen. Ein klatschnasser Pelz am Leib… mich fröstelte es allein bei der Vorstellung und dank der extrem hohen Luftfeuchtigkeit trocknete man auch noch langsamer als ohnehin schon. Ein gutes Argument, um zurück in die menschliche Form zu wechseln, aber meine indirekte Bitte bezog sich doch primär auf die Fähigkeit, wieder menschlich (normal) mit Isaac zu kommunizieren. Kein vages Deuten und Raten, was mit seinen Blicken gemeint sein könnte. Immerhin verstand ich das Nicken, woraufhin ein erleichtertes Mini-Lächeln auf meinen Lippen erschien und ich mich ebenfalls instinktiv ein bisschen vor der imposanten Gestalt zurückzog. Ich wusste nicht, wie viel Platz diese Wandlung genau einverlangte, da ich in der nächtlichen Finsternis und mit der aufkommenden Panik an vieles gedacht hatte, nur nicht ans analytische Zuschauen. Zuerst erhob sich Isaac ohnehin steif und beinahe ungelenk. Die Müdigkeit und Erschöpfung zeichnete sich in jeder einzelnen, schleppenden Bewegung ab und verursachte eine Welle der Sorge bei mir. Was verlangte ihm dieser dämliche Vollmond eigentlich alles ab? Ich knirschte leicht mit den Zähnen, besann mich aber schnell wieder eines Besseren und ließ Isaac kommentarlos gewähren, als dieser seinen großen Kopf kurz an meiner Schulter rieb, ehe er sich nun seinerseits entfernte. Reflexartig hob ich beide Hände schützend vors Gesicht, obwohl nur Tropfen vom Regen wie Geschosse durch die Luft flogen und mich das bisschen Nass sicherlich keine Jahre meines Lebens kosten würde. Die Verwandlung an sich stellte nach wie vor ein ganz eigenes Mysterium für mich da, weshalb die Neugierde unverhohlen in meinen Augen aufblitzte, als ich dabei zusah, wie sich Isaac scheinbar in Position brachte. Doch es passierte nichts. Unsicherheit umspülte mein Denken, erneut geisterten Fragen durch meinen Kopf und verstummten erst, als Isaacs Augenlider zuklappten. Ich verhielt mich ganz still, wollte seine Konzentration nicht durch meine Anwesenheit stören und beobachtete nur, wie sich unter teils schnaufenden und ächzenden Lauten aus dem Wolf ein Mann formte. Diese Sache mit der Gestaltwandlung kam mir wie Segen und Fluch zugleich vor – anhand der offensichtlichen Erschöpfung momentan aber eher wie zweiteres. Die Stille zog sich, ich rührte mich immer noch nicht von meinem Plätzchen in sicherer Entfernung. Zwar redete ich mir ein, dass ich Isaac genug Luft zum Atmen lassen wollte, aber insgeheim scheute ich davor, den Anfang zu machen. Mit einem Wolf, der des Sprechens nicht fähig war, in Interaktion zu treten, erschien mir auf einmal leichter gewesen zu sein, als nun die Konfrontation gemeinsam mit Isaac über vergangene Nacht zu suchen. Isaac lieferte mir die erwartete Antwort und doch versetzte es mir erst jetzt einen Stich, nachdem ich die Worte tatsächlich aus seinem Mund vernommen hatte. Mitgefühl stieg in mir auf. Ich konnte zwar sein markantes Gesicht nicht erkennen, aber ich wusste mit Bestimmtheit, dass mir der zermarterte Ausdruck nicht gefallen würde und so huschte ich dankbar ins Zelt hinüber, als Isaac mich um ein Handtuch bat. Da ich mit keiner Badegelegenheit gerechnet hatte, erschien mir beim Packen ein kleines Handtuch zum Abtrocken von Gesicht und Händen zu reichen, welches ich schlussendlich gemeinsam mit trockener Kleidung mit hinaus nahm. Schweigend überreichte ich Isaac das gemusterte Tuch, behielt den Rest aber noch bei mir, weil ich die Klamotten kaum in den aufgeweichten Boden legen würde. Während sich der Dunkelhaarige daran machte, wieder halbwegs trocken zu werden, holte ich kurzerhand den klappbaren Campingtisch und wischte nach einem etwas ungeschickten Aufstellversuch mit meinem Pulloverärmel provisorisch über die von Regentropfen übersäte Tischplatte, um diese anschließend als Ablage für Isaacs Kleidung nutzen zu können. „Kann… kann ich sonst noch irgendetwas für dich tun?“ Eine dumme Frage, fiel mir auf, trotzdem wünschte ich mir, dass es Isaac besser ging. „Möchtest du etwas essen oder trinken… irgendetwas?“, wurde ich präziser, da mir schleierhaft war, inwiefern sich diese Verwandlung auch auf körperliche Bedürfnisse abseits von Erholung auswirkte. Und deshalb stand ich wie bestellt und nicht abgeholt mit dem unbändigen Gefühl, Isaac einfach ganz fest in den Arm nehmen zu müssen oder eher wollen, in der Gegend herum.
Es brauchte nicht mehr als die paar Worte, um ein Handtuch zu bekommen. Riccarda setzte sich sofort in Bewegung und kam meinem Wunsch ohne Kommentar nach, als wäre das ihr Job. Ein bisschen vielleicht, weil sie meine Ehefrau war - aber gewöhnlich hatten wir für sowas Personal. Sie tat das nicht, weil sie musste, sondern weil sie mir in diesem Moment gerne helfen wollte. Für mich war das nicht selbstverständlich und ich war ihr dankbar dafür, dass sie nicht stattdessen die verschreckte holde Maid spielte. Während sie weg war, erhob ich mich von den Knien und verzog dabei das angespannte Gesicht. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so kaputt gefühlt, weil meine wölfische Natur mich normalerweise gut vor körperlichen Einbußen schützte oder mich zumindest immer zügig davon erlöste. Der Wolf gab mir in diesem Moment also einen Wink mit dem Zaunpfahl - gib mir gefälligst was anderes als Mungos und salmonellenverseuchte Schlangen... und zwar Pronto! Als die schlanke junge Frau mit dem Handtuch und nicht angeforderten Klamotten zurückkam, versuchte ich ihr ein schmales Lächeln zukommen zu lassen, aber es wirkte zweifellos angestrengt. Ich nahm das Handtuch mit einen leisen "Danke." entgegen, bevor ich anfing mir allem voran das feuchte Gesicht und den nassen Nacken abzutrocknen. Meine Haare rubbelte ich nur flüchtig trocken, um das kleine bisschen Handtuch nicht schon völlig zu durchnässen. Das bisschen Stoff musste schließlich auch für den Rest meines Körpers reichen. Der Engel stand in der Zwischenzeit jedoch keineswegs still, sondern präsentierte mir die Klamotten auf dem provisorischen Tisch. Dicht gefolgt von einer Frage, über die ich kurz nachdenken musste. Mein Hals war etwas trocken, also wäre es sicher nicht verkehrt etwas zu trinken. Aber sonst? Allem voran brauchte ich Schlaf, dicht gefolgt von rohem Frischfleisch. Mein Hunger war so gut wie ungestillt und es würde meine Erholung vorwärts treiben. So sehr ich die Strände hier auf der Insel von Zeit zu Zeit genoss, so sehr wollte ich auch zurück auf heimischen Boden. Lieber ließ ich mich wieder vom einem Grizzly in seinem Revier zerkratzen, als weiterhin Zwangsdiät zu halten. "Was zu trinken… Wasser, bitte.", murmelte ich in ihre Richtung, bevor ich mich weiter dem Trocknungs- und Kleidungsprozess widmete. Es brauchte zwei oder drei Minuten, bis ich in den trockenen Klamotten war. Für das trockene Paar Ersatzschuhe musste ich kurz zum Wagen, den ich bei dieser Gelegenheit kurz inspizierte. Glücklicherweise hatten meine Zähne und Krallen Lack und Karosserie verschont, also ging ich von oben bis unten trocken verpackt wieder Riccarda entgegen. Mit einem dankbaren Nicken nahm ich die kleine Flasche Wasser entgegen und ölte meine Kehle ausgiebig, bevor ich den Deckel wieder draufschraubte. Auf das Trinken folgte ein kurzer, unangenehmer Moment den Schweigens. Das drückende Gefühl im Magen verstärkte sich und ich fragte mich, womit ich anfangen sollte. Mit einer Entschuldigung, mit einer Erklärung - aber worüber und in welcher Reihenfolge? Ich hatte noch nie einem Menschen erklären müssen, was in einer Nacht unter Vollmond genau mit mir passierte oder wie ich mich dabei fühlte. "Setzen wir uns..?" Ein Vorschlag als indirekte Frage formuliert, untermauert von einem ebenso fragenden Blick meinerseits. Der blonde Engel willigte ein und so gingen wir zum einstigen Lagerfeuer, in dessen Nähe noch die beiden Stühle herumstanden. Ich hatte das Handtuch noch in der Hand und wischte damit grob über beide Stühle, für das abschließende Trocknen mussten dann wieder die Ärmel herhalten. Ich war ausnahmsweise froh über den Pullover, auch wenn mir in ein paar Minuten zu warm damit werden würde. Das Sitzen allein löste allerdings nicht mein Problem mit der richtigen Wortwahl. Ich seufzte leise, hängte das nasse Handtuch über die linke Armlehne und lehnte mich vermehrt mit dem Ellbogen auf die rechte, bevor ich einfach drauf los redete. "Ich… ich bin blind, bei Vollmond. Die Reizüberflutung ist so schlimm, dass ich weder klar denken, noch mich aktiv erinnern kann. Die Geräusche und Gerüche erschlagen mich und das… macht mich unfassbar wütend. Unabhängig davon, dass der Vollmond mich insgesamt auch stärker macht. Meine Erinnerungen an diese Nächte sind immer etwas schwammig." Ich dachte laut und sortierte die Worte nicht, bevor ich sie aussprach. Es war eine milde Formulierung der Umstände bei Vollmond, aber es tat seine Zweck. "Es war gut, dass du geredet hast… und dass du stehen geblieben bist. Deine Stimme und dein Geruch haben mich abgehalten…", nannte ich Riccarda die ausschlaggebenden Punkte dafür, dass ich mich letzten Endes zumindest unterschwellig an sie erinnert hatte und sah dabei das erste Mal wieder in ihre Richtung. Sie sollte sich das merken, nur zur Sicherheit. Als ich zu noch mehr Worten ansetzte, senkte ich jedoch mit einem leichten Kopfschütteln erneut den Blick auf den Boden, um stattdessen meine Füßen zu sehen. "Ich hätte es besser wissen und dich von dieser Schnapsidee abhalten müssen... es ist meine Pflicht dich zu beschützen und ich hab dich mutwillig dieser Situation ausgesetzt." Vielleicht wäre es nicht so schief gelaufen, wenn der Engel nicht geblutet hätte. Sie wegen einem einzigen Tropfen Blut beinahe anzufallen, klang aber wie ein schlechter Scherz, obwohl ich darauf an Vollmond schlichtweg keinen Einfluss hatte. Trotzdem fühlte ich mich schlecht deshalb, der Beschützerinstinkt ließ nichts anderes zu. Ich hatte den normalerweise stummen Verhaltenskodex gebrochen.
◈ It's so hard to forget pain, but it's even harder to remember sweetness. We have no scar to show for happiness. ◈