Sein Blick bestätigte, was sie schon vor dem Spiegel festgestellt hatte: Sie sah noch immer scheisse aus. Ein bisschen sauberer - sofern man Tränen als schmutzig bezeichnen wollte - aber mehr dann auch nicht. Aryana seufzte innerlich, während sie sich darauf gefasst machte, einfach mit gesenktem Kopf bis zum Parkplatz zu sprinten in der Hoffnung, dass keiner ihr begegnete. Ryatt hatte scheinbar aber doch noch ein kleines Mittel zur Abhilfe zur Hand, wie er ihr bedeutete, als sie schon die Tür erreicht hatte. Sie blickte ihn fragend an, brauchte aber nicht lange zu warten, da streckte er ihr bereits die Cap entgegen. Aryana blickte einen Moment auf das Accessoire, bevor sie nickte und danach griff, um es sich über den Kopf zu ziehen. Ganz unauffällig war es jetzt auch nicht, wenn sie mit einer Cap über das Areal spazierte. Aber wenn sie den Kopf tief genug hielt, erkannte sie keiner, da ihr ganzes Outfit eigentlich unauffällig war. Und dann wäre ein suspektes Erscheinungsbild auch nicht mehr ihr Problem. Aryana nickte auch auf seine weiteren Worte nochmal langsam, auch wenn sie sicher nicht vorhatte, nochmal einen solchen Auftritt zu bieten. Von vorhaben konnte man heute jedoch auch kaum sprechen, also versprach sie mal lieber nicht, dass das nie wieder vorkam. "Danke... halt' fürs nächste Mal besser schonmal eine Skimaske ohne Augenaussparung bereit", kommentierte sie trocken, verzog ein bisschen das Gesicht im Versuch, sein Lächeln zu erwidern. Aber so ganz wollte das noch nicht reichen. War auch egal... "Machs gut", verabschiedete sie sich schliesslich endgültig, als sie den Türgriff fasste und nach einem letzten Blick in seine Richtung die Wohnungstür aufzog. Einen gründlichen Kontrollblick später trat sie auf den Flur hinaus, um dann mit raschem Gang und gesenktem Kopf nach draussen zu huschen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber die Sonne war schon weit hinter den Bäumen, die das Gelände umgaben, verschwunden und die Gebäude warfen lange Schatten. Irgendwas kurz vor 18:00 Uhr wahrscheinlich, wenn die Sonne definitiv untergehen würde. Wenn Mitch Feierabend hatte, wenn sie sich richtig erinnerte. Für einmal hoffte sie wirklich, dass er sich ein bisschen verspätete. Sich mit einem Kollegen verquatschte oder so, wie ihnen beiden das halt wirklich oft passierte, ha. ha. Sie hatte ihr Auto schnell da gefunden, wo sie es heute Morgen abgestellt hatte - immerhin keine Gedächtnislücke, das war schonmal was. Lag vielleicht auch einfach daran, dass sie immer hier parkten - möglichst nah am Tor, möglichst weit von jeglichen Easterlin-Gebäuden entfernt. Ein wirklich unnötiger Versuch, diesem Drecksladen hier früher zu entwischen, als Ryatt einen Plan für sie bereithielt. Aber heute war sie froh drum, dann konnte sie die kühle Luft noch ein paar Schritte länger auf ihr Gesicht wirken lassen. Und Mitch würde auch etwas länger brauchen, bis er bei ihr wäre. Und sie konnte sich etwas länger überlegen, ob sie auf der Beifahrerseite oder hinter dem Lenkrad einsteigen wollte. Wobei das ein verhältnismässig leichter Entscheid war gerade. Mitch sollte sich ruhig mit dem Verkehr beschäftigen auf dem Nachhauseweg und ganz sicher nicht zu viele Blicke in ihr Gesicht riskieren. Aryana entriegelte den Wagen und liess sich auf den Beifahrersitz sinken. Atmete tief durch und schob sich langsam die Cap vom Kopf. Dann riskierte sie einen Blick in den Spiegel der Sonnenblende... aber selbst bei dem nicht wirklich guten Licht liess sich schlecht übersehen, was Sache war. Sie klappte das Teil wieder hoch und sank mit einem resignierten Seufzen tiefer in den Sitz. Drehte die Cap in den Händen und versuchte, ihren Kopf zu ordnen, während sie darüber nachdachte, wie zur Hölle sie Mitch mit den Tatsachen konfrontieren sollte, die sie in diesen Zustand versetzt hatten.
Sie hatte sich schon fast auf die nächste Diskussion eingestellt, so wie er sie nach ihrer Aufforderung anschaute. Als würde er gerne auch das debattieren und ihr unmissverständlich klar machen, dass er am längeren Hebel sass, jetzt, wo sie die ganzen verhängnisvollen Laster erstmal ausgepackt hatte. Dass sie ihn nicht davon abhalten konnte, jegliche Infos brühwarm an Mitch weiterzugeben, wenn sie selbst sich nicht überwinden konnte, war eine Sache. Faye war eine ganz andere. Es würde nochmal ein bisschen mehr Sinn aus der ganzen verfluchten Rettungsaktion nehmen, wenn die Nachwirkungen nun neben Aryanas Suizidgedanken, Mitchs ebenfalls bescheidenem Seelenzustand und diesem ganzen Drama hier auch noch die Panik im Süden beinhalteten. Wahrscheinlich würde Faye sich umgehend in den nächsten Flieger setzen und morgen früh schon auf der Matte stehen, wenn sie davon erfuhr. Aber das würde nichts helfen, wäre nur ein weiterer Selbstvorwurf seitens Aryana. Das Gespräch mit Mitch war wirklich genug gefordert, mehr konnte sie in ihrem aktuellen Zustand nicht verkraften. Schon das war eigentlich zu viel, wenn sie ehrlich war, aber eine Wahl wurde ihr aus offensichtlichen Gründen von Zeitmangel und Dringlichkeit nicht gegeben. "Gut.", kam die nächste leise, einsilbige Antwort der Brünetten, die heute scheinbar nur vom einen ins andere Extrem switchen konnte, was ihren Redefluss betraf. Immerhin sagte der Klang ihrer Stimme etwas mehr aus, zeigte Ryatt deutlich die Erleichterung, die seine Zustimmung bei ihr auslöste. Damit war dann auch dieses Anliegen abgehakt und das Einzige, was ihrerseits noch nötig war, um diesen Raum zu verlassen, war ein irgendwie ansehnliches oder eher unauffälliges Gesicht. "Hast du vielleicht einen Waschlappen oder so..? Dann lass ich dich in Frieden", das für heute konnten sie sich beide still dazudenken. Und der Frieden würde sicherlich auch nicht mehr wirklich geniessbar sein nach diesem Gespräch. Aber immerhin befreite sie ihn zeitnah von ihrer kaum erträglichen Anwesenheit, wenn sie erstmal ihr Gesicht soweit möglich in Ordnung gebracht hatte. Dafür zog sie sich ins Bad zurück, nachdem Ryatt ihr den gewünschten Waschlappen in die Finger gedrückt hatte. Eigentlich wollte sie ihr Spiegelbild lieber gar nicht erst anschauen und als sie es dann zwangsläufig doch tat, wusste sie auch sehr genau warum. Sie sah genauso aus, wie sie sich fühlte. Inklusive roter Augen und Tränenspuren bis auf den Pulli. Glücklicherweise war der immerhin schwarz, sodass die feuchten Flecken nicht unnötig auffielen. Aryana riss sich möglichst rasch von dem Anblick los, weil sie vermeiden musste, zu tief in ihren dunklen Augen zu versinken. Sonst würden nämlich gleich die nächsten Sturzbäche folgen, sie spürte das Kratzen bereits im Hals. Die Brünette wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, versuchte mit dem Lappen noch ein bisschen nachzuhelfen mit der Kühlung der geschwollenen Haut unter ihren Augen. Jegliche Bemühungen wurden maximal halbherzig belohnt und als sie sicher zehn Minuten später das Bad wieder verliess, war der gefühlt einzige Gewinn, dass ihr Gesicht nun wenigstens trocken und die salzigen Spuren verschwunden waren. Sie blickte unsicher zu Ryatt, versuchte, sich nicht direkt - oder zumindest nicht zu offensichtlich - für diesen Gefühlsausbruch der Endstufe zu schämen und auch nicht darüber nachzudenken, ob sie das jetzt schon bereuen sollte. "Ich... ich werde dann wohl mal gehen... Und hoffen, dass ich keinem begegne bis zum Auto...", leitete sie mässig geschickt ihren Abgang ein. Bei der Tür blieb sie nochmal stehen. "Danke fürs Zuhören... und deine Bemühungen...", das mit dem Bedanken wurde langsam zur Gewohnheit. Aber jetzt wusste sie noch weniger als vorher, wie sie den Dank in Worte fassen sollte. Darum klang er letztendlich ein bisschen plump, unvollständig und wenig konkret. Vielleicht verstand Ryatt trotzdem, was sie meinte. Vielleicht nicht.
Immerhin sah er das auch ein. Brachte ihr herzlich wenig und war an sich auch nicht überraschend, Ryatt hatte im Gegensatz zu ihr ja keinen Mangel an Verstand bewiesen im Verlauf dieses Gesprächs. Somit maximal ein schwacher Trost. Auch Mitchs Chance, Fairness zu erfahren, war am Ende eben nur so gross wie ihre Kraft, sich zu einem Gespräch mit ihm zu überwinden. Natürlich stimmte auch der Rest von dem, was Ryatt ihr diesbezüglich sagte. Das hatte sie ja gerade schon selbst festgestellt. Dass das Ergebnis für Mitch nicht schlimmer sein würde, als wenn sie ohne ein entsprechendes Gespräch von der Klippe sprang. Der Unterschied existierte nur für sie. Und das war wiederum kein gutes Futter für ihr schlechtes Gewissen, das längst gemerkt hatte, dass sie ihrem Freund dieses Geständnis schuldig war. Nicht nur das Geständnis, sondern auch eine ausführliche Erklärung und dann vor allem auch den Versuch, sich gemeinsam mit ihm nochmal auf die Füsse oder zumindest auf die Knie zu rappeln. Das hing ja alles damit zusammen... Sie konnte ihm schlecht von suizidalen Absichten erzählen und dann einfach fröhlich so weiterleben, die drei Monate irgendwie rumkriegen und dann wars vorbei. Wenn er nicht am gleichen Punkt war wie sie oder sie ihm damit eine so grosse Last auflud, dass er dann ebenfalls endgültig nicht mehr konnte, dann würde er wenigstens eine einzige Chance wollen, sie vom Weiterleben zu überzeugen. So wie sie Ryatt gerade eine Chance in Form von drei Monaten für einen Plan zugesprochen hatte. Weil sie offenbar doch nicht so sehr sterben wollte, dass sie einfach, ohne ein Wort zu sagen, von einer Klippe hatte springen können. Ihrem scheinbar selbst komplett zerschellt nicht ganz verstummten Kämpferherz sei Dank. Lag wohl daran, dass sie ihr Leben damit verbracht hatte, zu kämpfen und immer wieder hoch zu kommen - das machte endgültiges Aufgeben scheinbar besonders schwierig. Ja, Mitch würde Fragen haben. In diesem Zustand war sie definitiv noch nie aus diesem Komplex gelatscht. Sie hatte sich hier auch noch nie so zerstört und verloren gefühlt. Und geheult hatte sie auf Easterlins Gelände auch noch nie. Konnte sie sich also auf ein möglicherweise dezent irritiertes Gesicht gefasst machen. Sie hatte diesen Nervenzusammenbruch ja selbst nicht geplant oder kommen sehen... Sonst wäre sie wahrscheinlich nicht direkt zu Ryatt gerannt. Jetzt wusste sie nicht mal mehr ob sie froh sein sollte, mit ihm gesprochen zu haben, oder ob sie alles davon sehr fest bereuen sollte... Das würde dann wohl die Zukunft zeigen. Ryatt war ihr jedenfalls eher nicht dankbar dafür, hergekommen zu sein. Sie schaute ihn einen Moment lang müde an, wie er ihr gegenüber sass, die Augen geschlossen hatte und fast genauso aufgeschmissen wirkte wie sie selbst sich fühlte. Das war dann wohl ihre Wirkung auf die Welt... Reizend. "Ok.", war ihre wenig silben- oder einfallsreiche Reaktion auf seine Worte. Vielleicht hatte sie langsam doch genug gesagt. Sie wusste ja, was sie jetzt zu tun hatte. Und Ryatt wusste auch, was er Dank ihr zu tun hatte. Was ausschlaggebend dafür war, dass sie nochmal einen Versuch wagte, die Tränen zu trocknen. Jetzt, wo vielleicht wenigstens vorübergehend alles gesagt war, was die Splitter ihres Herzens immer wieder in kleinere Bruchteile schlagen würde. Sie schwieg einen ziemlich langen Moment vor sich hin, wartete darauf, dass ihre Tränendrüsen die Memo bekamen und die jämmerliche Produktion einstellten. Dabei fiel ihr noch eine letzte Sache ein, die sie hier unbedingt klarstellen musste. "Kein Wort an Faye, okay? Auch nicht wenn sie dich fragt, wies uns geht. Das... das ist keine Info für sie. Schon gar nicht jetzt", bat sie Ryatt mit deutlichem Nachdruck. Falls sie in einigermassen regelmässigem Kontakt standen, fragte Faye bestimmt immer mal wieder bei Ryatt nach. Insbesondere dann, wenn Aryana selbst nicht wirklich überzeugend Auskunft gab. Aber während sie Ryatt schlecht daran hindern konnte, Mitch mit der Wahrheit zu konfrontieren, falls Aryana das nicht zeitnah selbst über die Bühne brachte, wollte sie doch unbedingt verhindern, dadurch Fayes Neustart im Süden zu behindern. Ihre Schwester musste da nicht reingezogen werden. Nicht, solange Aryana noch lebte, jedenfalls. Und danach sahs aktuell noch aus.
Wollen war eine ganz andere Hausnummer als Können. Ryatt sollte das doch wissen. Bloss weil sie mit Mitch am liebsten über alles reden wollte und die Vorstellung, nie wieder ein Geheimnis vor ihm zu haben, das über ein Geburtstagsgeschenk hinausging, in ihrem Kopf wirklich traumhaft war, hiess das noch lange nicht, dass sie ihm sagen konnte, dass sie am liebsten einfach tot wäre, weil sie die Kombination der ganzen Scheisse hier nicht mehr aushielt. Aber schön, wie immerhin einer hier im Raum diesbezüglich mit so viel Zuversicht ausgestattet war. Woher auch immer das kam... Als hätte er ihr gar nicht zugehört, die letzte jämmerliche halbe Stunde - oder wie lange auch immer sie schon hier vor sich hin jammerte - lang. Mit dem zweiten Satz kam er der Wahrheit schon näher. Sie hatte in der Tat Angst davor. Weil sie Mitch nicht noch mehr enttäuschen wollte, weil sie ihn nicht im Stich lassen wollte, weil sie nicht wissen wollte, was passierte, wenn er hörte, wie beschissen ihr Zustand war. Und am allermeisten aus dem Grund, dass sie riesige Angst davor hatte, dass Mitch dadurch auch aufgab. Sie hatten es in der Vergangenheit immer wieder irgendwie hoch geschafft. Aber in der Vergangenheit war es ihr - im Kopf - immer mindestens minimal besser gegangen als Mitch. Diese umgekehrte Version der Dinge hatten sie noch nicht durch und Aryana hätte sehr gut darauf verzichten können. Sie war sich sicher, dass Mitch wusste, dass es ihr beschissen ging. Das genaue Ausmass ihres nicht vorhandenen Seelenfriedens und Wohlbefindens hatten sie aber nie besprochen und hier konnte sie relativ schlecht einschätzen, inwiefern Mitch die Dimensionen erkannte. Besonders vor dem Hintergrund, dass er mit sich selbst aktuell mehr als genug zu tun hatte - war ja nicht so, als wäre es nur sie, die hier am Abgrund kratzte und mit dem Fuss immer mal wieder ein Steinchen in die Tiefe schubste. Sie waren beide hier. Aryana hatte aber vielleicht schon den Fuss über die Kante geschoben. Und war damit drauf und dran, Mitch den guten Grund, sich selbst die Kugel nicht zu geben mit einem grausamen Ruck zu entreissen. Das waren Fluch und Segen von symbiotischen Beziehungen... Das Schöne war, dass sie füreinander kämpfen, füreinander sterben würden, weil sie sich blind vertrauten und sich auf die Ewigkeit liebten. Das nicht so Schöne war, dass eine unsichtbare Kette sie miteinander verband und diese Kette nicht reissen würde, wenn Aryana sprang. Mitch würde direkt hinter ihr fallen. Darum war sie noch hier. Ryatt zeigte diese Zusammenhänge gerade sehr schön in Worten auf, aber Aryana hatte sie schon vorher gekannt. Sonst hätte sie längst weitaus mehr getan, als in Ryatts Zimmer zu marschieren und ihn um eine dämliche Telefonnummer zu bitten... um dann Rotz und Wasser heulend an seinem Tisch zu enden. Was nebenbei bemerkt auch nicht passiert wäre, wenn sie nicht offensichtlich einen Ausweg suchte, den sie längst kannte aber gekonnt ignoriert hatte. Die Brünette hatte all die Worte auf sich wirken lassen, ohne eine verbale Reaktion darauf zu zeigen. Ihr Gesicht und ihr Körper hatten trotzdem ausreichend berichtet, was sie von all dem hielt. So wie sie zusammengesunken auf dem Stuhl sass und immer weiter weinte, weil nichts hier den schnellen, möglichst schmerzlosen Abschluss versprach, den sie mit ihren nicht vorhandenen Kraftreserven noch gerade so hinkriegen würde. Ein Abschluss war es auch nicht, den Ryatt ihr zur Wahl stellte. Ein Blick, der perplexes Entsetzen und Ungläubigkeit widerspiegelte, schoss ihm entgegen, kaum hatte er das Ultimatum ausgesprochen und sie damit erneut dazu gebracht, die Augen von der Tischplatte zu lösen und direkt in sein Gesicht zu lenken. Sie blinzelte ein paar Mal, versuchte, den Tränenschleier soweit zu beseitigen, dass sie sich sicher sein konnte, dass er das ernst meinte. Aber seine Augen sagten sehr klar genau das. Was ein neues Gefühl in ihrem zerschellten Herzen triggerte - eines, welches sie heute Abend noch gar nicht gefühlt hatte. Betrug. "Nein.", ein einziges Wort tat ihren Unmut zu beiden Optionen deutlich genug kund. Natürlich wollte Ryatt nur das beste für sie, natürlich wäre es richtig, mit Mitch zu sprechen, natürlich verdiente Mitch die Wahrheit. Aber wenn sie es ihm nicht sagen konnte, dann sollte das sicher auch nicht Ryatt tun, was war das für eine Option?? Nach allem, was sie ihm heute schon gesagt hatte, glaubte er wirklich, dass sie noch mehr Druck und ein solches Ultimatum brauchte?? Sie hatte ihm schon die drei Monate gegeben, das war viel. Er sollte sich besser darauf konzentrieren, als ihr in ihre Beziehung reden zu wollen. "Du kannst nicht... Das ist nicht deine Sache, Ryatt", sie wusste gar nicht, was sie dazu sagen sollte, was sicher auch ihr Blick deutlich machte, der noch immer mehr überfordert und perplex als gefasst oder wütend oder sogar einverstanden wirkte. Sie konnte auch mit nichts mehr argumentieren, das ihren eigenen Verstand hervorhob oder Rationalität ihrerseits betonte - nicht nach allem, was sie gerade von sich gegeben hatte. "Und es ist auch nicht fair...", ihre Stimme wurde wieder zu einem weinerlichen Nuscheln, wie ihr bewusst wurde, dass sie ihm eigentlich nichts entgegenzusetzen hatte. Das mit dem unfairen Leben hatten sie schon durch. Also war das eigentlich auch kein Argument, vielleicht war es darum so leise gekommen. Sie musste also mit Mitch reden. Es war nicht so, als hätte sie noch Optionen. Sie musste nicht nur mit ihm reden, sondern all das, was sie hier so ungeplant deponiert hatte, nochmal durchkauen. In einer sehr viel schmerzhafteren Umgebung. Aryana schüttelte den Kopf, blickte Ryatt noch immer an, auch wenn sie sich unter diesem Bewusstsein nicht mehr so sehr auf sein Gesicht konzentrieren konnte. "Was, wenn es ihm genauso geht? Was, wenn ich ihm damit den letzten Strohhalm entreisse? Was, wenn ich damit nur... nur alles noch viel schlimmer mache?", es waren nicht wirklich Argumente. All das würde nämlich sowieso passieren, wenn sie sich endgültig ein Ende setzte. Der Unterschied war bloss, dass sie es selbst miterleben musste, wenn es im Gespräch mit Mitch passierte. Dass es sich aber - gemäss Ryatt - vielleicht noch aufhalten liess. Den Teil der Hoffnung, den sie nicht mehr wirklich hatte.
Er wollte nicht über den Verlust seiner damaligen Freundin sprechen. Sie hatte zwar auch keine Frage gestellt - weil sie auch nicht unbedingt über sie sprechen musste, da sie bereits mit genügend eigenen traurigen Gedanken gesegnet war - aber sein knappes Nicken war Botschaft genug. Darin waren sie sich also ähnlich. Ausser, dass Aryana sich gerade nicht wirklich so verhielt, als möchte sie tatsächlich nicht über die Tragödie, die ihr Leben aktuell darstellte, sprechen. Zumindest nicht so vehement wie das im Normalfall üblich war. Ihre Antworten kamen zögerlich und mühsam, aber sie verbot ihm nicht das Fragen und putzte ihn auch nicht giftig ab, was definitiv ungewöhnlich für sie war. Fast so ungewöhnlich wie die Tränen, die nicht wirklich ein Ende fanden. Es auch nicht zeitnah tun würden, wenn er weiter so mit ihr redete. Ihr sehr direkt und deutlich sagte, dass sie so nicht wieder hoch kam, dass sie sich selbst anstrengen musste, wenn sie nicht wollte, das sowohl sie als auch ihr Freund ein für alle Mal dem Untergang geweiht waren. Eigentlich wusste sie das. Sie fand nur die Kraft nicht mehr, um diese Anstrengung zu bewältigen. Und nein, natürlich würde sie Mitch nicht die gleichen Vorwürfe machen, wie sie sie sich selbst machte. Und natürlich würde Mitch ihr all die Dinge, mit denen sie sich selbst fertig machte und für die sie sich so hasste, nicht vorwerfen. Das war auch eine Sache, die sie schon durch hatten. Die sie immer wieder sah, wenn sie mit Mitch sprach oder er sie schon nur anschaute. Auch wenn sie oft genug danach gesucht hatte, war diese blanke Abscheu, die sie für sich selbst mittlerweile empfand, in seinen Augen nicht zu finden. Nicht, wenn er sie anschaute, mit ihr sprach, neben ihr im Bett lag. Aryana versuchte erneut zu schlucken, aber der erste unaufhaltsame Schluchzer war stärker und bahnte sich seinen schmerzhaften Weg ihre Kehle hoch. "Natürlich nicht... ich weiss das... Aber dadurch wird das schlechte Gewissen... doch nur noch schlimmer...", murmelte sie kraftlos, die Stirn noch immer auf ihre Handflächen gestützt. Sie wünschte, dieser Person gerecht werden zu können, die Mitch in ihr sah. Die Faye in ihr sah. Der Person, die sie sein sollte. Auf die ihre Eltern stolz wären. Die Frau, die war wie ihre Mutter, die sie aktuell gefühlt schmerzlicher vermisste als je zuvor. Aber es fühlte sich nicht so an, als könnte sie das noch. Sie war irgendwo ganz falsch abgezweigt und hatte sich seit da ungefähr zweihundert Mal verlaufen. Daran würde auch ein Gespräch mit Faye nichts ändern. Sie war trotzdem jetzt an diesem Punkt, trotzdem falsch abgebogen, trotzdem verirrt, trotzdem scheinbar hier bei Ryatt, weil sie mit Faye und Mitch nicht mehr reden konnte. Eigentlich war sie hier, weil sie etwas von ihm gewollt hatte... nicht fürs Reden. Aber auch das hatte sie nicht bekommen - aus gutem Grunde und wahrscheinlich zu erwarten. Dafür hatte sie dann geredet... Zu viel geredet sogar. So viel, dass sie jetzt heulte und Ryatt sich wohl sonst was dachte. Seine Schlussfolgerung war einleuchtend und zutreffend. Der Grund, warum sie eben doch hier sass, redete und weinte, stimmte. Wenn sie es so von ihm hörte, verstand sie das auch. Scheisse wars trotzdem. Scheisse war ausserdem, dass ihr Kopf so weh tat und ihre Seele noch mehr. Dass sie in all den Jahren nicht herausgefunden hatte, wie sie mit sich selbst fertig wurde. Wie sie das abschaltete, was sie sowohl chronisch als auch akut wahnsinnig machte. Sie hatte längst wieder innerlich den Faden verloren, als Ryatt ihr eine Frage stellte, die im ersten Moment sehr simpel klang. Wahrscheinlich der Grund, warum sie sie überhaupt wieder aus ihrem gedanklichen Wirrwarr herausholte - weil die fünf Worte so klangen, als wären sie leicht zu beantworten. Leicht. Etwas, was sonst gefühlt gar nichts gewesen war heute. "Weil Mitch länger arbeiten muss... seine Übung ist noch nicht fertig... er...", sie stockte. Hob den Blick von der Tischkante und liess ihre Hände sinken, um nun endlich wieder zu ihrem Gegenüber zu blicken. Das war nicht die Antwort, die er hatte hören wollen. Nicht die Frage, die er gestellt hatte. "Ich...", sie was? Warum war sie alleine hier? Er hatte es bereits gesagt. "Weil... weil ich etwas von dir wollte... weil... weil ich Mitch nicht gesagt habe... dass ich das will und... und weil ich es ihm auch nicht sagen wollte oder konnte...", das war der erste Teil der Antwort. Sie hob wieder das Taschentuch an, um sich die Nase zu putzen. Das sollte doch gegen die Tränen helfen... oder so. "Weil ich ihm aktuell sehr vieles nicht sagen kann... Keine Ahnung... weil ich offensichtlich... insgesamt nicht mehr kann", sie war sich nicht sicher, ob das die ganze Antwort war. Aber es war alles, was sie sagen konnte, bevor die Hand mit dem Taschentuch besiegt zurück auf die Tischplatte sank, weil die Tränen mal wieder haltlose Ausmasse annahmen.
Das war ein sehr diplomatischer Start zu einer Antwort, den er hier hinlegte. Sicher auch akkurat, denn alles, was die Psyche betraf, war immer individuell. Es gab nie Lösungen, die auf jede Person passten und darum war ihre Frage vielleicht auch nicht sinnvoll gewesen. Aber vielleicht konnte sie ja etwas aus seiner Antwort mitnehmen, das ihr dann helfen würde, doch nochmal die Kurve zu kriegen... wenn er wider Erwarten in drei Monaten einen Plan präsentierte und sie tatsächlich noch weiterleben musste. Sowohl sein einleitender Disclaimer als auch das, was er nach einem minimalen persönlichen Input sagte, klang, als würde es direkt einer Therapiesitzung entspringen. Zumindest stellte sie sich das so vor, mit Erfahrung konnte sie bekanntlich nicht punkten. Aber das erste war eine Info, die ihr eigentlich selbst schon klar gewesen war und das zweite war ein wenig hilfreicher Tipp, der zwar sinnvoll klang, aber zu dem sie einen sehr detaillierten Plan zur Umsetzung bräuchte, weil how the fuck sollte das bitte gehen? Den persönlichen Aspekt ausblenden? Seine Erfahrung stimmte wohl, das konnte nicht jeder Mensch. Und sie sah sich jetzt nicht unbedingt im Lager der Personen, die das konnten. Aber Ryatt war noch nicht fertig. Sie senkte fast unmittelbar den Blick, als er ihr direkt mehrere sehr persönliche Details und eine schmerzliche Erfahrung, die er scheinbar hatte machen müssen, zu Ohren kommen liess. Sie hatte das nicht gewusst. Faye hatte ihr nie davon erzählt und Ryatt sowieso nicht. Trotzdem war es letztendlich ein anderer Satz als den mit seiner verstorbenen Freundin, der auf das Karussell in ihrem Kopf aufsprang und seine Runden drehte. Er wollte Schuld daran sein, weil das einfacher zu akzeptieren war. Wollte sie - beziehungsweise ihr Unterbewusstsein - das auch? Seinen Wunsch nach Kontrolle konnte sie bestens nachvollziehen, weil sie den genauso hegte. Vielleicht war das eines ihrer Probleme. Aber sie sah sich nicht unbedingt in der Lage, hier irgendwas loszulassen. Zumal die Dinge, die sie zu kontrollieren geglaubt hatte, längst in der Vergangenheit lagen. In ihrem aktuellen Leben konnte sie Ryatts Hand schütteln - alles Bonn ihr durch die Finger und Kontrolle hatte sie schon lange keine mehr. Da war kein Plan mehr gegeben, keine Orientierung, zwar ein schwaches Ziel, aber das war so unerreichbar, dass sie es ebenfalls nicht unter Kontrolle hatte. Sie sich mittlerweile wies schien ein neues, einfacher zu erreichendes Ziel geschaffen hatte: Einfach zu sterben. Ob er Recht hatte mit der Vermutung, dass sie nicht schuld war an den Dingen, für die sie sich die Schuld gab, wusste sie nicht. Sie würden es auch nicht herausfinden, da sie dankend darauf verzichteten würde, hier irgendwelche Geschichten auszupacken. Sie war ja auch ohne entsprechende Erzählungen in dezent chaotischem Zustand. Der sicherlich nicht besser wurde, wenn Ryatt nun den Fokus auf Mitch lenkte und damit wahrscheinlich eher ungewollt den Finger in eine eh schon blutende Wunde drückte. Mitch war auch ein Grund für ihr schlechtes Gewissen. Sie hatten es fast geschafft, zumindest mental. Und dann dieser Totalabsturz... Aryana wollte eigentlich nicht mehr weinen. Ihr Verstand war nach und nach wieder aufgewacht und sie wusste, dass noch mehr Tränen dazu führen würden, dass ihr Gesicht auch in zwei Stunden noch entsprechend verräterisch aussehen würde. Aber leider waren ihr heute wies schien sogar in diesem Bereich jegliche Zügel aus der Hand geglitten. "Das... das mit deiner Freundin tut mir leid", das hatte sie noch sagen wollen, eigentlich schon vor fünf Minuten. Als Person mit zu viel Erfahrung, was den Verlust von Lieblingsmenschen anging, erschien es ihr wichtig, ihm das zu sagen, wenn er schon sowas mit ihr teilte. Es tat ihr immer leid, wenn jemand eine enge Bezugsperson oder Angehörige verlor und ihr Herz fühlte immer ein bisschen zu stark mit. Auch wenn das mit dem ganzen Rest aktuell vielleicht nicht mehr viel ausmachte. Dass sie versuchen würde, sich seinen Rat zu Herzen zu nehmen, erwähnte sie an dieser Stelle nicht explizit, weil ihr Kopf eben schon bei Mitch hing. Wobei sie Ryatts Frage hier nur mit einem traurigen, schwerfälligen Nicken bestätigen konnte. Vor drei Monaten hatten sie noch versucht, viel darüber zu reden, um die Dämonen nochmal loszuwerden. Hatte nicht so nachhaltig funktioniert, weshalb auch diese anstrengenden, schmerzhaften Gespräche weniger geworden waren. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, wenn sie beide doch bereits so genau zu wissen glaubten, womit der andere kämpfte. Aber ja, sie war sich ziemlich sicher, dass Mitch mit sich weiterhin mit den mehr oder weniger gleichen Fragen quälte wie sie. Einzig das Ausmass konnte sie nicht mehr so genau einschätzen, war sich nicht sicher, ob er schon genauso weit war wie sie. Vielleicht, weil sie Angst vor der Wahrheit hatte. Vielleicht, weil sie nicht ertragen konnte, darüber zu reden. Vielleicht, weil sie ihn nicht damit belasten wollte, wie schlecht es diesmal wirklich um sie stand. Der gleiche Weg wie letztes Mal schien damit eher schwer zugänglich... "Das letzte Mal... sind wir fast gestorben... womit ihm bewusst wurde, dass er das eigentlich nicht will... Und dann haben wir sehr viel geredet... er hat... Frieden mit seiner Vergangenheit geschlossen...", mehr brauchte sie nicht zu erklären, die Tränen waren so schon unhaltbar genug. Dass ein Besuch bei Jetman und eine Psychotherapie für den Frieden nötig gewesen waren, sah sie nicht unbedingt als relevant. Das war bereits in den Teil mit der Vergangenheit gepackt. Beides würde diesmal kaum helfen. "Ich... ich seh' uns da leider diesmal nicht so... selber rauskriechen... dafür sind wir gemeinsam zu tief gefallen... und ich glaube nicht, dass... dass einer von uns die Kraft hat... beide zu tragen", weder die Kraft, noch die Möglichkeit, fügte sie gedanklich an. Aussprechen tat sie auch das nicht, weil der Kloss in ihrem Hals zu dick wurde und sie befürchtete, gleich auch noch mit hoffnungslosem Schluchzen anzufangen. Das konnte sie nicht bringen, sie sollte doch aufhören zu weinen und nicht alles nur noch schlimmer machen. Dafür war der Gedanke, Mitch im Stich zu lassen, viel zu schrecklich. Das Gefühl, so kurz vor dem Ziel gewesen zu sein, nur um dann zu merken, dass sie einer Fata Morgana gefolgt waren. Aryana stützte die Ellbogen auf den Tisch, um das verheulte Gesicht in ihre Hände sinken zu lassen. Eigentlich sollte sie gehen. Offensichtlich war alles, was sie hier zustande brachte, noch einen weiteren Menschen tiefer in den Sumpf zu reissen.
Da musste sie ausnahmsweise nicht drüber nachdenken als wäre das aktuell irgendwie produktiv, sondern konnte getrost direkt bestätigend nicken. Sie würde mit Mitch reden und Ryatt hätte schätzungsweise spätestens morgen seine Antwort. Auch wenn sie sich gleich sehr gut überlegen musste, wie sie Mitch denn überhaupt erklären sollte, dass sie bei Ryatt gewesen war. Und warum. Sie hatten ehrlich zueinander sein wollen, hatten das oft genug zusammen besprochen... aber in diesem Fall war sie sich wirklich nicht sicher, ob Ehrlichkeit der richtige Weg war. Ein weiteres Problem für später. Dass die Sache mit dem Morden kein exklusives Aryana-Problem, sondern eher ein weit verbreitetes Berufsmörder-Problem war, wusste sie eigentlich. Sie hatte jetzt nicht unbedingt damit gerechnet, dass Ryatt ihr hier zugestehen würde, einmal an einer ähnlichen Stelle gestanden zu haben, aber überraschend war die Information kaum. Sie hatte es so oft gesehen, damals in Syrien. Hier tatsächlich noch nie, was jedoch sicher auch damit zusammenhing, dass sie hier mit so gut wie niemandem befreundet war. Mit maximal einer Handvoll Personen je auch nur einigermassen persönlich gesprochen hatte - Mitch und Ryatt inklusive. Und das wäre Voraussetzung dafür, sowas zu erfahren. Aber von Zusammenhalt und Teamgeist fehlten in Easterlins Army weitgehend jede Spur... oder sie hatte sie noch nicht gefunden, weil sie sich bewusst abkapselte und mit niemandem nichts zu tun haben wollte. Trotzdem verzichtete sie erneut erstmal auf eine Antwort, weil ihr sowieso keine schönen Worte einfallen wollten. Weil es zu diesen ganzen Tragödien, die sich Krieg und ähnliche menschliche Abgründe schimpften, viel zu viel und doch auch einfach nichts zu sagen gab. Besonders nicht für sie, die mit Worten oft nicht genau das ausdrücken konnte, was es wirklich zu sagen gab. Und besonders nicht jetzt, wo diese begrenzte Begabung sowieso komplett den Bach runter gegangen war. Eigentlich hatte sie jetzt, nach diesem ganzen glamourösen Auftritt mit - zumindest gemäss ihrem Bewusstsein - absolut nicht dem geplanten Ausgang, gehen wollen. Aber Ryatt forderte sie auf, sich zu setzen und ihre langsam wieder aufwachenden Hirnzellen konnten sich nach ein paar Sekunden ausrechnen, dass das vielleicht besser war. Vor allem weil sie möglicherweise nicht gut genug aussah und zu stark durch den Wind war, um das Risiko, hier auf dem Flur irgendwem zu begegnen, eingehen zu wollen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit schon vergangen war, aber Mitch war wahrscheinlich auch noch nicht fertig, weshalb die weitere Verzögerung keine Rolle spielte. Somit folgte sie Ryatts Rat, stiess sich nach einem bemüht tiefen Atemzug von der Tür ab und ging zum Esstisch, wo sie sich schwerfällig auf einem der beiden Stühle niederliess. Mit einem leisen "Danke" nahm sie das Wasserglas entgegen, führte es mit einer mechanischen Handbewegung an den Mund, um davon zu trinken, obwohl sie sich nicht durstig fühlte. Jedenfalls nicht durstig nach Wasser. Ryatt schloss mit einer Packung Taschentücher zu ihr auf und auch hier waren es mehr irgendwelche Automatismen, denen sie folgte, als sie das Glas abstellte, um stattdessen ein Taschentuch aus der Packung zu kramen und sich damit die Nase zu putzen und die Augenwinkel zu trocknen. In der wagen Hoffnung, der Gefühlsausbruch fand hier sein Ende... die aber gleich wieder zunichte gemacht wurde, als Ryatt ihr sagte, was sie eigentlich bereits wusste: Dass Aufträge ohne Mord bei diesem Arbeitgeber Wunschdenken waren. Ungeachtet seiner restlichen Worten verlieh diese Information ihren Tränendrüsen gleich wieder ein bisschen Aufschwung. "Ich... ich weiss... Das... das wäre schon gut... danke", nuschelte sie schlecht verständlich ins Taschentuch, auch wenn es natürlich nicht gut war und sie sich hier ziemlich out of character bereits zum dritten Mal in sehr wenigen Sätzen bedankte. Vielleicht hätte sie das gar nicht erst aussprechen sollen. Sie konnte beinahe spüren, wie ihr Widerstreben, zu töten, mit jedem Wort grösser wurde. Jetzt, wo sie es so deklariert hatte. Aber es war zu früh. Sie war hier noch nicht raus. Aryana versuchte erneut, durchzuatmen, ihr Herz, ihre Atmung und den Sturm in ihrer Seele zu beruhigen. Es brauchte auch diesmal einen Moment der Stille, bis sie sich für die nächsten Worte aufraffen konnte. "Geht... geht das wieder weg..? Irgendwann? Wie lernt man, damit zu leben, wenn es Dinge sind, die mit nichts je wieder gut gemacht werden können?", sie stellte ihm heute Fragen, als wäre er ein Hellseher oder ein allwissender Guru. Was sie sonst nie tun würde, aber was hatte das heute schon zu bedeuten? Er hatte gesagt, dass er ähnliche Gefühle kannte, also konnte er ihr vielleicht auch beantworten, worauf sie sich einstellen musste, sollte sie wider Erwarten doch noch mehr als drei Monate diesen Planeten schädigen. Vielleicht war er auch die falsche Anlaufstelle für solche Tipps, wenn sie sich seinen Lebenslauf ins Gedächtnis rufen würde. Vielleicht aber auch genau die Richtige, weil er daraus Dinge gelernt hatte, die sie vor dem ein oder anderen Sturz in den Dreck bewahren könnte.
Sie hatte das alles eigentlich nicht gesagt, um von ihm Mitleid in irgendeiner Form einzuholen. Alles, was sie sagte, führte eigentlich deutlich aus, dass sie kein Mitleid wollte. Dass sie zwar fertig mit der Welt war, aber dafür niemand anderes als sich selbst verantwortlich machte. Aber Ryatt schien - einmal mehr - nicht ganz einig mit ihr zu sein. Auch wenn es sich diesmal deutlich anders ausdrückte als bisher. Er kam auf sie zu und blieb stehen. Sie konnte ihn vor sich sehen. Noch bevor sie seine Hände an ihren Schultern spürte und er sie ausdrücklich darum bat, nicht nur zuzuhören, sondern ihn auch anzuschauen. Sie blinzelte nach ein paar Sekunden Verzögerung schwer, um die eigentlich lästigen Tränen, die ihr heute scheinbar ausnahmsweise ziemlich egal waren, aus dem Weg zu bekommen und seinen Blick bewusst zu erwidern. Was plötzlich nicht mehr so leicht war, als er zu sprechen begann. Worte von sich gab, die sie so gar nicht erwartet hätte. Nicht nur weil er ihr damit deutlich vor Augen führte, dass sie ihn scheinbar zu Unrecht in mehreren Bereichen falsch eingeschätzt hatte, obwohl sie im Normalfall über eine relativ verlässliche Menschenkenntnis verfügte. Sie hatte nicht erwartet, dass sie ihm jemals so gegenüberstehen würde. Aber sie hätte auch nicht erwartet, dass er so reagierte würde, wenn der entsprechende Fall nun eben doch eingetroffen war. Er redete ziemlich viel auf sie ein. Das meiste verstand sie auch. Bis sie sich ein bisschen an dem Teil mit dem verdienen von Fair und den reinen, ehrlichen Herzen aufhängte, weil sie ihm hier selbstredend eher nicht zustimmen konnte. Sich sofort fragte, woher er das wissen wollte, wie er sich dieser Sache so sicher sein konnte und was das überhaupt bedeuten sollte. Wenn sie gerade nicht so verloren wäre, würde sie sich sicher daran erinnern, dass sie so ähnlich auch schon mit Mitch gesprochen hatte. Dass sie ihrem Freund auch schon tausend Mal gesagt hatte, dass er ein guter Mensch mit einem guten Herzen war, egal wie weniger er das glauben konnte. Aber diese Parallele wollte ihr in diesem Moment nicht auffallen - vielleicht irgendwann später, denn dass das, was Ryatt ihr hier eintrichterte, ihr noch viel Stoff zum Grübeln lieferte, war schwer zu erwarten. Schon nur weil er so eindringlich auf sie einredete. Trotzdem schwieg sie erstmal, als er geschlossen hatte. Blickte ihn an und zeigte leicht verzögert ein schwerfälliges Nicken, weil ihr auffiel, dass sie noch keine Antwort bereithielt. Dem Nicken folgte irgendwann ein zweites leises "Danke", bevor sie die Nase hochzog und erneut ein paar Mal blinzelte, um die Tränen aus dem direkten Blickfeld zu wischen. "Ich... ich muss Mitch fragen... Vielleicht wären ein paar Tage Pause... ganz gut", bemühte sie sich, eine konstruktive Antwort auf seine indirekte Frage zusammen zusetzen. Zu viel Freizeit konnte natürlich auch nach hinten losgehen. Sie sah sich zum aktuellen Zeitpunkt eher nicht in der Lage, dann wirklich den Arsch hochzukriegen, um Ausflüge zu planen und zu unternehmen. Und zuhause bestand immer das sehr hohe Risiko, dass sie zu tief in ihrem Kopf versank und sich immer weiter selbst zerfetzte, bis nichts mehr von ihrer Vernunft übrig blieb. Trotzdem. In diesem Zustand zu kämpfen und Einsätze zu absolvieren, war natürlich auch brandgefährlich. Sie wusste nicht wie, aber hatte es bisher irgendwie geschafft. Das war jedoch keine Garantie dafür, dass sie weiter so viel Glück hatte und auf ihren Verstand konnte sie offensichtlich nicht mehr jederzeit vertrauen. "Und... und wenns irgendwie geht... Einsätze, die nicht... die nicht so viel Mord fordern... falls das möglich ist...", folgte die zweite zögerliche Bitte, die sie an niemand anderen als ihn richten konnte. "Es wird immer schwieriger, weisst du..? Abzudrücken, wenn ich genau weiss, dass ich treffen werde... Man könnte meinen, es würde keine Rolle mehr spielen, weil ichs schon so oft getan habe... Aber die Schüsse, die ich heute setze, dienen nicht mehr der reinen Verteidigung, wie das damals der Fall gewesen ist... als ich noch ganz naiv geglaubt habe, meinem Land irgendwas... schuldig zu sein... Und das... Ich kann das nicht mehr.", versuchte sie die Gründe etwas auszuführen, damit er verstand, was ihr Anliegen war. Bezahlte das selbstverständlich mit einem Schwall neuer Tränen, der sie nun doch dazu zwang, einen Moment die Augen zu zu drücken, als würde das dem Schmerz entgegenwirken, der durch die Gedanken allein schon viel zu pochend provoziert wurde. Nüchtern betrachtet war es eine Frage der Zeit, bis sie irgendwann in einer entscheidenden Situation plötzlich nicht mehr abdrückte. Oder willentlich daneben zielte. Beides war in ihrem Job mit ihrer Funktion ähnlich lebensgefährlich wie ein Sprung von der Brücke.
Das konnte sie so unterschreiben, ja. Aber sie war sich trotzdem sicher, dass sie sich hier drin noch ein bisschen beschissener fühlen würde. Wobei... fraglich, ob da noch eine Steigerung - beziehungsweise ein Abfall - drinlag. Nichtsdestotrotz war es sinnlos, sie von einem Umzug überzeugen zu wollen. Offensichtlich wollte sie aktuell lieber sterben als einen Umzug planen. Da war die Mühe nicht mehr sonderlich sinnvoll. Hinzu kam, dass sie ja dann, wenn ihre Karriere hier rein hypothetisch tatsächlich ein zeitnahes Ende fand, unmittelbar obdachlos wären. Ebenfalls ungünstig. Also ganz gut, dass Ryatt keine weiteren Anläufe nahm, sie diesbezüglich umstimmen zu wollen. Sein Bedürfnis, ihre nächste Frage zu beantworten, war allerdings ungefähr in gleichem Ausmass nicht vorhanden, so wie er sie anschaute und einen Satz anfing, der kein Ende verdiente. Ja, doch, irgendwie konnte sie offenbar schon. Auch wenn seine Reaktion sie doch darauf aufmerksam zu machen vermochte, dass das in der Tat eine unmögliche Forderung gewesen war. Die nun aber im Raum stand und sie machte keine Anstalten, zurückzurudern, blickte ihn nur die ganze Zeit weiter an und wartete. Langsam wieder in sich oder hinter ihm oder irgendwo sonst im Universum verschwindend. Ryatt wirkte überfordert, verzweifelt. Zwei Gefühle, die sie mittlerweile ganz schön gut kannte und darum sofort identifizieren konnte. Trotzdem rückte er mit einer Frist raus. Einer langen Frist... Sechs Monate war doppelt so lange, wie sie bisher schon durchgehalten hatten. Sah sie sich so lange noch kämpfen? So lange noch fremde Leute abknallen? So lange noch den Wahnsinn in ihrem Kopf bändigen, bevor er nicht mehr nur in kurzen Momenten wie diesem hier Überhand gewann? Nein. Sie wollte ein minimales Kopfschütteln andeuten, aber scheinbar brauchte er das gar nicht mehr. Drei Monate. Immer noch zu lange. Aber sie war gerade noch genug bei sich selbst, um zu wissen, dass sie ihm mit allem darunter gar keine Chance liess, zu gewinnen. Ihm und damit Faye und Mitch und Victor... und sich selbst. Drei Monate bis zu einem Plan. "Okay.", ihr Einverständnis kam heiser, fast tonlos über ihre Lippen, während sie ihn erneut klarer ins Auge fasste und offensichtlich versuchte, sich nochmal zu konzentrieren. War schwierig. Denn da kam ein neues Gefühl dazu, eines, dass sie lange nicht mehr empfunden hatte und das in dieser Form sehr überwältigend war. Drei Monate waren lang. Waren schwierig. Waren hart. Aber es war ein Plan. Es war Erleichterung. Es waren die letzten drei Monate und dann kam das Ende. Wie dieses aussehen würde, war noch unklar, aber es würde eine Erlösung sein. Ein ersticktes Geräusch zwischen Schluckauf und Schluchzen kroch ihre Kehle hoch. "Danke.", das Wort kam nicht lauter als das Letzte. Und wahrscheinlich wollte Ryatt das auch nicht hören. Es war nicht das, wofür sie hergekommen war, was er ihr gegeben hatte... Aber vielleicht war es sogar besser. Wieder tropfte eine Träne von ihrer Wange, diesmal kam sie aber nicht ganz allein. "Ich...", sie schluckte tonlos, weil ihre Stimme komplett verschwinden wollte. "Ich weiss... dass das unfair ist. Und es ist nicht deine Schuld... Wenn... wenn du das in drei Monaten nicht schaffst oder... wenn ich früher nicht mehr kann... Dann ist das nicht... dein Fehler... das, was in der Lagerhalle passiert ist... das war nur... der Tropfen... oder die Regenschauer... die das Fass zum Überlaufen gebracht hat... Es war schon vorher fast voll. Und all das andere Wasser da drin... war immer meine Schuld. Also bitte... nimm das nicht zu persönlich...", bisschen zu spät, um zurückzurudern, nachdem sie vorhin konsequent alles in seine Schuhe geschoben hatte. Aber vielleicht war durch die Deadline, an die sie sich nun klammern konnte, wieder ein bisschen Gehirnkapazität freigeworden. Vielleicht tat er ihr ein bisschen leid. Vielleicht meldete sich ihr tonnenschweres Gewissen, das scheinbar noch ein bisschen mehr Ballast suchte. Etwas mehr Gewicht, mit dem sie sich in drei Monaten in die Tiefe stürzen konnte. Ein bisschen ironisch war es ja schon, dass sie im Prinzip die gleiche Strategie verfolgte, wie ihre Schwester es vor ziemlich genau zweieinhalb Jahren getan hatte. Faye hatte sich einen Monat gegeben, um wieder auf den grünen Pfad zurück zu finden. Aryana gab Ryatt drei, um sie aus dem grössten kombinierten, mitunter selbstverschuldeten Elend ihres Lebens zu lotsen oder zumindest einen Plan aus dem Labyrinth bereitzulegen. Faye hatte es damals keinem gesagt. Aber Aryana war über dem Punkt hinaus, an dem sie den Weg alleine noch hätte finden können. Also ging's an Ryatts Rettungsleine aus diesem Loch hinaus... Oder eben gar nicht mehr.
Jaaa was für eine wundervolle Idee. Würde sie doch nur mit Mitch hierher ziehen. Sie würden sich bestimmt super fühlen. Sehr sicher und geborgen und vor allem zuhause. "Super Idee. Ich bin mir sicher, dass wir uns hier drin viel besser fühlen würden als draussen. Der Schutz dieser heimatlichen Mauern, die Nähe zur geliebten Arbeit, das Wissen, dass das Arschloch uns noch ein bisschen besser überwachen kann... Ich kanns Mitch gerne mal vorschlagen, er wird begeistert sein.", kam die matte Antwort auf seinen tollen Vorschlag. Wenn sie den Nutzen der dazugewonnenen Sicherheit gegen die Kosten des fehlenden Abstandes abwägte, war die Rechnung leider eindeutig: Die Zimmer hier waren keine Option, auch nicht für kurze Zeit. Vielleicht fürchtete sie sich dafür doch zu wenig vor einer Rache durch die Hernandez. Vielleicht war diese Angst auch einfach nicht der Hauptgrund dafür, dass sie diese Idioten so gerne nochmal besuchen wollte. Vielleicht wollte sie primär auch einfach sterben und suchte einen etwas weniger offensichtlichen Weg zum Suizid als einen Schuss in den Kopf. Nur machte Ryatt gerade sehr offen klar, dass er nicht wollte, dass sie ihr herbeigesehntes Ende beschleunigte. Wahrscheinlich wegen Faye. Weil er - genau wie sie eigentlich - wusste, dass es ihrer kleinen Schwester das Herz in tausend Stücke brechen würde. Jedenfalls sah sie nicht viele andere Gründ für Ryatt, sie hier umstimmen zu wollen. Bis auf sein eigenes Gewissen, ironischerweise. Das, was sie dazu trieb, endlich den ewigen Frieden für ihre Seele zu forcieren, bewegte ihn dazu, sie davon abhalten zu wollen. Aber sie war ihm das nicht schuldig. Ihm nicht... Seine Antwort überraschte sie nicht. Sie hätte wohl müde gelächelt und so ein unausgesprochenes War ja klar zum Ausdruck gebracht, wenn sie den Nerv, die Energie und die Konzentration dazu gefunden hätte. Keine Zeitspanne, kein Plan. Aber Ansätze..? Wieder schien sich ihr Blick kurz zurück aus der Unendlichkeit auf ihn zu fokussieren. Sie musterte sein Gesicht, als würde sie darin Aufschluss finden, ob er die Wahrheit sagte oder nur ihre Nerven beruhigen wollte. Aber sie wusste es nicht. Er legte sich ja auch kaum fest. Somit waren es letztendlich nur zwei Worte, die über ihre Lippen kamen und nachdrücklich eine konkrete Antwort verlangten: "Wie lange?" Das hatte sie schon vorhin gefragt, als sie sich nach dem zeitlichen Horizont erkundigt hatte. Und er hatte ihr gerade schon beantwortet, dass er ihr diese Zeitspanne nicht nennen konnte. Aber wenn er wollte, dass sie und Mitch noch ein bisschen durchhielten, brauchte sie ein - irgendwie in Reichweite liegendes - Ziel. Eine Deadline, bei deren Überschreiten sie von der Brücke springen konnte. Das baute übel viel Druck für Ryatt auf - wenn sie denken könnte, würde ihr das auffallen. Tat es aber nicht. Darum brauchte sie eine Antwort. Weil das hier nicht die schlimmste Tortur war, sondern die Hölle. Weil sie das nicht mehr konnte. Weil sie nicht nur die Nerven, sondern auch den Willen verloren hatte und sich an irgendwas klammern musste, wenn sie wirklich nochmal durchhalten sollte. Und wenn es nur ein zeitliches Versprechen war, dass er ihr geben konnte und von dem niemand wirklich wusste, ob er es einhalten würde, dann war das halt so.
Aryana zog schwach die Augenbrauen hoch, als sie sein Geständnis zu hören bekam, das irgendwie schwer nachzuvollziehen war. Aber sie brauchte nicht nach den Gründen zu fragen, er führte sie wenig später nämlich schon ohne Aufforderung genauer aus. Zuerst erklärte er jedoch noch einmal, warum das ein Selbstmordkommando war... wobei seine Begründung jetzt nicht unbedingt dazu führte, dass sie weniger den Wunsch verspürte, die Hernandez nochmal aufzusuchen. "Wenn sie so gefährlich sind und so sehr auf Rache aus sind, dann sind wir auch jetzt nicht sicher. Dann spielt es kaum eine Rolle, ob ich sie nochmal besuche oder nicht.", deutete sie trocken mit dem Finger auf einen vermeintlichen Widerspruch in seinen Worten, ohne Anzeichen dafür, den Rest wirklich wahrgenommen oder gar verstanden zu haben. Wie gesagt, sie wusste ja eigentlich, dass die Aktion bescheuert und brandgefährlich war. Es interessierte sie nur nicht mehr so sehr, wie es sie interessieren sollte. Die Alarmglocken waren gestorben. Aryanas Blick lag zwar noch in seinen Augen, schien sich jedoch längst irgendwo weit hinter ihm verloren zu haben, als er nun seinerseits damit anfing, die Schuld-Karte gegen sie auszuspielen. Im Gegensatz zu ihm hatte sie den Fehler nur noch nicht begangen, der dann dazu führen würde, dass sie die dargestellte Schuld am Verderben von Faye, Mitch und Ryatt trug. Und Victor natürlich auch, der Vollständigkeit halber sollte man den netten Mann besser nicht vergessen. Wer hätte das gedacht? Dass es am Ende ausgerechnet sie sein würde, die diese Karre an die Wand fuhr? Die Karten hatten immer ziemlich eindeutig für Mitch oder Faye gesprochen... Mitch war auch in keinem guten Zustand zum aktuellen Zeitpunkt... Aber vielleicht würde er es nochmal schaffen. Faye würde hoffentlich diesmal die Finger von irgendwelchen Kleinkriminellen lassen können, dann sprach nichts mehr gegen eine glückliche Zukunft für sie und Victor. Victor baute sich sein nettes Business auf, der war sowieso nicht das Problem, wenn er nicht gerade etwas zu lange sehr viel Abstand brauchte. Und sie? Stand hier in Ryatts Zimmer und verlor die Nerven, bettelte ihn an, dass er ihr den Schlüssel zu ihrem Sarg liefert, damit sie endlich. ihre. Ruhe. hatte. Ihr Herz endlich verstummte. Ihr Gewissen endlich starb. Sie endlich nicht mehr töten und verletzen und stehlen und lügen und betrügen musste. Sie endlich damit aufhören konnte, diesen menschlichen Abschaum zu verkörpern, zu dem sie im Laufe der Jahre schleichend geworden war. Erst ein paar Sekunden nachdem Ryatt das Thema gewechselt hatte und verkündete, an ihrem Fluchtplan zu arbeiten, klarte ihr Blick nochmal auf und sie schien ihn tatsächlich wieder anzuschauen, statt nur durch ihn hindurch zu starren. Aus ihrem linken Augenwinkel löste sich eine einzelne Träne, die ohne Vorwarnung über ihre Wange kullerte und zu Boden tropfte. Aryana schien sie gar nicht zu bemerken. "Achja? Hast du denn schon einen Plan? Einen zeitlichen Horizont? Oder bist du genauso weit wie ich und Mitch nach bald zwei Jahren? Weil dann mach ich mir nicht so Sorgen um das, was ich dir kaputtmachen könnte.", fragte sie, wobei ihre Tonlage kaum Hoffnung beinhaltete. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ryatt weitergekommen war mit einem Plan als sie und Mitch, die die ganze Sache eine lange Zeit sehr verzweifelt vor- und rückwärts durchgekaut hatten, um einen Ausweg zu finden. Hatten sie nie geschafft. Aktuell dachte sie nicht mehr oft darüber nach, aber sie würde sowieso auf nichts besseres kommen als damals. Irgendwie schienen ihre Lösungen ständig nur noch Mord zu beinhalten. Irgendwelche schwerkriminellen Taten, die eben nicht wirklich Lösungen waren. Weil, so war sie je länger je mehr der Überzeugung, für ihre Probleme keine Lösungen mehr zu finden waren. Sie hatte sich zu tief in die Scheisse geritten, angefangen mit dem Fehler, sich von Julian für die Army überreden zu lassen, statt umgekehrt mit mehr Überzeugungskraft an die Sache ran zu gehen. Vielleicht hätte er sich umstimmen lassen, wenn sie es wirklich versucht hätte. Es war schwer vorstellbar, dass er sich ohne sie je eingetragen hätte. Er war nicht weniger an ihr gehangen und hatte nicht weniger auf ihre Meinung gegeben, als das umgekehrt der Fall gewesen war. Indirekt war sie auch an seinem Tod mitschuldig. An Fayes zahllosen Traumata. Sie musste die Liste an dieser Stelle nicht weiter ausführen, der Film spielte jede Nacht vor ihrem inneren Auge wie der Abspann ihres Lebens. All die Namen... all die Namen der Menschen, die nie hätten sterben sollen. Sie wollte schreien. Stattdessen starrte sie nur wieder durch Ryatt hindurch, während eine zweite, einsame Träne der Schwerkraft folgte.
Ich werde mich irgendwann drum kümmern... xD ________
Und wenn Faye ihn darum bitten würde, würde seine Meinung sich dann ändern? Das war ein dummer Gedanke, Faye würde ihn niemals um sowas bitten... Trotzdem dachte sie für eine Sekunde darüber nach. Was nur einmal mehr sehr deutlich zeigte, dass sie wahnsinnig wurde und verzweifelt war. Beides kannte sie grundsätzlich aus der Vergangenheit... nur nicht in diesem Ausmass. Die Verzweiflung schon, aber die Kombination mit dem Wahnsinn war neu. Und selbst ihr in diesem Zustand war sonnenklar, dass das ungesund war. Dass sie irrational handelte. Sie wusste grundsätzlich, dass sie sich nicht bei den Hernandez melden durfte. Aber alles andere hatte nicht funktioniert, um ihren Kopf zu retten. Ihr kaputtes Herz zu reparieren. Langsam verfiel sie dem Glauben, dass der Grad des angerichteten Schadens weit hinter der zu reparierenden Grenze lag. Es war auch nicht so, als würde sie Ryatt wirklich die Schuld an dem Desaster geben. Auch hier war ihr bewusst, dass die Rettungsaktion nicht wirklich sein Wunschtraum gewesen war. Sie hatte das nur gesagt, weil sie gehofft hatte, ihn damit umzustimmen. Wenn sie wirklich denken würde, alles wäre Ryatts Schuld, würde sie sich nicht so abgefuckt fühlen. Dann wäre nämlich das Gewissen nicht so penetrant. Die Schuld an allem, was sie innerlich zerfrass und mehr als drei, vier Monate her war, konnte sie sowieso nicht Ryatt geben. Und das war eine ganze Menge... wie man sah und wie sie spürte. Seine Bemerkung zu seiner Sicherheit und deren Preis liess sie müde Luft ausstossen. Es tat ein bisschen weh. Aber nicht gerade fest im Vergleich zu allem anderen Schmerz, den sie die ganze Zeit spürte. "Dieser Preis ist ja normalerweise kaum dein Problem. Und ich würde dich auch nicht weiter beelenden, wenn ich nicht müsste, weil du mir nicht gibst, was ich brauche", erwiderte sie leise, fast trotzig auf seine Worte. Als wollte sie sich nicht eingestehen, dass selbst Ryatt merkte, dass ihr Verstand sich verabschiedet hatte. Eine Eigenschaft, die ihr schon so oft den Kopf gerettet hatte. Gefährlich, wenn sie sie ablegte. Aber sie sah keine anderen Optionen mehr. "Ich kann abschliessend sicherstellen, dass niemand je wieder etwas von ihnen hört. Dass diese Tortur nicht umsonst gewesen war. Das wird passieren.", beantwortete sie seine Frage, wobei ihr Tonfall unverändert blieb. Ob er hier jetzt Mord oder irgendwas anderes rein interpretierte, wusste sie nicht. Spielte aber auch keine Rolle, da er sich sowieso schon vorher seinen Teil gedacht haben würde. Ihre Bitte musste wirklich so wahnsinnig sein, wie sie befürchtet hatte. Ryatt schien nicht das Bedürfnis zu verspüren, weiter mit ihr zu diskutieren, sondern griff direkt nach der Türklinke, um sie unverrichteter Dinge zurück auf den Flur zu verbannen. Aber damit war sie wiederum absolut nicht einverstanden. Was würde sie dann tun? Zurück nachhause gehen mit Mitch, damit sie sich weiter in der pechschwarzen Suppe suhlen konnten, aus der sie keinen Ausweg fanden?? Es gab keine andere Option mehr verdammt! Sie fanden das Licht nicht wieder, das so kurz vor diesem Totalabsturz doch gerade erst so sanft zu scheinen begonnen hatte! Sie erinnerte sich noch, obwohl die Erinnerung in der ganzen Schwärze schwammig geworden war und sie sich nicht mehr sicher war, wie viel davon wirklich passiert war. Aber sie wusste, dass das Gefühl schön gewesen war. Auf dem Trip zu Jetman und in der Zeit, die dem gefolgt war. Sie hatten sich langsam gefunden, langsam war alles ein bisschen besser geworden. Ein bisschen friedlicher, ruhiger. Und dann? Atombombe. Sie hatte keinen Bock mehr auf dieses ewig drehende Karussell, diese gottverdammte Achterbahn, die ständig tiefer crashte als sie je hochgefahren waren. Die Kombination der letzten Jahre war zu viel und das wurde ihr jetzt, wo Faye endlich ihren Frieden im Süden finden konnte, nicht mehr auf ihren Schutz und ihre Stärke angewiesen war, sehr schmerzhaft bewusst. Aryana riss seine Hand unsanft von der Türklinke weg - was nicht so schwer war, wie sie befürchtet hatte, weil er wohl nicht ganz damit gerechnet hatte - und stellte sich direkt davor, starrte Ryatt mit leerem Blick direkt an. Musterte seine Gesichtszüge. Seine Augen. Irgendwas, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Dafür ziemlich lange. "Cool. Ich kann sie auch ohne deine Hilfe suchen gehen. Das Risiko, dass ich dann dabei sterbe, ist halt nur ein bisschen grösser... naja und es dauert länger. Aber das ist nicht so schlimm. Ich hab immer viel Zeit zwischen den Einsätzen. Viel Zeit, um sie zu finden. Also alles nicht so schlimm.", meinte sie auf einmal sehr plötzlich und zuckte mit den Schultern. Bewegte sich zwar nicht von der Tür weg, aber schaute ihn immerhin nicht mehr wütend an. Nur unendlich ausgelaugt. Mit einem Lächeln auf den Lippen, das den Wahnsinn in ihren Worten nicht gerade dämmte, ihre müden Augen aber nie erreichte.
Vielleicht nehm ich ihren Steckbrief einfach ganz aus dem Anmeldethread, wir haben ja noch das Dokument mit den Notizen und ich kann ihn auch da reinmachen... weil halt nicht weiter relevant hier. x'D __________________
Er schien schon schwer zu ahnen, dass sie keine gute Neuigkeiten brachte, bevor sie überhaupt den Mund aufmachte. Vielleicht lag das daran, dass sie noch nie eine normale Konversation geführt hatten, die nicht irgendwie mit viel bis sehr viel Ärger verbunden gewesen war. Oder weil er sich schon denken konnte, das sie irgendwas von ihm wollte - und wenn sie ihn um etwas bitten musste, das sie sich anders nicht beschaffen konnte, war das selten eine gute Sache. Sie waren leider leider noch immer keine Freunde und Aryana tat sich schon bei Leuten, die sie kannte und mochte, schwer genug, um Hilfe zu bitten. Somit lag er schon richtig mit der Vermutung, dass sie mehr von ihm brauchte als nur einen guten Rat. Wobei das relativ war. Eigentlich war es für ihn ja keine grosse Sache, die sie von ihm wollte. Trotzdem schien er keine Absichten zu hegen, ihr den Gefallen zu tun und mit der Nummer rauszurücken. Im Grunde war ihr das klar gewesen, als sie sich auf den Weg gemacht hatte. Natürlich gab er ihr keine Kontaktangaben von den Hernandez. Er war ja nicht komplett dem Wahnsinn verfallen... nicht wie sie. Aber sie hatte gehofft, dass er es doch tun würde. Jedenfalls ein Teil von ihr hatte das gehofft. Ein anderer Teil hatte das Gegenteil gewollt. Aber erleichtert fühlte sie sich in diesem Moment keineswegs. Nur genervt, weil er sie hier gerade bemutterte. "Richtig. Darum frag' ich ja dich und nicht Faye", war ihre stumpfe Antwort auf seine Aussage betreffend ihrer Schwester. Begleitet von einem gepflegten Augenrollen, natürlich. Faye war nicht hier, sondern in LA. Faye war in Sicherheit. Und Faye hatte nicht mehr viel mit dem zu tun, was hier noch passierte. Vielleicht war sie der Auslöser dafür gewesen, dass Ryatt überhaupt erst Aryanas Weg gekreuzt hatte, dass die Hernandez für sie relevant geworden waren. Aber ihr Auftritt in diesem Konstrukt war vorbei. Und darum war es Aryana gerade akut egal, ob Faye wollte, dass Ryatt ihr die Nummer gab oder nicht. Viel mehr reizte er sie mit dieser Aussage noch zusätzlich, weil er es sagte, als wüsste sie das nicht. Als würde er ihre Schwester besser kennen. Als wäre er hier Fayes zurückgebliebene Vertretung. Die scheinbar, wie er nun offenbarte, auch die gleiche Meinung vertrat. Nicht sehr schockierend... aber nervig. Auch die Art, wie er es sagte. Wie er es besser zu wissen glaubte. "...und darum habe ich zugleich auch nur nach einer Nummer und nicht nach deiner Meinung gefragt.", liess sie ihn wissen, dass ihr auch das eigentlich sehr egal war. "Ich bin alt genug, um Entscheidungen ohne deine guten Ratschläge zu treffen, Ryatt. Ausserdem ist es ziemlich dreist von dir, mir ihre Nummer nicht zu geben, nachdem du doch so gerne wolltest, dass Mitch und ich uns um sie kümmern. Was wir getan haben. Was der Grund ist, warum du jetzt in relativer Sicherheit hier leben kannst. Was der Grund ist, warum ich hier stehe.", was auch der Grund war, warum ihr die Sicherungen durchbrannten. Was der Grund war, weshalb Ryatt ihr bitte einfach geben sollte, wonach sie fragte, bevor sie nur immer wütender wurde. Sie hatte nicht vor, ihm hier an die Gurgel zu gehen. Aber ihr Geduldsfaden war aktuell nicht in gutem Zustand, wie der Rest von ihr auch nicht. Beides war offensichtlich, wie sie ihn gerade anschaute. Abwartend, aber nicht wirklich bereit, zu warten. "Also bitte..?", ihr Tonfall machte deutlich, dass das das einzige Bitte bleiben würde, das er von ihr zu hören bekam. Aber hey, immerhin.
Ja bestens, hab ich mir auch so gedacht. Und das Problem fühl ich leider, weil ich da noch den Banner von Riley im Anmeldethread habe und der passt überhaupt nicht zu den anderen, aber für sie muss ich definitiv keinen Neuen mehr machen und das ist jetzt sehr blööödddd. ;_; Ryatt kommt sicher irgendwann wieder, da mach ich mir nicht so Sorgen. x'D __________________
Tja, was gabs zu berichten zu den letzten drei Monaten..? Den Wochen und Tagen, die alle irgendwie miteinander verschwommen waren, seit Faye sich auf den Weg in den Süden gemacht hatte... und schliesslich - drei Kreuze an dieser Stelle - sicher bei Victor angekommen war. Dieser Gedanke war schön, beruhigend, erfüllte sie für ein paar Sekunden mit einem friedlichen Glücksgefühl, das sie sonst aktuell in keiner Situation je spürte. Sie hatte aufgehört, sich wirklich zusammenzureissen, nachdem Faye abgereist war. Für Mitch musste sie das nicht tun. Nicht nur, weil er - wie Faye - sowieso merken würde, dass sie etwas verbarg, sondern auch, weil er - im Gegensatz zu Faye - sehr genau wusste, was das war. Er teilte die Dunkelheit. Die völlige Schwärze. Die Alpträume. Die schlechte Laune. Das elende, plagende Gewissen, das sie von innen heraus zerfras. Dabei hatten die es doch verdient. Dabei hatten sie nur Vergeltung ausgeübt für etwas, das nie hätte passieren dürfen. Dabei hatten sie das nur getan, weil diese Pest keine andere Version dieser Nachricht verstanden hätte. Aber das änderte eben nichts daran, dass es Aryana und Mitch waren, die sich jetzt beschissen fühlten. Die in ein weiteres Loch gepurzelt waren, das zu tief war, um von hier unten den Himmel noch zu sehen. Es war nicht das erste Mal, aber das erste Mal auf diese Weise. Für Aryana zumindest. Mit Depressionen kannte sie sich aus, was mit all den Verlusten ihrer familiären Vergangenheit eher keine Überraschung sein sollte. Aber das hier war keine Depression. Es fühlte sich eher so an, als hätte sie in dieser gottverdammten Lagerhalle den Sinn verloren. Faye war in Sicherheit - dem grössten Mass an Sicherheit, das Aryana je für sie schaffen könnte. Mit Victor, der sie halten konnte und vor allem halten würde, egal was kam. Mitch irrte im gleichen Sumpf wie sie. Sie konnte ihn nicht rausführen, nicht rausziehen, sie konnte ihm nicht gut zureden, dass alles wieder gut werden würde, wenn sie daneben vor sich hin seuchte ohne Aussicht auf Besserung. Wenn Faye sie nicht mehr dringend brauchte und sie Mitch nicht helfen konnte, was war dann ihre Aufgabe? Warum tat sie sich dieses Elend dann noch an? Warum kreuzte sie weiterhin bei Easterlin auf, um diesem gottverdammten Milliardär weitere Münzen in den fetten Geldbeutel zu spülen, indem sie andere Menschen umbrachte, das fragile Gleichgewicht dieser Welt riskierte, um irgendwelche dämlichen Aufträge auszuführen, die sie mit keinem Millimeter ihres Körpers oder ihrer Seele wirklich zu Ende bringen wollte? An dieser Stelle wohl überflüssig zu erwähnen, dass sie mit ihrem Fluchtplan zurück auf Feld Null standen... falls sie je darüber hinaus gekommen waren. Es war rundum beschissen. So beschissen, dass es diesmal Mitch war, der sie daran erinnern musste, dass es Gründe für das Alkoholverbot zuhause gab. Dass jetzt ein verdammt schlechter Zeitpunkt dafür war, dieses aufzuheben. Half nur nichts. Am Ende sass sie doch mit der Flasche und dem Glas auf der Couch. Mehrmals. Weil sie ihren verdammten Kopf nicht mehr tragen konnte. All die schrecklichen Dinge, die sie in den letzten Jahren getan hatten, schienen mit dieser schicksalhaften Gräuelnacht zurück in ihr Gedächtnis gestürmt zu sein. Vermeintlich längst Vergessenes raubte ihr nachts den Schlaf. Und am Ende war das Einzige, was sie wirklich nie bereute, Warrens Tod. Er jagte sie nie, obwohl er auch hässlich gewesen war. Dafür gefühlt jeder feindliche Soldat, den sie je bewusst durchlöchert hatte. Jeder gefallene Freund. Jeder Stich in Mateos Körper. Jeder gebrochene Knochen. Jedes Stück verkohlte Haut. Sie hatte überhaupt nicht zugehört, als er gebettelt hatte. Genau wie er ignoriert hatte, was Victor damals gesagt hatte. Genau wie Gil das Flehen ihrer Schwester ignoriert hatte. Genau wie die Soldaten in den Hügeln die abflachende Atmung ignoriert hatten. Im Grunde war sie genauso wie die alle. Und dann war da noch der andere Teil ihrer kreisenden Gedanken. Sie hatten Gil und Mateo in der Halle zurückgelassen und waren abgehauen. Sie hatten Ryatt gesagt, dass er Riley anrufen sollte. Und das wars gewesen. Sie hatten nie wieder etwas von ihnen gehört, nie wieder einen von denen gesehen. Da war kein Abschluss gewesen. Sie wussten nicht, ob Gil und Mateo noch lebten. Sie wussten nicht, wie Riley darauf reagiert hatte. Sie wussten auch nicht, wie Sean darauf reagiert hatte. Sie wussten nicht, inwiefern sich Mateo und Gil erholt hatten. Sie wussten nicht, ob diese Pest noch immer nach Vergeltung lechzte. Und das raubte ihr fast genauso den Schlaf wie das furchtbare Gewissen. Sie brauchte irgendeinen Abschluss, einen Schlussstrich, die Gewissheit, dass sie nie wieder einem von denen begegnen würden und Ryatt auch nicht und Faye und Victor sowieso nicht. Und in ihrem Wahn war sie sich mittlerweile sicher, dass sie diese Gedanken nur dann zur Ruhe legen könnte, wenn sie sich diesen Schlussstrich selber holte. Entweder würden sie Aryana davon überzeugen, dass sie wirklich für immer verschwanden, oder - und das war realistisch betrachtet wahrscheinlicher - sie würde der Sache ein Ende bereiten, welches keine Fragen mehr offen liess. Sie hatte nicht mit Mitch darüber gesprochen. Oder gar mit Faye. Oder mit irgendwem sonst. Es war auch nicht so, als hätte sie tatsächlich schon einen handfesten Plan. Aber es wäre sowieso jeder dagegen... Wahrscheinlich. Bei Mitch war sie sich am wenigsten sicher, aber sie wollte ihn auch gar nicht mit reinziehen. Was wohl auch der Grund war, warum sie genau heute bei Ryatt antanzte, wo Mitch noch eine Stunde länger mit Sniper-Scheisse beschäftigt war. Eigentlich war das hier eher ein spontaner Entscheid gewesen, aber die Tagesplanung passte ihr bestens in den Kram. Sie hatte sich ein bisschen durchfragen müssen, um zu Ryatts Wohnung/Zimmer zu finden, aber letztendlich stand sie vor seiner Tür und klopfte an. Bereit, jeglichen schönen Feierabend, den er sich möglicherweise gerade machte, erfolgreich in Schutt und Asche zu legen - sollte er es denn nötig machen. Seine Frage, nachdem er die Tür geöffnet und damit ihre Befürchtung, er könnte gerade woanders sein, nichtig gemacht hatte, war verständlich. Es war nicht unbedingt ihre bevorzugte Feierabendaktivität, ihn zu besuchen. Aber er würde schon schnell genug wissen, was sie wollte, sie nahm in solchen Fällen selten ein Blatt vor den Mund. Stattdessen schob sie sich geschickt an ihm vorbei nach drinnen und schob die Tür hinter sich wieder zu. Aryana war nicht die Art von Frau, die eine Einladung brauchte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. "Ich brauche etwas von dir und dachte, dass ich dich am besten direkt danach frage, statt unnötige Nachrichten zu verschicken", folgte eine knappe Einleitung, die aussagekräftig genug war, um zumindest die Motivation für ihr Herkommen zu klären. Der genaue Grund folgte mit ebenso wenig zeitlicher Verzögerung, denn was anderes als genau das, hatte sie mit Ryatt hier und heute nicht zu besprechen. Es interessierte sie aus diversen Gründen nicht weiter, wie es ihm ging und ihr Wohlbefinden stiess bei ihm wohl auf ebensowenig Interesse. Die seit Wochen permanent dunkler werdenden Schatten unter ihren Augen dürften ausserdem schon Auskunft genug geben. "Hast du mir eine Handynummer von Riley oder ihren Brüdern?", folgte das direkte Anliegen, das sie ohne mit der Wimper zu zucken rausrückte. Sie hoffte nur, dass aus ihrem Tonfall klar genug hervorging, dass er gar nicht erst danach fragen sollte, wozu sie die Nummer denn wollte.
Jaaaa das fühlt sich ungefähr nach einer gleich langen Schreibpause an hier, darum sorry wenns vong Vibe her nicht zu den letzten Posts passt und qualitativ ebenfalls shitty ist. x'D ______________
Da musste sie ihm leider zustimmen, auch wenn sie es schwer bevorzugen würde, wenn sie bessere Neuigkeiten diesbezüglich hätte. Wenn Ryatt ihr mit absoluter Gewissheit hätte versichern können, dass sie nie wieder was von der mexikanischen Pest hören würden. Faye nickte sehr langsam, während ihre Augen durch den Raum streiften und abwesend ihr neues Leben betrachteten. "Ja. Das Maximum, solange sie noch atmen, fürchte ich...", murmelte sie nüchtern, was sie beide schon wussten. Weil sie es vorhin auch schon gesagt hatte. Weil sie sich längst einig waren, dass die Welt die vier Geschwister nicht nötig hatte. Aber letztendlich brachte es auch nichts, weiter über deren Ableben zu philosophieren. Sie hatten sich mehr oder weniger bewusst dafür entschieden, sie nicht umzubringen. Sonst wäre Faye nicht mit Ryatt aus der Lagerhalle geflüchtet und Victor wäre nicht frühzeitig nach LA abgereist. "Aber wir sollten uns jetzt nicht weiter über sie unterhalten. Ich bin die Gedanken wirklich leid und wir sind beide nicht hierher gekommen, um dann mit dem Kopf weiter in der Vergangenheit zu hängen. Sie leben jetzt halt - wahrscheinlich - noch und wir müssen darauf vertrauen, dass Aryana und Mitch sich selbst soweit nötig zu schützen vermögen", versuchte sie einen bewussten Schlussstrich zu ziehen, um hier die Stimmung nicht komplett in Trübsal zu stürzen. Es liess sich nicht vermeiden, dass sie immer mal wieder daran zurückdenken würden, aber sie mussten es nicht übertreiben und sich immer auch bewusst bleiben, was die Gedanken mit ihnen machten. Und dass sie sich nicht zahllose weitere Tage davon vermiesen liessen. Scheinbar hatte ihr Freund aber noch ein anderes Thema auf dem Herzen, das er gleich darauf anschnitt. Sie brauchte auch nicht lange zu raten, was es war, das ihm eher unangenehm zu sein schien - er nannte das Kind im ersten Satz schon beim Namen. Kind war vielleicht das falsche Wort für Ryatt, aber das war irrelevant. Faye hatte ihren Blick schon zurück auf Victors Gesicht gelenkt, kaum hatte dieser die ersten Worte ausgesprochen. Ihr rechter Mundwinkel zuckte kurz, weil das doch gute Neuigkeiten waren. Nicht weil sie seine Empfindungen belächeln wollte, mit der Eifersucht hatte sie ja selbst ihre Erfahrungen gemacht. Es schien jedoch eine Tatsache zu sein, dass sie beide nur dann darunter litten, wenn die Lebensumstände sie mal wieder erdrückten und belastender waren, als ein normaler Mensch sie ohne emotionalen Tribut ertragen konnte. "Das freut mich für dich... für uns beide, eigentlich.", kommentierte sie zuerst nur, bevor sie sich etwas streckte, um ihm einen zarten Kuss auf die Wange zu hauchen. Weil der letzte schon wieder zu lange her war und weil sie stolz auf ihn war, dass er das hinter sich lassen konnte. Tatsächlich hatte sie zu diesem Thema jedoch noch mehr zu sagen, weil es hier bekanntlich Dinge gab, die sie nie abschliessend besprochen hatten. "Ich denke auch nicht, dass ihr gute Freunde werden müsst. Er ist sowieso in Seattle und wenn er da erstmal weg ist, wird er kaum ebenfalls nach LA ziehen.... Die Chancen, dass du ihn überhaupt je wieder siehst, sind also nicht besonders gross", begann sie, gefolgt von einer Pause und einem anschliessenden Seufzen. "Ich habe mit Ryatt darüber gesprochen, bevor ich mich von ihm verabschiedet habe... Weil wir uns beide nicht sicher waren, ob das ein Abschied für immer wird. Ich habe gesagt, dass ich das zuerst mit dir besprechen möchte, weil ich in keinem Fall wollte, dass er am Ende in irgendeiner Weise zwischen uns steht und weil ich ihm auch nichts versprechen wollte, das ich dann bereuen würde. Ich habe meine Prioritäten... Präferenzen, würd' ich mal behaupten", während ihr Blick beim Sprechen etwas abgedriftet war, schielte sie bei dieser Bemerkung jetzt wieder zu Victor hoch. Wo diese Präferenzen und Prioritäten lagen, brauchte sie wahrscheinlich nicht zu erklären, wenn sie ihnen genaugenommen direkt ins Gesicht blickte. "Aktuell stehe ich noch im Kontakt zu ihm. Und ich mag ihn auch, ich glaube, das ist kein Geheimnis... Aber die Distanz steht uns sowieso im Weg, weshalb ich realistisch betrachtet nicht glaube, dass die Freundschaft nochmal so intensiv werden wird, wie sie es mal gewesen ist...", auch abgesehen von dem unnötigen Kuss, den sie in ihrer Einsamkeit gebraucht zu haben schienen.
Die Wahrheit in diesen Worten liess sich an ihrer Stelle sehr schlecht abstreiten. Musste sie auch nicht. Wie gesagt wäre sie definitiv nicht Teil der Personengruppe, die diesen Kindern des Teufels nachtrauerte, sollten sie eines Tages endgültig ihrem Vorgesetzten in der Hölle Gesellschaft leisten wollen. Sie durften sich von ihr aus sehr gerne für immer verabschieden. Nur halt nicht durch die Hände einer Person, die sie kannte und liebte. Besonders nicht Victor, Aryana oder Mitch. Aber Faye bezweifelte, dass Victor an dieser Stelle weitere Zustimmung ihrerseits brauchte, weshalb sie zu diesem Thema erstmal schwieg. Auch seiner Zukunftsprognose hatte sie nichts mehr anzufügen. Sie hoffte natürlich mit ihm, dass das alles bald ein Ende fand, auch gedanklich. Die physische Verabschiedung dieser Familie mit geistiger Gesamtbehinderung hatte ihrer Meinung nach längst stattgefunden. Zumindest für sie. Aber sie wollte wirklich hoffen, dass es bei Aryana und Mitch bei dem einmaligen Aufeinandertreffen blieb und auch sie - und Ryatt - nie wieder was mit den Hernandez zu tun hatten. Was sicherlich eine der Voraussetzungen dafür war, dass es den beiden bald wieder gut gehen konnte. Nicht die Einzige leider, aber es wäre ein sehr guter Anfang. Seine nächste Frage musste sie leider verneinen. Beziehungsweise hatte Ryatt schon etwas dazu gesagt, aber eine wirkliche Einschätzung war eben schwierig bis unmöglich, da sie auf dieser Seite des Konfliktes nur Hypothesen aufstellen und raten konnten. "Ryatt wusste es auch nicht. Ich habe ihn nicht direkt danach gefragt, ob er denkt, dass Aryana und Mitch nochmal Besuch erwarten müssen. Aber wir haben uns darüber unterhalten, ob ich oder wir uns weiterhin Sorgen machen müssen oder ob wir hier zu hundert Prozent sicher sind. Ryatt hatte jedoch genauso wenig je wieder was von ihnen gehört wie wir, nachdem er Riley im Auftrag von Aryana in die Lagerhalle dirigiert hatte, damit keiner ihrer Brüder an den Folgen... der Rache drauf ging. Seine Einschätzung war, dass sie nicht dumm genug sein sollten, jetzt wirklich nochmal bei einem von uns vorbeizuschauen. Aber ganz sicher kann eben auch er nichts sagen, weil er nicht mit ihnen gesprochen hat. Und weil sie nicht tot sind.", Faye hatte während des Sprechens angestrengt die Augen geschlossen, weil sie sich lieber nicht an diesen Teil des Gesprächs mit Ryatt zurückerinnern wollte. Sie wollte sich nicht nochmal vor Augen halten, dass sie hier ein bisschen gutgläubig darauf vertrauten, dass jetzt sicher nichts mehr passieren würde, dass diese Idioten die Message sicher verstanden hatten. Sicherlich war das die realistischste Schlussfolgerung nach gegebenen Umständen. Aber es war eben nicht in Stein gemeisselt. Wäre es auch nicht, wenn Ryatt nochmal mit Riley oder auch mit ihren Brüdern gesprochen hätte. Denn aufs Wort dieser Arschlöcher konnte man bekanntlich nichts geben. Die einzige wirkliche Sicherheit lag hier im Tod, von dem sie froh sein sollten, wenn er nicht eingetroffen war, so sehr sie es sich auch wünschen mochten. Hätten Aryana und Mitch einen von denen tatsächlich umgebracht, wäre die Folge sehr sicher eine ewige Jagd gewesen... Und das hätte sie weder sich noch Victor verzeihen können. Schon der Gegenschlag im ausgeführten Ausmass war ein Spiel mit dem Feuer gewesen und sie konnten hier nur hoffen, dass die Hernandez ihre Lektion gelernt und sich auf ewig verabschiedet hatten. Zu eben dem Zweck, den Victor gleich nochmal betonte: Dem Glücklich-Werden, dass sie schon so lange anstrebten. Das Glück, das jetzt quasi in Reichweite lag und nach dem sie endlich greifen wollten.
Also kein sofortiges Nein. Liess sich das dann direkt in ein Ja übersetzen? Wahrscheinlich war die Sache nicht so einfach. Wahrscheinlich gab es hier nicht nur Schwarz und Weiss. Wahrscheinlich sollte sie aufpassen, dass sie in ihrer allgemein erhöhten Emotionalität nicht Dinge interpretierte, die nicht da waren und ebenso wenig stimmten. Es war nur kaum zu leugnen, dass sie zur Zeit noch nicht zu hundert Prozent genauso belastbar war, wie sie es üblicherweise war oder sein sollte. Dazu gehörte eben auch diese Überempfindlichkeit, die sehr sicher von der Angst her rührte, dass sich hier gleich die nächste Katastrophe anbahnen könnte. Ihr Kopf und ihr Bewusstsein brauchten erstmal eine Pause, um wieder Vertrauen in die Welt zu fassen. Um wieder damit aufzuhören, hinter jeder Ecke ein Drama und eine Gefahr zu erwarten. Egal wie sehr sie sich einredete - und auch glaubte - dass diesmal alles gut werden würde, war eindeutig noch nicht jeder Teil von ihr bereit dazu, nach dieser Erwartung zu handeln und zu denken. Victors Ausführungen waren verständlich. Grundsätzlich unterschieden sie sich auch nicht so stark von ihren eigenen Gedanken. Bis auf den Punkt, dass sie im Gegensatz zu Victor ziemlich sicher wusste, was sie tun würde, wenn sie ihnen nochmal begegnete. Nämlich rennen, aber schneller. Sie würde niemals auf Konfrontation oder sogar zum Angriff übergehen, weil ihre Angst noch immer jegliche Wut oder Rachegefühle überstieg. Aber es war nicht nur das. Selbst wenn sie gefesselt vor ihr stehen würden und ihr garantiert nichts tun könnten, würde sie wahrscheinlich rennen. Das war ein ähnlicher Teil von ihr, wie der, den Victor erwähnte, weil er sich bei ihm verändert hatte. Bei ihr hatte sich das nicht geändert und sie konnte sich trotz allem nicht vorstellen, jemals selber Rache auszuüben, selber jemanden zu verletzen, als Strafe dafür, dass diese Person im Vorfeld sie und/oder Victor verletzt hatte. Sie wusste nicht, was in diesem Fall der gesündere Charakterzug war. "Dass sie tot wären, hab ich mir auch oft gewünscht. Fände ich auch noch immer sehr in Ordnung, weil ich mir dann nie wieder Gedanken über sie machen müsste. Keine Fata Morganas an dunklen Hausecken mehr sehen müsste, wenn meine Paranoia mal wieder kickt. Keine Angst haben müsste, dass Mitch und Aryana sich mit ihrem Eingreifen nicht vielleicht doch ein bisschen zu weit in die Schusslinie vorgewagt haben.", kommentierte sie zuerst weiterhin eher leise nur die zwei Sätze, die sie voll und ganz teilte. Sie zögerte einen Moment, um sicher zu gehen, ob sie auch wirklich meinte, was sie weiter zu sagen plante. "Ich verstehe dich schon... Ich möchte nur nicht, dass es dich zerfrisst. Dass du zu oft darüber nachdenkst, jetzt, wo wir hier sind und sie ein für alle Mal hinter uns lassen wollten...", das war eine leichte Abänderung dessen, was sie ursprünglich hatte sagen wollen, aber es entsprach ebenso der Wahrheit und fühlte sich besser an. Zu den weiteren Änderungen seiner Persönlichkeit konnte Faye wenig sagen. Egoistischer war nicht zwingend schlecht... Aber die Adjektive, die er brauchte, klangen im ersten Moment trotzdem eher negativ. Wahrscheinlich war es aber sogar besser, wenn sie aktuell einfach gar nicht viel dazu sagte, sondern erstmal abwartete, inwiefern sie davon etwas mitbekam. Inwiefern es sie störte oder sie das Bedürfnis verspürte, tatsächlich vertieft darüber zu sprechen, ob das alles nun gut oder schlecht war, so hingenommen oder bearbeitet werden sollte. "Okay... ich... ich weiss nicht, was ich dazu sagen soll, ehrlich gesagt. Aber egal wie sich alles verändert hat, hoffe ich einfach für dich, dass du so glücklich sein kannst... Wir beide. Das ist es letztendlich ja, wofür wir hierher gekommen sind... Was wir genau genommen seit über dreieinhalb Jahren versuchen", es klang ein bisschen ernüchternd, wenn sie es so sagte - entsprach nur leider auch der Wahrheit. Aber dieser neue Versuch hier, der würde glücken. Musste auch irgendwie. Was sie beide bestens wussten.
Sie hatte echt keine Ahnung, was sie dazu sagen sollte. Was sie davon halten sollte. Sie wusste nicht, wie sie mit dem Wissen über seine Rachegefühle umgehen sollte, wie sie diese für sich bewerten und wie sie das in ihr Bild von ihm einfügen sollte. Sie wusste auch nicht, ob sie ihn dafür verurteilen sollte, dass er ausgerechnet Aryana um die Ausführung der Vergeltung gebeten hatte. Ob sie wütend sein sollte. Was Aryana getan hätte, wenn er sie nicht darum gebeten hätte? Sie und Mitch hatten ohne Frage schon genügend andere Probleme, waren erst seit Kurzem verhältnismässig stabil unterwegs gewesen. Ob sie riskiert hätten, wieder in ein Loch, dessen Tiefe sie vorher nicht wirklich abschätzen konnten, zu fallen, wenn Victor nicht explizit gefragt hätten? Wahrscheinlich hätten sie schon mehr getan, als Faye einfach aus der Lagerhalle zu fischen und zu gehen. Trotzdem wahrscheinlich weniger, als es am Ende geworden war, wenn sie Victors Bitte wirklich beim Wort ausgeführt hatten. Aber Aryana war auch keine Fünfjährige mehr. Sie und Mitch nahmen Victors Aufforderung oder Bitte oder was auch immer sicher nicht als Befehl entgegen. Konnten selber abschätzen, ob sie ausführen wollten, was er für richtig hielt. Der zusätzliche Ansporn hatte sicher nicht geholfen, aber was sie getan hatten, war nicht nur für Victor gewesen, sondern auch für Faye und auch für Mitch und vor allem Aryana selbst. Nach Julians Tod hatte sie sich extra lang bei der Army verpflichtet, um (unter anderem) Rache auszuüben für das, was man ihm angetan hatte. Nach ihrer Entführung in Syrien hatte sie Gott weiss wie viele Gegner getötet, um sie dort wieder raus zu holen. Gil und Mateo hatten längst auf ihrer Abschussliste gestanden. Nur vielleicht nicht so. Ob er aufhören würde, seine Seele mit Rachedurst zu verpesten, wenn sie ihn nur ein bisschen öfter sehr fest umarmte, um solche hässlichen Fantasien abzuwehren? Das war wahrscheinlich zu einfach, oder? Und wahrscheinlich war die Umarmung eher für ihre eigenen Nerven wichtig. Damit sie sich an ihn klammern und sich einreden konnte, dass er noch immer genau der gleiche Mann wie vor fünfzehn Minuten war. Sie hatte nur etwas Neues über ihn erfahren. Etwas, das eigentlich nicht passte. Etwas, das sie nun vielleicht zu viele Sachen in Frage stellen liess, die sich in Wirklichkeit gar nie geändert hatten. Ihre Umarmung lockerte sich nun ebenfalls wieder, da sie einen Arm zurückzog, um sich mit der Hand übers Gesicht zu reiben. Weil das immer so hilfreich war beim Denken. Den Kopf hob sie nicht an, als sie eine leise Frage stellte. "Gibt es... noch mehr solche Dinge, die ich vielleicht wissen sollte..?", erkundigte sie sich und hoffte einfach, dass er nicht mehr als ein paar Sekunden darüber nachdenken musste, weil die Antwort doch eigentlich ein klares Nein sein sollte. Würde sie sich jedenfalls wünschen. Zumindest dachte sie, dass sie sich das wünschte - kam natürlich auch darauf an, was die Wahrheit beinhaltete. Es hatte schon Gründe, warum es vielleicht nicht falsch war, dass sie nicht immer alles wusste. Dass sie das nicht gewusst hatte. "Und was genau ist das Ausmass von das..? Von dem, was du noch immer genauso fühlst?", folgte die zweite Frage, bevor er auf die erste hatte antworten können. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie seine Worte richtig interpretierte. Aber sie wollte kein Missverständnis, wollte wissen, was es war, das in ihm lauerte. Das er nicht behalten wollte und sollte, weil es ungesund war. Das ihn dazu verleitete, Aryana darum zu bitten, den Menschen, die er hasste, Buchstaben in die Haut zu ritzen und Körperteile zu versengen.
Sie war nicht davon ausgegangen, dass ihn diese Neuigkeiten, die an sich eigentlich auch nicht mega überraschend sein dürften, ihn so treffen würden. Aber die Art, wie seine Atmung, seine Körperspannung und seine Umarmung sich veränderten, liessen in ihr automatisch ein paar verwirrte Alarmglocken schrillen. Sie streichelte mit ihren Fingern sachte über seine Haut beziehungsweise sein Shirt, im Versuch ihn ein wenig zu beruhigen. Und hätte er noch ein paar Sekunden länger geschwiegen, hätte sie ihn wohl gefragt, was denn genau los war, weil sie akut wirklich nicht verstand, warum er so reagierte. Doch Victor setzte letztendlich eigenständig dazu an, ein bisschen Licht ins Dunkle zu bringen. Zuerst sprach er in Rätseln und sie wusste nicht, warum er sowas plötzlich behaupten sollte. Sie blickte zur Seite, hatte sich noch nicht wirklich von ihm gelöst, zog dabei aber mit zunehmender Verwirrung die Augenbrauen ins Gesicht. Mehr seine Schuld als ihre machte keinen Sinn... nicht, bis all die stockenden Sätze über seine Lippen gekrochen waren. Nicht, bis die Worte plötzlich ein ganzes Bild malten. Eines, das sie in dieser Art wirklich nicht erwartet hatte. Das nicht mit ein paar Mal blinzeln begriffen werden konnte. Faye löste sich jetzt doch ein Stück weit von ihm, um ihn anzusehen - auch wenn er sie vielleicht gar nicht anschauen wollte. Ihre Blick wirkte ein bisschen überfordert - aber auch ein bisschen verstört. Ihre Hände legten sich links und rechts an seine Schläfen, die Daumen strichen wieder über seine Haut. Diesmal ein bisschen verloren, während sie zu verstehen versuchte, was er gerade offenbart hatte. War es schockierend? War es überraschend? Hätte sie es erwarten sollen? Änderte es überhaupt irgendwas an den Tatsachen? Hatte es für Mitch und Aryana überhaupt eine Rolle gespielt? Hätten sie das Gleiche getan, wenn Victor nie mit Aryana gesprochen hätte? Wenn sie Gleiches mit Gleichem vergelten sehr ernst genommen hatten, dann war alles, was Faye später aus den Augen ihrer beiden Retter hatte lesen können, schnell erklärt. Die Brünette gab einen dezent überforderten Laut von sich und lehnte ihren Kopf mit zugekniffenen Augen wieder an seine Brust, ohne ihre Hände von seinem Gesicht zu nehmen. Vielleicht wäre das alles nicht so schlimm, wenn sie wenigstens ein bisschen damit gerechnet hätte. Aber das hatte sie nicht. Weil sie mit Victor nie über Rachegelüste gesprochen hatte. Natürlich hatte sie der ganzen Hernandez'-Sippschaft den Tod gewünscht. Natürlich hatte sie sie aus ihrem Leben radieren wollen. Natürlich verspürte sie jetzt kein Mitleid, wenn sie sich ein etwas detaillierteres Bild dessen machen konnte, was noch alles in der Lagerhalle passiert sein mochte, nachdem sie mit Ryatt die Flucht ergriffen hatte. Sie wollte nur nicht, dass es jemand getan hatte, den sie kannte. Nicht nur kannte, sondern zu ihrer Familie zählte. Und sie hätte nie im Leben jemanden darum gebeten das zu tun, es auch selbst niemals fertig gebracht. Sie hätte sich einfach verpisst und gehofft und geglaubt, dass sie hier ihre Ruhe hatten. Entsprechend war es vielleicht sogar gut, dass nicht sie darüber entschieden hatte, was an Vergeltung ausgeübt wurde. Vielleicht war das nötig gewesen, um dem Ganzen ein Ende zu schaffen. Aber der Gedanke daran, dass Victor die Rache in Auftrag gegeben hatte, war... schwierig. Es machte deutlich, was sie in ihm kaputt gemacht hatten. Es war ein Teil von ihm, den sie nicht kannte. Ein Teil von ihm, von dem sie vielleicht auch gewünscht hätte, er würde niemals erweckt werden. Er würde gar nicht existieren. Faye löste die Hände von seinen Schläfen, um sie stattdessen um seinen Oberkörper zu schlingen und ihn nun ihrerseits in eine enge Umarmung zu schliessen. "Oh Victor... Das... das ist nicht gut...", waren ihre ersten leise gehauchten Worte, die diese neu erkannten Zusammenhänge betrafen. Welcher Teil davon nicht gut war, konnte sie nichtmal genau benennen. Mehrere, wahrscheinlich. Aber sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Mit welchen Worten sie diesem Desaster begegnen sollte. Sollte sie ihn zu trösten versuchen? Ihm sagen, dass Aryana und Mitch vermutlich auch ohne seine Bitte ungefähr das Gleiche getan hätten? Sollte sie ihn fragen, ob er noch mehr solche Gedanken hatte? Sollte sie ihn darauf hinweisen, dass er das dringend mit seinem Therapeuten besprechen sollte? Sollte sie ihm erklären, dass das schon okay war? Dass sie ihn verstand? Was, wenn das nicht so war?
Vielleicht kann man das irgendwann, wenn jemand sehr viel Lust hat, dem anderen Dokument anfügen… x‘D ________
Ja, sie auch, denn aktuell hatte sie noch keine zündende Idee betreffend der Platzierung ihrer Pinnwand. Dazu musste sie sich erst noch ein paar Mal in Ruhe umschauen und entscheiden, was sie sonst noch so an die Wände hängen möchte. Es musste jetzt nicht unbedingt alles voll werden, sollte am Ende ja auch nicht erdrückend wirken. Aber der ein oder andere Akzent fehlte definitiv noch und darum würde sie sich in den kommenden Tagen kümmern. Was er sagte um ihre untertriebene Behauptung zu korrigieren, liess sie kurz nachdenken, auch wenn sie eigentlich wusste, dass er es ernst meinte und es somit der Wahrheit entsprechen musste. Er konnte ja wohl am besten beurteilen, wer ihn wie gut kannte und wem er wie viel von sich preisgab. Und es stimmte schon. Seine Familie kannte ihn nicht mehr besser, als sie ihn mittlerweile kannte, denn seine Familie hatte die letzten Jahre nicht annähernd so nah mit ihm verbracht, wie sie das getan hatte. Sie wusste natürlich nicht alles von den Wochen, die er letztes Jahr bei ihnen verbracht hatte. Aber ob sie dabei das vollumfängliche Update über sein Leben und seine Gefühlswelt wie sie sie kannte bekommen hatten, war eher zu bezweifeln. Das war ja umgekehrt bei ihr nicht anders. Es waren diesmal nur ein paar wenige Wochen gewesen, aber trotzdem wurde ihr sofort wieder bewusst, wie sehr sie das vermisst hatte, als seine Arme sich enger um ihren Körper legten. Das wäre der einzige Vorteil gewesen, wenn er eben doch in Seattle geblieben wäre: Sie hätte nicht so ewig lange auf den Trost warten müssen, den auf diese Weise einzig und allein seine Arme ihr spenden konnten. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie sich selbst hatte heilen müssen und selbst zu trösten versucht hatte. Aber es war nie das Gleiche wie mit ihm. Es würden immer seine Arme bleiben, die sie auf eine Weise beruhigen konnten, die sie nur von diesem Ort kannte. Von diesem Menschen, den sie damals nicht weniger kaputt zwischen Kugelhagel und Bombeneinschlägen gefunden hatte, der im heissen Sand unter der gleissenden Wüstensonne zu ihrem Zuhause geworden war und es für immer bleiben würde. Ein paar Atemzüge lang blieb sie still, weil er die Tatsachen bereits ausgesprochen hatte. Faye wollte aber nicht auf einem ganz so dürren Ast sitzen bleiben, bevor das Gespräch die nächste unschöne Abzweigung nahm. "Wahrscheinlich nicht. Aber es hat sicher geholfen, dass du hier gewesen bist und alles vorbereitet hast. Dass ich wusste, dass die Zukunft wartete und sie diesmal anders werden würde. Dass ich wusste, dass ich bald wieder bei dir sein würde und ich das hier zurückbekomme", rundete sie die Sache mit seiner Abwesenheit ab, die in diesem Fall vermutlich wirklich mehr Vor- als Nachteile gehabt hatte. Eben auch, dass er in der akuten Phase nach dem Drama nicht bei ihr gewesen war, damit sie die Möglichkeit gehabt hatte, alles ein bisschen aufzuschieben und zu verdauen, bevor sie vertieft mit ihm darüber redete und ihre Wortwahl und ihre Emotionen dabei besser verstand und kontrollieren konnte. Egal wie sehr sie seine Nähe dabei vermisst hatte. Die Frage, die er stellte, half auf jeden Fall dabei, den Fokus von seiner Abwesenheit wegzulenken. Inwiefern Mitch und Aryana heute das weniger schmerzvolle Gesprächsthema wurden, war aber leider fraglich. Sie hätte wirklich sehr, sehr viel darum gegeben, ihre Schwester und ihren... manchmal fühlte es sich ein bisschen an wie ihr Adoptivbruder - nur für sie natürlich, für Aryana nicht - mit nach L.A. zu nehmen. Und im gleichen Zug noch ihre Seelen zu heilen oder von ihr aus auch die Erinnerung an diese Nacht zu löschen. Am besten für alle Beteiligten. Die Hernandez durften sonst auch gleich alle Erinnerungen an Ryatt, Mitch, Aryana, Victor und sie verlieren. Faye atmete tief durch, was in einem schweren Seufzen endete, das wohl schon fast Antwort genug war. "Nicht gut... Leider wesentlich schlechter als mir", rückte sie schliesslich leise mit ihrer Einschätzung raus, als würde die Lautstärke ihrer Stimme das Elend dieser Nachricht regulieren können. "Sie reden natürlich nicht drüber. Ich weiss auch nicht genau, was sie getan haben... Aber sie waren länger dort als ich und als sie nachhause gekommen sind, wollte Aryana mich nicht sehen, bis sie geduscht hatte. Und nach der Dusche hat sie auch nur knapp mit mir gesprochen. Ich habe nie nachgefragt... Weil beide nie so ausgesehen haben, als möchten sie darüber sprechen. Vielleicht auch, weil ich es lieber nicht wissen will. Es reicht ja auch völlig, zu sehen, was es mit ihnen gemacht hat... Wofür ich mir die Schuld geben kann. Egal wie sehr ich das nicht sollte - es ist verdammt schwer, das nicht zu tun, wenn sie es offensichtlich für mich getan haben.", fasste sie die Situation ihrer letzten Tage in Seattle zusammen, spürte dabei deutlich, wie sich der Kloss in ihrem Hals bildete. Einer, der sich mal wieder eher schlecht mit ein paar tiefen Atemzügen wegblasen liess. Vielleicht hätte sie andere Worte gewählt, wenn ihr irgendwann mal irgendwer gesagt hätte, dass Aryana und Mitch ihren Rachefeldzug nicht ganz allein geplant hatten. Wenn sie gewusst hätte, dass das Bedürfnis nach Vergeltung nicht zuletzt von Victor kam.